Читать книгу Wie ein Regenbogen - Simon Wells - Страница 9

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Tatsächlich gibt es nicht nur eine, sondern Dutzende Londoner Szenen. Jede Einzelne ist ein funkelnder Edelstein, ein Medley gemusterter Sonnenbrillen und wunderbar reizend angemalter Telefonhäuschen, eine Mixtur des „blitzenden“ Amerikas, des auf Hochglanz gebrachten Europas und hartnäckiger alter englischer Einflüsse, die im heutigen London miteinander verschmelzen. Das Resultat ist ein prickelndes und verworrenes Lustspiel.

Time, 5. April 1966.

Anitas immer weiter an Fahrt gewinnende Karriere spielte sich hauptsächlich in den Modemetropolen Europas ab; im ersten Halbjahr 1965 wohnte sie noch in Paris. Häufig übernachtete sie in Catherine Harlés Agentur in der Passage Choiseul, doch manchmal auch in der Wohnung von Deborah Dixon und Donald Cammell in Montparnasse.

Zu den Interessen des Trios gehörte die Musik. Trotz der vielen Reisen hielt sich Anita auf dem Laufenden, was die Popszene anbelangte, die die Jugend weltweit faszinierte. Sie ließ sich nicht von den zuckersüßen Klängen der Beatles vereinnahmen, sondern stand auf eher erdige Sounds. The Who zählten zu den Bands, die sie musikalisch bewegten, und wie sie sich später erinnerte, sah sie einige explosive Auftritte der Gruppe im Club La Locomotive in Montmartre.

Am Osterwochenende (16.–18. April) 1965 stürmten die Stones Paris, wo sie eine Reihe von Gigs im L’Olympia (auch bekannt als Olympia Bruno Coquatrix) spielten. Die Band stand kurz davor, ein globales Phänomen zu werden, ihr kantiger, rauer Nonkonformismus zog eine enorme Anhängerschaft an. Allerdings hinkte nach mehr als zwei Jahren exzessiven Tourens die musikalische Qualität noch ein wenig dem populären Image hinterher. Stolz, derb und ungehobelt stand der nach außen getragene Dissens zu gesellschaftlichen Normen im krassen Gegensatz zu den Gewohnheiten der Hörer, die den braven Merseyside-Sound mochten.

Viele, die von den Stones angezogen wurden, mochten ihre unverfälschte und direkte Grundhaltung, entdeckten darin eine Art revolutionärer Einstellung. Ihre Hörer kamen aus allen Gesellschaftsschichten. Ganz vorn im Rampenlicht standen Mick Jagger, Keith Richards und Brian Jones in wechselnden Rollen. Das wichtigste Element, der Kern der Gruppe, war eine ungestüme Sexualität, die zuvor noch nie Eingang ins populäre Entertainment gefunden hatte.

In der Pariser Gesellschaft mit ihrem Hang zum Revolutionären brodelte es schon immer, wenn auch der Dissens unterschiedlich stark sein konnte. Den Stones sicherte dies eine Zuschauermenge, die von Musikfans bis hin zu Künstlern und Sozialisten reichte. Während die Band in England lange eine Außenseiterrolle spielte, wurde ihr Anti-Establishment-Status in der französischen Hauptstadt warmherzig angenommen.

Der Mini-Gastspielvertrag im L’Olympia gewährte den Stones genügend Freizeit, um das Labyrinth des kulturellen Nachtlebens zu erforschen, das Paris im Übermaß bot. In einem Wirbelsturm von Aktivitäten soll die Band angeblich Catherine Harlés Agentur eine Stippvisite abgestattet und mit den Models geflirtet haben. Auch verbrachten sie eine Nacht im Chez Castel.

Zu den zahlreichen anderen Acts (darunter sogar ein Magier), die bei den Pariser Auftritten im Vorprogramm der Stones auftraten, gehörten auch Vince Taylor & The Playboys. Taylor, ein schwieriger, aber talentierter Musiker, genoss in Europa einen Kult-Status, besonders in Paris, wo seine im Südwesten Londons liegenden Wurzeln der Aura des Coolen keinen Abbruch taten. Die Percussion für Taylor übernahm Prince Stanislas Klossowski de Rola, besser als „Stash“ bekannt. Der später von der Presse als „Pop Prince Stash“ gefeierte Rola – Sohn des Malers Balthus (eigentlich Balthasar Klossowski de Rola) – hatte schon im Jahr zuvor Anitas Bekanntschaft gemacht und sich in der Zwischenzeit intensiv mit ihr angefreundet.

„Ich begegnete Anita zum ersten Mal Anfang Sommer 1964“, erinnert sich Rola heute. „Es war im Apartment des Hauses eines Philosophen namens Alain Jouffroy. Vince Taylor und ich lagen zusammen mit dem unglaublich attraktiven amerikanischen Model Johanna Lawrenson im Bett, eine Freundin von Anita. Als wir am Morgen aufwachten, sahen wir dieses atemberaubende Mädchen, das in der Sonne auf der Terrasse stand und uns mit einem unwiderstehlichen süffisanten Lächeln ansah. Sie musste das erst mal checken – ihre Freundin mit zwei Typen im Bett.“

Später in dem Jahr – Anita war wegen eines Modeljobs in Spanien – traf sie Stash de Rola wieder, der mit Vince Taylor tourte. Es entwickelte sich eine enge Freundschaft. Während die Stones Ostern 1965 in Paris einfielen, lebten sowohl Anita als auch Stash in der Stadt. Es war naheliegend, dass sie bei dem Konzert im L’Olympia auftauchte.

Nach dem Gig verließ ein Grüppchen mit Stash und einigen Freunden den Veranstaltungsort, um das Pariser Nachtleben zu erkunden. Die Stones gingen an diesem Abend getrennte Wege, und Brian Jones suchte eher exklusive Gesellschaft.

In dem Kreis um ihn befanden sich bereits die Sängerin Françoise Hardy, ihr Partner, der Fotograf Jean-Marie Périer, Stashs Freundin Anita Pallenberg und das exotische Model/die Sängerin Zouzou (alias Danièle Ciarlet). Letztere hatte in dem Jahr für ein kleines Skandälchen gesorgt, als sie den eher reservierten Ballett-Star Rudolf Nureyev auf das Tanzparkett gezogen hatte, um ihn so richtig durchzuschütteln. Das war für damalige Zeiten eine gewagte Einlage, die von den sensationshungrigen französischen Paparazzi ausgeschlachtet wurde.

Die kleine Gruppe stürzte sich ins Pariser Nachtleben, angeführt von Jones, dessen Celebrity-Status ihn über die anderen erhob. Anita mag Brians öffentliches Erscheinungsbild gut unter die Lupe genommen haben, doch sie konnte wohl kaum die Komplexität erahnen, die hinter dem coolen Auftreten lag.

Der phänomenale Erfolg hatte den Stones einen unermesslichen Reichtum eingebracht, aber im Jahr 1965 war Brian Jones’ Präsenz weniger offensichtlich als die der beiden Frontmänner Jagger/Richards. Und wie um diesen scheinbaren Widerspruch zu verstärken, stand Jones für einen Look, der elegant war, aber auch reserviert wirkte. Sein Erscheinungsbild spiegelte seine Herkunft aus der oberen Mittelschicht in dem verschlafenen Cheltenham in Gloucestershire wider.

Brian war zwar nicht in der Lage, überzeugend zu singen oder eigene Songs zu schreiben, besetzte aber eine kultige Nische, was ihm enormen Respekt von seinen Zeitgenossen in der Musikindustrie einbrachte. Jones’ Geschicklichkeit als Multiinstrumentalist hatte sowohl seinen Status erhöht als auch für eine seltene Textur im Klangbild der Stones gesorgt. Dennoch wussten nur die wenigsten – angesichts der Dominanz des kraftvollen Duos Jagger/Richards –, dass die Rolling Stones das Baby von Brian Jones waren. Es war eine Kreation, die er hartnäckig etablierte, bevor sie ihm von anderen Kräften aus den Händen gerissen wurde.

Ungeachtet seiner kreativen Stärke und des Status des Bandgründers musste er sich mit zahlreichen psychisch-sexuellen Problemen und einer Paranoia herumschlagen, was seinem stark angegriffenen Ego schadete und das chauvinistische Verhalten zusätzlich verstärkte. „Es ist kein Wunder, dass ich mich noch nicht fest gebunden habe“, bekräftigte er in einem Feature im Magazin Fabulous Anfang 1965. „Wie viele Mädchen könnte ich finden, die mir meinen Tee machen, das Essen kochen, mein Haus putzen und sich auf einer intellektuellen Ebene mit mir unterhalten, während ich die Füße hochlege?“

Aufgrund seines Celebrity-Status konnte er viele Frauen gewinnen, doch nur wenige waren in der Lage, Jones’ ausgeprägte Libido zu befriedigen. Trotz mehrerer anhängiger Vaterschaftsklagen hielt er ständig Ausschau nach „Frischfleisch“. Brian mochte eine eher gehobene Gesellschaft – was sowohl das intellektuelle Niveau als auch den sozialen Status anbelangte –, stammte er doch selbst aus der aufstrebenden Mittelschicht. Die elegante Truppe, die in dieser Nacht das L’Olympia verließ, war ganz nach seinem Geschmack.

Sie legten den ersten Stop beim Chez Castel im Stadtbezirk Saint-Germain ein, einem beliebten nächtlichen Treffpunkt der Mädchen von Catherine Harlés Agentur. Im Gegensatz zur glamourösen Kleidung der anderen trug Anita nur eine eher schlichte, blassblaue Lederjacke, die kaum ihre atemberaubende Präsenz erkennen ließ. Jones schien von Beginn an seine Chancen bei dem Model Zouzou abzuwägen. Ihre außergewöhnliche Erscheinung und Ausstrahlung regten seine ausgeprägte Abenteuerlust an. Die Gruppe hatte den Abend mit einigen starken Joints eingeläutet und langweilte sich schnell im Chez Castel, woraufhin sie sich in das ruhigere Ambiente von Donald Cammells und Deborah Dixons Wohnung zurückzogen, wo sich eine Party traditionell immer bis in die frühen Morgenstunden erstreckte.

Dort angekommen, versuchte Jones, Zouzous leichte Reserviertheit zu durchdringen und ihr rudimentäres Englisch zu verstehen. Jedoch lenkte ihn Deborahs geradezu ätherische Präsenz ab, ihr blasser Teint wirkte durch den Marihuana-Nebel visuell verstärkt. All die Energien schienen die Anwesenden zu verwirren, Brian und Anita wechselten an dem Abend nur wenige Worte. Im Morgengrauen begleiteten Stash, Zouzou und Anita den Rolling Stone zurück zu seinem bescheidenen Hotel in der Rue des Capucines, wo sich Brian und Zouzou auf sein Zimmer zurückzogen.

Aus welchem Grund auch immer – Anita schwieg ihr Leben lang über diese erste Begegnung mit Brian und datierte sie stattdessen auf ein ausgiebigeres Treffen fünf Monate später. Auch Deborah Dixon, die Gastgeberin an dem Abend, weiß nichts darüber zu berichten. Andere Anwesende erinnern sich hingegen sehr wohl daran: „Sie war sehr an ihm interessiert“, kommentiert Stash die unmittelbare Zeit nach der ersten Begegnung, „doch sie kam wegen Zouzou nicht an ihn heran, was sie annervte. Dass [Anita] in der Nacht keinen Erfolg hatte, hat sie bequemerweise aus ihren Erinnerungen gestrichen.“

Brian und die Stones flogen nach den Paris-Gigs nach Kanada, doch es gab keinen Mangel an englischen Bands, die die französische Hauptstadt aufsuchten. Nur wenige Tage nach der Stones-Performance spielten die Kinks am 24. April 1965 im Palais de la Mutualité, einem relativ kleinen Veranstaltungsort im fünften Arrondissement. The Kinks gehörten zu einer Reihe von Bands, die rauen und ruppigen R&B ablieferten, doch sie wirkten durch ihre skurrile Präsenz und ihren dandyhaften Stil, was im kontinentalen Europa sehr gut ankam. Anita war von der kantigen und androgynen Ausstrahlung der Band hin und weg. Andere aus ihrem Umfeld stellten eine engere Beziehung zu den Kinks her wie zum Beispiel Zouzou, die bei deren Nummer zwei, Dave Davies, landete.

Als die Band in Paris vor über 500 begeistert mitgehenden Zuschauern spielte, war ein Filmteam anwesend, das die entstehende Hysterie auf Zelluloid bannte. Inmitten der allgemein hektischen, 30-minütigen Performance ist eine Sequenz zu sehen, die den charmanten Moment einfängt, in dem Anita wie gebannt zur Bühne schaut. Während „Got Love If You Want It“ – ein Song, bei der die Gruppe am meisten improvisierte – wechselt die Kameraperspektive mehrmals zwischen ihr und dem Sänger Ray Davies. Mit ihrem hinter die Ohren gesteckten Haar und der elfenhaften Schönheit stiehlt Pallenberg der Band die Show.

Ob Anita damals an Brian dachte oder nicht – die Auftragsangebote im Frühjahr sorgten für eine Vielzahl von Kontaktmöglichkeiten. Zahlreiche kreative Persönlichkeiten aus aller Welt gingen in der Hauptstadt quasi ein und aus, wodurch sich viele Gelegenheiten ergaben, die Bekanntschaft mit den Protagonisten der angesagten Kreise zu machen. Pallenbergs Terminkalender füllte sich mit beruflichen Verpflichtungen, doch sie fand dennoch genügend Zeit, sich mit alten und neuen Freunden zu treffen, die in der Stadt auftauchten. Ihr alte Bekannte (und Mario Schifanos Agentin) Ileana Sonnabend führte eine Galerie am 37 Quai des Grands-Augustins. Im Mai eröffnete sie eine aufsehenerregende Ausstellung von Andy Warhols Flowers. Warhol reiste schon eine Woche vor der Vernissage an, mit einer Gefolgschaft, zu der auch Gerard Malanga gehörte, der vor der Eröffnung in der Galerie Gedichte vortragen sollte. Malanga hatte schon Ende 1963 in New York, wenn auch nur flüchtig, Anitas Bekanntschaft gemacht und nutzte nun während des Paris-Aufenthalts die Gelegenheit, den Kontakt zu vertiefen.

„Ich kam ’65 mit Andy in Paris an“, berichtet Malanga. „Anita erschien mit Denis Deegan – einem sehr engen, gemeinsamen Freund, der sich in der Stadt aufhielt – und Stanislas de Rola alias ‚Stash‘. Die drei holten mich vom Hotelzimmer ab und wollten mich zur Lesung in die Galerie geleiten. Sie hatten einen dicken, länglichen Klumpen marokkanisches Haschisch dabei, eingerollt in einer Ausgabe von Le Temps, damit es wie ein Baguette aussah. Kurz darauf füllte sich das ganze Zimmer mit dichten Rauchschwaden, da sie mich total dicht erleben wollten. Als wir die Galerie von Ileana Sonnabend erreichten, waren meine Lippen ziemlich trocken, doch ich hielt durch und schaffte die Lesung.“

Etwas mehr als ein Jahr war vergangen, seit Malanga Anita in New York gesehen hatte, und ihn beeindruckte ihre Verwandlung in eine selbstbewusste Frau.

„Als ich sie erstmals in New York traf, wirkte sie eher reserviert“, erklärt Malanga heute, „doch in Paris nahm sie mich sofort in den Arm. Sie war zu einer offenen Persönlichkeit gereift – und ich liebte das. … [Anita] strahlte eine Selbstsicherheit und Zuversicht aus, die mich erstaunte.“

Diese Selbstsicherheit ist auf einem bizarren Foto zu erkennen, das bei der Flowers-Eröffnung geschossen wurde. Neben Malanga und Warhol sieht man Anita mit der Schauspielerin Edie Sedgwick, dem Veranstalter Chuck Wein und Stash. Ohne einen erkennbaren Grund hielten sie Kaninchen in ihren Armen.

Mit zunehmendem Selbstvertrauen und reisefreudig tauchte Anita im Sommer in Italien auf und ließ sich in einem durchsichtigen Regenmantel ablichten. Allerdings trug sich nichts darunter. Ein anderes Foto zeigte sie in einer alpinen Location, kaum bekleidet, vor den schneebedeckten Bergen.

Für Anita war die Welt ihr Zuhause und das schon in einem Alter von nur 22 Jahren. Das Tempo ihres Lebensstils ermöglichte ihr nur selten eine „Bestandsaufnahme“ ihrer Leistungen. „Ich war mir eigentlich über nichts im Klaren“, erzählte sie Ruby Wax 1999. „Ich wusste, dass ich von einem Ort zum anderen reiste und meist in einer anderen Sprache redete. Da ich niemals zu Hause war, stellte sich kein Gefühl für ein Zuhause ein. Ich fühlte mich wie eine Zigeunerin.“ Im September 1965 wurde Anita von Catherine Harlé zu einer Fotosession nach München geschickt. In der Stadt herrschte Vorfreude auf das Oktoberfest, und das junge Model baute eine starke Beziehung zu den deutschen Medien auf, besonders zum zukunftsweisenden Magazin Twen, das sich darüber freute, ihre körperlichen Vorzüge zu vermarkten. „Ich arbeitete als Model in Deutschland, da sie täglich abrechneten“, erinnerte sie sich gegenüber dem Guardian. „Das gefiel mir natürlich. In Frankreich oder Italien erhielt man sein Honorar erst mehrere Tage [nach den Aufnahmen].“

Abgesehen von den finanziellen Aspekten stellte sich der Auftrag in München als geradezu schicksalsträchtig für sie heraus, denn die Termine fielen mit zwei Shows der Stones am 14. September im Circus Krone-Bau zusammen. Es wurde zu einer waschechten britischen Show, denn neben den Stones als Hauptattraktion traten die Spencer Davis Group und eine stilistisch ähnliche Gruppe auf, nämlich die ruppigen und krachenden Troggs. Die Stones badeten im Erfolg der Single „(I Can’t Get No) Satisfaction“, die die zweite Woche den ersten Platz in den USA belegte, doch abseits der Bühne nahm die Band Brian Jones in die Mangel. Sein privates Leben stellte ein emotionales Minenfeld dar und seine Einstellung war den Kollegen ein Gräuel. In Kürze sollte eine Vaterschaftsklage öffentlich gemacht werden, und der ständige Streit verdeutlichte, dass Jones auch schon in großer Distanz zum Rest der Gruppe stand. Doch auch Jones hatte sich nicht gerade liebenswürdig gegenüber den anderen verhalten und – sehr zu ihrem Ärger – bei Auftritten während „Satisfaction“ einen Auszug aus dem Popeye-Thema genudelt.

Während die 3000 Zuschauer im Circus Krone nichts über die Streitigkeiten und das böse Blut innerhalb der Band wussten, gab es andere, die das Besondere in Jones’ enigmatischer Präsenz spürten – und dazu gehörte auch Anita.

Unter den Anwesenden in der Menge fand sich auch Bent Rej. Dem jungen dänischen Fotojournalisten war es gelungen, eine dauerhafte kreative Beziehung zu den Stones aufzubauen. Sie gewährten ihm für eine Serie von Bildreportagen sogar Zugang zu ihren Privatwohnungen.

Rej hatte eine solide Beziehung zu Jones aufgebaut, und wie sich durch die Aufnahmen der beiden München-Gigs belegen lässt, war sich Brian der Präsenz des Fotografen bewusst, da er einen intensiven Augenkontakt zur Kamera hielt. Wenn Jones den Fotografen in einer Menge von Tausenden ausrastenden Menschen fokussieren konnte, war es wahrscheinlich, dass er auch Anita mit ihrer unverkennbaren Ausstrahlung entdeckte.

Rej schoss einige Fotos von der Bühnenseite und aus der Perspektive des Zuschauerraums. Nach dem ersten Konzert, das mit einem Einsatz der Polizei endete, die den Veranstaltungsort stürmte, drängelte sich Rej zur Garderobe durch, wo sich die Band auf ihre zweite Show vorbereitete.

„Ich machte mich vom Auditorium zum Backstage-Bereich auf“, erinnert sich Rej. „Da kam ein Mädchen auf mich zu und bat mich, sie mit den Stones bekannt zu machen. Sie war sehr hübsch und ich zögerte nicht – es war ja Teil meines Jobs. Ihr Name lautete Anita Pallenberg.“ Mithilfe von Rejs Journalisten-Status gelangte Anita in die Garderobe der Band. Sie hatte es darauf angelegt, die Musiker zu beeindrucken, und stellte an diesem Tag das Sinnbild der verführerischen Eleganz dar. Anita trug einen beigen Pelzmantel, einen knallengen Pullover und einen modischen Minirock. Das atemberaubende Erscheinungsbild wurde von dunkelster Wimperntusche verstärkt. Ihre Präsenz – für diejenigen, die sich von der Optik überzeugen ließen – wurde noch durch ein packendes Mitbringsel verstärkt. Sie trug einen Klumpen Haschisch bei sich und einige der aufputschenden Amylnitrit-Poppers.

Die Stones waren bei dem ersten Auftritt mit einer alle Grenzen sprengenden Hysterie empfangen worden, doch in der Garderobe herrschte eine eher bedrückte Stimmung. Man hatte die Band in einen abgelegenen Teil der Räumlichkeiten verfrachtet, der eigentlich für Bierfeste, Zirkusdarsteller und -tiere vorgesehen war. Dort einige Stunden auf den nächsten Auftritt zu warten, stellte sicherlich keine große Freude dar. Pallenbergs Erscheinungsbild und das gebrochene Englisch, gespickt mit Akzenten mehrerer Sprachen, wurde vermutlich mit Interesse, wenn nicht sogar hochgezogenen Augenbrauen honoriert. Zwar war ihr Jones schon früher in dem Jahr begegnet, doch es war höchst unwahrscheinlich, dass einer der anderen Musiker, übersättigt von Celebritys überall auf der Welt, sie kannte – trotz der Veröffentlichungen in zahlreichen Modemagazinen. Angeblich gab es keine anderen weiblichen Besucher, woraufhin Anita den Raum durchstreifte, um das Gesehene schnell einzuschätzen.

„Die waren wie Schuljungen“, berichtete sie später. „Sie sahen mich an, als sei ich eine Bedrohung. [Mick] Jagger versuchte mich runterzuputzen, doch ich ließ es nicht zu, dass mich ein ruppiger Typ mit dicken Lippen fertigmachte. Ich konnte ihn leicht abwürgen und fand schnell heraus, dass Mick in sich zusammenfällt, wenn man ihm die Stirn bietet.“

Anita bot Mick und Keith ihren narkotischen Warenbestand an und behauptete seitdem, dass die Dogen schlichtweg abgelehnt wurden. Sie fühlte sich durch diese Ablehnung wie vor den Kopf gestoßen und gesellte sich zu Brian. Allerdings existieren keine Berichte darüber, dass einer von ihnen sich an die Pariser Begegnung erinnerte (oder sie angesprochen hätte).

Jones fläzte sich auf einem Sofa im Backstage-Bereich und wirkte distanziert von den anderen. Das Haar ließ ihn wie das Abbild einer blonden Gottheit erscheinen, er trug einen weißen Rollkragenpullover sowie weiße Jeans und saß breitbeinig auf dem Möbel. Sogar ohne Socken war er das am modischsten gekleidete Mitglied der Gruppe. Anitas blondes Haar, die langen Beine und die elegante Haltung bezauberten ihn, doch war es vor allem ihre furchtlose Präsenz, die seine Aufmerksamkeit erregte.

Einigen Berichten nach (darunter auch die Aussage des Fotografen Bent Rej) war es Jones, der Anita buchstäblich auserwählte, indem er sie auf Deutsch ansprach: „Ich weiß nicht, wer du bist, aber ich brauche dich.“ Andere – darunter auch Pallenberg selbst – behaupten hingegen, dass sie es war, von der die Initiative ausging.

„Ich ging direkt auf Brian zu, denn er war derjenige, auf den ich stand“, erzählte sie später. „Brian konnte sich gut ausdrücken, sprach leise und war auch des Deutschen mächtig. Er packte mich durch die Art, wie er sich bewegte, durch seine Haare und die sanfte Art. Wenn er redete, forderte er deine ganze Aufmerksamkeit. Er war sensibel, aufgekratzt, seiner Zeit weit voraus und auch in einer anderen Zeit verwurzelt – der Dandy, mit all seiner Kleidung und so weiter!“

Wer auch immer den ersten Zug machte – zwischen den beiden entwickelte sich an diesem Abend eine ungewöhnliche, aufsehenerregende Beziehung. Jones, der eine Fülle von schnell aufeinander folgenden desaströsen, unerfüllten Beziehungen hinter sich hatte, entdeckte bei Anita die gleiche Abenteuerlust, die auch er verspürte.

„Brian war ungewöhnlich“, berichtete Anita der Mail On Sunday 2006. „Er war launisch und körperlich attraktiv. Auf irgendeine witzige Art sah er wie ein Mädchen aus. In sexueller Hinsicht stehe ich auf Frauen und Männer, und er hatte diese wunderbare Uneindeutigkeit. Die anderen Stones wirkten – wie soll ich es am besten ausdrücken? – ängstlich, doch Brian war bereit, fremde Orte zu erkunden. Er war die Ausnahme; die anderen Stones waren zu der Zeit einfach nur Vorstadt-Normalos.“

Bent Rej, in dessen Begleitung Anita bis zur Band hatte vordringen können, war Zeuge der Begegnung und fing diesen Moment mit einer Menge Fotos ein. Bei näherer Betrachtung der entstandenen Bilder fällt die außergewöhnliche Ähnlichkeit zwischen den beiden auf. Jones’ erweiterte Pupillen sind kaum sichtbar, da die blonden Haare bis über die Augenbrauen hängen, während Pallenberg – die man auf einem Foto mit einer Packung Zigaretten sieht – wie sein sprichwörtliches Spiegelbild erscheint. Anita und Brians für die Zukunft wichtiges Gespräch kam zu einem abrupten Ende, da man die Stones für die zweite Show des Abends auf die Bühne zurückrief. Pallenberg kehrte daraufhin zu ihrem Stuhl im Publikumsbereich zurück. Dort erlebte sie erneut Jones’ schwelendes Enigma, obwohl er sich immer einige Schritte hinter der Frontline von Jagger/Richards bewegte. Schon damals machte sie sich für Brian stark: „Brian stand so weit hinter ihnen, dass man es kaum glauben konnte. Da waren sie – Mick und Keith ganz vorne, bei den ersten Gehversuchen, ein Sexobjekt zu werden, wohingegen Brian schon einige uneheliche Kinder hatte!“

Nach der Performance der Stones, die damit endete, dass die Polizei das Publikum mit Schlagstöcken und Hunden aus dem Raum trieb, ging Anita wieder in den Backstage-Bereich. „Ich fragte ihn, ob er Lust hätte zu kiffen, und er antwortete: ‚Klar, lass uns einen Joint durchziehen.‘ Und dann meinte er: ‚Komm mit mir ins Hotel.‘ Er regte sich über Mick und Keith auf … erzählte, dass sie sich gegen ihn verschworen hatten … Er war so verletzlich. Brian hatte alle gegen sich. Er tat mir so leid … Ich hielt ihn die ganze Nacht in den Armen, während er weinte.“

Am nächsten Tag folgte Anita dem Stones-Tross nach Westberlin und hängte sich wieder an Jones. Wie sie später berichtete, sagte sie unmittelbar nach der Münchner Episode alle deutschen Model-Jobs ab und bat Catherine Harlé, ihr so schnell wie möglich Aufträge in London zu verschaffen. Aus den Legenden über den Rock’n’Roll (und den Film Spinal Tap) lässt sich entnehmen, dass eine weibliche Anwesenheit in der eindeutig maskulinen Umgebung einer tourenden Band mindestens eine „Herausforderung“ darstellt, wenn nicht sogar weitaus mehr. Anitas Ankunft auf dem Planeten Stones stellte keine Ausnahme von dieser Regel dar, gerade weil sie sich von bürgerlichen Konventionen nicht beeindrucken ließ.

„Ich entschied mich, Brian zu entführen“, erzählte Anita später. „Es klingt wirklich albern, doch daraus wurde sogar ein Film gemacht [Zwischen Beat und Bett, 1968, mit Donald Cammell als Ko-Autor], also über die Entführung eines Popstars. Brian schien der sexuell flexibelste Stone zu sein, ich wusste aber auch, dass ich mit ihm reden konnte. Tatsächlich war ich aber zuerst sein ­Groupie – wirklich!“

Anitas längere Anwesenheit sollte – und das wird wohl niemanden überraschen – die bereits gegenüber Brian bestehenden Animositäten der Band verstärken und die anderen provozieren. Der aufgrund seiner unabhängigen Einstellung und seines so wesentlich anderen Charakters oftmals von den Stones ausgeschlossene Musiker hatte nun eine mächtige Fürsprecherin an seiner Seite. Von Anfang an spiegelte das Paar die Persönlichkeit des jeweils anderen wider. Sie teilten und zeigten eine Arroganz, die gelegentlich in dunkle Wege mündete. Da Jones’ Status als Bandgründer nur noch eine schwache und wenig überzeugende Daseinsberechtigung bei den Stones ausmachte, „packte“ sich Anita die kultiviertere Seite von Brian und verstärkte sie.

Anitas Unterstützung bedeutete für Jones einen riesigen Triumph über Micks und Keiths Dominanz, eine Parteinahme, die in diesem Schurkendrama eine seltene Ausnahme darstellte. Über Jones’ emotionalen Ballast aus der Vergangenheit mochten seine Bandkollegen mal verzweifeln, mal gemeine Witze reißen, doch mit Anita hatte er einen echten „Fang“ gemacht.

„Ich fand auf jeden Fall, dass Brian sehr viel Glück gehabt hatte“, erzählte Richards später. „Als ich Anita das erste Mal sah, war mein erster Gedanke: ‚Verdammt, was macht denn so eine heiße Mieze mit Brian?‘ Anita war unglaublich stark, hatte eine viel stärkere Persönlichkeit als Brian, war selbstsicherer und hielt nichts zurück, wohingegen Brian voller Zweifel steckte.“

Die Allianz zwischen Jones und Pallenberg stellte geradezu einen Schock für diejenigen dar, die Brians kurze Aufmerksamkeitsspanne hinsichtlich Beziehungen kannten. Anitas Intelligenz und ihr kraftvoller Feminismus erhoben sie über die Menge der unterwürfigen Frauen, die so häufig an den Rockschößen der Band hingen.

„Für mich war sie ein Rätsel“, berichtet der Fotograf Gered Mankowitz. „Wenn sie dich nicht dabei haben wollte – egal, was gerade abging –, zeigte sie es dir auch deutlich. Sie hatte ein einzigartiges, sehr vereinnahmendes und überaus sexuelles Charisma. Man kann sie als beängstigenden, manchmal ungeheuerlichen Charakter beschreiben. Sie konnte sehr cliquenhaft sein. Sie und Brian führten eine Beziehung, bei der sie sich abschotteten und zusammenhingen. Sie waren von allem um sie herum abgeschnitten.“

„[Anita] war extrem offen und unverblümt“, erklärte Marianne Faithfulls früherer Ehegatte John Dunbar. „Sie konnte dich aufziehen, aber auch ein ‚harter Kerl‘ sein. Wenn Leute sie auf irgendeine Art verarschen wollten, machten sie denen das Leben zur Hölle.“

Erzählungen nach warnte Jagger – der Anitas Ankunft als eine echte Herausforderung empfand – die Leute in seinem engen Umfeld vor einem näheren Kontakt mit ihr. Das änderte nichts daran, dass Jaggers damalige Freundin Chrissie Shrimpton Anita als eine ehrliche und gradlinige Person einschätzte. „[Sie] war sich ihres Einflusses bewusst, aber auch sehr mitfühlend“, berichtete Shrimpton dem Autor Victor Bockris. „Im Gegensatz zu den anderen Mädchen, die mir meinen Platz streitig machten, bemerkte ich bei Anita niemals so eine Tendenz. Vielleicht war sie manchmal boshaft, doch sie hatte auch viel Macht. Sie setzte ihre Macht aber niemals für bösartige Aktionen ein, was ich sehr an ihr schätzte. [Anita] war schräg, freaky und auch stark, aber ihre Gefühle waren immer echt.“

Obwohl sich Marianne Faithfull damals eher im Dunstkreis der Band aufhielt, bemerkte sie, dass Anita größtenteils dafür verantwortlich war, dass die Stones [im Rahmen der Psychedelic-Ära] ein Renaissance-Image aufbauten und eine andere Grundhaltung einnahmen. 1994 schrieb sie: „Das Bündnis von Anita mit Brian ist zugleich die Geschichte, wie aus den Stones die Stones wurden. Sie war eine der maßgeblich Verantwortlichen für die kulturelle Revolution in London, indem sie die Stones mit den wohlhabenderen Jugendlichen zusammenbrachte.“

Brian Jones’ oftmals ungehaltene und egomanische Präsenz befremdete zahlreiche Menschen, doch im Einklang mit Anita hielt die Kombination ihrer Charaktere den Kritikern stand. Durch den Energieschub, den die Beziehung ihm gab, nahm Brians Selbstvertrauen exponentiell zu.

„Ich empfinde Brians und Anitas Beziehung als höchst faszinierend“, erklärte Paul Trynka, Autor der besten und alles überragenden Jones-Biografie Sympathy For The Devil: Die Geburt der Rolling Stones und der Tod von Brian Jones. „Ich glaube, dass es für Brian eine bewusste Entscheidung war, eine Art Verdoppeln-oder-Beenden-Wette, denn er wusste, dass sie ein grandioses Team würden. Ein Teil von ihm liebte das Chaos, das Alles-oder-Nichts, alles in Aufruhr zu versetzen. Er wusste, dass Anita und er zusammen etwas Energiereiches freisetzten. Die beiden waren das ultimative Power-Paar, immer an vorderster Front, und Anita war nun mal 50 Prozent der Beziehung.“

„Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wann ich Anita das erste Mal traf“, erzählte der Stones-Manager Andrew Oldham dem Autor 2018, „doch ich spürte eine Kraft, eine Energie, die nicht nur Brian (und später Keith) berührte, sondern den gesamten Weg der Rolling Stones beeinflusste. Ich wollte diese Stärke nicht näher ergründen, es war mir schlichtweg egal, doch ich wusste, dass Anita zu den Hauptautorinnen der kommenden Kapitel der [Stones-Geschichte] zählen würde“.

Dank der Beziehung mit Brian (und der Tatsache, dass ihre Anwesenheit bei der Presse bislang größtenteils unbemerkt blieb) fand Anita genügend Freiräume, um eine Party in angesehener Gesellschaft steigen zu lassen. Ready Steady Go!, die heiße TV-Show mit den energiegeladenen Auftritten, gehörte zu einer der Gelegenheiten, bei denen sie mit einem eingeladenen Publikum das Tanzparkett „polierte“. Am 29. Oktober 1965 waren die Stones der Hauptact, doch auch The Animals traten auf, The Searchers und Chris Farlowe. Trotz der erhofften Anonymität war ein Fotograf von der Paris Match bei der Übertragung anwesend, der eine Reihe von Aufnahmen von der ekstatisch tanzenden Anita schoss. Aufgekratzt, grell und unbekümmert dominiert Anita die Menge der Gäste, die eine Party vortäuschen.

Ein weiterer kurzer Augenblick von Anita im Party-Modus in der damaligen Zeit wird in der Rediffusion-Doku Go, Go, Go, Said The Bird festgehalten, einer der scheinbar endlos vielen Filme, die versuchen, das Swinging-London-Phänomen zu erklären. Während des Programms wird Anitas Präsenz in London erstmalig von einer Filmkamera eingefangen.

Einige Personen lernten sie damals näher kennen wie der Musikverleger Tony King, der 2005 dem Autor Andy Neill berichtet: „In konventioneller Hinsicht war Anita nicht schön, doch sie raubte einem den Atem. Ich begegnete ihr zuerst [1965] mit Andrew [Oldham] und [seiner Frau] Sheila im Scotch Of St James. Später traf ich sie im Chez Castel, wo sie zu mir rüberkam und sich vorstellte. Sie erzählte mir, dass sie mit Brian ging. Sie und Brian waren ein fantastisch aussehendes Paar.“

Trotz des vollen Terminplans verbrachten die beiden so viel Zeit wie möglich zusammen. Die räumliche Entfernung stellte niemals ein Hindernis dar, denn ihre Leidenschaft war offenkundig. Bei einem Job in Paris Ende 1965 traf Anita wieder Deborah Dixon und Donald Cammell. Während des Aufenthalts in Montparnasse sah sie Donalds Bruder David (späterer Produzent von Performance). Donald hatte schon überschwänglich über das bevorstehende Treffen gesprochen, und David zeigte sich tief beeindruckt, als er sie das erste Mal sah.

„Ich wohnte bei meinem Bruder und Deborah in ihrem Studio“, erinnert sich David Cammell heute. „Anita hielt sich da auf und wollte nach London reisen. Ich war mit meinem Lotus Elan in Marokko gewesen und sie fragte: ‚Kannst du mich mit nach London nehmen?‘ Ich antwortete: ‚Klar.‘ Ich hatte in Marokko ein wunderschönes Tongefäß erstanden. Da der Lotus ein Zweisitzer war, musste ich nun eine Entscheidung treffen. Ich opferte also das Gefäß und Anita nahm den Platz ein. Sie setzte sich rein und schon ging es los.“

Cammell, der wie ein Wahnsinniger durch die ländlichen Regionen Frankreichs fuhr, um die Fähre rechtzeitig zu erreichen, zeigte sich von Anitas Intellekt und ihrem enzyklopädischen Wissen beeindruckt.

„Das war außergewöhnlich“, berichtet er. „Sie konnte jedes Thema mit einer langen Ausführung beantworten. Als ich sie mit nach London nahm, dachte ich, dass eine gemeinsame Nacht ganz schön sein könne! Dann hielten wir beim Scotch Of St James, und ich erfuhr, dass sie dort mit Brian Jones verabredet war.“

Als die US-Tour 1965 kurz unterbrochen wurde, kam Anita auf die Idee, in die Staaten zu fliegen, um mit Brian einen Kurzurlaub in Miami einzulegen. Doch wenige Tage vor dem Termin musste ihre Arbeitserlaubnis für Großbritannien erneuert werden. Sie brach ihre Arbeit in London ab und flog direkt nach Paris, um möglichen Problemen mit den Behörden aus dem Weg zu gehen. Von Frankreich aus telefonierte sie täglich mit Brian, bevor sie endlich einen Flieger nach Florida bestieg.

„Soweit ich mich erinnere“, erzählte Anita, „zahlte ich mein Ticket selbst, holte sie ein, aß mit den Roadies und dann ging’s direkt ins Hotel. Das war damals so – nichts organisiert. Auch die Pässe und dieser ganze Mist. Das waren noch die Zeiten, in denen sie ein Hotelzimmer total verwüsteten – voll auf Adrenalin, das beim Verlassen der Bühne immer noch in ihnen pulsierte.“

Besessene Fans fanden schnell heraus, dass Anita mehr war als nur das obligatorische Groupie. Der daraus entstehende Frust und die Eifersucht richtete sich oft gegen sie. „Das war sehr beängstigend“, erläuterte sie in dem Buch The Early Stones von Michael Cooper und Terry Southern. „Die haben mir die Klamotten zerrissen, mich ständig zu Boden gestoßen – mich getreten, mich hingeworfen, damit ich ihnen nicht im Weg stand. Totaler Neid und Misshandlung, verbal und körperlich.“

Doch Gefahr und Gewalt ging nicht nur von den Fans aus. Es war Anitas erste Fahrt in der Achterbahn des Tourlebens, die gemeinsame Zeit mit Brian wurde oft unterbrochen und gelegentlich gab es aufsehenerregende Vorkommnisse. Ronnie Schneider, der Tourmanager während der Konzertreise, war Zeuge vieler der frühen Zusammenstöße und zeichnet ein lebhaftes Bild von der explosiven Chemie zwischen Jones und Pallenberg.

Schneider erinnert sich heute: „Als ich das erste Mal mit Anita Kontakt hatte, war ich wegen eines Anrufs von der Rezeption zu Brians Zimmer gegangen. Es sollte dort sehr laut geworden sein. Als ich hinkam, erfuhr ich nur, dass sie sich über irgendetwas gestritten hatten. Anita meinte hinterher, sie sei von Brian unfair behandelt worden, aber ich würde mal meinen, dass die beiden sich gegenseitig nichts geschenkt hatten.“

Spannungen gab es nicht nur hinter geschlossenen Türen. Anita zeigte einen damals seltenen Widerwillen gegen das von Musiker-Partnerinnen erwartete Verhalten und hielt während der US-Tour unübersehbar die Fahne des Feminismus hoch.

„Wir verbrachten einen freien Tag in Miami“, berichtet Ronnie Schneider. „Damals wohnten wir im Hotel Fountainebleau. Wir hatten alle diese Speedboote, mit denen wir über das Wasser rasten. Plötzlich sah ich Anita, die direkt auf andere zufuhr, dann auf mein Boot und voll reinknallte.“

Nach der Episode in Miami kehrte sie kurz nach Paris zurück, bevor sie wieder nach Los Angeles flog, um beim Ende der Tour dabeizusein und etwas Zeit mit Brian zu genießen. Der Stones-Tross reiste mit einigen Agenten der mächtigen Agentur GMC, und Anita lernte den für die Band zuständigen Repräsentanten Michael Gruber kennen.

„Sie war ein freigeistiges, wunderbares Mädchen“, berichtet Gruber heute. „Sie zeigte sich an allem interessiert und war eine witzige Person, die man gern um sich hatte. [Anita] sorgte für den zündenden Funken. Manchmal waren Brian oder Keith niedergeschlagen und in sich versunken, und dann ging Anita hin und sagte so was wie: ‚Hört doch mit dem Scheiß auf, kommt aus dem Arsch und lasst uns loslegen.‘“

Da die Band nach dem Ende der Tournee noch einige Aufnahmen machen sollte, wurde Gruber als ihr Agent beauftragt, für die passende Unterbringung zu sorgen.

Gruber: „Ich erinnere mich noch an das Einchecken im Hotel Bel-Air. Ich musste die Buchung unter falschen Namen machen, sonst hätte man uns da nie reingelassen. Normalerweise wohnten wir im Beverly Wilshire, doch Mick wollte unbedingt ins Bel-Air, weil es über große Gärten verfügte und Bungalows für die Unterbringung der Gäste. Ungefähr eine Stunde nach der Ankunft meinte Anita zu mir: ‚Michael, wir wollen die Möbel aus dem Raum haben – wie bleiben ja hier. Die Stones nehmen ihr Album auf und wir haben für Brian schon einen Flügel bestellt.‘ Egal, wenige Stunden darauf wurde der Flügel angeliefert. Während der Nacht hatten die beiden einen unglaublichen Streit. Cary Grant wohnte eine Tür weiter und beschwerte sich über den Krach. Um vier Uhr morgens suchte mich der Manager in meinem Bungalow auf, berichtete von dem ganzen Lärm und dem entstandenen Schaden. Ich ging zu Brians und Anitas Bungalow. Der sah ziemlich verwüstet aus, als sei ein Truck da reingefahren. Anita meine beiläufig: ‚Was soll ich nur mit ihm machen? Er hört einfach nicht zu.‘ Na ja, man warf uns aus dem Bel-Air raus und wir checkten im Beverly Wilshire ein.“

Nach Beendigung der Tour machten die beiden Urlaub auf den Virgin Islands. Anschließend beabsichtigten sie einige Zeit in New York zu verbringen, wo sie die Gelegenheit zu einem Treffen mit Bob Dylan wahrnehmen wollten. Dylan, der eigentlich nicht dafür bekannt war, sich zu Verrückten hingezogen zu fühlen, war fasziniert von den beiden, die sich in ihrem Wesen glichen wie ein Ei dem anderen. Wenn man den Mythen Glauben schenkt, schrieb Dylan „Ballad Of A Thin Man“ 1965 als eine Art von Hymne auf Jonesʼ Komplexität und sein oft abgemagertes Erscheinungsbild. Mögliche Referenzen an Anita finden sich auf dem legendären Album Blonde On Blonde, besonders beim Track „I Want You“. Der Sinn ist natürlich – denkt man an Dylans Hang zur Mehrdeutigkeit – sprachlich chiffriert, doch die Zeile über ein tanzendes Kind, das einen „Chinese suit“ trägt, lässt sich möglicherweise auf Anita zurückführen. Hinzu kommen noch mehrere Andeutungen, wenn der Protagonist sagt, dass die Zeit auf seiner Seite ist (eine eventuelle Anspielung auf den Stones-Track „Time Is On My Side“). Auch der Albumtitel könnte Dylans Interesse an Jones und Pallenbergs bemerkenswerter Uniformität glaubwürdig widerspiegeln.

Während der Audienz beim Barden wurde passenderweise viel in Metaphern gesprochen. „Wir suchten Dylan im Chelsea Hotel auf. Als er Brian das erste Mal sah, fragte er: ‚Na, wie hoch steht dein Paranoia-Zähler, Brian?‘ Dann machte er uns an, denn Brian hatte eine Limousine bestellt, die uns in einen Club bringen sollte. Er meinte: ‚Was soll denn das mit der Limousine? Nur Popstars kutschieren in Limousinen.‘“

Trotz des krachenden Aufpralls auf dem Planeten Rolling Stones führten Anita und Brian ihre Beziehung weiter. Es überraschte niemanden, dass sich schon vor Ende der US-Tour Gerüchte in den Kolumnen der Klatschpresse verbreiteten, die sich um eine mögliche Ehe rankten. Das britische Musikmagazin Disc Weekly war die erste Publikation, die darauf anspielte, dass hinter Anitas Aufenthalt mit Brian in Los Angeles mehr stecken könne, als der Anschein vermuten ließ. Die Schlagzeile auf der Titelseite „Brian Jones Wedding?“ mit einem Foto des Paars wurde von der Presse im großen Stil aufgegriffen und stieß auf eine beträchtliche Resonanz. The New Musical Express folgte schon bald und in der Ausgabe vom 7. Dezember stand, dass in London „in den letzten Tagen Gerüchte die Runde machten, dass Brian Jones von den Rolling Stones kurz vor einer Hochzeit steht. Seine zukünftige Frau ist das 21-jährige deutsche Model Anita Pallenberg. Bei einer Party in Chelsea kommentierte Jones dies kürzlich so: ‚Die Hochzeit ist definitiv geplant, und Bob Dylan wird Trauzeuge sein.‘“

Angesichts der unkonventionellen Grundhaltung der Stones sorgte das Thema von Jones’ Heiratsabsichten für reichlich Mutmaßungen in den Klatschspalten. Überall wurde darüber spekuliert, wie diese bemerkenswerte Frau den schwierigen Stone zähmen und in den Hafen der Ehe locken konnte. Um noch Öl ins Feuer zu gießen, wurde berichtet, dass Anita in den USA beim Betreten einer Hochzeitsboutique gesehen wurde.

Während sich der Klatsch und Tratsch über die Regale der Zeitschriftenhändler verbreitete, bedrängten Reporter das Paar bei der Rückkehr am Londoner Flughafen. „Es wird schon sehr bald sein“, bestätigte Anita, wonach sie kryptisch einlenkte: „… oder es wird nie passieren.“

Jones wurde gedrängt, zu Anitas Aussage Stellung zu nehmen. „Ich denke natürlich über eine Heirat nach“, eröffnete er den wartenden Journalisten. „Anita ist das erste Mädchen, bei der ich mir ernsthafte Gedanken mache.“ Konkret auf Anitas Erklärung angesprochen, verhielt er sich eher ausweichend: „Es ist mir ein wenig peinlich, denn das ist alles privat. Wir schätzen uns sehr und es ist ja ganz offensichtlich mehr als eine flüchtige Bekanntschaft.“

Die Neuigkeiten fanden schließlich ihren Niederschlag in den Teenager-Magazinen. In der Ausgabe der deutschen Bravo vom 3. Januar 1966 wurde die Geschichte auf zwei Seiten ausgewalzt. Obwohl Brian betonte, dass „Anita für mich die Einzige ist“, rutschte ihm noch heraus, dass sie „verrückt“ sei.

Rave veröffentlichte im Februar 1966 einen ganzseitigen, etwas seriöseren Artikel über Anitas und Brians Beziehung mit der Schlagzeile: „Die Story eines Stone – eine Love Story“, auch wenn der aus verschiedenen Quellen zusammengemixte Bericht voller Fehler war. Die letzten Worte des Textes, in dem man die gegenseitige Liebe zu romantisieren versuchte, wirkten allerdings geheimnisvoll: „Was wird nun geschehen? Wird Brian seine Anita heiraten? Das vermag niemand mit Sicherheit zu sagen, weder Brian noch Anita. Die Zeit wird es weisen.“

Ungeachtet seiner Beziehung zu Pallenberg lebte Jones seinen Rock’n’Roll-Lifestyle auf Tour weiter, mit all den Drogen und flüchtigen Momenten körperlicher Lust. Wenn die Band nicht unterwegs war, wohnte der launische Brian in verschiedenen Wohnungen, die er jeweils nur sporadisch nutzte, im Großraum Westlondon. Nachdem er aus einem Stadthaus in Belgravia herausgeworfen worden war, das er sich mit einigen Musikern der Pretty Things geteilt hatte, zog er im März 1965 in eine umgebaute und für seine Verhältnisse sehr bescheidene Wohnung in der Elm Park Lane Nummer 7. Zuerst hatte er Pat Andrews mit ihrem gemeinsamen Sohn Mark dort wohnen lassen, doch nachdem sie eine Unterhaltsklage gegen ihn angestrengt hatte, gab er den beiden den „Marschbefehl“. In dem Haus herrschte für weibliche Besucherinnen eine Politik der sich schnell öffnenden und schließenden Tür; nur Linda Lawrence (die Mutter seines Sohnes Julian), das Model Zouzou und die deutsche Schauspielerin und Sängerin Nico gingen dort regelmäßig ein und aus – bis Anita kam.

Obwohl es nur kurz war, stellte sich für Nico das „Arrangement“ mit Brian als glücksbringend heraus, denn er machte sie mit den damals noch in ihrer Anfangszeit stehenden Velvet Underground bekannt. Ihre Freizeit verbrachten Nico und er mit vulgären Sexspielchen. Später erinnerte sie sich an seine beinahe kindliche Art und seine praktisch unstillbare Lust auf neue Erlebnisse.

„Er ähnelte einem kleinen Jungen mit einem Zauberkasten“, charakterisierte Nico das Leben mit Brian. „Es war für ihn wirklich eine Entschuldigung, gemein und zugleich sexy zu sein. Er las Bücher eines alten englischen Mannes [Aleister Crowley], der der Teufel war. Irgendwann sagte ich ihm, dass ich den Teufel kannte und dieser ein Deutscher gewesen sei!“

Zuerst versuchte Brian, Anita im Haus zwischen den anderen weiblichen Gästen „einzuschieben“, doch im Mai 1966 schob er seinen alten emotionalen Ballast beiseite und sie zog offiziell in das Haus an der Elm Park Lane ein.

Anita hatte den Neid der Fans während der US-Tour mit Brian und den Stones in seiner ganzen Brutalität erlebt, doch die glühenden Verehrerinnen, die außerhalb des Hauses kampierten, zeigten sich ihr gegenüber vergleichsweise wohlgesinnt.

„Vor dem Haus hielten sich immer Fans auf“, berichtet Anita in The Early Stones. „Sie fragten: ‚Dürfen wir auf eine Tasse Tee reinkommen?‘ Und ich antwortete meist: ‚Ja, ja – kommt rein.‘ Und dann haben sie den Abwasch gemacht und gefragt: ‚Dürfen wir Brians Bett machen?‘ Und ich antwortete wieder: ‚Ja, okay, macht das ruhig.‘ Sie machten sich recht nützlich … Es waren einfach liebe, unschuldige Mädchen.“

Jones nutzte die Wohnung als Lager für seine umfangreiche Schallplattensammlung, Schnickschnack aus aller Welt und Spielzeug wie Scalextric und Modelleisenbahnen. Die zentrale Lage war ideal für ihn, um seine professionellen und privaten Angelegenheiten schnellstmöglich erledigen zu können. Für Anita war es geradezu ein Segen, denn die King’s Road (das Epizentrum der Mode in den Sechzigern) lag nur vier Minuten Gehzeit entfernt, obwohl das Lebensgefühl der Chelsea-Boheme ihrer grundsätzlichen Einstellung zuerst widerstrebte.

„Ich habe nie verstanden, warum die Leute barfuß durch die King’s Road zogen“, erzählte sie Steven Severin 2002 für einen Artikel im Guardian. „Zuerst mal war es da dreckig. Und warum sollte sich eine Frau das wohl schönste Accessoire ihrer Garderobe vorenthalten?“ Dennoch ließ sie sich auf das „groovige“ Ambiente von Chelsea ein und seinen sozialen Mix aus abtrünnigen Aristokraten, wohlhabenden Beatniks und progressiv ausgerichteten Künstlern. Es war eine Beziehung, die sie den Rest ihres Lebens aufrechterhielt.

Mit Anita unter einem Dach zu leben, schränkte Brians Solo-Ausflüge in die Londoner Clubszene erheblich ein. „Letztes Jahr, als er noch nicht mit ihr zusammen war, kam er fast jeden Abend hierher“, erinnerte sich eine Kellnerin des Scotch Of St James gegenüber dem Magazin Rave. „Jetzt kommt er kaum noch.“

Brian hatte zwar viele Möglichkeiten, sich mit den Bandkollegen im Backstage-Bereich oder in lauten Clubs zu unterhalten, doch Freizeit abseits von Menschenmengen war eher selten. George Harrison und Jones waren musikalische Seelenverwandte, und eines Tages lud der Beatle Anita und Brian in sein Haus in Esher, Surrey, ein. Harrisons Partnerin Pattie Boyd wohnte mit ihm in dem niedrigen Bungalow und erlebte Anita daher aus nächster Nähe.

„Sie war sehr ungewöhnlich“, beurteilte Pattie das Erscheinungsbild ihres Gastes. „Sie hatte so eine tiefe Stimme mit einem sexy Schweizer Akzent. Sie sah cool und selbstsicher aus, war sich ihrer Schönheit aber nicht bewusst. Sie schlenderte durch unser Haus, redete und wirkte durch und durch fantastisch – ich konnte meine Augen kaum von ihr losreißen. Ich fand sie atemberaubend, dieses Charisma, dieses Selbstvertrauen.“

Doch abgesehen von Anitas coolem Äußeren erkannte Boyd auch, was die Dynamik der Jones/Pallenberg-Beziehung ausmachte.

„Sie hatte die Beziehung unter Kontrolle – definitiv. Man merkte, dass sie machen konnte, was sie wollte. Eigentlich war sie auch ein bisschen unheimlich. Auf mich wirkte [Anita], als habe sie Geheimnisse, die sie nicht enthüllen wollte. Ich bin niemals einem jungen Mädchen mit solch einem Selbstvertrauen begegnet.“

1965 wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Samenkörner für kreative Seelen wie Anita ausgesät und im Jahr 1966 begann die Saat aufzugehen. „Swinging London“, wie man es schnell mit einem Schlagwort einfing, wurde die angesagteste Stadt auf dem Planeten, eine Metropole, in der ein ausgewählter, aber ungemein talentierter Kreis von Künstlern und Denkern die Richtung eines neuen Lebensgefühls vorgab.

Die Signale, die über die Antenne des „Swinging London“ gesendet wurden, machten schnell die Runde um den gesamten Globus. Bevor sich San Francisco 1967 den Status als coolste Stadt der Welt unter den Nagel riss, war London in der ersten Hälfte der Jahrs 1966 das kreative Herz der Welt. Die Jugendmode und Mode allgemein stellten den aufstrebendsten Markt der Welt dar, woraufhin die Leute aus allen Ecken der Nation in die Stadt strömten, um bei der Party mitzumachen. Auch fand in London im Sommer die Fußballweltmeisterschaft statt, was zu einem neuen Nationalstolz bei dem größten Teil der Bevölkerung führte. Der Union Jack, zuvor nur als konservatives und nationalistisches Symbol angesehen, entwickelte sich zu einem Modestatement. Viele bereicherten sich jedoch nur an den Rändern des Phänomens, wohingegen ein konzentrierter Kern der „Macher“ existierte.

„Das glich einer Verschwörung von ungefähr tausend Protagonisten, die mitten in London lebten“, analysiert der angesehene Chronist des Stils Peter York heute. „Anita muss all diese Leute gekannt haben, denn in der Szene kannte jeder jeden. Die ganze Swinging-London-Szene beschränkte sich auf eine kleine Anzahl von Orten.“

Eigenartigerweise war es ein amerikanisches Magazin, das sich als Erstes ausführlich mit dem verbreiteten Gefühl von Emanzipation, kultureller Freiheit und kindlichem Erstaunen auseinandersetzte, welches sich 1966 in Englands Hauptstadt ausbreitete.

Die überschwängliche Coverstory im Magazin Time enthüllte der Welt das Phänomen, das für Anita und ihren Kreis schon seit einigen Monaten zur Realität geworden war. Der ausführliche Artikel versuchte eine Momentaufnahme davon zu machen, wie sich aus einem kreativen Abenteuer das nächste ergab – oftmals täglich ein neues. Die Szene hatte sich schon um einige Schritte weiter entwickelt, als das Magazin in den Handel kam, doch war die Story deutlich tiefgreifender, eindringlicher und ergiebiger als andere Berichte in dieser Zeit.

„Tausende Schallplatten drehen sich in einem immer größer werdenden Orbit von Diskotheken“, hieß es in der Reportage. „Aus eleganten Gaststätten sind Spielhallen geworden. In einer einst grauen Welt verblassender Pracht erblüht im Londoner Leben alles Neue, zuvor nie Dagewesene und Ausgefallene … Die Rolling Stones, deren Musik momentan ‚in‘ ist, regieren als Nachkommen des Königshauses.“

In dem leidenschaftlichen, farbig bebilderten Artikel fanden sich auch Fotos von Anitas Freunden, darunter Jane Ormsby-Gore und Michael Rainey, und ein kurzweiliges Interview mit ihrem Freund und Förderer Robert Fraser, der London zu Recht als das Zentrum des kreativen Bewusstseins der Welt bezeichnete.

„London hat etwas, das New York einst hatte“, meinte Fraser gegenüber Time. „Jeder will hier sein. Es existiert kein [vergleichbarer] anderer Ort. Paris ist wie versteinert. Es gibt etwas Undefinierbares in London, das die Menschen dazu bringt, hier sein zu wollen.“

Während Time richtigerweise Fraser als einen Mann im Zentrum des Geschehens identifizierte, unterschlug das Magazin aber Anita als seine enge Freundin und Stein des Anstoßes. „Groovy Bobs“ grandiose Statur und seine Omnipräsenz erhöhten seine Bedeutung, während Anita zweifellos das feminine Herz der Bewegung repräsentierte. Da alles mit einer blitzartigen Geschwindigkeit ablief, dauerte es noch Jahre, bis Anitas Rolle im großen Zusammenhang richtig eingeschätzt wurde. In seiner Biografie Life hob Keith Richards das Paar [Fraser und Pallenberg] als einen wichtigen Teil der Bewegung hervor und beschrieb sie als einen „Baum, aus dem Londons hippe Szene hervorging“. Dennoch war Anita darauf bedacht, Fraser in der Retrospektive als Impulsgeber all dessen darzustellen, was sich entfalten sollte.

„Robert war allem, was da vor sich ging, weit voraus. Ich verbrachte sechs Monate in New York und war bestens über die Kunstszene informiert. Roberts Gesellschaft empfand ich als höchst angenehm. Wir teilten dieselben Interessen in der Kunst, denn ich stand total auf die Pop-Art. Er war unglaublich authentisch – jung, forsch und charmant und besaß eine eigene Galerie. Er hatte alles.“

Fraser und Pallenbergs Leitfiguren-Status überführte den luftigen und verträumten Idealismus der Bewegung in die Realität.

„Es war eine Zeit der Träume und Fantasien“, erklärte Anita später. „Einige halfen dabei, sie zu verwirklichen, andere versumpften in der Fantasie. Doch alles lag dir zu Füßen. Ob die Drogen damit etwas zu tun hatten – ich weiß es nicht. Wir waren alle noch so jung.“

„Man muss die Winzigkeit der Welt verstehen, in der sie alle lebten“, erklärt Gered Mankowitz. „Es waren Cliquen, man orientierte sich an der Kunst, es war trendy und es war eine kleine Welt, bei der die Drogen im Zentrum standen. Der experimentelle Lifestyle bedingte die Drogen als Zentrum.“

Obwohl es damals niemand aussprach, waren die psychedelischen Drogen der Sprengsatz, der das Swinging London zur Explosion brachte. Während Marihuana im Laufe der Jahre bei Künstlern zu den „Grundnahrungsmitteln“ gehörte, mussten Halluzinogene erst in die kreative Oberfläche der Stadt eindringen. 1966 induzierte eine Droge, bekannt unter dem chemischen Namen Lysergsäurediethylamid, einen lebensverändernden Effekt bei allen, die sie einnahmen. Die Geschichtsschreibung erklärte das Jahr 1967 zu dem Zeitraum, in dem LSD von größtem Einfluss war, doch hatte das Auftauchen der Droge im Jahr 1966 in London weitaus gravierendere Auswirkungen.

Schnell begannen Freizeitchemiker und Gartenlauben-Pharmazeuten aus dem Trend Kapital zu schlagen, doch LSD konnte vor dem Jahr 1965 nur in Laboratorien oder Kliniken „erfahren“ werden. In Zusammenhang mit der Psychotherapie eingesetzt, war die Droge nur mit besonderer Genehmigung bei einschlägigen Institutionen erhältlich. Doch als Berichte der geradezu „kosmischen“ Effekte aus den Behandlungszimmern sickerten, war die Künstlergemeinschaft schnell an diesem exotischen Reiz interessiert. Schon bald sollte sich eine Hintertür öffnen.

Timothy Leary wurde schnell zum populären Verkünder der transformierenden Möglichkeiten der Droge. Er selbst war durch den in den USA lebenden Briten Michael Hollingshead zuerst auf LSD gebracht worden. Dessen spektakuläre Rückkehr nach London im September 1965 wurde mit einem Sturm der Neugier begrüßt, besonders, da sein hochfliegendes Interesse darin bestand, die Welt „auf die Droge zu bringen“. Zu diesem Zweck betrieb Hollingshead das „World Psychedelic Centre“ von seiner Wohnung in der Pont Street im Stadtteil Belgravia aus. Trotz des verheißungsvollen Namens und der glamourösen Location waren die Räumlichkeiten nicht mehr als eine verkommene Kellerwohnung.

Robert Fraser kannte LSD bereits aufgrund eines Erlebnisses in Rom im selben Jahr. Die Droge ließ ihn „so richtig abschweben“, woraufhin er sich mit einigen frühen Acid-Adepten schleunigst auf den Weg in das Psychedelic Centre in der Pont Street machte. Da Hollingshead sich in der Szene kaum auskannte, wurde Fraser einer der ersten LSD-Botschafter. Man sah ihn oft in der Stadt, einen Botschafterkoffer eng an den weißen Anzug gepresst und eine Sonnenbrille mit bunten Gläsern auf der Nase, wodurch er vielen wie ein psychedelischer Arzt erschien.

Schnell verbreitete sich die Nachricht der psychisch enthüllenden und tief greifenden Möglichkeiten in der Regenbogenpresse, woraufhin LSD als gefährlich eingeschätzt wurde. Die positiven und negativen Aspekte wurden später von Musikern auf dem schrägen deutschen Plattenlabel Die Kosmischen Kuriere (oder auch The Cosmic Couriers) thematisiert. Unbeeindruckt von der Tatsache, dass sie Russisches Roulette mit ihrer psychischen Gesundheit spielten, waren Anita und Brian schnell dabei, einen Schluck aus Frasers Zauberbecher zu nehmen – angeblich in seiner Wohnung in der Mount Street. Im Glauben, LSD sei nur ein etwas stärkeres Marihuana, standen die beiden schnell unter einem Schock.

Anita behauptet, dass Fraser der Erste gewesen sei, der Brian LSD gegeben habe; zuvor gab es allerdings noch zwei weitere mögliche Gelegenheiten – und zwar 1965 bei der US-Tour der Stones. Auf jeden Fall bot der erste gemeinsame Acid-Trip Anita einen Einblick in Jones’ innere Zerrissenheit.

„Robert brachte mich auf Acid“, erzählte Anita 2001. „Er war der erste Bekannte in London, der LSD hatte. Ich war an Haschisch gewöhnt, doch dann warfen Brian und ich an einem Abend einen Trip ein und gingen nach Hause. Dort begannen die Halluzinationen.“

„Das erste Mal, dass er Acid nahm“, erinnerte sich Anita später an Jones’ Trip, „sah er Kreaturen, die aus dem Boden kamen, von irgendwo unter dem Parkett. Er durchsuchte alle Schränke nach irgendwelchen Leuten: ‚Wo sind sie?‘“

Für Menschen, die sich bereits auf der schmalen Grenzlinie zischen Realität und Fantasie bewegten, wirkte LSD als verbindendes Element zwischen beiden Wahrnehmungsebenen. Die Droge bestätigte und förderte Anitas Lebensgefühl und sie warf daraufhin mit Begeisterung LSD ein. Während für sie die bewusstseinerschütternde Erfahrung befreiend und lehrreich wurde, erzeugte sie bei Brians angeschlagenem Selbstvertrauen und fehlendem Selbstwertgefühl quälende Visionen. Die dämonenhaften Stimmen und das ungefilterte Erinnerungsvermögen verstärkten seine bereits vorhandene Paranoia.

Trotz seiner vielschichtigen Reaktionen auf die Droge nahm Jones mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit weiterhin LSD. Anita hingegen entwickelte sich in London zu einem regelrechten Avatar der Droge. Für viele stellte LSD geradezu ein Sakrament dar, und so verbanden sich die gemeinsamen Acid-Trips von Anita und Brian auch mit Keith Richards’ Wunsch nach psychedelischen Erfahrungen. Richards schwamm auf der Acid-Welle mit; bald bildete sich ein Trip-Triumvirat. Eine egovermindernde Droge stieß bei einem Menschen wie Mick Jagger, bei dem Charakterzüge wie eine gewisse Affektiertheit und ein ausgeprägtes Konkurrenzverhalten dominierten, nicht gerade auf Begeisterung. Seine Ablehnung schwächte zeitweilig die eigentlich starke Beziehung zwischen ihm und Richards. Daraufhin entstand eine engere Freundschaft zwischen Keith, Brian und Anita.

LSD polarisierte die Szene mehr als jede andere Droge. Menschen mit einer ausgeglichenen, „stahlharten“ Psyche begaben sich auf die Acid-Achterbahnfahrt und sahen ihre Initiation als eine Art Ritterschlag, während andere sich zutiefst ängstigten. Für längere Zeit war der Zutritt zum „psychedelischen Elfenbeinturm“, den Anita und ihre Freunde bewohnten, nur denen möglich, die jemanden kannten, der bereits entsprechende Erfahrungen gemacht hatte. Zu den zahlreichen Slogans, die 1966 in London die Runde machten, zählte auch „You’re not hip till you trip“. Das spielte auf die psychedelischen Erfahrungen an, die jemand gemacht haben musste, um in den „goldenen Zirkel“ aufgenommen zu werden.

Eine neues königliches Paar – Brian und Anita – zog von nun an durch die Clubs, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Eher seriöse Establishments mit einer gehobeneren Kundschaft, die sich durch Beruf und gesellschaftliche Schichtzugehörigkeit definierte, grenzten sich davon ab, doch exklusive Clubs wie das Ad-Lib, der Scotch Of St James und das Speakeasy wurden ins Leben gerufen, um die Protagonisten aus dem Entertainment zu beherbergen, darunter natürlich auch die Pop-Aristokratie.

„Man sah sie in den verschiedenen Clubs der Stadt“, erinnert sich der ehemalige Beatles-Mitarbeiter Tony Bramwell. „Sie torkelten durch das Speakeasy und wurden beinahe rausgeworfen, weil ihr Verhalten auf Empörung stieß. Doch man konnte keinem Rolling Stone die Tür weisen, und so blieb der Bedienung nichts anderes übrig, als sie freundlich zu bitten, sich etwas ruhiger zu verhalten. Brian war meist völlig neben der Spur, doch Anita stand auf dem Parkett und tanzte wild und ungeniert.“

Oft beschränkte sich die gefährliche Abenteuerlust des Pärchens nicht nur auf die Erweiterung ihres Bewusstseins. In sexueller Hinsicht half LSD dabei, das überkommene geschlechtsspezifische Rollenverhalten zwischen Brian und Anita zu verändern. Jones war daran gewöhnt, dass Männer ihre weibliche Beute dominierten. Kam es zum Zeitvertreib mit intimen Spielchen, bestand jedoch Anita darauf, die Führungsrolle zu übernehmen. Durch ihre ausgeprägte Dominanz erforschte sie zahlreiche Ecken und Nischen des Rollentauschs der Geschlechter.

Außerhalb des Schafzimmers zeigte sich in der Öffentlichkeit Pallenbergs ausgeprägte Loyalität gegenüber Brian – die aber manchmal auch bis an eine rasende Eifersucht heranreichte. An einem Abend unterhielt er sich im angesagten Scotch Of St James mit Ronni, einem Model und der Freundin des Musikers Zoot Money. Anita bemerkte das Gespräch, steigerte sich in einen Wutanfall und giftete: „Ich will nicht, dass du dich mit der Schlampe unterhältst.“ Dann drehte sie sich zu Ronni und schlug sie.

Der flüchtige Hauch der Boheme, der die frühsten Tage des Paares kennzeichnete, wurde nun von einer eher gewalttätigen Stimmung verdrängt. Oftmals musste Anita Jones’ Wutausbrüche ertragen und war die Unterlegene. „An einem Tag kam ich zur Wohnung in Chelsea und fand Anita vor, mit blauen Flecken auf dem ganzen Gesicht“, berichtete der Stones-Laufbursche Tony Sanchez. „Es war offensichtlich, dass er sie brutal geschlagen hatte. Als ich sie fragte, was denn geschehen sei, meinte sie; ‚Das geht dich nichts an.‘“

Nach einem besonders brutalen Zwischenfall flüchtete Anita ins Haus einer Freundin, um sich verarzten zu lassen. Früher hatte sie aus Rache schon mal Brians Scalextric-Bahn zerstört oder seine Modelleisenbahnen in der Elm Park Lane verbrannt, aber in diesem Fall war Anita auf eine andere Form der Vergeltung aus. „Ich saß da, in Tränen aufgelöst, und war stinksauer. Meine Wunden wurden behandelt und ich fühlte mich schrecklich“, erzählte sie dem Autor A. E. Hotchner. „Ich beschloss, eine Wachsfigur von Brian anzufertigen und sie mit einer Nadel zu malträtieren. Ich knetete mit Kerzenwachs eine symbolische Puppe, flüsterte bestimmte Worte, schloss die Augen und stach mit einer Nadel in die Wachsfigur. Ich hatte den Magen durchdrungen … Am nächsten Morgen kehrte ich in die gemeinsame Wohnung zurück und fand ihn unter extremen Bauchschmerzen leidend vor. Er war die ganze Nacht wach gewesen und hatte regelrechte Qualen durchlitten. Überall standen Flaschen mit gelöstem Magnesium und anderen Medikamenten. Er brauchte ein oder zwei Tage, um wieder gesund zu werden.“

Marianne Faithfulls Mann, der Galeriebesitzer John Dunbar, konnte aber auch berichten, dass Anita nicht immer die Opferrolle bei der zunehmenden Brutalität einnahm. „Ich erinnere mich an ein Treffen mit Brian, weil es so dramatisch ablief. Es war bei einer Party, und ich kam gerade die Treppe hoch, als er von dieser schönen Frau geschlagen wurde – richtig hart. Es war Anita, die Brian eins verpasste. Sie schlug ihn zusammen. Es war höchst spektakulär und mir blieb die Spucke weg.“

„Anita war nicht einfach die ‚Matratze‘ wie so viele andere Mädchen“, erläutert Stash heute. „Die Frauen wurden damals wirklich schlecht behandelt, doch Anita stand auf und wehrte sich. Sie war ein feuriges italienisches Mädchen. In dem Fall kümmerte sie ihr Geschlecht nicht, denn Anita stand für sich selbst ein.“

Zwischen den eher hitzigen Abenteuern lernte Anita durch Brian die Protagonisten der obersten Schicht der Popszene kennen. Von ihrem Starruhm ließ sie sich allerdings wenig beeindrucken, sondern schätzte diese Menschen nüchtern ein, während sie sich ihr vorstellten.

„Ich war nicht sonderlich aufgeregt, als ich John Lennon kennenlernte“, erzählte Anita dem Romancier und Journalisten Alain Elkann 2017. „Das entspricht nicht meiner Persönlichkeit. Als ich ihm begegnete, empfand ich ihn wie einen Kunststudenten. Ich hatte einen großen Respekt vor Jimmy Page, aber das war es dann auch. Manchmal besuchten wir einen Club namens Ad-Lib, doch ich ging auch allein aus, um mir Pink Floyd oder Jimi Hendrix anzusehen. Mehr durfte ich eigentlich nicht, da die meisten Rockstars chauvinistische Männer waren, die in ihren jeweiligen Lagern steckten. War man im Beatles-Lager oder dem der Who, konnte man nicht zu den Rolling Stones gehören.“

Andere Leute außerhalb des Musikgeschäfts konnten Anita, die sich bereits über einen großen Freundeskreis freuen konnte, doch beeindrucken. Tara Browne war ein 20-jähriger Mann, der im öffentlichen Leben stand. Er hielt sich in den coolsten Locations von Europa auf, doch wie viele andere im Goldrausch Mitte der Sechziger hatte er seine Basis in London, wo er sehr geschätzt wurde. Der Sohn von Oonagh Guinness und Dominick Browne, 4th Baron Oranmore und Browne, war der zukünftige Erbe eines riesigen Familienvermögens, darunter ein 2000 Hektar großes Anwesen in Irland und zahlreiche Vermögensanlagen rund um den Globus.

Der hinsichtlich seines Vermögens die anderen wohlhabenden Aristokraten der damaligen Zeit weit hinter sich lassende Browne konnte problemlos alles unternehmen, was ihm Freude bereitete, und zeichnete sich durch eine ungewöhnliche Intelligenz aus. Er war Ehemann, Vater, Clubbesitzer, Investor, mit Hunderten von Menschen befreundet und hatte ein geradezu enzyklopädisches Interesse, was ihn in Kontakt mit denselben Kulturkreisen brachte, aus denen heraus Anita wirkte. Er hatte Zugang zu den angesagtesten Charakteren Londons, und er unterhielt schon bald eine enge und lebensfrohe Freundschaft mit Brian und Anita. Die beiden wurden von ihren Bekannten bereits als „verwunschene Zwillinge“ bezeichnet, doch durch den „Neuzugang“ von Browne, der einen ähnlichen Gang und auch blonde Haare hatte, wurden sie ein einzigartiges Triumvirat.

Browne konsumierte natürlich auch die damals populären chemischen Substanzen, was als eine Selbstverständlichkeit galt. Das Rasen unter Einfluss der oft stimmungsaufhellenden chemischen Cocktails wurde gelegentlich ein Erlebnis, das er mit Freunden und Bekannten teilte.

„Ich erinnere mich, dass ich bei einem der ersten Acid-Trips von Tara Browne dabei war“, berichtete Anita 1996. „Er besaß einen Lotus-Sportwagen. In der Nähe des Sloane Square wurde plötzlich alles rot, die Bäume entflammten und wir sprangen aus dem Wagen und ließen ihn stehen.“

Es überraschte wirklich keinen, dass man Browne 1966 den Führerschein entzog, was ihn in sicherer Entfernung zur Straße hielt, bis ihn im Dezember des Jahres eine wesentlich tragischere Bestrafung ereilte.

Tara Brownes 21. Geburtstag im Frühling 1966 wurde zu einem Anlass, dem Überschwänglichen und Dekadenten freien Lauf zu lassen. Natürlich war Anitas Anwesenheit obligatorisch. Obwohl zahlreiche Londoner Locations die Feier problemlos ausgerichtet hätten, wurde Brownes Familiensitz Lugga Lodge in den irischen Wicklow Mountains für angemessener erachtet. Das war für den inneren Kreis des Swinging London ein willkommener Anlass, sich massenhaft zu einigen Tagen der Ausschweifungen aufzumachen.

Die Feierlichkeiten sollten am Wochenende beginnend mit dem 23. April starten, also wenige Wochen nach Taras wichtigem Geburtstag. Seinem Stil entsprechend charterte man zwei Caravelle-Passagier-Jets, um die über 200 Partygäste, ein bunt gemischter Haufen aus jungen Aristokraten und der hippen Elite, nach Dublin zu befördern. Zu den Partywütigen gehörten Paul McCartney, der wohlhabende Paul Getty und seine damalige Freundin Talitha Pol, der Designer und Lebemann Christoper Gibbs, der Innenausstatter David Mlinaric, der neue BBC-Moderator David Dimbleby und natürlich Anita, Brian und Mick Jagger, Letzterer zusammen mit seiner Freundin Chrissie Shrimpton.

Um sie alle in Partylaune zu bringen, hatte der kreative Designer Bill Willis gleich eine ganze Flasche LSD mitgebracht und Anita, Brian und Taras Frau schon auf die Reise geschickt, bevor der Flieger mit Kurs auf die irische Hauptstadt abhob. In Dublin angekommen, standen Limousinen bereit, um die Gäste zu der eine Fahrtstunde entfernten Lugalla Lodge zu bringen. In Anitas und Brians Limo saßen auch der Fotograf Michael Cooper, Paul Getty und Talitha Pol.

Die Fahrtroute führte die aufgeregten und erwartungsfreudigen Gäste über die schmalen und sich windenden Straßen durch die spektakulären Wicklow Mountains, eine Landschaft, die, verstärkt und ergänzt durch die LSD-Visionen, ein Gemeinschaftsgefühl entstehen ließ. Irgendwann forderte Brian Jones einen kurzen Halt der Karawane, um sich zu erleichtern. Sie hielten auf einem hoch gelegenen Berggipfel, der einen Ausblick auf das Guinness-Anwesen ermöglichte.

„Das war alles verdammt hart“, erinnerte sich Anita in Michael Coopers Blinds & Shutters. „Wir fuhren in einer Limousine und sahen plötzlich eine tote Bergziege. Wir stiegen alle aus, tickten völlig ab.“

Wie immer war Cooper darauf versessen, die Momente der Euphorie und des Erschreckens einzufangen, die sich vor seinen Augen abspielten. Auf einem Foto sieht man Anita, Brian, Bill Willis und Nicky Browne, die eng beieinander für die Kamera posieren, im Hintergrund die Schönheit des Lough Tay, die zu verschwimmen scheint. Ein eher intimer Schnappschuss zeigt Pallenberg in Jeans und Pullover, flankiert von Jones und der frierenden Nicky Browne. Letztere hat aufgrund der kühlen Frühlingstemperaturen das Gesicht verzogen. Im Gegensatz zu Jones, dem die Erfahrung nicht zu bekommen schien, strahlte Anita, lächelte entrückt durch die chemischen Substanzen, die ihr Bewusstsein zu neuen Horizonten führten. Nach der Ankunft beim Browne-Anwesen starteten die Gäste das, was später als „ein entscheidender Moment in den Sixties“ beschrieben wurde. Laut Nicky Browne in Paul Howards fantastischem Buch I Read The News Tody, Oh Boy spürten sie und Anita etwas Merkwürdiges von Mick Jagger ausgehen. Der Stones-Frontmann befand sich in den Klauen eines aufreibenden LSD-Trips. „Anita und ich dachten plötzlich, dass Mick Jagger der Teufel sei“, berichtete Browne dem Autor. „Wir schlossen ihn im Innenhof ein und rannten dann in den hinter dem Haus gelegenen Wald. Wir hatten Walkie-Talkies bei uns, ich glaube, sie waren ein Geschenk für Tara. Wir standen also im Wald und sprachen da rein … natürlich total paranoid, und beobachteten, wie Mick versuchte, aus dem Innenhof auszubrechen.“

Da LSD eine wichtige Rolle bei der Party spielte, verbreitete sich schnell eine Alice im Wunderland-Stimmung. Die Sunshine-Pop-Musiker The Lovin’ Spoonful (eigens von einer UK-Tour eingeflogen) halfen dabei, einen glitzernden Soundtrack zu kreieren für ein Happening, in der Realität und Fantasie miteinander verschmolzen. Diese Konzentration der Londoner-Top-Szene – weit abseits der Hauptstadt – verlieh allen Flügeln. Von diesem Moment an schienen sie die Art von Maßlosigkeit und Überschwänglichkeit erreicht zu haben, von der sie zuvor nur geträumt hatten.

Wie ein Regenbogen

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