Читать книгу Mami Staffel 12 – Familienroman - Sina Holl - Страница 10

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Gerhard Schilling fand wenig Schlaf in dieser Nacht. Im Schein der Leuchtreklame, der vom gegenüberliegenden Haus durch das Fenster fiel, sah er die gepackten Koffer, den leergeräumten Schreibtisch. Darauf lag nur noch seine Brieftasche mit, unter anderem, den Flugtickets für sich und für sein Kind.

Manchmal stand er auf, ging auf leisen Sohlen herum. Wie nackt solche Zimmer wirkten, wenn nichts Persönliches mehr darin war. Morgen würde der neue Mieter einziehen, die Wohnung und die Möbel übernehmen. Nur das Kinderbett brauchte er nicht. Er konnte es verkaufen oder verschenken.

Gerhard betrachtete sein Töchterchen, das reglos darin schlief, das »Bärli« neben sich auf dem Kopfkissen. Seine Züge wurden weich. Seine Angela, sein Engelchen. Sie sah so süß aus mit dem blassen Gesichtlein unter dem leichtgelockten dunklen Haar. Auch für sie sollte nun ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Aber immer sollst du behütet sein, dachte der Mann voller Zärtlichkeit.

Er setzt sich wieder auf seine Bettkante und sah vor sich nieder.

Fünfeinhalb Jahre New York… Es war nun genug. Ohne Bedauern ließ er den Moloch einer Stadt hinter sich. Mit seinen Häuserschluchten, den Straßen ohne Grün, in denen jedermann auf der Jagd nach irgend etwas zu sein schien. Eine Stadt von einer bis ins Maßlose gesteigerten Ungewöhnlichkeit, in der alles möglich war.

Und für ihn, Gerhard Schilling, war hier das Märchen »Vom Tellerwäscher zum Millionär« möglich und Wahrheit geworden.

So war es freilich nicht, daß er hätte ganz unten anfangen müssen, wenn er nur aus Abenteuerlust nach Amerika gegangen wäre. Zwar hatte er kaum Geld in der Tasche gehabt, als er hier angekommen war, aber er hatte eine gute Ausbildung. Mit knapp neunzehn Abitur gemacht, dann eine Banklehre und ein weiterführendes Studium der Betriebslehre und Wirtschaftswissenschaften mit besten Noten absolviert.

Seinen guten Eltern hatte er es zu verdanken, daß er noch die Universität hatte besuchen können. Die Verhältnisse waren bescheiden. Der Vater war Hausmeister in einer Wohnanlage, es gab noch zwei jüngere Geschwister, da hieß es sich einschränken. Aber der Große sollte mal was Besseres werden, weil er den Kopf dafür hatte, war die Meinung der Eltern gewesen. Um ihnen nicht zu sehr auf der Tasche zu liegen, hatte er nebenbei gejobbt.

Als er gerade ins Erwerbsleben einsteigen wollte, sich schon seit längerem hier und dort um eine Anstellung beworben hatte, da war der Brief aus New York gekommen, von einem Notar namens Timothy Wesson. Er enthielt die Mitteilung, daß der verstorbene Arthur Hall mangels direkter Nachkommen seiner Nichte Monika Schilling, geb. Hall, eine Erbschaft über 30.000 Dollar hinterlassen hatte.

Das hatte einige Aufregung gegeben, denn auch die Mutter wußte doch kaum etwas über diesen Onkel, der nach dem 2. Weltkrieg nach Amerika ausgewandert war. Es war für eine Familie, in der es um die Haushaltskasse immer knapp bestellt war, eine beträchtliche Summe.

Alsbald war es beschlossene Sache, daß Gerhard sich dieser Angelegenheit annehmen sollte. Er sollte nach New York fliegen und das Erbe für seine Mutter antreten.

»Und bleib eine Weile«, hatte ihm der Vater geraten. »Ich hatte nie Gelegenheit, mal rauszukommen. Sieh du dich jetzt ein bißchen in der Welt um. Das wird auch für dein berufliches Fortkommen nur von Vorteil sein.«

Daß er Jahre fernbleiben würde, damit hatte freilich niemand gerechnet. Gerhard zu allerletzt.

Er hatte es gründlich getan, sich umgesehen und umgehört in der neuen Welt. Fünftausend Dollar hatte er sofort nach Hause geschickt, mit dem anderen… ja, da hatte er alles auf eine Karte gesetzt, als er eine Riesenchance an der Börse sah.

Es war ein Vabanquespiel gewesen. Er konnte sehr viel gewinnen – oder alles verlieren.

In diesem Falle, so sagte er sich, würde er es seiner Mutter von seinem späteren Verdienst zurückzahlen.

Doch er hatte nicht auf das falsche Pferd gesetzt! Die gekauften Aktien schossen in die Höhe, bald hatte sich die eingesetzte Summe vervielfältigt. Kühn und wagemutig, aber dennoch mit kühlem Kopf, hatte er die erkannte Chance weiter genutzt. Das Konto wuchs und wuchs, allein die Zinsen waren beträchtlich. Die schickte er nach Hause.

Seinen Lebensunterhalt bestritt er von seinem Verdienst in einer amerikanischen Firma, in der er eine Anstellung gefunden hatte. Hier leistete er gute Arbeit und konnte zudem in diesem hochtechnisierten Büro sein Wissen erweitern. In diesem Land war alles noch größer, noch rasender in der fortschrittlichen Entwicklung.

Zweimal war er zu seinen Lieben nach Hause geflogen, das letzte Mal vor zwei Jahren. Die Wohnung war renoviert, neue Möbel gekauft worden. Ansonsten waren sie bescheiden geblieben. Die Zahlen, mit denen der Sohn jonglierte, verschreckten die Eltern eher.

»Gewöhne dich doch nur daran, nicht mehr jede Mark umzudrehen, Mama«, hatte Gerhard liebevoll zu seiner Mutter gesagt. »Es ist dein Erbe, mit dem ich es zum Erfolg gebracht habe.«

»Aber nur deiner Umsicht und Klugheit ist es zu verdanken, daß du ein reicher Mann geworden bist«, erwiderte sie und war doch stolz auf ihn.

Nur über sein Privatleben schwieg sich der Sohn zu ihrem Leidwesen weitgehend aus. Warum nur, so klagte sie, brachte er seine Frau und das Kind nicht einmal mit. Daß sie Großeltern geworden waren, das wußten Monika und Arno Schilling.

»Angela ist noch zu klein«, wich Gerhard aus. »Mit ihrer Mutter bin ich nicht verheiratet.«

»Wer wird denn auch gleich heiraten«, sagte Anna, mit ihren vierzehn Jahren die jüngste, mit einem überlegen tuenden Lächeln.

»Mir wäre es schon lieber, wenn du dich später an die Reihenfolge hieltest, du Naseweis«, grollte der Vater. Dem einfachen, biederen Mann wuchsen die Jungen schon manchmal über den Kopf.

Aber wenn er nun für immer nach Hause kam, sinnierte Gerhard in dieser Nacht weiter, da er einen Rückblick auf die vergangenen Jahre hielt, würde er ihnen die Wahrheit bekennen müssen. Das würde ein großer Kummer besonders für seine Mutter sein.

Die Wahrheit war nämlich, daß er finanziellen Erfolg hier zwar im Übermaß gehabt hatte, ihm aber in der Liebe das Glück versagt geblieben war. Vielleicht konnte man nur das eine oder andere haben.

Gerhard legte sich wieder auf sein Bett. Er wollte nun nicht mehr weiter denken. Er wollte noch eine Stunde Schlaf suchen. Es gelang ihm nicht. Hinter seinen geschlossenen Lidern erstand Lizzys Bild, hübsch, jung und verführerisch und so eitel, daß sie an keinem Spiegel, keinem Schaufenster vorübergehen konnte, ohne sich darin zu betrachten.

Daß sie eitel und oberflächlich war, hatte er erst später erkannt. Oder er hatte es nicht sehen wollen in seiner Verliebtheit. Er hatte nicht viel Erfahrung mit Mädchen. Für Liebeleien hatte es bisher in seinem Leben nur wenig Platz gegeben. Lizzy hatte ihn betört, mit ihrem tänzelnden Gang, mit ihren funkelnden Blicken. In einem Café hatte er sie kennengelernt, sie bediente dort. Eigentlich wollte sie studieren, hatte sie ihm anvertraut, aber sie wußte nicht, für welchen Studiengang sie sich entscheiden sollte. Mit gerade mal zwanzig Jahren hatte sie ja auch noch Zeit, nicht wahr? Inzwischen verdiente sie sich hier ein bißchen Geld.

Ihr roter Mund lachte dabei. Sie schien das Leben mit einer Leichtigkeit zu nehmen, die ihm abging.

»Du bist eben ein ernsthafter Deutscher«, neckte sie ihn. »Aber du gefällst mir trotzdem wahnsinnig gut.«

Sie war bald zu ihm gezogen, weil sie keine richtige Bleibe hatte, nur ein Sofa bei einer Freundin. Sie war noch nicht lange in New York.

»Für ein Mädchen allein ist das ein viel zu gefährliches Pflaster«, hatte er gesagt, und er hatte sie in seine Arme genommen. Sie sollte geborgen bei ihm sein.

War er ein Narr gewesen, daß er geglaubt hatte, mit Lizzy glücklich zu werden!

Zuerst hatte es auch so ausgesehen. Lizzy war der sonnige Ausgleich für ihn, der sich in der harten Arbeitswelt behauptete und seine Börsengeschäfte dabei nicht aus den Augen ließ.

Nach zwei, drei Monaten ihres Zusammenlebens wurde sie schwanger.

»Das ist ja irre«, sagte sie verdutzt. »Wir kriegen ein Kind.«

»Dann werden wir heiraten«, kam es wie selbstverständlich über seine Lippen. Sie hatte langsam den Kopf geschüttelt.

»Nein, heiraten will ich noch nicht. Das muß man ja auch nicht. Das sind nur so deine Vorstellungen, Gerd. Aber ein Kind…« Sie dachte nach. »Hi«, machte sie dann, »das wäre vielleicht ganz lustig. Es gibt Frauen, die werden noch hübscher nach einem Kind.« Sie trat vor den Spiegel. »Sieht man mir schon was an?«

Gerhard mußte lächeln. War sie nicht selber noch ein Kind? »Du bist hübsch genug«, sagte er, »und du wirst eine bezaubernde Mama sein.«

Sie wurde es nicht.

Das zarte kleine Mädchen, das sie zur Welt brachte, betrachtete sie zuerst als eine Art Spielzeug. Aber es war nun einmal keine Puppe, und daß es auch nicht gerade »lustig« war, Tag und Nacht für ein Baby dasein zu müssen, wurde ihr schon bald klar. Sie ging gereizt und ungeduldig damit um. Gerhard hoffte, daß es mit der Zeit besser werden würde, mütterliche Gefühle siegen würden. Aber Lizzy wurde immer unzufriedener.

»Manchmal habe ich das Gefühl, daß du Angela gar nicht liebhast«, sagte Gerhard bedrückt.

»Sie überfordert mich total«, behauptete Lizzy. »Wie hätte ich mir das vorstellen können, daß ich nun überhaupt kein eigenes Leben mehr haben soll. Das bring ich einfach nicht zusammen.«

Gerhard beschaffte ein Kindermädchen, das halbtags kam. Damit war Lizzy nicht mehr so ans Haus gebunden. Sie konnte wieder ausgehen, flanieren, ihre Freundin besuchen.

Und eines Tages kam sie nicht mehr wieder. Ein Zettel lag auf dem Tisch. Ich gehe, Gerd. Suche nicht nach mir. Ich tauge nicht zur Mutter. Es tut mir leid. Lizzy.

Da hatte sich ihre Beziehung schon so weit abgekühlt, daß es Gerhard nicht das Herz zerriß. Längst hatte er erkannt, daß sie keine Partnerin fürs Leben für ihn war. Aber da war das Kind! Zwei Jahre alt nun, und geliebt nur von ihm, dem Vater.

Gina bekam eine Ganztagsstellung bei Mister Schilling. Sie sorgte gut für Angela, spielte mir ihr, führte sie spazieren. Seine Freizeit widmete Gerhard dem Kind, das den Papa vergötterte.

Er redete mehr und mehr Deutsch mit der Kleinen, die es auch spielend lernte. Für ihn stand es fest, daß er eines Tages in die Heimat zurückkehren würde.

Dieser Tag war nun gekommen.

Draußen war es hell geworden, früher Morgen. Er konnte jetzt schon aufstehen. Eine kalte Dusche würde ihm die Nachtgedanken vertreiben.

Dann würde er Angela anziehen und mit ihr zum Flughafen fahren. Sie war das Wertvollste, das er von hier mitnahm.

*

»Mein Junge! Ist das schön, daß du wieder daheim bist!«

Mit Freudentränen in den Augen umarmte Monika Schilling ihren Sohn. Der »Junge« war einen halben Kopf größer als sie, er drückte seine rundliche Mutter an die Brust.

»Ich freue mich auch, Mama«, murmelte Gerhard gerührt. Er ließ sie los. »Und das ist nun deine Enkelin Angela…«

Sie wandten sich dem kleinen Mädchen zu, das schüchtern mit dem Teddybär im Arm dastand. Spontan hob Monika die Vierjährige zu sich empor.

»Ich bin deine Oma, Angela.«

Mit einem ernsthaften Ausdruck sah das Kind ihr ins Gesicht. Dann nickte es. »Papa hat mir schon gesagt, daß wir zu Oma und Opa kommen. Wo ist denn der Opa?«

»Der wird auch bald dasein. Er muß noch arbeiten. Weißt du, in solchen großen Häusern mit zehn Stockwerken gibt es immer viel zu tun. Dein Opa sorgt dafür, daß alles in Ordnung ist.«

»Hier gibt es aber doch gar keine großen Häuser«, wandte Angela ein. »Sie sind alle klein.«

»Vergiß nicht, daß deine Enkelin aus New York kommt«, schmunzelte Gerhard.

»Ach ja!« Seine Mutter lachte leicht auf, sie strich Angela die hübschen Locken aus der Stirn. »Aber ich bin froh, daß du wenigstens deutsch sprichst. Deine Oma kann nämlich kein Wort englisch.«

»Mein Papa hat immer so mit mir gesprochen«, erklärte ihr die Kleine. »Gina nicht. Die konnte das nicht.«

»Gina war das Kindermädchen«, warf Gerhard ein.

»Das Kindermädchen, so.« Monika ließ die Enkelin aus ihren Armen gleiten. Von der Existenz einer Mutter schien hier nicht die Rede zu sein. »Du wirst dich ein bißchen frischmachen wollen, Gerhard. Rolfs Zimmer habe ich für euch hergerichtet. Er wohnt ja schon mit seiner Freundin zusammen.« Sie zuckte die Achseln. »So ist das eben heute.«

Alles war liebevoll vorbereitet, ein zweites kleines Bett für das Kind aufgestellt. »Du hattest mir ja schon geschrieben, daß du mit Angela allein kommen würdest«, sagte die Mutter mit abgewandtem Gesicht. Als der Sohn darauf schwieg, fügte sie fragend hinzu: »Kommt sie nach?«

»Nein.« Gerhard trug die Koffer aus der Diele herein. »Ich werde es euch später erzählen.«

Anja kam hereingewirbelt. »Hallo, Großer, da bist du ja schon!« rief sie und umarmte den Heimgekommenen.

»Hallo, Anja!« Schlank und rank war sie geworden, die nun Sechzehnjährige.

»Du hast ja deinen Babyspeck verloren«, neckte Gerhard sie.

»Ja, und jetzt kommst du, wo ich groß genug bin, um allein nach New York zu fliegen. Aber du hast mich ja auch nicht eingeladen«, schmollte sie scherzhaft. Dann sah sie Angela, der die Oma in der Küche etwas zu trinken gegeben hatte.

»Das ist deine Tante Anja«, sagte Monika.

»Ph, Tante. Wer sagt denn heute noch Tante. Ich bin einfach die Anja. Und du bist eine kleine Süße. Ich werde dich Angie nennen.«

Zum Abendessen saßen sie alle um den großen runden Tisch. Nur Rolf fehlte, er wollte am Sonntag kommen. Angela betrachtete etwas ängstlich den Opa, der so ein breitschultriger, starker Mann war, und einen Bart hatte er, der gekitzelt hatte, als er sie hochhob und ihr ein Küßchen gab.

»Nun iß mal schön, du Spatz«, ermunterte Monika ihre Enkelchen. »Du wirst dich doch nicht fremd bei uns fühlen.«

»Sie muß sich erst daran gewöhnen, in einer Familie zu sein«, meinte Gerhard lächelnd. Darauf war es einen Moment still in der Runde.

»Was ist ein Spatz?« wollte Angela nach einigem Nachdenken wissen.

Anja erklärte es ihr. Sie ließ ihre Hand über den Tisch hüpfen, als wäre der kleine Vogel, der Krümchen aufpickte. Damit brachte sie das ernste Gesichtchen endlich einmal zum Lächeln.

Aber bald wurde sie doch sehr müde, nach dem langen Flug, der in aller Morgenfrühe begonnen hatte, und den vielen, vielen neuen Eindrücken.

»Ich bring dich ins Bett«, sagte die Oma. »Dir fallen ja schon die Äuglein zu.«

»Nein, Papa«, wisperte das Kind. »Das tut immer mein Papa.«

Später brachte Arno Schilling eine Flasche Wein auf den Tisch. Die Heimkehr des Sohnes mußte doch gefeiert werden. Nur Anja wollte noch mal weg, sich mit Freundinnen treffen.

»Aber um zehn bist du zu Hause«, sagte der Vater streng.

Anja zwinkerte ihrem Bruder zu. »Da siehst du, wie man’s mit mir macht. Wenn man die Jüngste ist, wird man ewig noch wie ein Kind behandelt.«

»Laß nur, erwachsen wirst du noch früh genug«, sagte Gerhard heiter.

Als eingeschenkt war, begann der Vater ernst: »So, nun möchten wir doch gern mal wissen, was eigentlich mit deiner Frau ist. Oder mit deiner Lebensgefährtin, wie man heute sagt, denn verheiratet seid ihr ja wohl nicht, obwohl ihr ein Kind zusammen habt.«

»Ja, da sind wir nie draus klug geworden«, bestätigte Monika. »Und jetzt kommst du auch ohne Lizzy. So heißt sie doch?«

Gerhard nahm erst noch einen Schluck von dem guten Wein, dann holte er tief Atem. »Es wird euch nicht gefallen, was ich euch jetzt erzählen muß. Angelas Mutter ist vor zwei Jahren gegangen.«

»Was heißt, gegangen?« fragte der Vater barsch.

»Plötzlich hat sie uns verlassen. Ohne Abschied, ohne Vorbereitung. Sie ließ nur einen Zettel zurück, daß sie nur zur Mutter nicht tauge.«

»Zur Mutter nicht tauge«, wiederholte Monika entsetzt. »Gibt es denn so etwas? Man läßt doch sein Kind nicht im Stich.«

»Das sagst du, Mama. Du hast für uns, für deine Familie gelebt. Lizzy war leider ganz anders. Sie wollte ja auch nicht heiraten. Sonst hätte ich unsere Verbindung schon legalisiert, als das Kind kam.« Gerhards Blick verlor sich. »Im Nachhinein betrachtet, war es gut, daß es nicht dazu gekommen ist. Es vereinfachte die Sache.«

»Aber für dich muß das doch furchtbar gewesen sein«, sagte seine Mutter erregt. »Wie bist du denn nur zurechtgekommen, allein mit einem Kleinkind?«

»Das ging schon. Ich hatte ein nettes Kindermädchen, das Angela gut versorgte, wenn ich tagsüber nicht da war.«

»Aber Mutterliebe konnte ihr doch eine fremde Person niemals geben!« rief Monika aus und schlug die Hände zusammen.

»Die hatte Angela auch vorher schon nicht. Lizzy hat ihr Kind nicht wirklich geliebt. Sie hatte keine Vorstellung davon, was es an Verantwortung mit sich bringen würde. Sie hatte sich gedacht, ein Baby, das wäre so eine Art Spielzeug, mit dem eine hübsche junge Frau herumtändeln könnte. Als sich das als ein Irrtum herausstellte, war kein Auskommen mehr mit ihr.«

»Du lieber Himmel!« seufzte Monika, und sie blickte nach oben, als könnte der Himmel ihr Antwort geben auf etwas, das ihr Begriffsvermögen überstieg.

»Da frage ich mich nur«, grollte ihr Mann, der bisher nur schweigend, mit zusammengezogenen Augenbrauen, zugehört hatte, »warum du dich mit so einer Person eingelassen hast.«

Gerhard hob die Schultern, sein Mund verzog sich zu einem selbstironischen Lächeln. »Hinterher ist man immer klüger«, murmelte er.

»Das arme, arme Ding«, klagte seine Mutter, und sie schüttelte heftig den Kopf dabei. »Da hätte ich mir für mein erstes Enkelchen doch ein anderes Los gewünscht. Darum ist sie auch so still und unkindlich ernsthaft.«

»Ach, Angela kann auch ganz lebhaft sein«, nahm Gerhard sein Töchterchen in Schutz. »Sie entwickelt sich ganz normal. Sie ist aufgeweckt und lernt schnell. Ihr müßt bedenken, welche Umstellung das jetzt für sie ist.«

»Natürlich. Aber trotzdem kann sie einem leid tun.«

»Jetzt hör auf zu jammern«, warf Arno Schilling ein. »Es gibt Schlimmeres.«

»Schlimmeres, wenn ein Kind keine Mutter hat?« begehrte seine Frau vorwurfsvoll auf.

Sie schwiegen. »Und was sind deine weiteren Pläne?« fragte der Vater nach einer Pause ablenkend.

»Jetzt laß Gerhard doch erst mal zur Ruhe kommen, Arno«, mahnte Monika. »Da muß man ja nicht gleich am ersten Abend drüber reden.«

»Warum nicht, Mama. Ich habe doch meine festen Vorstellungen. Vordringlich werde ich eine Wohnung suchen. Ihr sollt euch nicht lange unseretwegen räumlich einschränken müssen.«

»Für dich bedeutet es eine Einschränkung, Junge«, meinte Monika. »Für uns doch nicht. Ich kann gar nicht genug Familie um mich haben.«

»Ich weiß.« Gerhard lächelte seiner Mutter flüchtig zu. »Aber ich will mein neues Leben sobald wie möglich im Griff haben«, fuhr er sachlich fort. »Für Angela möchte ich einen Platz in einem Kindergarten finden. Sie soll nicht immer nur unter Erwachsenen sein, sie muß auch Umgang mit Gleichaltrigen haben.«

»Das ist schon richtig«, nickte Monika. »Aber vergiß nicht, daß sie auch eine Oma hat, die sie gern ein bißchen verwöhnen möchte.«

»Das vergesse ich nicht, Mama. Wir werden dich schon noch brauchen.« Gerhard rückte an seinem Glas, das noch halbvoll war. »Ja, und dann werde ich mir wieder eine Stellung suchen. Ich habe drüben eine Menge an Wissen und Erfahrung gesammelt, und hochqualifizierte Arbeitskräfte werden immer gesucht. Da ist mir nicht bange.«

Die beiden Männer redeten über die allgemeine Wirtschaftslage. Es war ein Thema, über das man sich ausbreiten konnte.

Anja kam hinzu. Sie hob den linken Arm und deutete auf die Uhr an ihrem Handgelenk. »Bitte zu beachten, daß ich pünktlich bin«, bemerkte sie. Dabei sah sie auf ihren Vater.

»Ausnahmsweise«, bemerkte dieser trocken. »Weil Gerhard da ist.«

Sie lachte und warf sich in einen Sessel, streckte die jeansbehosten Beine weit von sich. Dann sah sie von einem zum anderen. »Ihr macht so ernste Gesichter«, stellte sie fest. »Um was geht’s denn?«

»Um den Ernst des Lebens, Schwesterchen, von dem du noch keine Ahnung hast«, antwortete Gerhard.

»Das sagst du. Hast du ’ne Ahnung, was von Kids alles verlangt wird, und wie die Lehrer einen nerven, bis zum Zusammenbruch.«

»Ach ja? Ist das nicht eher umgekehrt der Fall«, sagte der Bruder erheitert. Anja schnitt eine Grimasse. Sie rutschte im Sessel zurück und schwang ihre Beine über die Lehne, was ihr einen Verweis ihres Vaters eintrug.

»Mußt du dich so hinfläzen? Jetzt bist du gerade sechzehn geworden und weißt dich immer noch nicht zu benehmen.«

»Okay, okay.« Anja setzte sich wieder gerade hin, sie sah ihren Bruder bedeutungsvoll an. »Ich wünschte, ich wär’ an deiner Stelle.«

»So, möchtest du lieber schon dreißig sein?« lächelte Gerhard.

»Nenee, das nun grad nicht«, sagte Anja schnell. »Aber du kannst doch jetzt leben, wie es dir gefällt. Du kannst dir, zum Beispiel…«, ihre Augen wurden träumerisch, »eine tolle Villa in Saint Tropez kaufen, und… ja, eine Luxusyacht dazu, und…«

»Ach, du meinst, ich würde mich jetzt auf die faule Haut legen«, unterbrach Gerhard amüsiert die Spinnereien seiner jungen Schwester.

»Na klar, was sonst? Du wärst ja blöd, wenn du noch was arbeiten würdest.« Bei den letzten Worten setzte sie zu einem herzhaften Gähnen an.

»Geh schlafen, Anja, bevor du noch weiter solche Sprüche von dir gibst«, sagte ihre Mutter. »Morgen hast du um acht Uhr Schule.«

Das Mädchen schob sich aus dem Sessel. »Wir reden morgen weiter, Gerd. Schlaft mal alle gut.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Ich seh noch mal nach Angela, ja?«

»Aber mach leise, daß sie nicht aufwacht«, riet die besorgte Oma.

Anja nickte. Sie wedelte kurz mit der Hand und verschwand.

»Wenn sie schläft, kann man sie forttragen«, bemerkte Gerhard über sein Töchterchen. Eigentlich sollten sie jetzt auch schlafen gehen, aber da war noch Wein in den Gläsern, und sie waren auch so angeregt. Es war doch der Abend des Wiederfindens nach langer Trennung.

»Was unser Küken daherredet, ist natürlich Unsinn«, begann Gerhard. »Aber du könntest vorzeitig in Ruhestand gehen, Papa. Du bist siebenundfünfzig, und du hast von frühester Jugend an hart gearbeitet.«

»Ich denk’ nicht dran«, wehrte Arno Schilling ab. »Was sollt’ ich denn den ganzen Tag tun? Hier herumsitzen?«

»Schöne Reisen mit Mama machen, euch etwas gönnen…«

»Jetzt redest du schon wie Anja, Sohn. Euch steigt wohl das viele Geld zu Kopf, das du gemacht hast.«

»Das bestimmt nicht«, versicherte Gerhard. »Dafür bin ich viel zu nüchtern. Das Kapital wird gut und wertbringend angelegt, das darfst du mir schon zutrauen.«

»Aber nicht bei Korff«, sagte der Vater aufblickend.

Gerhard stutzte. »Wie meinst du das?«

»Mit dem Bankhaus Korff soll es nicht gut stehen.« Der Ältere strich sich über den Bart. »Es heißt, daß es verschuldet ist.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, widersprach Gerhard entschieden, mit einem leichten Kopfschütteln. »Das ist eine seriöse Privatbank, seit Generationen in der Familie.«

»Vielleicht ist es ja auch nur ein Gerücht«, warf die Mutter ein. Ihr Mann wiegte den Kopf. »Mißwirtschaft kann auch ein seriöses Unternehmen in den Ruin treiben. Das Führungspersonal soll ständig gewechselt worden sein, Prokuristen kamen und gingen. Anscheinend ist Leonard von Korff nicht mehr Herr der Lage.«

»Woher willst du das wissen, Vater?« äußerte Gerhard mit gerunzelter Stirn. Er konnte es einfach nicht glauben.

»Ich lese den Wirtschaftsteil unserer Zeitung, mein Sohn«, betonte Arno Schilling. »Für ganz so dumm mußt du mich auch nicht halten.«

»Aber, Papa«, Gerhard lächelte versöhnlich, »seit wann bist du denn empfindlich.« Er überlegte. »Hm, wenn da wirklich etwas dran ist, werde ich es schon erfahren…«

»Ach, Kinder«, Monika unterdrückte ein Gähnen, »darüber brauchen wir uns doch nicht den Kopf zu zerbrechen, was mit der Korffschen Bank los ist. Trinken wir aus und machen Schluß für heute. Es war doch ein langer und«, ein mütterlicher Blick streifte den Sohn, »ein ereignisreicher Tag.«

*

Das Bankhaus Korff.

Gerhard mußte doch noch dran denken, bevor er sich niederlegte bei seinem Töchterchen, dessen Bett an der anderen Wand stand, in diesem Zimmer, das er früher mit seinem Bruder Rolf geteilt hatte.

War es denn denkbar, daß es ins Wanken geraten konnte?

Er hatte seine Ausbildung in einer Großbank genossen, nicht in dieser vergleichsweisen kleinen, feinen Privatbank, wo die Großbürger dieser Stadt ihr Vermögen anlegten.

Er war nur daran vorbeigekommen auf seinen Wegen. Aber das Wohnhaus der Familie, diese herrliche Villa im Jugendstil, die hatte er oft betrachtet, wenn er mit Paul eine Butterbrotpause machte. Manchmal war ein Fenster offengestanden, dann erhaschte er einen Blick auf das kostbare Inventar in den hohen Räumen, die glänzenden Möbel, die Gemälde an den Wänden.

Manchmal – ein leiser Schreck durchfuhr Gerhard, als sie plötzlich wie eine Erscheinung vor ihm auftauchte – manchmal hatte er auch das Mädchen gesehen, Ariane von Korff, die Tochter des Hauses.

Ihr langes rötlichblondes Haar, das ihre Schultern umwogte, leuchtete in der Sonne wie Gold. Zuerst war sie noch fast ein Kind gewesen, dann wurde sie zu einem schönen jungen Mädchen. Schöner als alles, was seine Augen je erblickt hatten, so war es ihm erschienen.

Wie sehr hatte er sich gewünscht, daß sie nicht nur flüchtig über ihn hinwegsehen würde, sondern daß er den Blick dieser hellen Augen einmal, ein einziges Mal nur für eine Sekunde festhalten könnte. Aber sie ging vorüber, mit dem Tennisschläger in der Hand zu den nahegelegenen Tennisplätzen, oder den Kiesweg entlang zu ihrem Sportwagen, mit dem sie davonbrauste.

Warum hätte sie ihm auch nur die geringste Beachtung schenken sollen, dem Jungen, der da im

parkähnlichen Garten die Frühjahrsbeete anlegen half, im Herbst die Erde mit umgrub und die Blätter von den Bäumen zusammenfegte. In der Großgärtnerei Müller nahm man ihn, wann immer er sich zur Arbeit anbot, um sein schmales Taschengeld aufzubessern, als Gymnasiast, als Banklehrling, auch noch als Student. Dann wurde er dem Gehilfen Paul mitgegeben, der schon älter war und ihn spaßeshalber mit Herr Doktor anredete.

Es hatte ihm den Kopf heißgemacht, das »Wunderwesen« Ariane. Und den Kopf brauchte er doch in seinem Streben nach Weiterkommen. Aber eine kleine heimliche Ecke hatte er sich doch bewahrt zum Träumen!

Ja, es war eine rechte Jünglingsschwärmerei gewesen, dachte Gerhard jetzt, da ihm die Jugendzeit wieder in den Sinn gekommen war. Aber daß es dies doch einmal für ihn gegeben hatte, bereute er nicht. Als Mann konnte man sich mit einem leisen Lächeln daran erinnern.

*

»Wenn das keine Überraschung ist«, sagte Markus Hentz bei der Begrüßung mit einem festen Händedruck. »Ich dachte, ich hörte nicht recht, als du mir am Telefon deinen Namen nanntest. Wir hatten uns ja schon ewig lange aus den Augen verloren, stimmt’s?«

Sie setzten sich an einen Tisch in dem Restaurant, das Gerhard als Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Es war siebzehn Uhr, eine ruhige Zeit. Markus war vom Dienst hergekommen.

»Woher wußtest du, daß ich noch bei der Deutschen Bank bin?« fragte er.

»Wissen konnte ich es nicht. Ich habe es nur vermutet, daß du dort wohl geblieben bist«, meinte Gerhard.

»Es hat sich gelohnt. Ich habe die Aufstiegsmöglichkeiten genutzt und kann ganz zufrieden sein.«

Der Kellner trat an den Tisch, sie bestellten zwei Kännchen Tee. Und sie redeten von früher, als sie zusammen in der Ausbildung waren. Sie waren sich kameradschaftlich nähergekommen, hatten für manche Prüfung gemeinsam gelernt, bis zum Abschlußexamen.

»Dir flog ja alles nur so zu«, bemerkte Markus Hentz, »darum hast du ja auch noch ein Studium draufgesetzt. Und, was ist aus dir geworden, was arbeitest du?«

»Zur Zeit tu’ ich gar nichts, ich will mir erst eine Stellung suchen«, gab Gerhard zurück.

»Ach je!« entfuhr es dem anderen. »Siehst du, so ist das, wenn man glaubt, unbedingt Akademiker werden zu müssen. Davon sind mehr stellungslos, als man annehmen möchte. Aber das ausgerechnet dir das passiert…« Der junge Mann sah förmlich bestürzt drein.

»Laß nur, Markus, du brauchst mich nicht zu bedauern«, sagte Gerhard. »Mir geht es gut. Ich komme gerade erst nach fünf Jahren New York in die Heimat zurück, nur darum suche ich ein neues Tätigkeitsfeld.«

»Du warst in New York«, staunte Markus. »Dann ist es mir auch klar, wieso wir nie mehr etwas voneinander gehört und gesehen haben. Wie bist du denn dahin gekommen?«

»Meine Mutter hatte eine kleine Erbschaft gemacht, von einem längst vergessenen Onkel, der dort gelebt hatte.«

»Der berühmte Onkel in Amerika«, warf sein Gegenüber mit einem leichten Auflachen ein.

»Ja, so kann man sagen. Doch, wie bemerkt, handelte es sich nur um ein paar zigtausend Dollar.«

»Na, immerhin!«

»Klar, für unsereinen ist das schon was. Aber weißt du, wo ich waghalsiger Kerl damit eingestiegen bin?«

»Woher soll ich das wissen?« Die Augen des anderen glänzten neugierig.

Gerhard brauchte nur einen Namen zu nennen, und der Atem stockte dem jungen Mann. Als Bankmensch, der den weltweiten Börsenmarkt beobachtete, wußte er natürlich gleich Bescheid.

»Wo es diese Wahnsinns-Hausse gegeben hat, die den abgebrühtesten Börsianer schwindlig machen konnte«, stieß er hervor. »Mensch, Gerhard!« Bewundernd starrte er ihn an. »Hast du geahnt, daß das so kommen würde?«

»Kein Mensch konnte das ahnen. Es hätte auch anders kommen können. Ich habe eben Glück gehabt.«

»Aber du hast die Chance gewittert, du hast eine Nase dafür«, vollendete der andere eifrig. »Ha, so ein Glückspilz möchte ich auch mal sein!« Er rieb sich die Hände.

»Was ich dich fragen wollte…«, lenkte Gerhard nach einer kurzen Pause vom Thema ab, »ich habe gehört, daß es mit dem Bankhaus Korff nicht zum Besten stehen soll. Ist da was dran?«

»Hmhm. Der Alte hat die Bankgeschäfte zu weitgehend seinen Mitarbeitern überlassen, das ist sein Pech.«

»Aber so alt ist Korff noch gar nicht«, wunderte sich Gerhard.

Markus Hentz zuckte die Achseln. »So um die Sechzig. Er ist wohl nicht mehr ganz gesund und hat die Zügel schleifen lassen. Jedenfalls sind da zunehmend verwegene Kredit- und Wechselgeschäfte gemacht worden, die in Bankerkreisen nur Kopfschütteln ausgelöst haben. Sollte es dahin kommen, daß er eines Tages nicht mehr liquide ist, wird es einen ganz hübschen Skandal in der Stadt geben.«

»Nicht zu fassen«, murmelte Gerhard kopfschüttelnd vor sich hin.

»Ja, und dann auch das Unglück, das seine Tochter getroffen hat, das wird ihm schwer zugesetzt haben«, fuhr Markus fort. »Ist ja auch irgendwie verständlich.«

»Was ist mit seiner Tochter?« horchte Gerhard auf. Ungerufen stand ihm wieder ihr Bild vor Augen.

»Hast du es nicht gelesen? Ach so, du warst ja nicht da. Also die hat – wart mal, wie lang ist das jetzt her, ja, ungefähr zwei Jahre, oder etwas mehr, da hat sie ihren Mann und ihr kleines Kind bei einem Lawinenunglück in Tirol verloren. Nur sie konnte lebend aus den Schneemassen geborgen werden. Ja, das war schon eine Tragödie«, schloß Markus Hentz.

Gerhard schwieg erschüttert. Was war ihr auferlegt worden, die einst so etwas wie eine Lichtgestalt für ihn gewesen war.

»Wie wird man damit fertig?« sprach er endlich leise.

»Ich habe Ariane Danegger neulich mal gesehen«, erzählte Markus. »Das war im Kunstsalon Keßler. Die Inhaberin ist eine Tante von ihr, sie hilft ihr manchmal im Geschäft. Eine Freundin meiner Frau ist dort Verkäuferin, daher wissen wir das. Wir haben ein Geschenk für die Hochzeit meines Bruders gekauft, ein Aquarell. Sie haben sehr schöne Sachen. In den nächsten Tagen findet da übrigens eine Vernissage statt, kannst ja mal hingehen, wenn es dich interessiert«, fügte er beiläufig hinzu.

»Ich verstehe nichts von Kunst«, meinte Gerhard abwesend.

»Ich auch nicht«, bekannte Markus Hentz. Er warf einen Blick auf die Uhr. »So, ich habe meiner Frau zwar gesagt, daß ich später komme, aber allmählich… Sonst fangen die Gören an zu quengeln, sie sind es gewohnt, daß der Papa pünktlich ist. Und der Hund muß Gassi gehen.« Er lachte vergnügt. »Ich habe Zwillinge von knapp drei Jahren, ein Junge und ein Mädchen. Da ist was geboten, kann ich dir sagen. Totaler Streß.«

Nachdenklich sah Gerhard ihn an. »Der Glückspilz von uns beiden scheinst eher du zu sein«, sagte er.

»Wieso! Du hast sicher noch keine Zeit gehabt zum Heiraten. Aber was nicht ist, kann doch noch werden. Und schaff dir Kinder an, das ist überhaupt das Höchste. Jedenfalls seh’ ich das so.«

»Ich habe eine kleine Tochter. Nur keine Mutter dazu, die ist mir weggelaufen.« Gerhard lächelte trübe.

»Waas«, machte der andere perplex. »Tz, tz, dann kann sie aber nicht viel getaugt haben.« Doch er war mit seinen Gedanken schon bei seiner Familie. »Vielleicht besuchst du uns mal, Gerhard«, sagte er, als sie das Lokal verließen. »Wir bewohnen ein nettes Reihenhäuschen in der Südstadt.«

Gerhard glaubte nicht, daß es dazu kommen würde. Er hatte keine besondere Neigung, Zaungast in einer glücklichen Familie zu sein. Aber er hatte nun erfahren, was er wissen wollte, und mehr als das.

Vielleicht würde er doch einmal in den Kunstsalon Keßler hineinschauen. Wenigstens ging sie unter Menschen, die Leidgeprüfte. Das war schon viel…

*

Viele waren gekommen zur Eröffnung der Ausstellung: Kunstsachverständige und solche, die sich dafür hielten, andere, für die es ein Muß war, bei jeder kulturellen Veranstaltung dabeizusein. Es gehörte für sie zum guten Ton.

Gerhard kam sich ziemlich fehl am Platze vor, als er, abseits stehend, über die wogende Menge sah, die sich über mehrere Räume verteilte. Eine enge, gewundene Treppe führte noch hinauf zu einer oberen Galerie.

Plaudernd standen die Besucher in kleinen Grüppchen zusammen, man schien sich untereinander zu kennen, es gab überschwengliche Begrüßungen mit Wangenküßchen rechts und links. Sie betrachteten die Bilder neuzeitlicher Maler an den Wänden, ließen sich zu entzückten Bemerkungen und hellen Ausrufen darüber hinreißen.

Sagten die ihnen wirklich etwas, fragte sich der stille Beobachter. Er sah nur Striche und Linien und Kreise in wilden Farbgebungen. Nun, er war eben ein Banause, befand er im Weitergehen.

Außerdem war er für die Gelegenheit unpassend gekleidet, lässig-sportlich, wie er es nicht anders gewohnt war. Die meisten hier zeigten sich makellos in edlem Designer-Outfit. Mit leiser Selbstironie überlegte Gerhard, daß er jetzt zwar ein Mann mit Geld war, es aber noch einiges brauchen würde, um zu dieser Gesellschaftsschicht zu gehören.

Was tat er eigentlich hier? Die, nach der er Ausschau hielt, schien nicht anwesend zu sein. Und wieso wollte er sie sehen, wie war er überhaupt auf die Idee gekommen?

Dankend lehnte er ab, als eines der beiden Mädchen, die gefüllte Tabletts herumtrugen, ihm von den Gläsern Sekt oder Fruchtsaft anbot. Als sein Blick weiterschweifte, tat sein Herz plötzlich einen rascheren Schlag, denn dort stand sie, Ariane von Korff.

Ja, sie war es noch, so wie er sie einst gekannt und angehimmelt hatte. Mädchenhaft schlank, in einem überaus schlichten schwarzen Kleid, mit einer weißen Blende am runden Ausschnitt, eine Perlenkette um den Hals. Nur das Haar fiel ihr nicht mehr lang über die Schultern, sie trug es hochgesteckt, so betonte es die feine Kopfform, das edle Profil.

Unauffällig näherte sich Gerhard. Sie unterhielt sich mit zwei Herren, aber war sie nicht verlegen, schien sie nicht nach Worten zu suchen? Da entdeckte er, daß die beiden Amerikaner waren und in einem Jargon sprachen, der dem Hochenglisch ziemlich fernlag. Sie verstand es nicht, sie konnte es nicht verstehen, und die redeten noch immer weiter.

Blitzschnell erfaßte Gerhard die Situation. »Kann ich helfen?« fragte er herbeitretend.

Seine Ohren waren an diese Aussprache gewöhnt, so fiel es ihm leicht, bei der Verständigung zu helfen. Sie wollten über die Maler einiges wissen, die hier ausgestellt hatten.

»Vielen Dank«, sagte Ariane Danegger, als die Amerikaner weitergegangen waren, »das war sehr freundlich von Ihnen. Ich wäre allein mit denen nicht klargekommen.«

Sie gab ihm ein höfliches kleines Lächeln und wandte sich ab.

Gerhard blieb wie angewurzelt stehen. Er hatte ihr nun ins Gesicht sehen können, und da war sie es doch nicht mehr. Feine Linien zeichneten sich allzufrüh darin ab, neben den Mundwinkeln, zwischen den Brauen, und diese Augen, so verhangen im Blick und ohne Glanz. Seltsam unlebendig wirkte dieses Frauenantlitz. Selbst wenn sie redete und lächelte, war es doch, als zöge sie nur eine Maske darüber. Eine leise Traurigkeit überkam Gerhard, als er so dieser Empfindung nachhing.

Geistesabwesend bewegte er sich weiter. Eine zierliche Dame mit silbergetöntem Haar und lebhaften Gesten stand gewissermaßen im Mittelpunkt. Gerhard vermutete, daß es die Inhaberin war. Jetzt bat sie die Herrschaften, sich in den vorderen Raum zu begeben, wo ein Stehpult neben einem Blumenarrangement stand. Es sollten wohl ein paar offizielle Worte gesprochen werden. Alles drängte nach vorn, nur Gerhard blieb, wo er war, sah sich auf einmal allein, in der Nähe der Treppe. Oben telefonierte jemand, er vernahm eine Frauenstimme.

Dann ging alles sehr schnell.

In Hast kam Arianne Danegger die steilen, unbequemen Stufen herabgeeilt, sie strauchelte, stürzte hin. Mit zwei, drei Schritten war Gerhard bei ihr, um ihr aufzuhelfen. Aber sie konnte nicht auftreten. Es war der linke Fuß, der heftig schmerzte und auch sogleich zusehends anschwoll.

Gerhard streifte ihr den Lackpumps davon ab. »Der Fuß muß geröntgt werden«, sagte er bestimmt. »Ich werde einen Krankenwagen rufen.«

»Bloß kein Aufsehen jetzt«, bat sie, aber sie mußte die Zähne zusammenbeißen, so weh tat es.

»Dann erlauben Sie mir, daß ich Sie ins Krankenhaus bringe. Ich bestelle ein Taxi. Oben ist ein Telefon, ja?«

Ariane Danegger nickte ergeben. »Er soll aber hier am Hinterausgang vorfahren. Und bringen Sie mir bitte meine Handtasche mit, sie liegt oben im Schreibtisch.«

Aufblickend gewahrte sie, daß dies derselbe Mann war, der vorhin bei den Amerikanern übersetzt hatte. Doch sie machte keine Bemerkung dazu. Es ärgerte sie zu sehr, daß ihr das jetzt passieren mußte. Hoffentlich war der Fuß nicht gebrochen.

Oben fand Gerhard Büros und Arbeitsräume vor, in Packpapier gehüllte oder noch ungerahmte Bilder lehnten an den Wänden. Das Taxi würde in wenigen Minuten hier sein. Er hatte seinen Wagen in New York gelassen, um sich hier einen neuen zu kaufen. Dazu war es noch nicht gekommen.

Ariane war leicht, er nahm sie mühelos auf die Arme und trug sie zum Taxi. Und bald darauf ins nächstgelegene Krankenhaus, wo er sie den Ärzten überließ. Dann wartete er…

»Sie haben gewartet«, sagte sie erstaunt, als sie nach etwa einer halben Stunde, auf den Arm eines Krankenpflegers gestützt, aus dem Behandlungszimmer kam. Der rechte Fuß trug einen festen Verband.

»Demnach ist er nicht gebrochen«, bemerkte Gerhard erleichtert, mit einem Blick darauf.

»Nein, es ist eine Bänderdehnung«, erklärte sie. »Ich wollte gerade zu Hause anrufen, daß man mich abholt.«

»Ich habe das Taxi warten lassen.«

»Aber…«

»Lassen Sie mich meine Samariterrolle nun auch noch zu Ende spielen«, bat Gerhard und bot ihr den Arm. Der Krankenpfleger zog sich zurück. Behutsam, damit sie den Fuß nicht belastete, geleitete Gerhard Ariane zum Wagen. Dort sorgte er dafür, daß sie gut saß. Sie nannte dem Chauffeur ihre Adresse: Platanenallee 8.

Er, Gerhard, hätte sie auch nennen können…

Schweigend fuhren sie dahin. Ariane war sehr blaß, sie hatte die Lippen zusammengepreßt. Der Fuß schmerzte.

Vor der Villa stieg Gerhard rasch aus und half ihr aus dem Wagen. Er brachte sie bis vor die Tür. »Ich wünsche baldige Besserung«, sagte er.

»Danke für Ihre Hilfsbereitschaft. Aber«, sie griff nach ihrer Handtasche, »Sie haben Auslagen gehabt«, fiel es ihr ein.

»Das ist nicht der Rede wert. Auf Wiedersehen.« Er wandte sich wieder dem Taxi zu, da sich in diesem Moment die Tür auftat und eine erschrockene Frauenstimme ausrief: »Kind, was ist denn mit dir passiert?!«

Es war Melanie von Korff, die ihre Tochter in Empfang nahm.

»Halb so wild, Mama«, beruhigte Ariane die Aufgeregte, »ich muß nur den Fuß gleich hochlegen.«

Als es geschehen war, erzählte sie von ihrem Pech.

»Man muß Tante Irene anrufen und ihr Bescheid sagen. Sie hat meine Abwesenheit vielleicht noch gar nicht bemerkt, denn der offizielle Teil sollte gerade beginnen, der Kulturreferent wurde erwartet. Es ist Hochbetrieb bei ihr. Es sind nicht nur geladene Gäste gekommen.«

»Und wer war dieser Mann, der dich nach Hause gebracht hat?«

Ariane zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ein Besucher der Ausstellung, der zufällig in der Nähe war, als es passierte.«

*

Es war einige Tage später.

Die Familie Korff saß beim Abendessen, Vater, Mutter und Tochter. Das Mädchen Hilde servierte. Wie meistens, verlief die Mahlzeit ziemlich schweigsam. Der Hausherr sah müde aus, seine Züge waren schlaff. Er war ein hochgewachsener, hagerer Mann, leicht vornübergebeugt, als trüge er eine Last. Neben seinem Gedeck lagen zwei Pillen, die er jetzt mit ein paar Schluck Wasser hinunterspülte.

Als er das Glas zurücksetzte, sagte er: »Heute war ein junger Mann bei mir, der es in Amerika mit ein paar tausend Dollar innerhalb von vier, fünf Jahren zum mehrfachen Millionär gebracht hat.«

»Tüchtig, tüchtig«, warf seine Frau hin, und sie brach ein Stück Brot.

»Ja, das ist er zweifellos«, bestätigte Korff. »Ein ganz heller Kopf, der eine Riesenchance zu nutzen gewußt hat.«

»Und was will er mit seinen Dollarmillionen, sie bei dir anlegen?« fragte Frau Melanie.

»Nein, das hat er nicht vor.« Korffs schmaler Mund verzog sich etwas. »Sein kühler Verstand sagt ihm, daß meine Bank keine Garantie mehr für Sicherheit bietet.«

»Woher will dieser Glücksritter das wissen?« kam es bissig zurück.

»Meine liebe Melanie, das pfeifen leider die Spatzen schon von den Dächern. Wir haben auch sehr offen miteinander gesprochen. Wir hatten eine lange Unterredung.«

Seine Züge wurden nachdenklich, als er sie sich vergegenwärtigte.

»Was wollte dieser Herr denn von dir?« erkundigte sich nun auch seine Tochter, mäßig interessiert.

»Er hat mir angeboten, bei mir einzusteigen. Er will sich zunächst eine Übersicht verschaffen.«

»Das verstehe ich nicht«, fiel ihm seine Frau ins Wort. »Willst du einem Fremden, der bei dir hereingeschneit ist, einen Einblick in deine Bücher gewähren?«

»Ja. Er muß sich schließlich ein Bild machen können, wo er ansetzen muß.«

Verständnislos schüttelte Melanie den Kopf. »Was ist das für ein Mann, wo kommt er her?«

»Er heißt Gerhard Schilling, kommt aus kleinen Verhältnissen, daraus macht er keinen Hehl.«

»Auch das noch, ein Emporkömmling!« entfuhr es ihr, wobei sie die Augen verdrehte.

»In diesem Falle spielt das für mich keine Rolle«, versetzte ihr Mann gelassen. »Er hat eine vorzügliche Ausbildung genossen und beste Referenzen aus New York, er hat sie mir vorgelegt. Ich vertraue ihm. Schilling ist jung und dynamisch, er könnte der richtige Mann für mich sein.«

»Du hast auch anderen schon vertraut und üble Erfahrungen damit gemacht«, sagte Melanie von Korff spitz.

Der Mann senkte die Lider. Dem war leider nichts entgegenzusetzen. Das Fünkchen Hoffnung erlosch. Er fühlte sich nur noch müde, müde.

Ariane sprang ihrem Vater bei. »Wenn du glaubst, auf diesen neuen Bewerber bauen zu können, dann versuche es mit ihm. So viel Menschenkenntnis wirst du haben, um keinem Schwindler aufzusitzen.«

»Na, ich weiß nicht…«, murmelte Melanie anzüglich.

»Mama, bitte!« Ariane gab ihr einen vorwurfsvollen Blick. Sah sie denn nicht, wohin es mit dem Vater gekommen war, mußte sie ihn noch mehr niedermachen? Es war alles schon schlimm genug.

»Ja, ich bin schon still.« Melanie tupfte sich den Mund mit der Serviette ab, legte sie beiseite. »Aber kennenlernen möchte ich diesen Herrn Schilling doch einmal, um einen Eindruck von ihm zu gewinnen. Hättest du etwas dagegen, Leonard?«

Er hatte nichts dagegen, und so kam man überein, Herrn Schilling zu einer Teestunde in die Villa Korff zu bitten.

*

»Willst du denen die Karre aus dem Dreck ziehen«, grollte Arno Schilling, der kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegte, wenn ihm etwas nicht paßte.

»Ich möchte es versuchen, Vater«, sagte Gerhard. »Ich kann nicht einsehen, daß ein renommiertes Haus wie dieses untergehen soll.«

»Was geht’s dich an«, erwiderte der Ältere störrisch.

»Gerhard wird schon wissen, was er tut, Arno«, beschwichtigte seine Frau. »Na Mäuschen«, wandte sie sich an ihre kleine Enkeltochter, die ins Wohnzimmer hereinlugte, »du hast wohl Anja bei den Schularbeiten geholfen?«

»Hmhm«, Angela kam näher, »Anja macht einen englischen Aufsatz, da wußte ich was, was sie nicht wußte«, erzählte sie wichtig, fügte jedoch schnell hinzu: »Aber sonst war ich ganz still.«

Unschlüssig ging ihr Blick umher, blieb an dem Großvater haften. »Ist Opa böse?« fragte sie schüchtern.

Gerhard nahm sein Töchterchen auf den Arm. »Opa ist niemals böse. Er ist der beste Opa der Welt.«

Am nächsten Tag folgte Gerhard der Einladung, die Korff ihm telefonisch übermittelt hatte. Seltsame Gefühle bewegten ihn, als er hinfuhr. Nun sollte er also das Haus betreten, das er als armer Junge, der sich ein paar Mark verdienen wollte, von fern bewundert hatte.

Nun sah man möglicherweise den Retter in ihm. War es nicht kurios? Es war ihm nicht entgangen, daß Korff ein halbwegs gebrochener Mann war, der einigermaßen hilflos vor dem Desaster stand. Ein schwacher Hoffnungsschimmer war in seinen Zügen aufgeleuchtet, als er, der Jüngere, ihm seine Absichten unterbreitete.

Was geht’s dich an, hatte sein Vater gesagt.

Kein Zweifel, es war eine Aufgabe, die ihn reizen würde. Hier galt es etwas anzupacken, vor dem ein anderer eher zurückschrecken würde. Er fühlte sich stark genug dafür und voller Tatkraft.

Aber das war nicht alles. Daneben stand Arianes Bild vor ihm…

So recht begreifen konnte Gerhard es selbst nicht, daß ihr Schicksal ihn so bewegte, er nun wieder an sie denken mußte als an einen Menschen, der ihm keineswegs fremd und gleichgültig war. Sie war ihm doch viele Jahre lang nicht mehr in den Sinn gekommen. War es möglich, daß es seinerzeit doch mehr als die Schwärmerei eines Jugendlichen gewesen war? Daß sie, die Schöne, Unerreichbare eine Spur in seinem Herzen hinterlassen hatte, der er nun folgen mußte?

Was für Überlegungen für einen Verstandesmenschen, für den er sich hielt. Dennoch schlug ihm das Herz rascher bei dem Gedanken, daß er sie gleich schon wiedersehen würde. Ein ganz privates Plauderstündchen, bei dem auch seine Damen anwesend sein würden, waren Korffs Worte gewesen.

Hätte er Blumen mitbringen müssen, fiel es ihm heiß ein, als er vor der Tür stand. Oder ließ man die vorher schicken? Nein, wohl nicht, das galt nur für größere offizielle Einladungen. Nun war es sowieso zu spät.

Ein Mädchen öffnete ihm, und dann kam ihm auch schon der Hausherr mit ausgestreckten Händen entgegen, führte ihn nach einem festen Händedruck in den Salon, wo er den Besucher seiner Gattin vorstellte, und seiner Tochter, Frau Danegger.

»Sie sind das«, sagte Ariane mit einem überraschten Lächeln und reichte ihm ebenfalls die Hand.

»Du kennst Herrn Schilling?« fragte ihr Vater verblüfft.

»Ja, das war doch mein Retter in der Not, als ich mir den Fuß vertreten hatte«, antwortete Ariane.

»Ist er noch nicht wieder in Ordnung?« Gerhard sah, daß das Gelenk noch eine dünne Bandage trug.

»Doch, ich kann mich schon wieder normal bewegen. Dies ist nur noch zur Vorsorge. Bald kann es auch abgenommen werden.«

Das Mädchen servierte den Tee, man machte leichte Konversation dazu. Frau von Korff wollte etwas über seine Erfahrungen in Amerika hören. Sie kannte einiges von dem Land, besaß Verwandte in Houston, am Golf von Mexiko. Sie gab sich, wie nicht anders zu erwarten, gewandt und von distanzierter Liebenswürdigkeit, doch Gerhard spürte, daß sie ihn kritisch beobachtete. Er sollte wohl auf Herz und Nieren geprüft werden, dachte er belustigt.

Als über der Unterhaltung eine knappe Stunde vergangen war, sah Ariane auf die Uhr. »Ich wollte noch mal ins Geschäft. Sie entschuldigen mich, Herr Schilling.« Damit erhob sie sich.

»Heute ist Samstag, Irene wird schon zugemacht haben«, wandte Korff ein.

»Sie hat noch im Büro zu tun, dabei wollte ich ihr helfen. Ich hatte es ihr versprochen.«

Gerhard hatte sich ebenfalls erhoben. »Ich darf mich auch verabschieden.«

»Es war nett, Sie kennengelernt zu haben.« Huldvoll gab Melanie von Korff ihm die Hand. Ariane wandte sich ihm zu.

»Kann ich Sie irgendwo hinbringen, oder haben Sie diesmal Ihren Wagen dabei?«

»Meinen neuen Wagen bekomme ich erst in zwei oder drei Wochen.«

»Dann kommen Sie doch mit mir in die Stadt«, schlug Ariane vor. Sie gab Gerhard ein kleines Lächeln. »Dann kann ich auch mal was für Sie tun.«

Unterwegs erkundigte sie sich beiläufig: »Haben Sie denn schon eine Wohnung gefunden nach Ihrer Rückkehr aus den Staaten?«

»Im Moment wohne ich noch bei meinen Eltern. Meine kleine Tochter ist bei der Oma gut aufgehoben.«

Ein rascher Seitenblick streifte ihn, da sie gerade an einer Ampel hielten. »Sie haben eine kleine Tochter?«

»Ja, von vier Jahren. Sie hat keine Mutter.«

Daraufhin schwiegen sie beide. Bis Gerhard sagte: »Sie können mich hier absetzen, Frau Danegger. Sie sind ja gleich da. Ich gehe gern zu Fuß weiter. Dabei entdecke ich meine Heimatstadt nach langer Abwesenheit neu.«

Ariane fuhr rechts heran. Sie ließ die Hände auf dem Steuerrad liegen und sah geradeaus. »Ich weiß«, sprach sie langsam, »daß Sie die Absicht haben, sich in unserem Haus beruflich zu engagieren. Wenn es Ihnen gelänge, meinen Vater von seinen schlimmsten Sorgen zu entlasten, wäre ich sehr froh.«

»Das habe ich mir zum Ziel gesetzt«, sagte Gerhard fest, während er den Gurt löste.

Ihr Blick kam zu ihm zurück, einen Moment sahen sie sich gerade in die Augen. »Viel Glück«, sagte sie dann etwas abrupt. »Auf Wiedersehen, Herr Schilling.«

*

Am Abend saß Ariane mit ihren Eltern zusammen. Das Thema war naheliegend: Schilling.

»Er ist nicht übel«, mußte Melanie von Korff zugeben. »Wenigstens spielt er sich nicht als Neureicher auf. Nur«, ein leicht boshafter Zug glitt über ihr Gesicht, »du solltest ihm deinen Schneider nennen, Leonard, bevor er bei dir anfängt.«

»Mir ist es gleich, ob er Anzüge von der Stange trägt oder nicht«, versetzte ihr Mann etwas brüsk. »Bei ihm kommt es mir auf etwas anderes an.«

»Das meine ich auch«, stimmte ihm Ariane zu. »Er ist zweifellos ein kluger Mann, und ich finde ihn auch menschlich sympathisch.«

»Dann kannst du ihn ja heiraten«, sagte die Mutter trocken. »Mit seinen Millionen könnte er die Bank sanieren.«

»Warum nicht«, sagte Ariane mit ausdrucksloser Miene. »Es wäre nicht die erste Vernunftehe, die auf der Welt geschlossen wird.«

Der Vater war zusammengezuckt. »Ariane«, erregte er sich, »ich würde doch niemals zugeben, daß du dich opferst!«

Als sie nur die Achseln zuckte, betrachtete er sie kopfschüttelnd. Es brachte ihn manchmal zur Verzweiflung, daß seine Tochter mit ihren achtundzwanzig Jahren tat, als sei das Leben für sie schon vorbei.

»Für Schilling hätte es den Vorteil«, spann Melanie den Faden weiter, »an der Seite einer geborenen von Korff gesellschaftliche Anerkennung zu finden. Die würde ihm ja sonst doch nicht zuteil. Schließlich gehört er nicht zu unseren Kreisen«, schloß sie hochmütig.

»Und dafür soll unsere Tochter der Preis sein? Das kannst du nicht im Ernst meinen, Melanie.«

»Reg dich doch nicht auf«, bat Ariane. Mit ihrem stets so verhangenen Blick sah sie ihren Vater an, und ruhig fuhr sie fort: »Du weißt, daß deine Sorgen auch meine sind. Mir tut es weh, daß du vergebens gekämpft und dich krank dabei gemacht hast. Unsere Firma ist mir nicht gleichgültig. Wie lange trägt sie schon unseren Namen. Ich«, sie senkte die Lider, »ich habe ja nie etwas dafür getan. Jetzt wäre ich zu allem bereit, weil es um mich gar nicht mehr geht.«

»Es geht nicht mehr um dich, sagst du?« Korffs Atem ging rasch. »Du solltest dich aber noch wichtig nehmen, Ariane, du, ein junger, schöner Mensch. Wenn du doch nur aus dieser schrecklichen Apathie einmal herausfinden könntest! Wenn du…« Er verstummte. Seine Tochter hatte die Lider gehoben und sah ihn nur schweigend an.

Das Herz des Mannes krampfte sich zusammen. Es gab nichts mehr zu sagen vor diesem Blick.

»Na ja«, Frau Melanie betastete ihr kastanienbraun getöntes Haar, das wie stets sorgfältig frisiert war, »warten wir mal ab, was Schilling zustandebringen wird. Du versprichst dir ja sehr viel von ihm, nicht wahr, Leonard?«

»Gewiß. Wunder wird er auch nicht vollbringen können, aber uns wenigstens vor dem Bankrott bewahren, denke ich.«

»Ich gehe jetzt hinauf«, sagte Ariane tonlos. »Gute Nacht.«

Sie ging durch ihre Wohnung, die mehrere Räume umfaßte und nicht minder wertvoll eingerichtet war wie die ihrer Eltern. Seit zwei Jahren wohnte sie wieder in diesem Haus, wo sie aufgewachsen war und ihre erste Jugendzeit verbracht hatte. Dann war sie mit Michael fortgezogen. Bis ans Ende der Welt wäre sie ihm gefolgt.

Als ihr Leben zerbrach, hatten Vater und Mutter sie heimgeholt, weil sie um sie bangen mußten. Es war ihr völlig egal gewesen, wo sie blieb. Völlig. Sie hätte auch verhungern und verdursten können, was galt es ihr noch.

Ariane ließ sich in einen Sessel sinken, sie bedeckte die Augen mit der Hand. Michael, Janine, warum kann ich nicht bei euch sein…

Sie hatten sich sehr geliebt, sie waren unendlich glücklich gewesen. Michael hatte, nach beendetem Studium und erworbenem Doktortitel, seine erste Anstellung als Assistenzarzt in einem Krankenhaus angetreten.

Ihr Vater hätte sich wohl einen anderen Schwiegersohn gewünscht, einen seines Berufsstandes, der mit ihm die Geschäfte der Bank führen könnte.

Ein Sohn war ihm versagt geblieben. Nach Jahren vergeblichen Wartens hatte Melanie ihm eine Tochter geboren. Sie blieb das einzige Kind.

Leonard von Korff hatte dann seine Hoffnung auf einen Enkel gesetzt, den er noch aufwachsen sehen und als seinen Nachfolger heranziehen könnte. Damals war er noch in den Fünfzigern, er fühlte sich nicht zu alt dafür.

Ariane brachte ein Mädchen zur Welt. Sie wollten noch mehr Kinder. Sie würde ihm schon noch den ersehnten Enkelsohn schenken, so tröstete sie ihn.

Dann gab es keinen Trost mehr, für niemand.

Die Skier auf dem Wagen, waren sie losgefahren in die weiße Winterpracht der Berge. Sonne, Schnee und eine jauchzende Janine, die zum ersten Mal mit in Urlaub fuhr. Im kinderfreundlichen Hotel wurden die Kleinen gehütet, wenn die Eltern für ein paar Stunden auf der Piste waren. Ansonsten gab es Fahrten mit dem Pferdeschlitten, in Pelzdecken gehüllt und mit lustigem Glöckchengebimmel, und Spaziergänge im romantischen Gebirgsdorf, Janine auf Papas Schultern.

Am hellen Vormittag war eine Lawine zu Tal gedonnert und hatte alles unter sich begraben, Häuser, Menschen.

Michael und Janine waren tot. Sie war es auch. Nur daß ihr Atem noch ging, der Mechanismus ihres Körpers funktionierte.

Wie vernichtet war auch ihr Vater von diesem Schicksalsschlag, der sie getroffen hatte. Er litt mit ihr, war seitdem nicht mehr der alte. Denn sie hatten eine enge Beziehung zueinander, Vater und Tochter, enger, als Arianes Verbindung zur Mutter war. Melanie war aus anderem Holz geschnitzt.

Tante Irene war es gewesen, die sie endlich aus der tiefsten Nacht geholt hatte. Ariane hatte, bevor sie heiratete, ein paar Semester Kunstgeschichte studiert, sie sollte ihr in der Galerie helfen, wieder unter Menschen gehen. Sie tat es, wenn auch ohne innere Anteilnahme. Es gab für sie keine Freude mehr an schönen Dingen. Alles, was schön war auf Erden, hatte sie in Michael gelebt.

Sie würde nie einen anderen lieben können.

Doch eine Verstandesehe einzugehen, ihrem Vater zuliebe, schien ihr nicht undenkbar. Dann wäre sie doch noch zu etwas nutze.

Für Schilling wäre es ja auch nichts anderes als dies. Er könnte Teilhaber werden und gesellschaftliche Anerkennung finden, da hatte ihre Mutter schon recht.

Er hatte ein Kind, fiel es Ariane ein.

Das würde für sie kein Hinderungsgrund sein. Ihre Janine wäre es nicht. Die brachte ihr niemand zurück.

Auch in dieser Nacht endeten Arianes letzte Gedanken bei ihrem toten Kind.

*

Es sah schlimmer aus als gedacht.

Gerhard stützte den Kopf in die Hände. Nach tagelanger eingehender Prüfung der Bücher war ihm nun ganz klar, daß hier die Einlagen der Korff-Kunden gefährdet waren, wenn der Sicherungsfonds der Bank nicht um einige Millionen aufgestockt würde.

Sollte er sie einbringen, die vorläufig noch auf der United States Bank lagen und gute Zinsen brachten?

Vielleicht schlug er doch den falschen Weg ein. Tat er sich nicht etwas an, das er im Grunde gar nicht nötig hatte?

Er war darauf gefaßt gewesen, daß die Herren in diesem Hause ihn nicht gerade willkommen heißen würden. Aber daß ihm versteckte Feindseligkeit entgegenschlug, störte ihn doch, auch wenn er nicht eben dünnhäutig war. Sie waren sich über die Rolle des Fremden nicht klar, den ihnen der Chef sozusagen vor die Nase setzte. Sie betrachteten ihn wohl als eine Art Schnüffler, der ihnen auf die Finger sehen sollte. Das konnten sie natürlich nicht brauchen bei ihren sonderbaren Machenschaften.

In einer unguten Atmosphäre aber würde sich schlecht arbeiten lassen. Andererseits – sollte er wirklich schon aufgeben? Das widerstrebte ihm. Es lag nicht in seiner Art.

»Machen Sie doch auch Schluß für heute, Herr Schilling«, sagte Korff eintretend. »Ich wollte Ihnen vorschlagen, daß wir zusammen essen gehen.«

Sie fuhren in ein kleines, feines Restaurant.

Klein, aber fein, das war früher einmal die Devise der ehrwürdigen Privatbank Korff gewesen. Es war nicht mehr viel davon übrig geblieben.

Korff schien seinem jungen Begleiter die Gedanken von der Stirn abzulesen. »Es sieht nicht gut aus, nicht wahr«, sagte er bedrückt, während er nach der Speisekarte griff.

»Nein«, sagte Gerhard ebenso.

Der Ältere blickte auf. »Sie werden doch nicht schon die Segel streichen wollen?« fragte er bang.

»So schnell gebe ich nicht auf«, meinte Gerhard ausweichend.

Sie nahmen eine leichte Mahlzeit zu sich.

»Wie geht es Ihrer Tochter?« erkundigte sich Gerhard höflich. »Es gibt hoffentlich keine Nachwirkungen von dem Sturz.«

»Sie spürt nichts mehr. Das war ja auch nur eine Geringfügigkeit gegenüber alldem, was sie schon erleiden mußte.«

»Sie meinen, an seelischem Schmerz«, sagte Gerhard.

»Ja. Meine Tochter Ariane hat Mann und Kind bei einem Lawinenunfall verloren. Daran ist sie fast zerbrochen.«

»Ich habe davon gehört«, nickte Gerhard. »Damit ist ihr mehr auferlegt worden, als ein Mensch tragen kann. Sie tut mir sehr leid.«

»Würden Sie meine Tochter heiraten, Herr Schilling?«

Gerhard glaubte nicht recht gehört zu haben. Diese beinahe beiläufig gesagten Worte konnte Korff doch nicht ernst gemeint haben! Befremdet sah er sein Gegenüber an. »Sie belieben zu scherzen, Herr von Korff«, sagte er recht kühl.

»Es ist mein Ernst. Es wäre ein Agreement, das beiden Seiten Vorteile bringen würde.« Und er begann, in sachlicher Weise die Vorteile darzulegen.

Mit stockendem Atem hörte Gerhard ihm zu. Er vermochte es kaum zu fassen, daß dieser Mann so ruhig über einen – Handel sprechen konnte. Gab es denn ein anderes Wort dafür?

»Sie sprechen von Ihrer Bank, die ich mit meinem erworbenen Vermögen sanieren soll. Dafür bieten Sie mir die Aufstiegsmöglichkeiten an, auch in Ihre Kreise, Herr von Korff, nicht wahr, das meinen Sie doch, auch wenn Sie es umschreiben. Nur von einem sprechen Sie nicht: Von dem einen Menschen, um den es hier geht. Ihre Tochter Ariane.«

»Meine Tochter würde nicht nein sagen, Herr Schilling.«

Gerhard zuckte zurück. »Wie kann das sein? Sie kennt mich kaum.«

»Ariane findet Sie sehr sympathisch…«

»Sympathisch. Ist Sympathie eine Basis für eine Ehe?«

»Ich denke schon. Und sie möchte mir helfen. Vielleicht würde das auch ihr helfen, ihrem Leben wieder Sinn zu geben«, fügte Korff nachdenklich hinzu.

Gerhard schwieg. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Es gelang ihm nicht. Korff bot ihm seine Tochter an. Sie würde nicht nein sagen, behauptete er. War sie sich selber so gleichgültig geworden, daß man über sie wie über ein Objekt verhandeln konnte?

»Denken Sie darüber nach, Herr Schilling«, sagte Herr von Korff nach einer längeren Pause in die eingetretene Stille hinein. »Ich bin der Meinung, daß meine Tochter keine Frau ist, zu der ein Mann sich zwingen muß, auch wenn von Liebe keine Rede ist.«

Damit sah er sich nach einem Kellner um, um die Rechnung zu begleichen.

*

Gerhard ließ die Woche noch vergehen, dann rief er Ariane an.

»Ich habe jetzt meinen neuen Wagen, Frau Danegger. Die erste Ausfahrt würde ich gern mit Ihnen machen, wenn ich Sie dazu einladen darf. Vorausgesetzt, Sie haben am morgigen Sonntag nicht schon etwas anderes vor.«

»Ich habe nichts vor«, sagte sie freundlich. »Wohin soll es denn gehen? Oder verraten Sie mir das noch nicht?«

War es nicht wie ein Lächeln in ihrer Stimme? »Ins Blaue«, antwortete Gerhard und fühlte sich auf einmal seltsam froh. Ach, wie widerstreitend waren seine Gefühle doch an diesen Tagen gewesen…

Sie verabredeten, daß er sie um vierzehn Uhr abholen würde.

»Nimmst du mich nicht mit?« fragte Angela, als ihr Vater sich zum Ausgehen bereit machte.

»Heute noch nicht«, sagte Gerhard.

Nein, heute noch nicht.

»Hast wohl ein Rendezvous«, bemerkte Rolf anzüglich, der mit seiner Freundin Katarina zum Mittagessen gekommen war. »Willst dein neues Auto einweihen, was? Also, ich an deiner Stelle hätte mir ja einen anderen gekauft, so einen richtigen Luxusschlitten mit allen Schikanen, wie sie neulich auf der Messe gezeigt wurden.«

Er nannte die Marke, ließ den Namen förmlich auf der Zunge zergehen. Rolf lernte Automechaniker, deshalb wußte er Bescheid.

»Ich habe dir schon mal gesagt, Brüderchen, daß es mir nicht darum geht, Aufsehen zu erregen, sondern daß ich nichts weiter als ein gutes solides Gefährt brauche«, erklärte Gerhard.

Daß es das war, mußte Rolf zugeben. »Na denn viel Spaß«, grinste er.

»Mach nicht so ein enttäuschtes Gesicht, Angela«, sagte Anja zu ihrer kleinen Nichte und schlüpfte in ihre hübschen roten Sandaletten.

»Ja, aber alle geht ihr weg«, beklagte sich Angela. »Du hast auch ein – ein Dingsda –«

»Nö, ich hab’ kein Rendezvous. Ich geh’ nur mir Rolf und Katarina ins Kino. Ihr nehmt mich doch mit?«

»Klar«, lachte Rolfs Freundin. »Wo der Stefan dich doch versetzt hat!«

Anja wurde rot. »Ach der«, machte sie wegwerfend.

»Wir nehmen uns auch was vor, Schätzchen«, mischte sich die Oma ein. »Wir gehen in den Stadtgarten, da gibt es am Sonntagnachmittag allerlei Belustigungen für Kinder, und Eisessen gehen wir auch.«

Wie seine Kleine sich doch daran gewöhnt hatte, von einer Familie umgeben zu sein, ging es Gerhard durch den Sinn, als er zu Ariane fuhr. Und dann dachte er nur noch an sie, und an die sonderbaren Umstände, die sie zusammenführen sollten.

Ariane Danegger trug einen leichten sommerlichen Hosenanzug, ihr Haar, offen und knapp schulterlang, war seidigglänzend. Gerhard umfaßte die schöne Frau mit einem langen Blick, als sie auf ihn zukam.

War es denkbar, daß sie seine Frau werden würde?

Sie ließen die Stadt hinter sich, fuhren durch schmucke Dörfer, die in sonntäglicher Stille lagen. Kühe grasten auf den Wiesen, die Felder standen hoch, die Ähren bewegten sich leise im Wind.

Ariane war still an Gerhards Seite. Aber es war, seltsam genug, kein befangenes Schweigen zwischen ihnen.

An einem Fluß, über den eine Brücke zu einem bewaldeten Hügel führte, hielt Gerhard an. »Das wäre hier ein hübscher Spazierweg«, sagte er. »Haben Sie Lust, ein Stück zu gehen? Vorausgesetzt, daß es Sie nicht anstrengt.«

»Warum sollte es mich anstrengen«, sagte sie mit einem erstaunten Blick.

»Es könnte ja sein, daß Ihr Fuß noch geschont werden muß.«

Ariane lächelte ein wenig. »Sie sind sehr fürsorglich, Herr Schilling. Ich habe das schon vergessen.«

»Dann ist es gut.« Als sie ein paar Meter gegangen waren, begann Gerhard: »Sie werden über die Unterredung, die ich mit Ihrem Vater hatte, Bescheid wissen, Frau Danegger.«

»Ja, über die Geschäfte«, sagte Ariane und sah auf ihre Fußspitzen.

»Nicht nur«, betonte Gerhard. »Auch über Sie und mich war die Rede dabei.«

Sie wandte ihm den Kopf zu, ihre Miene war unbewegt. »Ist das nicht auch mehr oder weniger eine geschäftliche Sache?«

»Wenn man es so sehen will… Nur vermag ich das nicht. Wie können Sie so gelassen dabei sein?«

Ihr Blick ging an ihm vorbei. »Wissen Sie, Herr Schilling«, sprach sie langsam, jedes Wort überlegend, »ich habe meinen Vater schon oft enttäuscht. Es fing damit an, daß ich nicht der Sohn war, den er sich gewünscht hat.«

»Hat man Sie das spüren lassen?« fragte Gerhard mit gerunzelter Stirn.

»Nein, das nicht. Aber ich konnte denken. Der Name sollte weiter getragen werden. Sicherlich gibt es auch Frauen, die ins Börsengeschäft einsteigen können, überhaupt zum Managertum befähigt sind. Ich gehöre leider nicht dazu. Meine Interessen lagen auf völlig anderem Gebiet. Ich hatte angefangen, Kunstgeschichte zu studieren…«

»Es ist auch kein Beruf für Frauen, mit nüchternen Zahlen umzugehen«, meinte Gerhard.

»Dann habe ich einen Arzt geheiratet. Ich tat Vater nicht den Gefallen, einen Banker zu heiraten, obwohl es Bewerber gegeben hätte.«

»Jedes Kind, wenn es erwachsen wird, hat das Recht, seinen eigenen Weg zu gehen, Frau Danegger«, sagte Gerhard. »Sie brauchen sich doch für nichts einen Vorwurf zu machen.«

»Aber jetzt hätte ich die Gelegenheit, eine Last von meinem Vater zu nehmen, verstehen Sie?«

»Und dafür schrecken Sie vor nichts zurück. Auch nicht vor einer Ehe mit einem Fremden«, stellte Gerhard fest, und er suchte ihren Blick.

»Es gibt keinen Schrecken mehr für mich«, gab Ariane ausdruckslos zurück. »Außerdem«, jetzt sah sie ihn voll an, »so fremd sind wir uns doch nicht. Ich könnte mir vorstellen, daß wir eine gemeinsame Basis finden werden. Es kommt jetzt auf Sie an, ob Sie dazu bereit sein würden, der Schwiegersohn des Leonard von Korff zu werden.«

»Und der Ehemann der Ariane Danegger«, vollendete Gerhard.

»Ja«, sagte sie einfach. »Es wäre eine Ehe, die von beiden Seiten vom Verstand her geschlossen wird. Ich finde, es ist nichts Besonderes dabei. Ein Pakt sozusagen zwischen zwei Menschen, die wissen, was sie wollen.«

Gerhard sah einem Eichhörnchen nach, das an einem Baum emporsprang. »Mich friert ein wenig bei Ihren sachlichen Ausführungen«, bekannte er.

»Was erwarten Sie sonst?« fragte Ariane erstaunt.

»Jeder Mensch hat doch nicht nur einen Verstand, sondern irgendwo auch – ein Herz«, sprach er verhalten.

»Das habe ich verloren, Herr Schilling. Es ist irgendwo unter dem Schnee begraben. Ich nehme an, Sie wissen Bescheid.«

Diese tonlose Stimme… Gerhard blieb abrupt stehen, wandte sich zu ihr. »Ariane –«, stieß er hervor, und wußte doch nicht weiter. Er wollte ihr soviel sagen, aber er fand die Worte nicht dafür. »Verzeichung…« Er preßte die Lippen zusammen.

»Bleiben Sie ruhig dabei«, sagte sie gleichgültig. »Sie heißen Gerhard, nicht wahr.«

Sie setzten ihren Weg auf dem weichen Waldboden fort. Irgendwo duftete es nach Pilzen, ein paar Glockenblumen blühten am Wegrand.

»Wenn Sie glauben, keines Gefühles mehr fähig zu sein, Ariane«, begann Gerhard nach einer Pause, »wie werden Sie dann mein Kind aufnehmen, wenn es denn zu dieser seltsamen Ehe kommen sollte?«

»Erzählen Sie mir davon«, bat sie. »Wie heißt sie, warum hat sie keine Mutter? Sind Sie geschieden und hat man Ihnen das Kind zugesprochen?«

»Sie heißt Angela. Ich war mit ihrer Mutter nicht verheiratet. Sie hat mich verlassen.«

Ariane sah ihn von der Seite an. »Warum?« fragte sie kurz.

»Wir hatten uns auseinandergelebt. Sie ließ mir das Kind.«

»Haben Sie sie geliebt?«

Gerhard machte eine Kopfbewegung. »Gewiß, am Anfang schon. Es sprach auch der Wunsch mit, nicht mehr allein zu sein in dieser Stadt New York.«

»Sehen Sie, Gerhard«, um Arianes Mund zuckte es, »so ist das mit der Liebe. Entweder ist sie so wundervoll, daß die Götter neidisch werden, oder sie endet in einer großen Enttäuschung. So oder so wird einem alles genommen. Aber Sie wollten mir von Angela erzählen.«

Er tat es. Er schilderte sein kleines Mädchen so, wie es war, manchmal still und schüchtern, jetzt etwas aufgelebt in der Obhut seiner Familie, der Oma vor allem.

»Angela ist wahre Mutterliebe nie zuteil geworden«, sagte er. »Wenn ich nun eine…«, er zögerte einen Moment, »eine Vernunftehe eingehe, sollte das Kind doch Wärme in einem neuen Zuhause finden.«

»Ich werde gut zu ihr sein«, sagte Ariane einfach. »Ein wenig kenne ich sie ja nun schon, Ihre Angela.«

»Sie sollen Sie bald persönlich kennenlernen.«

Gerhard wünschte, sie würde sagen: Ich freue mich darauf. Aber sie sagte es nicht. Sie ging mit gesenktem Kopf, weit fort mit ihren Gedanken, so schien es ihm.

Der Wald öffnete sich zum Tal hin. In der Ferne sah man ein Gasthaus, im Garten waren unter dichtbelaubten Bäumen Tische und Stühle aufgestellt.

»Wir können dort eine Tasse Kaffee trinken«, schlug Gerhard vor.

»Wenn wir Platz finden? Bei diesem Wetter sind viele Sonntagsausflügler unterwegs«, gab seine Begleiterin zu bedenken.

Sie sollte recht behalten. Im Garten waren alle Tische besetzt, und es ging ziemlich laut dort zu. Dagegen war es drinnen in der Gaststube still und angenehm. Dort nahmen sie Platz.

Es dauerte eine Weile, bis die Bedienung kam, die draußen alle Hände voll zu tun hatte.

»Ich habe mir in diesen Tagen einige Wohnungen angesehen«, begann Gerhard. »Eine hat mir recht gut gefallen. Aber sie müßte natürlich auch Ihre Zustimmung finden, Ariane.«

Mit großen Augen erwiderte sie seinen Blick.

»Wozu eine Wohnung? Mein Elternhaus ist groß genug, die ganze obere Etage gehört mir. Sie war für eine Familie gedacht, nur daß es dann anders gekommen war. Es ist ein großer Wohnraum, zwei Schlafzimmer und ein Zimmer für das Kind. Ich kann nicht einsehen, warum Sie größere Aufwendungen machen sollten für eine andere Wohnung, die erst eingerichtet werden müßte.«

Da er schwieg, fügte sie fragend hinzu: »Oder wollen Sie das nicht?«

Gerhard schüttelte leicht den Kopf, und mit dem Anflug eines verwunderten Lächelns sagte er: »Es verblüfft mich nur immer wieder, mit welcher Selbstverständlichkeit Sie über diese Dinge reden.«

Endlich trat die Kellnerin an den Tisch. Gerhard bestellte Kaffee und Mineralwasser dazu. Der Mund war ihm trocken geworden. Es wurde ihnen nun auch schnell gebracht.

»Sie könnten eines Tages ganz anders denken, Ariane«, fuhr er nach dem ersten Schluck fort, »auch die schlimmsten seelischen Wunden verheilen einmal, wenn man jung ist.«

»Das ist mir nur zu oft schon gesagt worden«, unterbrach sie ihn schroff. »Es sind für mich leere Worte.«

»Sie wollen es nicht hören«, sprach Gerhard ernst. »Aber wenn Sie sich nun doch dem Leben wieder zuwenden, irgendwann einen Menschen finden, mit dem Sie es teilen möchten – wie sehr würden Sie es dann bereuen, eine Ehe unter diesen Voraussetzungen eingegangen zu sein.«

Ariane schwieg. Sie wickelte ein Zuckerstückchen aus, gab es in ihre Tasse, rührte darin um. Was hatte es für einen Sinn, Gerhard Schilling oder wem auch immer zu erklären, daß dies für sie unvorstellbar war. Daß Michael immer vor allem stehen würde. Michael und Janine.

»Dasselbe könnte ich Ihnen vorhalten«, behauptete sie nach einer Weile. »Vorhin sagten Sie, man habe nicht nur einen Verstand, sondern auch ein Herz. Sie lassen ja auch nur Ihren Verstand sprechen. Ihnen – nicht mir – könnte es geschehen, daß Sie frei sein möchten für jemand, den Sie lieben. Aber muß man denn so weit vorausdenken?«

Sie hob die Lider, weil sie fühlte, daß sein Blick fest auf sie gerichtet war. »Wie sehen Sie mich an?« fragte sie irritiert.

Wie bei etwas Verbotenem ertappt nahm Gerhard den Blick von ihr. Nur den Verstand? Du lieber Himmel… Wie gern wollte er ihr sagen: Lern wieder leben, Ariane. Sieh die Welt, sieh die Menschen nicht länger an wie durch ein beschlagenes Fenster.

Erst Sekunden später gab er zurück: »Ich habe eben das Mädchen Ariane vor mir gesehen, mit wehendem Haar und lachendem Mund.«

Sie stutzte. »Wann hätten Sie mich gesehen?« fragte sie verwundert.

»In mehreren Jahren, schon als Gymnasiast, wenn ich mir bei der Gartenarbeit auf dem Korffschen Grundstück mein Taschengeld verdiente, und später als Banklehrling, selbst noch als junger Student.«

»Ach?« Sie lächelte erstaunt. »Ich habe Sie nie bemerkt.«

»Wie sollten Sie auch. Das waren zwei Welten.«

Mit einem seltsamen Blick sah sie ihn an. »In Zukunft werden sie das nicht mehr sein.« Ihre Hand schob sich ihm über den Tisch entgegen. »Wollen wir versuchen, das Beste daraus zu machen, Gerhard.«

Er nahm ihre Hand, hielt sie einen Moment in der seinen fest, bevor er sie wieder losließ.

»Ja, Ariane, versuchen wir es«, sagte er ein wenig rauh.

*

Als Gerhard die Wohnungstür aufschloß, kam ihm sein Töchterchen entgegen. »Aber nächsten Sonntag nimmst du mich mit, Papa«, verlangte sie.

»Das verspreche ich dir, mein Engelchen.«

Sie gingen zu der Oma, die in der Küche das Abendessen vorbereitete. »Hast du einen hübschen Nachmittag gehabt, Gerhard?« fragte sie den Sohn.

Doch dieser nickte nur stumm. Dafür erzählte Angela, wie es im Stadtgarten gewesen war, unter vielen Menschen und Kindern, die wild herumsprangen. »Sie hat sich ganz ängstlich an meine Hand geklammert, unsere Kleine«, bemerkte die Oma. »Ich muß doch mal sehen, daß sie mit Kindern in der Nachbarschaft Kontakt bekommt.«

»Es eilt nicht«, sagte Gerhard und sah auf ihre Hände, die Salatblätter zupften. Dann ging er zu seinem Vater, der es sich mit der Zeitung in seinem Sessel gemütlich gemacht hatte.

»Na, mein Junge, wie war die erste Ausfahrt mit deinem Wagen?«

»Gut.« Gerhard ließ sich in dem anderen Sessel nieder. »Ich war mit Frau Danegger unterwegs.«

Arno Schilling hob die buschigen Augenbrauen. »Der Name sagt mir nichts. Hast du hier schon eine Bekanntschaft gemacht?«

»Das ist die Tochter von Leonard Korff«, klärte Gerhard seinen Vater auf.

»Nanuu«, kam es gedehnt zurück, »bahnt sich da jetzt eine private Beziehung an?«

Ihr Gespräch wurde unterbrochen, weil Angela hereinkam und von dem Papa auf den Schoß genommen werden wollte. »Wir werden später darüber reden«, murmelte Gerhard zu seinem Vater hin und küßte sein Töchterchen auf die Schläfe. Es dauerte eine Weile, bis Arno Schilling wieder zu seiner Zeitung griff.

Anja erschien nicht zum Abendessen, sie blieb noch bei Rolf und Katarina. Um acht sagte Angela dem Opa gute Nacht, dann ließ sie sich zu Bett bringen, was sich zu einer wahren Zeremonie entwickelt hatte. Die Oma mußte nämlich noch kommen und ihr etwas vorlesen. Es hatte sich noch ein Kinderbuch von Anja gefunden, in dem hübsche kleine Geschichten waren, die Angela nur zu gern hörte. Und dann natürlich der Papa, der sie zudecken und Küßchen geben mußte, bevor sie sich mit ihrem Bärli zurechtkuschelte.

»Hier möchte ich gar nicht mehr fort«, vertraute sie ihm heute an. »Warum wollen wir denn woanders hin?«

»Damit wir wieder mehr Platz haben, Schätzchen. Auf die Dauer können wir nicht bei Oma und Opa bleiben.«

»Das find ich aber doch«, waren die letzten Worte des Kindes, bevor ihm die Äuglein zufielen.

Arno Schilling schaltete den Fernseher ab, als sie denn nun wieder im Wohnzimmer beisammensaßen.

»Warum?« fragte Frau Monika, die ganz gern die Unterhaltungssendung gesehen hätte.

»Ich glaube, Gerhard hat uns etwas zu sagen«, sagte ihr Mann bedeutungsvoll. Fragend richtete Monika den Blick auf ihren Sohn. Das war freilich wichtiger als Volksmusik. War er nicht den Abend über in sich gekehrter als sonst gewesen?

Was sie dann erfahren sollten, ließ sie freilich aus allen Wolken fallen. Die Zeit schien stillzustehen, die Uhren ihren Takt anzuhalten.

»Mein Sohn«, stammelte Monika, als sie endlich Worte fand, »mein Sohn will eine Frau heiraten, um eine Bank zu retten. Ja, wo gibt es denn so etwas.« Und sie starrte ihn an, als sei er, der geliebte Junge, ihr plötzlich ferngerückt.

»Weil ich, wie gesagt, als Schwiegersohn von Korff eine ganz andere Stellung einnähme«, setzte ihnen Gerhard weiterhin ruhig auseinander. »Dann könnten die Herren Mitarbeiter mich nicht mehr schief ansehen, von denen der eine oder andere sowieso ausgewechselt werden müßte.«

»Und wenn alles in den Sand gesetzt ist, was du da hineinstecken willst, wie stehst du dann da«, sagte der Vater barsch.

»Das wird nicht der Fall sein, denke ich«, erwiderte Gerhard fest. »Ich werde mich auch nicht ganz entblößen. Meine Familie soll abgesichert bleiben. Ihr für das Alter, und Rolf wird später einmal seine eigene Werkstatt haben. Das habe ich alles schon bedacht.«

»Was sind das nur für Reden«, klagte die Mutter händeringend. »Als ob es nur um Stellung und Vermögenswerte ginge. In Wirklichkeit geht es doch um etwas ganz andres.« Sie atmete schwer. »Was ist das denn für eine Frau, Gerhard, die anscheinend auch nur darauf aus ist, einen reichen Mann zu bekommen, egal, wer das ist?«

»Ganz so ist es nicht, Mama.

Ariane Danegger hängt sehr an ihrem Vater. Sie möchte…«

»Du wirst mir doch nicht erzählen wollen«, fiel sie ihm ins Wort, »daß eine Tochter sich für ihren Vater auf so einen – einen Handel einläßt!«

»Es sind die Umstände, die sie dazu bewegen. Sie hat…«

»Die Umstände, die Umstände«, wiederholte Monika erregt, »was für Umstände sollten das denn sein?«

»Wenn du Gerhard mal ausreden ließest, würde er es uns vielleicht erklären«, verwies sie ihr Mann.

»Sie hat ihren Vater enttäuscht, als sie einen Arzt heiratete, wo er eher auf einen Nachfolger gehofft hätte«, konnte Gerhard nun endlich fortfahren. »Dann hat Frau Danegger einen Schicksalsschlag erleiden müssen, wie er schlimmer für einen Menschen wohl nicht sein kann. Sie hat ihren Mann und ihr kleines Kind bei einem Lawinenunglück verloren. Das hat sie niedergeschmettert. Wenn sie mir nun die Hand reicht, tut sie das wirklich für ihren Vater, um ihm eine Last von den Schultern zu nehmen, an der sie sich nicht ganz schuldlos fühlt.«

Arno Schilling stand auf, um sich eine Zigarre aus dem Kistchen zu holen. Damit, sie sorgfältig zu präparieren und anzubrennen, war er erst einmal beschäftigt. Seine Frau war verstummt. Sie mußte über das Gehörte nachdenken. Das war natürlich schlimm, Mann und Kind zu verlieren. Dafür konnte man jeden nur bedauern. Auch wenn er einem unbekannt war. Aber daß Gerhard, ihr Sohn, ihnen diese Unbekannte plötzlich als Schwiegertochter bringen wollte, das überstieg ihr Begriffsvermögen.

»Du kannst sie doch erst seit ganz kurzer Zeit kennen«, sagte sie mit vernehmlicher Fassungslosigkeit.

»Ich kenne Ariane seit«, um Gerhards Mund zuckte ein Lächeln, »na ja, seit ungefähr dreizehn Jahren.«

Der Vater, in Rauchwolken gehüllt, blickte rasch auf, und auch die Verblüffung der Mutter konnte nicht größer sein.

»Erinnert euch mal an früher, wo ich bei der Gärtnerei Müller gejobbt habe. Oft genug hatten wir da bei Korff zu tun, in deren großen Garten«, erklärte Gerhard den Eltern.

Bedächtig streifte Arno Schilling den Aschenkegel von seiner Zigarre ab. »Ich bin sicher, daß das Fräulein von Korff dir damals keinen Blick geschenkt hat«, bemerkte er trocken. »Da kann man doch nicht von Kennen sprechen, oder?« Mit einem durchdringenden Blick sah er seinen Sohn an.

»Ja eben«, fiel Frau Monika ein. »Und jetzt redest du schon von Heirat. Du lieber Himmel, Gerhard, was stellst du dir denn unter einer Ehe vor? Dazu gehört doch Liebe, gegenseitiges Verstehen, und daß man aufeinander eingeht. Sonst ist sie doch von vornherein zum Scheitern verurteilt!«

»Wir werden uns verstehen«, behauptete Gerhard. »Wir sind ja keine Teenager mehr, die sich zusammentun, sondern reife Menschen.«

»Und das Kind?« Die Mutter richtete sich steil auf. Ihre Augen flackerten. »Was soll aus Angela werden? Sie braucht eine Mama, die sie an ihr Herz nimmt. Wird sie das tun? Ich sehe das noch nicht. Du hast schon einmal eine Dummheit gemacht, mit dieser Lizzy…« Verzweifelt preßte sie den Mund zusammen, als sähe sie das nächste Unglück schon kommen.

»Wenn sie schon einmal ein Kind gehabt hat, wird sie Angela vielleicht eine gute Mutter sein, Monika. Ich würde da nicht so schwarzsehen«, äußerte ihr Mann.

Arno Schilling begann sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß sein Sohn Bankier werden sollte. Nicht Angestellter, sondern Mitinhaber eines namhaften Bankhauses. Es stand zur Zeit nicht gut damit, gewiß. Doch wenn der Junge erst Mitspracherecht hatte, würde er die Zügel schon in die Hand nehmen und dem Haus wieder zur alten Geltung verhelfen. Ja, das traute er ihm zu.

Und eine Ehe mußte auch nicht unbedingt im Überschwang der Verliebtheit geschlossen werden. Man sah und hörte ja genug, wohin das manchmal führte.

»Ariane Danegger ist keine Lizzy«, knüpfte Gehard an die Worte seiner Mutter an. »Sie ist eine ernste, leidgeprüfte Frau. Sie wird sich der Verantwortung für ein Kind bewußt sein.«

»Verantwortung, wie sich das anhört«, wandte Monika Schilling wiederum erregt ein. »Als Stiefmutter sollte sie nicht nur Verantwortung tragen, sondern Angela liebhaben!«

»Muß man sie nicht liebhaben?« fragte Gerhard. Er stand auf. Es war nun genug geredet. Er wollte seinen Eltern Zeit lassen, damit fertig zu werden. Sanft legte er der Mutter die Hand auf die Schulter, streichelte darüber. »Ich weiß, daß ich dir einen Schock versetzt habe, Mama. Aber es wird schon alles gut werden. Mache dir keine Sorgen.« Er wandte sich zur Tür. »Ich geh’ noch ein paar Schritte«, sagte er beiläufig.

Der Abend war mild, und es war noch hell.

Mit nachdenklich gesenktem Kopf ging Gerhard die Straße entlang. Da hatte er nun seinen Eltern möglichst ruhig dargelegt, welchen Weg zu gehen er sich entschlossen hatte.

In seinem Innern verspürte er diese Ruhe nicht. Würde es ihm gelingen, Ariane den Glauben an das Leben wiederzugeben? Die Trauer um ihr verlorenes Glück hatte sie erstarren lassen, ließ keine wärmeren Gefühle mehr zu. Es hüllte sie ein wie ein Kokon. Wenn er diesen nicht von ihr abstreifen konnte, würde es nicht leicht für ihn sein, mit ihr zu leben. Denn sein Herz war lebendig, und es schlug für sie.

Wie ihr schönes Haar in der Sonne geleuchtet hatte… Mit welcher Anmut sie neben ihm geschritten war… Ein-, zweimal hatte sie ein kleines Lächeln für ihn gefunden. Wenn es ihm doch einmal gelänge, daß es sich auch in ihren Augen spiegelte!

»Halloh! Übersiehst du jetzt schon deine eigene Schwester?«

Es war Anja, die auf dem Heimweg war, lachend seinen Arm ergriff. »Weißt du, wie du mir vorgekommen bist?« Ihre blanken Augen funkelten ihn an.

»Na, wie denn, Schwesterchen?«

»Wie so ein Dichter, der Verse machen will. Total abwesend, wie in den Wolken schwebend«, sagte sie mit übertriebenem Pathos.

»Du findest ja komische Vergleiche. Ein Poet bin ich nun wirklich nicht«, lachte Gerhard ebenfalls.

»Nee, du bestimmt nicht. Aber die haben wir grade in der Schule durchgenommen, die Romantiker. Alles alte Zöpfe. Möcht’ wissen, was wir damit sollen. – Wo willst du denn noch hin, Gerhard? Spätvorstellung im Kino?«

»Ach wo, nur noch ein bißchen frische Luft schnappen. – War es nett bei Rolf?« erkundigte er sich.

»Hmhm.« Anja hielt sich an seiner Seite. »Es ist noch ein Freund dazugekommen, war ganz lustig. Katarina hat einen Kaiserschmarrn mit Kirschen gemacht. Die kann so was ganz toll. Die soll der Rolf man behalten.«

»Du meinst, weil Liebe durch den Magen geht«, schmunzelte Gerhard, »so sagt man doch.«

»Nö, auch sonst. Sie ist echt nett.« Dann blieb sie eine Weile still, bevor sie fragte: »Weißt du, ob jemand für mich angerufen hat?«

Gerhard machte eine unbestimmte Kopfbewegung. »Heute abend jedenfalls nicht. Da mußt du schon Vater fragen, er war am Nachmittag zu Hause.«

Anja sah zu Boden, und auf ihre neuen roten Schuhe, mit denen sie Stefan hatte gefallen wollen. »Vielleicht hat’s ihm ja dann doch leid getan«, murmelte sie in sich hinein. Dann fing sie an: »Gerhard? In deinem fortgeschrittenen Alter hat man doch eine Menge Erfahrung. Ich möchte dich etwas fragen. Vielleicht kannst du mir einen Rat geben…« Sie zögerte.

»Raus mit der Sprache«, ermunterte sie der Bruder »im fortgeschrittenen Alter«. Aber er verzog keine Miene, weil das Schwesterchen es so wichtig damit zu haben schien. Ihr noch kindlich gerundetes Gesicht war jetzt ganz ernst, fast bekümmert.

»Also«, Anja holte Atem, »wenn ein Junge, der erst richtig verknallt tut, mit einer anderen schwimmen geht, wie findest du das? Er hat gesagt, das wär’ nur heute mal. Aber eben heute waren wir eigentlich verabredet. Soll ich ihm das verzeihen?«

»Hm. Immerhin hat er dir die Wahrheit gesagt. Er hätte dich ja auch anlügen können, irgendeine Ausrede brauchen. Demnach steckt sicher nichts weiter dahinter. Deshalb mußt du ihm nicht gleich böse sein.«

»Bin ich aber!« trumpfte sie auf. »Und ich hab’ gedacht, daß ich ihm jetzt für immer die kalte Schulter zeigen werde. Wenn er wieder auf mich zukommt, laß ich ihn einfach ablaufen. Oder, was meinst du?«

Erwartungsvoll sah sie ihn an, und Gerhard glaubte zu wissen, was sie hören wollte.

»Für immer, nein, das würde ich nicht an deiner Stelle, Anja. Erst kannst du ihn ja mal ein bißchen zappeln lassen, dann wirst du schon sehen, wie er sich verhält. Über einen einmaligen Ausrutscher würde ich großzügig hinweggehen. Wie alt ist er denn. Es handelt sich doch sicher um den Stefan?«

»Um wen sonst«, sagte Anja achselzuckend. »Seit zwei Monaten ist der mein Freund. War der mein Freund«, betonte sie. »Er ist sechzehn, aber schon ende, da sollte er wissen, was er tut. Aber du meinst, ich sollte ihm den Verrat verzeihen, später mal?«

»Das ist doch ein viel zu großes Wort dafür, Anjakind.« Gerhard legte den Arm um die Mädchenschulter. »Komm, zieh die Mundwinkel wieder rauf. Ihr werdet euch schon wieder vertragen.«

So jung war sie, so jung, wie sie nun zögernd nickte. Er empfand eine leise Rührung. Mochte ihr im Leben kein größerer Kummer zuteil werden, als daß ein Junge mit einem anderen Mädchen zum Schwimmen ging!

*

Mit einem nachdenklichen Blick sah Irene Keßler auf ihre Nichte, die an diesem Samstagnachmittag zu ihr gekommen war. Sie hatten sich die ganze Woche nicht gesehen. Es war nicht viel zu tun gewesen im Geschäft. Ariane hatte es vorgezogen, zu Hause zu bleiben.

»Und nun willst du dich also in eine Ehe stürzen, von der du nicht weißt, wie sie ausgehen wird«, sagte sie endlich.

»Das weiß man doch nie vorher«, gab Ariane zurück. »Mit Michael, ja, da wäre es ein lebenslanges Glück gewesen…« Sie ließ die Blicke über die blühenden Geranien schweifen, welche die Brüstung der Terrasse säumten, dann ging ihr Blick wieder zu der Älteren. »Ich stürze mich auch nicht hinein, Tante Irene. Ich heirate Gerhard Schilling aus diesen sachlichen Erwägungen heraus.«

Eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Die buntgestreifte Markise spendete Schatten gegen die Sonne. Es war kein Laut zu hören in diesem Einfamilienhaus im Grünen, das Irene Keßler nach dem Tod ihres Mannes vor sechs, sieben Jahren allein bewohnte. Der einzige Sohn hatte eine Französin geheiratet, er lehrte Germanistik an einer Hochschule in Paris. Sie hatte ihre Aufgabe darin gefunden, den Kunstsalon weiterzuführen. Und irgendwie hatte sie es sich auch zur Aufgabe gemacht, dieser Nichte, die ihrem Herzen nahestand, über ihr schweres Schicksal hinwegzuhelfen. Soweit Ariane das zuließ. Viel hatte sie nicht vermocht in diesen Jahren.

Mit einem Seufzer, den sie nicht laut werden ließ, griff Irene nach dem Krug mit dem Fruchtsaftgetränk, schüttelte ihn ein wenig, daß die Eiswürfel darin gegeneinander klirrten.

»Wann wirst du mir Herrn Schilling vorstellen?« fragte sie, während sie den Saft in die Gläser schenkte. »Ich muß zugeben, daß ich sehr neugierig auf ihn bin. Hoffentlich ist er nicht nur ein Verstandesmensch.«

Er mochte mit Zahlen umgehen können, überlegte sie. Würde er es auch mit einer Frau, die tiefes Leid mit sich herumtrug?

»Nicht nur, nein«, sagte Ariane mit einem leichten Kopfschütteln. »Wenn er von seinem Kind spricht, ist seine Stimme voller Wärme.« Sie griff nach ihrem Glas, drehte es in der Hand. »Morgen kommen sie beide zu mir«, fuhr sie fort. »Ich möchte im Haus wohnen bleiben. ich denke, daß Herr Schilling damit einverstanden sein wird.«

»Und deine Eltern werden es auch sein?« Es war nur eine halbe Frage.

»Vater ist sehr angetan von seinem zukünftigen Schwiegersohn. Auch menschlich verstehen sie sich gut. Und Mutter«, Ariane zuckte die Achseln, »sie wird die Form wahren.«

Aufmerksam sah Irene Keßler ihre Nichte an. »Mag sie ihn nicht?«

»Das wäre zuviel gesagt. Er steckt schließlich sein Kapital in unser Unternehmen. Aber sie ist geneigt, auf ihn herabzusehen, weil er nicht ›von Familie‹ ist, wie sie das ausdrücken würde. Du kennst sie ja.«

O ja, Irene Keßler kannte ihre Schwägerin. Schilling, wie und wer immer er sein mochte, würde keinen ganz leichten Stand bei ihr haben. Doch diesen Gedanken schob sie beiseite. Nichts würde leicht sein, für keinen der Beteiligten. Wie sie es sich nur vorstellten…

»Vielleicht wird das Kind eine Brücke schlagen«, hoffte sie dennoch für Ariane. Diese senkte die Lider.

»Das Kind«, kam es schwer über ihre Lippen. »Mir ist bange vor morgen, wenn es zu mir kommen wird.«

»Bange?« wiederholte Irene verwundet. »Wie kann dir vor einem kleinen Mädchen bange sein?«

»Janine wäre jetzt so alt wie Angela«, sagte Ariane tonlos, ohne den Blick zu heben.

»Aber dieses Kind lebt, Ariane«, hielt die Ältere ihr ernst entgegen. »Nimm es so auf, wie es das sicherlich erwarten wird.«

»Ja. Aber warum durfte Janine nicht leben. Warum?«

Irene sank das Herz beim Anblick ihrer Nichte. Der geneigte Kopf, das schmale, gezeichnete Gesicht… Würde es denn nie ein Ende haben mit der namenlosen Trauer?

»Du machst dich noch krank bei allen Grübeleien, Ariane«, sagte sie kummervoll. »So kannst du nicht einen neuen Lebensabschnitt beginnen, und das soll es doch werden.«

Endlich hob Ariane den Kopf. Aber sie schwieg. Sie tranken etwas, sie sahen einem Schmetterling zu, der sich mit zitternden Flügeln auf einem der Blumenkästen niedergelassen hatte.

»Was ich dich noch fragen wollte, Tante Irene: Hat der Kunde das Gemälde Gedankenspiel eigentlich gekauft, für das er sich interessierte?«

Sie wollte vom Thema ablenken, und Irene ging darauf ein. Er hatte es gekauft, und zwar zu einem guten Preis. So redeten sie nun von anderen Dingen. Erst als Ariane gegen Abend aufbrach, um nach Hause zu fahren, sagte sie: »Ich werde dir Gerhard Schilling bei nächster Gelegenheit vorstellen. Ich rufe dich an.«

»Tu das, meine Liebe. Und wenn das Kind morgen mit seinem Vater zu dir kommt, laß es das unschuldige Wesen nicht spüren, was dich bewegt.«

Ariane nickte und ging schnell davon.

*

Oma Monika bürstete dem Enkeltöchterchen noch einmal über das weiche dunkle Haar, das sich an den Spitzen leicht lockte.

»Die Anja hat gesagt, Papa, bevor sie fortgegangen ist, daß wir heute nachmittag zu der Frau gehen, die meine Mama werden soll!« Verwirrt blickte die Kleine zu ihrem Vater empor. »Ist das wirklich wahr?«

»Anja ist eine Plaudertasche«, entfuhr es Gerhard ärgerlich.

»Was ist das?« fragte das Kind prompt.

»Deine Schwester hat mitgekriegt, wie wir darüber gesprochen haben«, sagte die Mutter entschuldigend. »Sie findet es irre, was da läuft – um es wörtlich wiederzugeben.«

»Ja, so hat sie sich auch mir gegenüber geäußert. Aber sie sollte doch lieber den Mund halten.« Gerhard beugte sich zu Angela. »Wir machen erst mal nur einen Besuch, Schätzchen, in einem schönen Haus mit einem großen Garten, wo es dir sicher gefallen wird.«

»Und da ist die Frau, die…«

»Du wirst sie sehen«, schnitt Gerhard ihr das Wort ab. »Alles andere wird sich finden.«

Angela verstand nichts mehr. Sie ließ sich von der Oma, die auch ein komisches Gesicht machte, das Trägerkleidchen zurechtzupfen, die Schnalle an der weißen Sandale rechts fester ziehen.

»Aber mein Bärli darf ich mitnehmen«, sagte sie, als brauche sie diesen Freund, noch zu ihrem Papa. Alles war ihr auf einmal so unsicher. Am liebsten wäre sie dageblieben.

Eine Mama, hatte Anja gesagt. Warum sie das wohl gesagt hatte, ging es dem Kind durch den Kopf, als es neben ihrem schweigenden Vater im Auto saß. Sie hatte nur eine sehr ferne Erinnerung an eine Mama. Die war manchmal lustig mit ihr gewesen, und dann wieder überhaupt nicht. Das glaubte Angela noch zu wissen. Dann war sie eines Tages nicht mehr da. Nur noch Gina, die war dann immer dagewesen.

Aber das war alles so weit fort. Das war ja noch in Amerika.

Gerhard nahm den Blumenstrauß vom Rücksitz, als sie vor der Villa Korff ausstiegen. Edle, langstielige Rosen, blaßgelb und noch halb in der Knospe. Rosen für Ariane. Eines Tages wollte er ihr rote Rosen bringen…

Angela hielt seine Hand umklammert, als sie neben ihm her trippelte, im linken Arm das Bärli an sich gedrückt.

Da öffnete sich schon die Haustür, Ariane stand hoch aufgerichtet, in einem weißen Kleid, schmal in der Taille, nach unten hin weitfallend, und sah ihnen entgegen.

»Ist sie das?« wisperte Angela. Ihr Papa nickte nur.

»Willkommen«, sagte Ariane, als sie bei ihr waren. Sie gab Gerhard die Hand, nahm die Blumen, die er ihr in einer Klarsichthülle überreichte. »Wie schön sie sind, danke.«

Dann richtete sie den Blick auf das Kind. Dieses kleine Mädchen, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen weit und erwartungsvoll zu ihr aufgeschlagen, die zarten Wangen gerötet.

Brennendheiß drängte es sich Ariane plötzlich gegen die Lider. Sie hatte nicht umsonst Angst vor dieser Begegnung gehabt. So groß wäre ihre Janine jetzt auch, wenn sie hätte leben dürfen.

»Guten Tag, Angela«, sagte sie, dabei berührte sie nur die Schulter des Kindes, nahm schnell den Blick von ihm.

Sie hatte lange nicht mehr geweint. Irgendwann waren ihr die Tränen versiegt. Sie sah auf die Rosen.

»Guten Tag«, sagte Angela artig. Aber die Frau sah sie schon nicht mehr an. Angela nahm den Teddybär wieder fester an sich.

»Kommt herein.« Ariane machte eine einladende Handbewegung. »Meine Eltern sind heute nicht da«, erklärte sie im Plauderton, als sie die Treppe hinaufgingen, »sie machen einen Besuch bei Freunden. Unser Mädchen hat Ausgang, wir sind allein im Haus.«

Der Tisch war schon gedeckt.

Ariane bot Platz an, sie versorgte die Blumen, in einer Kristallvase stellte sie sie auf eine mit Intarsien verzierte Kommode.

Stumm und beeindruckt sah Angela sich um. Sie fand es sehr schön hier. So groß, ja, das Zimmer kam ihr so groß vor wie Opas ganze Wohnung, und so hohe Fenster hatte es, und… und… Es gab viel zu bestaunen.

Sie tranken Kaffee, Angela bekam Schokolade, Ariane reichte kleine Törtchen dazu. Sie hatte sich wieder gefaßt, war gewandt und liebenswürdig bei leichter Konversation. Sie erzählte von dem Besuch bei ihrer Tante, der Inhaberin des Kunstsalons, »wo Sie sich zweimal so hilfsbereit gezeigt haben, Gerhard«, lächelte sie dem Gast zu.

»Zweimal?« stutzte er.

»Ja, zuerst bei den Amerikanern, die ich nicht recht verstand. Erinnern Sie sich nicht?«

»Wir waren auch in Amerika«, warf Angela schüchtern ein.

»Ich weiß«, sagte Ariane freundlich. »Aber jetzt bist du doch auch gern hier, ja?« Das Kind nickte stumm.

Etwas später zeigte sie Gerhard die anderen Räume, Angela, an seiner Hand kam mit. Alles war sehr komfortabel, zu beiden Schlafzimmern gehörte je ein Bad. »Und dieses Zimmer wäre dann für Angela«, erklärte Ariane, die nächste Tür öffnend. »Wir werden kindgerechte Möbel hineinstellen, die darf sie mit aussuchen.«

»Sollen wir hier wohnen«, staunte das Kind, das dies alles noch nicht recht begriff.

»Würden Sie sich hier wohl fühlen können«, wandte sich Ariane an Gerhard. »Sie haben nun gesehen, daß jeder genug Raum für sich haben wird.«

»Ja«, sagte Gerhard, hinter dessen Stirn sich viele Gedanken bewegten. War dies nicht in der Tat eine sonderbare Wohnungsbesichtigung? Sich vorzustellen, daß er mit Ariane hier leben sollte, die es nicht weiter zu berühren schien. Sie führte ihn herum wie einen Gast, der für eine gewisse Zeit hier Wohnrecht haben sollte.

Wieder zurück im Wohnzimmer, läutete das Telefon. »Entschuldigung –« Ariane griff nach dem Hörer. »Danegger.«

Gerhad bemerkte, wie ihr Gesicht sich belebte, als sie überrascht sagte: »Andreas! Daß du dich wieder einmal meldest… Ja, ich weiß, du bist viel unterwegs… Wie soll es mir schon gehen, Andreas…«

Gerhard sprach leise mit seinem Töchterchen. Es war immer etwas peinlich, wenn man dem Gespräch eines anderen unfreiwillig zuhören mußte. Angela flüsterte nur. »Bleiben wir dann nicht mehr bei der Oma?«

»Vorläufig schon noch, Angela…«

Er vernahm, wie Ariane abschließend sagte: »Morgen abend, ja, natürlich paßt es mir. Ich erwarte dich, komm nicht so spät. Bis dann, auf Wiedersehen, Andreas.«

Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, blieb sie noch sekundenlang abwesend und sah auf den Apparat. Als sie aufblickte, schien es, als müsse sie sich erst besinnen, daß sie nicht allein war.

Sie gab keine Erklärung ab, zwang sich zu einem Lächeln.

»Gehen wir doch noch in den Garten«, schlug sie vor. »Wir haben da einen kleinen Teich mit Goldfischen darin, hinter den Blumenbeeten.«

»Ich weiß. Ich kenne den Garten«, sagte Gerhard.

»Ach ja, Sie haben es mir erzählt. Das ist lange her, nicht wahr. Aber es hat sich nichts verändert.«

Mit ihrem leichten Gang schritt sie vor ihnen auf dem Weg zwischen den grünen Rasenflächen.

»Wo sind denn die Fische?« fragte Angela neugierig.

»Dort, wo auch eine Bank steht«, antwortete Ariane, »nur ein paar Meter weiter.«

»Das Wasser blüht ja!« rief das Kind verwundert aus, als sie angelangt waren. Es waren Seerosen. Nie zuvor hatte Angela dergleichen gesehen. Die Fischlein entdeckte sie erst später, wie sie, goldglänzend, unter den Wasserpflanzen hin und her huschten. Das gefiel ihr, sie hockte sich davor nieder. Gerhard und Ariane nahmen auf der Bank Platz.

»Man könnte für Angela eine Schaukel anbringen«, überlegte Ariane laut. »Als ich klein war, hatte ich meinen Spaß daran. Es kamen Freundinnen, wir durften hier herumtoben. Die Schaukel könnte sogar noch im Keller sein.«

»Es ist lieb von Ihnen, daß Sie sich Gedanken darum machen,

Ariane.«

Sie senkte den Kopf. »Angela soll ja auch mein Kind werden«, sprach sie leise und stockend. »Nur – ich muß immer an meine Janine denken. Ich brauch Zeit, damit umzugehen.«

»Wir werden Ihnen Zeit lassen«, betonte Gerhard, ruhig und fest.

»Danke, Gerhard«, kam es wie ein Hauch über ihre Lippen.

Angela kam zu ihnen. Sie lehnte sich gegen die Knie ihres Vaters, aber sie sah Ariane unverwandt an.

»Wie soll ich denn zu Ihnen sagen?« fragte sie plötzlich.

»Sie meint, wie sie Sie anreden soll«, warf Gerhard ein.

»Nenn mich Ariane, wie dein

Papa. Und du darfst auch Du sagen.«

Das kleine Gesichtchen, die fragend zu ihr emporgehobenen Kinderaugen… Irgend etwas riß und zerrte an Ariane, tief in ihrem Innersten, wo doch ewig lange nichts mehr gewesen war als zu Stein gewordener Schmerz.

Abrupt stand sie von der Bank auf, tat rasch ein paar Schritte, sinnlos, wie um zu fliehen.

Gerhards Züge spannten sich, er erhob sich ebenfalls. »Geht sie weg?« wisperte Angela erschrocken. Doch da hielt Ariane schon inne, sie wandte sich zu ihnen um, als sei sie zur Besinnung gekommen.

»Wir könnten einen Strauß pflücken, die rosa Nelken dort, die duften schön. Kommt mal!«

»Dürfen wir die dann mitnehmen?« fragte Angela.

»Ja, die nimmst du deiner Oma mit«, nickte Ariane.

Angela hielt sie in ihren Händchen, als sie nach Hause fuhren. Diesmal hatte der Teddybär hinten seinen Platz. Sie hatte sich aber bis zuletzt nicht getraut, Ariane anzureden.

»Sie ist aber nicht wie Oma oder wie Anja«, sagte sie unterwegs aus tiefen Gedanken heraus. »Auch die Katarina von Rolf hat mich schon mal in den Arm genommen. So was macht sie wohl nicht?«

»Warte nur, bis ihr euch näher kennt, Angela. Dann wird Ariane auch ganz lieb zu dir sein.« Er überlegte, ob er es ihr sagen sollte. Würde das Kind, noch keine fünf Jahre alt, es schon begreifen?

»Weißt du«, fuhr er langsam fort, »sie hat auch einmal ein kleines Mädchen gehabt. Es hieß Janine. Es ist gestorben. Darum ist Ariane immer noch sehr traurig. So wie ich es wäre, wenn ich dich verlieren müßte, mein Liebling. Deshalb ist sie so. Wir wollen ihr helfen, daß sie wieder froh sein kann. Ja, wollen wir das?«

Gerhard streifte sein Kind mit einem Blick voller Zärtlichkeit. Angela nickte unsicher. Nach einer Weile fragte sie: »Soll ich ihr mal ein Bild malen? Oma sagt, ich könnte schön malen.«

»Das machst du«, stimmte ihr der Vater zu. »Darüber wird sie sich sicher freuen. Vielleicht wird sie es sogar aufhängen.«

»Da schreib’ ich drunter Angela«, sagte die Kleine eifrig. »Das kann ich schon ganz richtig schreiben.«

Möge es so sein, daß sie sich uns allmählich öffnet und zuwendet, hoffte Gerhard inbrünstig, daß er ihr sagen konnte, daß er sie liebte.

Wer wohl dieser Andreas war, mit dem sie telefoniert hatte?

*

Andreas Danegger war Co-Pilot bei einer großen Luftfahrtgesellschaft. Er trug die Uniform, als er kam.

»Ich muß um Null Uhr in Frankfurt sein«, sagte er zu Ariane, die ihn empfing. »Wir haben einen Nachtflug nach Casablanca.«

»Dann haben wir nicht viel Zeit für uns«, bedauerte Ariane.

»Zwei, drei Stunden immerhin, für ein Wiedersehen«, lächelte er ihr zu.

Höflich begrüßte er zuerst ihre Eltern. Es hatte zu den Korffs kaum einen engeren Kontakt gegeben, schon aus räumlichen Gründen. Bei der Hochzeit seines Bruders war er dabeigewesen, später bei der Beisetzung des großen und ach so kleinen Sarges.

Sie gingen bald hinauf in ihre Wohnung. Dort umfaßte Andreas seine Schwägerin leicht, strich ihr mit dem Handrücken über die Wange.

»Ein bißchen heller schaust du schon in die Welt als vor einem dreiviertel Jahr«, meinte er, ihr in die Augen sehend. »Da hatten wir uns kurz bei deiner Tante getroffen.«

»Ja, auch nur zwischen zwei Flügen. Wann wirst du wohl einmal seßhaft werden, Andreas, du ewiger Single? Immer nur hier und da eine Freundin, ist das ein Leben?«

»Mein Beruf bringt das mit sich, Ariane. Wie kann ich einer Frau zumuten, dieses unstete Leben mit mir zu teilen?«

Sie setzen sich.

»Wie geht es deinen Eltern?« erkundigte sich Ariane. »Siehst du sie manchmal? Wir haben kaum noch Kontakt zueinander. Jeder lebt für sich.«

»Ich fahre zu ihnen, so oft es eben geht. Sie haben sich von allem zurückgezogen. Daß sie Michael so früh verlieren mußten, darüber werden sie wohl nie hinwegkommen.«

»Das kann man auch nicht«, sagte Ariane still. »Das können weder die Eltern noch ich, seine Frau.«

Andreas sah sie an. »Aber du, du bist jung, Ariane«, drängte es sich ihm über die Lippen. »Du kannst nicht Jahr um Jahr in dieser für dich viel zu großen Wohnung allein sitzen und nur trauern.«

»Es wird bald ein Mann hier mit mir wohnen, und ein Kind«, sagte Ariane mit unbewegtem Gesicht. »Ja, es ist wahr, Andreas. Du brauchst mich nicht anzusehen, als redete ich in einer fremden Sprache. Die Geschichte ist ganz einfach. Du hast vorhin bemerkt, daß mein Vater nicht gut aussieht. Seine Gesundheit ist angegriffen. Er hatte entsetzliche Sorgen mit der Bank. Die nehme ich ihm mit der Heirat mit einem Mann, der mit seinem Kapital die Bank stützen wird.«

»Du siehst mich fassungslos«, murmelte Andreas.

»Das sind alle, wenn sie davon erfahren. Warum eigentlich? Ich finde das gar nicht so ungeheuerlich. Ich nehme mich selbst nicht mehr so wichtig, weißt du.«

Andreas erhob sich, es hielt ihn nicht länger auf seinem Platz. Er tat ein paar Schritte ins Zimmer hinein und versuchte das Gehörte zu begreifen. Es gelang ihm nicht.

Was war aus ihr geworden, die er als glückliche junge Frau an der Seite seines Bruders gekannt hatte, als strahlende Mutter ihres Kindes.

Konnte ein Mensch sich denn so ganz aufgeben?

Ariane sah zu ihm hin. Es gab keine Ähnlichkeit zwischen ihm und ihrem verstorbenen Mann, weder im Äußeren noch im Wesen. So ungleich konnten Brüder sein. Sie hatte ihn dennoch immer gemocht, den Ungestümen, der heute hier und morgen dort war in fernen Ländern und es gar nicht anders wollte.

»Komm, setz dich wieder. Es sollte dich doch nicht umwerfen«, sagte sie sanft und deutete auf seinen Platz.

Aber er schüttelte nur den Kopf, ließ seinen Blick im Zimmer umhergehen. Plötzlich fiel ihm etwas auf.

»Du hast gar keine Fotos stehen«, stellte er unvermittelt fest.

»Nein. Ich brauche das nicht. Ich habe meine beiden immer vor Augen.«

Andreas hielt inne, sein Blick kehrte zu ihr zurück, richtete sich fest auf sie. »Ich möchte dir etwas sagen, Ariane.«

»Aber bitte nicht«, sie hob in leiser Abwehr die Hände, »daß man nur aus Liebe heiraten sollte, daß es für mich noch ein neues Glück geben könnte, und so weiter. Es wäre sicher gutgemeint, aber in den Wind gesprochen, Andreas.«

»Du verschließt dir selber die Tür zum Leben«, warf er ein.

»Die ist schon lange geschlossen«, sagte Ariane unbewegt.

Doch Andreas sprach weiter: »Ich persönlich wollte dir nichts dergleichen vorhalten, Ariane. Ich hätte dir eher vorgeschlagen, dein früher mal begonnenes Studium wieder aufzunehmen. Daraus ließe sich etwas machen, und du hättest ein Ziel. Aber davon kann nun keine Rede mehr sein. Nein, ich wollte dir etwas anderes sagen.«

Er setzte sich wieder hin, seine Miene war sehr ernst.

»Du weißt, daß ich mit meinem Bruder sehr verbunden war, bei aller Verschiedenheit unseres Naturells. Wir verstanden uns, machmal hatten wir vertraute Gespräche miteinander, nur wir zwei. So sagte Michael einmal zu mir: Andreas, wenn mir mal etwas passieren würde und ich Ariane mit dem Kind zurücklassen müßte…«

»Wann hätte er so etwas gesagt?« fuhr Ariane mit weiß gewordenem Gesicht auf. Ihre Brust hob und senkte sich in raschen Atemzügen.

»Das war an unserem letzten Weihnachten, wo wir noch alle zusammen waren. Ein paar Wochen vor diesem verhängnisvollen Urlaub. Es mochte eine Art Vorahnung gewesen sein, obwohl ich an solche Dinge kaum glaube. Aber wie wäre er sonst darauf gekommen?«

»Er hatte keine düsteren Vorahnungen, Michael doch nicht«, stammelte Ariane. »Wir haben die Reise froh und unbeschwert angetreten, Andreas!«

»Wie dem auch sei… Ich wollte seine Worte mit einer oberflächlichen Bemerkung abtun, so in der Art, na, wer wird denn an so was denken, Bruderherz. Aber das konnte ich nicht. Da war etwas in seinen Augen, das mich zum Schweigen brachte.«

Der Blick des Mannes in Fliegeruniform ging über Ariane hinweg. Er sah die Szene wieder vor sich: Der strahlende Lichterbaum bei den Eltern, das spielende Kind darunter, alle in Feiertagsstimmung, und der Bruder, der ihn irgendwann beiseite genommen hatte.

»Dann soll Ariane nicht allein bleiben, sagte er«, fuhr Andreas mit dunkler Stimme fort. »Es würde sie niederschlagen, das weiß ich. Aber sie muß sich wieder aufrichten. Die Seelen der Dahingegangenen können keine Ruhe finden, wenn die Lebenden sich an sie klammern.«

Sein Blick kehrte zu der Schwägerin zurück.

»So hat er gesprochen, Ariane. Ich schwöre es dir, daß ich Wort für Wort noch im Ohr habe.«

Ariane hatte ihre Hände zusammengekrampft, wie zu einem Gebet.

»Von dieser Seite habe ich Michael nicht gekannt«, brachte sie mühsam über die Lippen. »Daß er solche Gedanken haben konnte… Wir waren doch eine junge, fröhliche Familie…« Sie starrte vor sich hin.

Andreas hob ein wenig die Hände und ließ sie wieder sinken.

»Er war Arzt, Ariane«, gab er zu bedenken. »Michael ist in seinem Beruf mit dem Tod konfrontiert worden. Das mag ihn tiefer berührt haben, als er sich anmerken ließ.«

Nach einem kurzen Schweigen sagte Ariane: »Und ich habe an jenes Weihnachten nur an ein Fest zurückgedacht. Was ging da nur in Michael vor?«

»Es war ja nur ein Moment des Ernstes«, versicherte Andreas. »Nur wie ein Schatten, der ihn gestreift hatte, mitten im Glück.«

Diesmal war das Schweigen länger. Endlich blickte Ariane wieder auf.

»Warum erzählst du mir das erst jetzt, Andreas?« fragte sie.

»Vorher schien es mir noch zu früh«, antwortete ihr Schwager. »Du brauchtest deine Zeit zum Trauern. Aber daß ich dich jetzt immer noch so vorfinde – so wie von Glaswänden eingeschlossen, fern und gleichgültig allem gegenüber, was mit dir geschieht, das läßt mich erschrecken. Ich mußte es dir einmal sagen, Ariane, daß Michael das nicht wollte.«

Er neigte sich zu ihr, seine Stimme wurde immer eindringlicher.

»Richte dich endlich wieder empor, Ariane, wie er es gewollt hätte. Die Kraft mußt du finden!«

Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne und nickte. »Es wird ja nun auch manches anders werden«, sprach sie dann leise.

Mit gerunzelter Stirn fragte Andreas: »Was ist das für ein Mann, den du heiraten willst, nur weil

er Geld hat?« Es klang brüsk. Es war herauszuhören, was er davon hielt.

»So abwertend mußt du das nicht sagen. Er ist ein angenehmer Mensch. Er ist – ja, ich glaube, er ist ein guter Mensch.«

»Liebt er dich?«

»Nein, davon ist keine Rede. Er wird Vaters Teilhaber sein, und er braucht jemand für sein Kind. Wir werden uns arrangieren.«

Es klang abschließend. Sie wollte nicht weiter über Gerhard Schilling sprechen. Er sollte ihrem Schwager nicht in einem falschen Licht erscheinen. Sie besann sich auf ihre Pflichten als Gastgeberin. Sie ließ einen Imbiß heraufkommen, eine Kanne Tee dazu.

»Danke, Hilde«, sagte sie freundlich zu dem Mädchen, das alles auf einem Tablett brachte. »Greif zu, Andreas. Du hast noch eine lange Nacht vor dir.« Sie schenkte ihm Tee ein.

»Ich bin es gewohnt«, winkte er ab. »Nach Marokko sind es drei Stunden, dann kann ich mich aufs Ohr legen. Ich habe erst den Rückflug am Nachmittag. Übermorgen geht es nach Rio…«

In leichterem Ton wurde die Unterhaltung nun geführt, aber unterschwellig klang es noch in ihnen nach, was sie aufgewühlt hatte.

Ernst wurden sie beide auch wieder, als nun bald der Moment des Abschieds gekommen war. »Laß wieder von dir hören«, bat Ariane den Schwager.

»Das werde ich. Und du wirst es nicht vergessen?«

»Nein, Andreas, wie könnte ich das«, sagte sie, mit gesenkten Lidern vor ihm stehend.

Er küßte sie hauchleicht auf beide Wangen. »Adieu, meine Liebe. Mach’s gut.« Es klang bedeutungsvoll.

Als sie dann wieder allein in ihrer Wohnung war und sich umsah, dachte sie: Ich weiß nicht, ob ich es gut machen kann, Michael. Aber ich will es besser machen. Du sollst es nicht umsonst gesagt haben, als du noch mitten im Leben standest, Michael. Ich werde daran denken, Michael.

*

Irene Keßler schaltete den Fernseher ab. Die Worte des Nachrichtensprechers rauschten doch nur an ihrem Ohr vorbei.

Sie setzte sich wieder und nahm das Buch zur Hand, das zu lesen sie angefangen hatte. Aber nach wenigen Minuten legte sie es beiseite, unfähig, sich darauf zu konzentrieren.

Du bist doch nicht gescheit, so nervös zu sein, schalt sie sich selbst. Ariane wollte an diesem Abend mit Gerhard Schilling zu ihr kommen, na und?

Aber ihr war bange davor. Da konnte sie sich noch so oft einreden wollen, daß gerade eine Vernunftehe nicht unbedingt zum Scheitern verurteilt sein mußte. Doch sie hätte sich so sehr etwas anderes für ihre Nichte gewünscht, nämlich eine Beziehung, die ihr wieder Mut zum Leben geben würde. Mit einem Mann, für den sie nichts empfand, der sie seinerseits auch nur aus Verstandesgründen heiratete, würde Ariane in ihrem dumpfen Schmerz verharren. Und nichts konnte ihr doch die geliebten Verstorbenen zurückgeben, nichts das verlorene Glück.

Die Sorge um diese junge Verwandte war eher schwerer geworden, seit sie von der getroffenen Entscheidung wußte.

Sie hatten sich letzte Woche im Geschäft gesehen, aber es war zuviel zu tun gewesen, um ein persönliches Gespräch zu beginnen. Zwei Angestellte fehlten, es war Urlaubszeit. Dafür waren Touristen in der Stadt. Sie kauften Souvenirs, bebilderte Kunstbände von dieser landschaftlich reizvollen Region, Zeichnungen und Gemälde.

Nur einmal, während eines kurzen Luftholens, hatte Irene gefragt: »Wie war das denn nun am vorigen Sonntag mit dem Kind?«

»Frag mich nicht«, war Arianes Antwort gewesen, und sie hatte ihr Gesicht abgewandt.

Ein Grund mehr für die Tante, bedrückt zu sein.

Irene sprang auf, als sie einen Wagen vorfahren hörte. Sie trat ans Fenster. Ja, das waren sie… Sie holte tief Atem und ging ihnen entgegen.

»Ich darf dir Herrn Schilling vorstellen, Tante Irene.«

Sie reichte ihm die Hand, sie begegnete einem klaren, offenen Blick, sah ein gutgeschnittenes, männliches Gesicht, und das etwas steife Lächeln, das sie sich zur Begrüßung um den Mund gelegt hatte, lockerte sich und wurde heller. »Guten Abend, Herr Schilling. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«

Es war nicht nur eine Redensart, nein. Ein bißchen leichter wurde ihr schon beim Anblick dieses Mannes, der eine ruhige Sicherheit ausstrahlte und ihr ein nettes Lächeln zurückgab.

»Die Freude ist meinerseits, Frau Keßler, denn Ariane hat mir schon viel Gutes von Ihnen erzählt.«

Sie saßen zusammen bei einem Glas Wein, und sie unterhielten sich. Ariane erzählte vom Besuch ihres Schwagers Andreas, er ließ Irene grüßen.

»Sie haben mir gar nicht gesagt, daß der Besucher Ihr Schwager war«, warf Gerhard ein.

»Es war ja auch nicht von Bedeutung, Gerhard«, sagte Ariane etwas erstaunt.

»Für mich schon«, betonte er. »Es hätte ja auch ein Freund sein können.« Aber er lächelte dabei, es sollte leicht klingen.

Wie er sie ansah! Irene, die erfahrene, lebenskluge Frau, hielt den Atem an. Ja, merkt Ariane denn nicht, daß bei Gerhard Schilling nicht nur der Verstand seine Handlungsweise bestimmte?

Der Mann war doch in sie verliebt!

Er war überhaupt nicht der Typ, der eine Frau nur der gesellschaftlichen Stellung wegen heiraten würde. Das hatte andere Hintergründe. Irene glaubte es nicht nur, sie wußte es.

»Wie gefällt es Ihnen in Arianes Elternhaus«, wandte sie sich mit einem heiteren Lächeln an ihn. »Werden Sie nun später dort wohnen wollen?«

Als Gerhard nicht gleich Antwort gab, sprach Irene verhalten, ihn mit einem Blick streifend: »Sie sind noch nicht ganz dazu entschlossen, nicht wahr? Da ist noch ein innerer Vorbehalt.«

»Die Wohnung, die ich in Aussicht genommen hatte, ist noch nicht verkauft«, sagte Gerhard zögernd.

»Ich verstehe«, nickte Irene. »Sie würden es vielleicht vorziehen, unabhängig zu sein.«

»Aber wir wären es«, fiel Ariane ein. »Wir wären doch für uns.«

»Man sagt ja, es tut nicht gut, wenn Alt und Jung unter einem Dach lebt«, fuhr die Tante ungerührt fort. »Doch muß das nicht immer der Fall sein. Leonard wäre bestimmt froh, wenn endlich einmal Leben ins Haus käme.«

»Wir werden sehen, was für alle beteiligten das Beste sein wird«, meinte Gerhard. »Jedenfalls soll nichts ohne Ihre Zustimmung geschehen, Ariane.«

Er berührte leicht ihre schmale Hand, die neben ihrem Glas auf dem Tisch lag. Es war eine behutsame und doch fast zärtliche Geste.

Als die beiden gingen, war Irene Keßler nicht nur ein Stein, sondern ein ganzer Berg vom Herzen gefallen.

Später rief sie ihre Nichte noch an.

»Ich muß es dir doch noch sagen, Ariane, daß mir jetzt nicht mehr bange um deine Zukunft ist, nachdem ich Herrn Schilling kennengelernt habe«, sprach sie mit Wärme.

»Ihr habt euch gleich gut verstanden, das habe ich gemerkt«, gab Ariane zurück. »Ich bin froh darüber. Du bist ja nicht nur meine Tante, sondern auch meine beste Freundin.«

»Eine wesentlich ältere Freundin«, lächelte Irene. »Aber als solche darf ich dir auch noch sagen, daß bei Gerhard bestimmt nicht nur der Verstand eine Rolle spielt bei eurer Verbindung, meine liebe gute Ariane. Er hat dich zweifellos sehr gern – um es vorsichtig auszudrücken.«

Einen Augenblick war Stille am anderen Ende der Leitung.

»Deshalb werden wir auch freundschaftlich miteinander umgehen können«, sagte Ariane. »Das ist unter diesen Umständen schon viel. Es wird auch seine Eltern beruhigen. Morgen wird Gerhard mich seiner Familie vorstellen. Ich wünschte, ich hätte es schon hinter mir.«

»Sei nicht kleinmütig«, redete die Tante ihr zu. »Sie werden bestimmt nett zu dir sein.«

*

Es war gut, daß Anja dabei war, die mit der Unbefangenheit ihrer sechzehn Jahre der Besucherin gegenübertrat. Sie fand, daß diese süß aussah in dem knöchellangen Rock und dem knappen Jäckchen dazu. Wie gut sie zu Gerhard paßte!

»Ich war schon wahnsinnig neugierig auf dich«, bekannte sie mit einem strahlenden Lächeln.

Gerhard räusperte sich, bevor er sagte: »Sie sehen, Ariane, daß meine Schwester Sie schon ganz als zur Familie gehörig betrachtet.«

Verdutzt sah Anja in die Runde. Die Eltern machten betretene Gesichter. »Hab’ ich was falsch gemacht?« Ihr Blick blieb an Gerhard haften. »Ich wußte doch nicht, daß ihr euch noch siezt. Ich denke, ihr wollt bald heiraten?«

»Sei nicht vorlaut, Anja«, verwies Monika Schilling ihre Tochter. »Das ist eine Angelegenheit zwischen deinem Bruder und Frau Danegger.«

Die machten es mal wieder ganz schön kompliziert, dachte Anja. Aber bevor sie den Mund wieder auftun konnte, hob Ariane die momentane Peinlichkeit der Situation auf.

»Ich freue mich, daß ich eine so junge hübsche Schwägerin wie dich bekomme, Anja«, sagte sie mit einem netten Lächeln.

Na bitte! Anja nickte ihr begeistert zu. Hatte sie doch gleich gewußt, daß die Ariane in Ordnung war! Wieso blieben die Eltern nur so steif. Besonders die Mutter, die hatte sich schon Sorgen über Sorgen gemacht, daß das nicht gut ausgehen könnte. So’n Unsinn. Die beiden, Anja mußte es noch einmal feststellen, paßten prima zusammen, und hochnäsig war Ariane bestimmt nicht.

»Ich hab’ auch was für dich«, sagte Angela mit geheimnisvoller Miene, die bis dahin die Besucherin unverwandt angeschaut hatte.

»Was hast du für mich?« fragte Ariane sanft, sich dem kleinen Mädchen zuwendend. Es war nicht ihre Janine. Es war Angela, zu der sie gut sein wollte. Nicht mehr davonlaufen, nein.

»Nun hol es schon«, ermunterte Gerhard sein Töchterchen.

Angela kam mit einem Zeichenblatt zurück, das sie Ariane hinreichte. Aufmerksam betrachtete diese, was das Kind da bunt und phantasievoll zu Papier gebracht hatte.

»Kannst du sehen, was das ist?« fragte Angela erwartungsvoll.

»Natürlich«, antwortete Ariane, »das sind die Seerosen und die Fische im Teich. Das sieht man doch!«

Angela wurde rot vor Freude, sie klatschte in die Hände. »Da hast du’s, Opa!« rief sie triumphierend aus.

»Tatsächlich.« Arno Schilling schmunzelte ein wenig. »Ich nehme es zurück, daß da kein Mensch draus schlau werden könnte. Sie verstehen eben was von Kunst, Frau Danegger.«

»Ja«, auch um Arianes Mund huschte ein Lächeln, »ähnliches haben wir in der Galerie meiner Tante hängen. Du hast das wirklich sehr schön gemacht, Angela. Ich danke dir vielmals.«

»Und da, da steht mein Name!« Eifrig wies das Fingerchen auf die ungelenken Buchstaben: Angela. Sie standen ganz unten links.

»Schreiben kannst du auch schon«, staunte Ariane.

»Nur ein bißchen«, sagte das Kind mit einem treuherzigen Augenaufschlag. »Das lerne ich bei der Oma.«

Sie geht schon etwas aus sich heraus, meine Kleine, frohlockte Gerhard innerlich. Und die Eltern schienen auch allmählich aufzutauen. Ariane war aber auch sichtlich guten Willens, eine Brücke zu schlagen über manche innere Vorbehalte hinweg.

»Es ist sehr gemütlich bei Ihnen, Frau Schilling«, sagte sie, als die Hausfrau Kaffee und einen selbstgebackenen Kuchen dazu auf den Tisch brachte.

»Ha«, lachte Anja vergnügt auf, »das sagst du so. Warst du überhaupt schon mal in einer Vierzimmerwohnung in einem Wohnblock?«

Ariane sah das junge Mädchen mit einem sonderbaren Blick an. »Wir haben in einer Dreizimmer-Wohnung gelebt, mein Mann und ich«, sprach sie langsam. »Auch in einem Mietshaus, oben in Norddeutschland. Mein Mann war Arzt, er stand noch am Anfang, und er wollte es aus eigener Kraft schaffen. Man braucht keine Villa, um glücklich zu sein.«

Anja schlug die Augen nieder. »Das hab’ ich nicht gewußt, daß du es auch anders kennst«, murmelte sie etwas beschämt.

»Ich habe es gekannt«, nickte Ariane versonnen. »Aber jetzt lebe ich ja seit längerem wieder in meinem Elternhaus.«

»Da wo wir auch mal wohnen, der Papa und ich?« kam Angelas Stimmchen. »Mit dem Garten und den vielen Blumen?«

»Und mit dem Fischteich, von dem ich nun ein Bild von dir habe«, vollendete Ariane und lächelte ihr zu. »Ich hoffe zumindest, daß es dazu kommen wird. Es hängt noch von deinem Papa ab.«

Sie ist doch nicht die kaltherzige, berechnende Person, für die ich sie gehalten habe, dachte Monika Schilling bei sich. Zumindest glaubte ich, daß sie es geworden sei, nachdem sich ihr Lebensglück zerschlagen hatte.

Das Enkelchen war auch schon ganz zutraulich, das beruhigte sie. Kinder hatten doch ein feines Gespür. Gestern abend noch, bei dem Gute-Nacht-Zeremoniell mit dem Bärli auf dem Kopfkissen, hatte Angela ihr ins Ohr gewispert: »Papa hat gesagt, daß wir Ariane helfen müssen, daß sie wieder froh sein kann. Meinst du, wir können das?«

Da hatte sie nur seufzen können, gerührt von den Worten des Kindes, und doch bekümmert, weil es ihr vor allem um das Wohl des Sohnes ging.

Sie beobachtete ihn, aber sie wurde nicht recht klug aus ihm. Er war gelassen, fast heiter, doch irgendwie hatte er sich in sich selbst zurückgezogen. Soweit war Gerhards Mutter noch nicht gekommen wie Irene Keßler, die die Schwingungen wahrgenommen hatte, die von dem Mann zu Ariane gingen.

Irgendwann klingelte es, es waren Rolf und seine Freundin.

»Von Anja weiß ich, daß heute hier ein gegenseitiges Kennenlernen stattfindet«, lachte der blonde junge Mann. »Da wollte ich doch nicht fehlen. Katarina habe ich auch gleich mitgebracht.«

Anja, natürlich, sie mußte alles hinausposaunen.

Aber es wurde dann doch recht nett, so ungezwungen, wie die beiden Hinzugekommenen sich benahmen, und Anja war sowieso ›in Fahrt‹.

»Sehen Sie, Frau Danegger, so lebhaft geht es bei uns öfter zu«, wandte sich die Hausfrau an den Gast.

»Es gefällt mir«, sagte Ariane mit einem kleinen staunenden Lächeln. »Bei uns zu Hause ist es immer so still.«

In der Tat war es etwas Neues für sie, sich unter jungen, unbekümmerten Menschen zu finden.

»Aber ihr gebt doch sicher Einladungen, zu Abendgesellschaften, wie man das bei euch wohl nennt, kennt man doch vom Fernsehen«, warf Anja ein.

»Schon lange nicht mehr«, schüttelte Ariane den Kopf.

»Dann dürfen wir vielleicht später mal das Haus bevölkern«, sagte Katarina keck, die von Anja genauestens informiert war.

»Soweit ist es noch nicht«, bremste Gerhard den jugendlichen Übermut.

Seine Mutter wandte den Kopf, als wiederum ein Klingelzeichen ertönte. »Wer kann das denn noch sein?«

»Ich geh’ mal nachsehen.« Arno Schilling legte die Zigarre in den Aschenbecher und erhob sich. Angela folgte dem Opa auf dem Fuß.

»Du bist gefragt, Anja«, sagte er eine Minute später.

»Wer ist es denn?«

»Sieh doch selber nach.«

Vor der Tür stand Stefan. »Was willst du denn hier?« zischte sie ihn an.

»Ich wollte dich abholen«, sagte er bittend. »Anja, sei doch nicht immer so. Wir könnten doch…« Aber er kam nicht weiter.

»Keine Zeit. Wir haben Besuch«, gab sie schnippisch zurück und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Mit hochrotem Kopf kam sie wieder ins Wohnzimmer zurück. »Was der sich einbildet, der blöde Kerl.« Sie spie die Worte förmlich hevor.

»Anja, benimm dich, du bist hier nicht allein«, mahnte die Mutter.

Aber die Sechzehnjährige setzte sich mit einer heftigen Bewegung wieder auf ihren Platz am Tisch, stemmte die Ellenbogen auf und sah verbissen vor sich nieder.

»Warum bist du denn auf einmal so bös?« piepste Angela.

»Ich schätze, das war der Stefan«, lachte Rolf auf. »Habt ihr euch denn immer noch nicht versöhnt?«

»Wenn der denkt, ich würde einfach für ihn dastehen!« stieß Anja hervor, den Kopf in die Hände gestützt.

»Entschuldigen Sie, Ariane«, wandte Gerhard sich an den Gast, der sich inmitten dieser Familienszene befand, »mein Schwesterchen hat gewisse Probleme mit ihrem Freund.«

»Ich denke es mir«, nickte Ariane und verkniff sich ein Lächeln.

Katarina war ans Fenster getreten. »Der steht immer noch unten rum«, verkündete sie, »und er macht genauso ein verbiestertes Gesicht wie du, der arme Junge.« Sie kicherte. Dann ging sie zu Anja und zog sie empor. »Los, geh runter, sei nicht so stur, red mit ihm.«

»Es geht mich ja nichts an«, ergriff nun auch Ariane das Wort, »aber ich finde doch auch, daß miteinander reden besser ist als eine Tür zuschlagen.«

»Meinst du?« fragte Anja mit einem Blick von unten herauf.

»Bestimmt«, sagte Ariane überzeugt.

Nach kurzem Überlegen schob sich Anja davon.

»Auf Sie hört sie doch tatsächlich eher als auf mich, der ich ihr auch schon gut zugeredet habe«, schmunzelte Gerhard.

»Jetzt ist sie bei ihm«, berichtete Katarina vom Fenster her, »sie fuchtelt ihm mit beiden Händen vor dem Gesicht herum. Temperament hat sie, das muß man ihr lassen.«

Nach zehn Minuten kam Anja wieder herauf, mit hellem Gesicht und lachendem Mund. »Er ist so klein«, triumphierte sie und deutete zwischen Daumen und Zeigefinger etwa zwei Zentimeter an, »aber wir wollen uns wieder vertragen. Er will nicht mehr die Augen nach anderen verdrehn.«

An diesem Abend brachte Gerhard Ariane nach Hause.

»Nun haben Sie meine Familie kennengelernt«, sagte er. »Es war ein wenig turbulent, nicht wahr?«

»Ich habe mich wohl gefühlt«, sagte sie einfach, und, nach einem kurzen Schweigen fügte sie hinzu: »Ich habe mein Dasein doch wohl allzusehr auf das eigene Ich begrenzt…«

»Wenn Sie das einsehen, Ariane«, sprach Gerhard mit großem Ernst, »dann sind Sie schon einen Schritt weitergekommen in der Bewältigung Ihrer Trauer, die jeder von uns respektiert.« Er zögerte, ob er es aussprechen sollte, aber dann drängte es sich ihm doch über die Lippen: »Der Mann, der Sie geliebt hat, hätte es sicher nicht gewollt, daß Sie sich von allem abwenden und keines anderen Gefühles mehr als des Schmerzes fähig sein würden.«

»Daß Sie das jetzt sagen, Gerhard…«

»Wundert Sie das?«

»Mein Schwager Andreas hat das auch zu mir gesagt, als er neulich da war. Es kam weniger von ihm aus. Es war – eher eine Botschaft, die er mir überbracht hat.«

Gerhard horchte den leisen und stockend hervorgebrachten Worten nach.

Sie waren jetzt vor der Villa Korff angekommen. Es dämmerte bereits. Der Sommer hatte seinen Höhepunkt überschritten.

»Eine Botschaft?« sagte Gerhard fragend und stellte den Motor ab.

»Ja.« Arianes Gesicht war still, aber nicht unbewegt. Gerhard, der sich ihr zugewandt hatte und sie abwartend ansah, stellte bei sich fest, daß dieses schöne Gesicht einen anderen Ausdruck gewonnen hatte, einen lebendigeren, als sei eine Maske davon abgefallen.

Er griff nach ihrer Hand. »Wollen Sie es mir sagen, Ariane?«

Sie nickte leicht, und mit bebender Stimme sprach sie: »Mein Mann Michael muß einmal eine Vorahnung gehabt haben. Da sagte er zu seinem Bruder, wenn es geschehen sollte, daß er vor mir gehen müßte, dann dürfte ich nicht niedergeschmettert liegenbleiben, sondern sollte mich wieder aufrichten, weil er anders keine Ruhe finden könnte. Ist das nicht seltsam?« Es kam nur noch wie gehaucht.

Gerhard nickte ergriffen. »Nehmen Sie es sich zu Herzen, Ariane.«

Sie wischte sich über die Augen. »Ich bin dabei. Ich versuche nur immer noch zu begreifen, wie einen Menschen in einer Zeit vollkommenen Glücks ein solcher Gedanke streifen kann.«

Nach Sekunden tiefen Schweigens begann Gerhard sinnend: »Es gibt einen Vers von Rainer Maria Rilke – mal sehen, ob ich ihn zusammenbringe…« Langsam, weil er die Worte suchen mußte, zitierte er verhalten.

Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds, Wenn wir uns mitten im Leben meinen. Wagt er zu weinen. Mitten in uns.

Sie ließen es in sich einsinken, und Gerhard hielt immer noch

Arianes Hand. Endlich trafen sich ihre Blicke wieder. Ein großes Verwundern war in Arianes Augen.

»Daß Sie Gedichte lesen, hätte ich zu allerletzt von Ihnen erwartet, Gerhard«, bekannte sie.

»Oh, das ist auch schon ewig lange her. Das war mal eine kurze Phase, wie sie mancher Jüngling einmal erlebt. Bei mir war es, als ich ein wunderschönes Mädchen mit goldenem Haar aus der Ferne anbetete. Später gab es für Poesie keinen Platz mehr in meinem Leben.«

Immer noch blieben sie sitzen, dort nebeneinander im Wagen, als zähle Ort und Zeit nicht mehr für sie.

»Das war ein guter Tag«, sagte Ariane wie für sich aus ihren Gedanken heraus.

Gerhard neigte sich zu ihr. Sie wich nicht zurück, sondern sie sah ihn mit großen Augen an. Da legte er seinen Mund auf ihre Lippen, nicht fordernd, nicht begehrend, sondern zart und behutsam.

»Es soll nicht der einzige für dich bleiben, Ariane«, sagte er verhalten. Er stieg mit ihr aus. Sie gab ihm die Hand. »Hab Dank«, sagte sie, »und auf bald.«

Als Gerhard heimkam, platzte Anja heraus: »Also ich kann ja nicht verstehen, daß du nicht richtig in Ariane verliebt bist. Sie ist doch eine Klassefrau. Klar merkt man ihr an, daß sie schon schrecklich Schweres erlebt hat, aber wenn sie mal lächelt, sieht sie ganz jung aus.«

»Ariane ist jung«, sagte Gerhard. »Oder ist nahe Dreißig für dich schon alt?«

»Nicht direkt, ist ja auch egal.« Anja machte eine ausholende Handbewegung. »Aber daß sie dich nur heiratet, weil du zufällig superreich geworden bist, kann man doch vergessen. Darum braucht ihr euch nicht bis in alle Ewigkeit zu siezen.«

»Ich habe dir schon einmal gesagt, daß das nur die beiden etwas angeht«, mischte sich ihre Mutter ein.

»Man wird ja wohl noch seine Meinung sagen dürfen«, maulte Anja. »Immer geht’s bei euch nur um die dusselige Bank. Mir ist das piepegal. Ich finde, ihr könntet ein richtig schönes Paar werden, und zu Angie ist sie doch auch nett. Warum sollte sie ihr nicht mal eine richtige Mama werden?«

»Zerbrich du dir mal nicht den Kopf darüber, Schwesterchen«, meinte Gerhard. Er sah auf seine Kleine, die aus ihrem Zimmer kam. Sie streckte verlangend die Arme nach ihm aus, er hob sie zu sich empor.

»Meinst du, daß Ariane sich wirklich über das Bild gefreut hat, Papa?« wollte sie wissen.

»Ganz bestimmt.« Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Dann wird sie sicher auch mal wieder froh sein«, sagte das Kind, dem sich die Worte ihres Vaters tief eingeprägt hatten.

»Wann soll denn nun die Hochzeit sein?« fragte später die Mutter mit abgewandtem Gesicht, als sie mit dem Sohn allein waren.

»Auf jeden Fall nicht so bald, Mutter«, antwortete Gerhard ausweichend. »Es wird irgendwann in aller Stille sein.«

Sein Vater wandte sich ihm zu. »Irgendwann, und nicht so bald?« wiederholte er die Worte etwas verwundert. »Ich denke, es geht um deine Position bei Korff. Die Transaktion aus den USA ist doch schon in die Wege geleitet, hast du uns erklärt.«

»Das stimmt. Aber es muß nicht Zug um Zug gehen. Ich habe meine Gründe dafür«, sagte er entschieden.

Der Vater zuckte die Achseln. »Du mußt es wissen.«

Seine Frau aber sah den Sohn mit einem langen, nachdenklichen Blick an. Zögerte er nun doch, eine ungeliebte Frau zu heiraten? Eine Frau, deren Blick noch in die Vergangenheit gewandt war, die ihr alles genommen hatte, den Mann, das Kind? Daß sie »nett« war zu Angela, was bedeutete das schon? Nicht allzuviel. Das verlorene Kind würde dazwischenstehen. Sie, Monika, war doch auch eine Mutter und vermochte es nachzuempfinden.

War es nicht, wie immer man es betrachtete, ein großes Problem? Man mußte schon noch ein halbes Kind sein wie Anja, um es nicht so zu sehen. Was wußte man da schon vom Leben. Nichts.

»Das würde aber auch bedeuten«, sagte Gerhard in die eingetretene Stille hinein, »daß ihr mich und Angela noch länger ertragen müßtest und du weiterhin doppelte Arbeit hättest, Mutti.«

»Das will ich nicht gehört haben, Sohn«, gab Frau Monika auffahrend zurück. »Euch bei mir zu haben, ist doch die größte Freude für mich.«

»Aber du, Vater, möchtest du nicht endlich deine Ruhe haben?« fragte Gerhard mit einem kleinen Augenzwinkern.

»Dummes Zeug«, brummte Arno Schilling. »Würde mir doch was fehlen, wenn mein Enkelchen nicht mehr an meinem Bart zupfen würde!«

*

Diese schlicht abgefaßte, aber ins Auge fallende Anzeige in der großen Tageszeitung erregte einiges Aufsehen:

Ihre Verlobung geben bekannt Gerhard Schilling

Ariane Danegger

geb. v. Korff

Der Chef des Bankhauses hatte sie aufgegeben.

»Damit alle wissen, wo Sie stehen, Gerhard, wenn Sie denn die Zeit noch nicht für reif halten, Ariane zum Standesamt zu führen«, waren seine Worte.

Es hatte nur am Sonntagvormittag ein Sektfrühstück in der Villa gegeben. Anja war schmollend mit ihrer kleinen Nichte zu Hause geblieben.

»Wir machen doch keine Feier, Anja«, tröstete Gerhard seine junge Schwester. »Es ist nur zum gegenseitigen Kennenlernen der Eltern, und ich fürchte, es wird ziemlich steif zugehen. Ariane wird dich bald zu einem zwanglosen Beisammensein einladen, das wird dann viel netter.«

Es gestaltete sich in der Tat etwas schwierig auf beiden Seiten, Kontakt zu der neuen Verwandtschaft zu finden, so liebenswürdig und gewandt der Hausherr sich auch um die Gäste bemühte. Auch seine Frau Melanie versuchte gute Miene zu machen, nur fiel das festgeklebte Lächeln etwas säuerlich aus. Nun ja, es waren natürlich einfache Leute, die Schillings, die gesellschaftlichen Unterschiede fand sie spürbar. Aber man durfte nicht vergessen, was der Sohn wert war. Immerhin bekam er dafür ihre Tochter.

Die geschliffenen goldumrandeten Sektkelche klangen aneinander, wie hingehaucht nur war der Verlobungskuß. Es gab keine Geschenke, denn es fehlte hier an nichts, und Ariane trug immer noch die beiden zusammengefügten Eheringe. Gerhard sagte nichts dazu.

»Puh«, machte Vater Arno, als er sich daheim die ungewohnte Krawatte vom Hals zog, »einmal und nie wieder…«

Anja kicherte. »Wirst dich schon noch dran gewöhnen müssen, Paps, daß wir eine vornehme Verwandtschaft kriegen.«

Die Mutter verschwand stillschweigend in der Küche, band sich eine Schürze über das gute Dunkelblaue und setzte den vorbereiteten Braten auf. Von den raffinierten Häppchen, die ein Mädchen im weißen Tändelschürzchen reichte, hatte sie kaum etwas über die Zunge gebracht. Die weichen Teppiche, blinkenden Gläser, die getäfelten Wände und glänzenden Möbel hatten sie verwirrt. Es kam ihr vor, als verlöre sie ihren Sohn an eine andere Welt. Dazu die ausdruckslos und kühl blickenden Augen dieser Frau von Korff.

»Aber das sage ich dir, Gerhard«, sprach sie, als er schnuppernd zu ihr in die Küche kam, »eine Oma wird die nie für Angela werden.«

»Du bist und bleibst die einzige«, lächelte Gerhard und legte ihr den Arm um die Schultern.

Es war nun ein anderes Arbeiten in der Bank, nachdem klare Verhältnisse geschaffen waren. Die Angestellten, die schon den drohenden Untergang gesehen hatten und damit um ihre Arbeitsplätze fürchten mußten, atmeten auf. Durch das eingebrachte Millionenvermögen war das Privatunternehmen wieder liquide, die Guthaben der Korff-Kunden durch den Einlagensicherungsfonds geschützt. Jener, der undurchsichtige und betrügerische Wechselgeschäfte gemacht hatte, war von sich aus gegangen, bevor ihm der Prozeß gemacht werden konnte. Sein Komplice hatte ebenfalls das Handtuch geworfen, denn jetzt wehte ein anderer Wind.

Das Personal war neu motiviert, setzte sich mit Feuereifer ein, damit es nun wieder aufwärts gehen konnte. Der Juniorchef, als den man Schilling schon betrachtete, hielt die Zügel straff in der Hand und hatte dennoch ein offenes Ohr und ein freundliches Wort für jeden. Und mit dem »Alten«, der müde und resigniert so lange alles hatte schleifen lassen, war eine Wandlung vor sich gegangen. Er hielt sich jetzt straff, wirkte förmlich verjüngt, und ein langer Arbeitstag schien ihm nichts mehr auszumachen.

Manchmal gingen die beiden Herren zusammen zum Essen.

»Ariane hat zu wenig von Ihnen, Gerhard«, sagte Korff heute zu seinem zukünftigen Schwiegersohn. »Sie sehen sich ab und zu mal am Abend, und sonst nur am Wochenende ein paar Stunden mit der Kleinen, wie sollen Sie sich da näherkommen.«

»Wir kommen uns näher, Leonhard«, versetzte Gerhard mit einem feinen Lächeln – privat nannten sie sich beim Vornamen. »Ariane nimmt schon eine andere Haltung uns gegenüber ein. Sie ist weicher, offener geworden.«

Korff nickte nachdenklich.

»Ich gewinne auch allmählich den Eindruck, daß sie das Schlimmste überwunden hat. Aber sie ist noch weit davon entfernt, ein gewisses inneres Gleichgewicht zu haben. Einmal sah ich sie lachen mit Ihrer Angela, doch fast erschrocken verstummte sie wieder und der Moment einer Heiterkeit war vorüber.«

»Aber es gab ihn. Ist das nicht schon ein Grund zur Hoffnung?«

Mit einem warmen Blick sah Leonard von Korff den Jüngeren an, von dem so viel Kraft und Zuversicht ausging, die sich ihm mitteilte.

»Sie hat uns der Himmel geschickt, lieber junger Freund«, sagte er spontan.

*

Ariane hatte ihrer Tante im Geschäft geholfen, neue Waren ausgepackt, Geschenkartikel schon für Weihnachten, Preislisten durchgesehen. Jetzt war Feierabend. Irene Keßler schloß die Tür hinter der Angestellten ab, die heute länger geblieben war. Sie ging mit Ariane nach oben, wo ihre Mäntel im Schrank hingen. Aber ihre Nichte sah sich unschlüssig um.

»Könnte ich nicht noch irgend etwas tun?« fragte sie.

»Wieso denn, du hast genug für heute getan.« Irene griff schon nach ihrem Mantel. »Kaum aufgeblickt hast du und warst fast nicht ansprechbar.« Sie lächelte dabei.

Ariane trat an den Schreibtisch, auf dem noch einige unerledigte Briefschaften lagen. Sie schob sie hin und her. »Dann komme ich wenigstens nicht zum Denken«, sprach sie vor sich hin.

Irenes Blick wurde aufmerksam. Hatte es Ariane wieder gepackt, tat der Abgrund von Trauer sich erneut vor ihr auf?

»Wenn du nicht nach Hause möchtest, kannst du mit zu mir kommen, Ariane«, schlug sie vor.

»Ich weiß nicht…« Ariane stemmte die Hände auf die Schreibtischplatte und sah vor sich nieder. »Am liebsten möchte ich weit fort«, stieß sie unvermittelt hervor.

Die Tante legte den Mantel achtlos über die Stuhllehne. Das wollte sie erst wissen, was da nun wieder vor sich ging.

»Möchtest du mal verreisen?« fragte sie behutsam.

»Ich weiß nicht. Ja, vielleicht –«, antwortete Ariane zerrissen.

»Warum nicht«, sagte Irene. »Es wäre zu überlegen. Du bist seit Jahren nicht mehr rausgekommen. Ein Tapetenwechsel würde dir sicher guttun.«

»Aber wohin sollte ich denn? Es verfolgte mich doch überallhin«, kam es tonlos zurück.

»Was verfolgt dich, Ariane?« Als die Nichte schwieg, sprach wie weiter: »Es hatte doch schon den Anschein, daß die Schatten der Vergangenheit dich nicht mehr peinigten. Als du neulich mit Gerhard und Angela bei mir warst, kam etwas von der früheren, lebendigen Ariane wieder hervor. Darüber war ich so froh.«

»Das ist es ja…« Die junge Frau hatte plötzlich Tränen in den Augen.

»Was soll das heißen? Ich verstehe dich nicht, Kind.«

»Frag mich nicht.« Ariane tat ein paar Schritte in den Büroraum hinein, sie preßte die Hände vor der Brust zusammen.

»Gut, ich werde dich nichts fragen.« Irene sah zum Fenster hin, wo Regentropfen jetzt gegen die Scheiben schlugen. »Aber wenn du so uneins mit dir selbst bist und am liebsten davonlaufen möchtest, würde ich dir doch raten, einen Koffer zu packen und irgendwohin zu fliegen, wo es noch nicht herbstlich ist. Zwei, drei Wochen am Meer, Sonne und Strand…«

Aber ihre Worte waren an Arianes Ohr vorbeigegangen.

»Es kommt mir vor, als würde ich Michael untreu, Tante Irene«, sagte sie gequält. »Ja, ich bin wieder lebendig geworden, und das wollte er ja auch, daß ich mich wieder aufrichten sollte. Aber doch nicht so, daß ich für einen anderen Mann wieder etwas empfinden kann, daß ich ihn eines Tages – gar lieben könnte…«

»Ariane, ist das wahr?« Lebhaft trat Irene auf ihre Nichte zu. »Dann sei doch dankbar, daß dein Herz wieder für einen Menschen schlagen kann. Es sind jetzt drei Jahre her…«

»Drei Jahre erst, Tante Irene«, unterbrach Ariane sie mit zitternder Stimme. »Müßten es nicht zehn, zwanzig, dreißig sein, da ich Michael so sehr geliebt habe? Und das Kind, Angela, wenn sie mich so anschaut, dann denke ich nicht mehr immer nur an meine Janine, sondern es ist dieses kleine Mädchen vor mir, das um irgend etwas zu betteln scheint. Ach, Tante – ich kenne mich selbst nicht mehr!« Aufschluchzend barg Ariane den Kopf an der anderen Schulter.

»Meine Liebe, weine nur, jetzt kannst du es wieder«, murmelte Irene bewegt und streichelte ihr das Haar. »Glaube mir, es ist nur natürlich, daß du aus deiner Starrheit erwachst. Wir haben alle darum gebetet.«

Ein Strom von Tränen mußte noch fließen, bevor Ariane sich beruhigte. »Aber ich kann es Gerhard doch nicht zeigen, daß es bei mir anders geworden ist«, brachte sie dann hervor. »Er ist nett zu mir, aber doch zurückhaltend. Er spricht ja auch nicht von Heirat. Daß wir uns offiziell verlobten, war der Wunsch meines Vaters. Vielleicht bereut Gerhard schon etwas.«

»Ach, er…« Ein tiefes, wissendes Lächeln umspielte Irenes Mund. Sie wollte sagen, er liebt dich doch, aber sie hielt es zurück. Das sollte er ihr selber sagen, wenn die Stunde gekommen war.

Doch dann kam ihr eine Idee, die sie auch sofort aussprach, wie elektrisiert davon.

»Wie wäre es denn, wenn du Torsten und Mireille mal besuchtest, um Abstand zu finden aus der Wirrnis deiner Gefühle? Sie haben dich doch schon so oft eingeladen!«

»Nach Paris?« fragte Ariane unsicher.

»Nach Paris, jawohl«, nickte Irene. »Die beiden würden dir eine Menge bieten, und für dich allein kannst du in den Louvre gehen und dir die herrlichsten Gemälde der großen Meister ansehen. Das wäre doch etwas.«

»Ich werde mal darüber nachdenken«, sagte Ariane und wischte sich ein letztes Mal über die Augen.

»Nichts da, das machst du«, versetzte die Tante energisch. »Ich rufe sie gleich an, sie werden sicher zu Hause sein um diese Zeit.«

Die Nummer wußte sie auswendig, telefonierte sie doch öfter mit ihrem Sohn. Er war auch sofort am Apparat. Ein kurzes, aber lebhaftes Gespräch entwickelte sich. »Ich werde es ihr ausrichten«, schloß Irene es ab. »Adieu, mein Junge. Ich umarme dich und Mireille.«

Danach wandte sie sich an ihre Nichte. »Was habe ich gesagt? Von ihnen aus kannst du morgen schon kommen. Mit Torsten hast du doch schon im Sandkasten gespielt.«

»Und die ersten Reitversuche auf meinem Pony gemacht«, vollendete Ariane und brachte schon ein kleines Lächeln zustande.

Sie hatte sich der Tante anvertraut, sie hatte geweint, weil sie vor ihr keine Hemmungen zu haben brauchte. Es war ihr nun etwas leichter.

Und sie wußte, daß sie fahren würde.

*

»Warum hat sie mir nichts davon gesagt?« wunderte sich Gerhard, als Korff ihm am Morgen im Büro eher beiläufig mitteilte, daß Ariane zu Verwandten nach Paris gefahren war.

»Sie hat sich ganz plötzlich dazu entschlossen«, sagte der Vater. »Sicher wird sie Ihnen schreiben. Ich denke, es ist kein schlechtes Zeichen, daß Ariane von sich aus etwas unternimmt. Damit hat sie doch eine Hemmschwelle überwunden. Allzu lange wäre das undenkbar gewesen, daß sie an irgend etwas Interesse zeigte. Wenn meine Schwester sie nicht hin und wieder in ihrem Kunstsalon beschäftigt hätte, wäre sie überhaupt nicht mehr unter Menschen gegangen. Es beweist doch, daß sie neuen Mut hat.«

Ausnahmsweise brauchte Gerhard diesmal ein paar Minuten, um sich voll auf die Arbeit zu konzentrieren.

Was war von dieser überstürzten Abreise zu halten? War es eine Flucht? Er hatte doch schon geglaubt, daß ein kleines Pflänzchen echter Zuneigung für ihn in ihr aufkeimte. Sollte es wieder verdorren, wenn sie sich nun einige Zeit nicht mehr sahen?

Hatte sie ihm nicht einmal abends beim Abschied von sich aus den Mund geboten, errötend wie ein junges Mädchen. Wie hatte er sich bezwingen müssen, sie nicht ungestüm in die Arme zu nehmen und zu küssen, wie ein Mann die Frau küßt, die er liebt. Es schien ihm dies noch zu früh. Nur einen sanften Kuß hatte er auf ihre Lippen gedrückt. Sie war dann auch ins Haus geeilt, ohne sich umzuwenden, schamvoll fast.

Was ging in ihr vor, daß sie nun einfach fortgefahren war?

Dieser Herbsttag erschien Gerhard grauer und düsterer als jeder andere zuvor, wo er sonst bei aller Arbeit kaum darauf achtete, ob Sonne oder Regen war. Er suchte Ariane und fand sie nicht mehr.

»Sie ist weg?« fragte auch sein Töchterchen ganz bestürzt. »Dann ist sie ja gar nicht zu meinem Geburtstag da! Den hatte ich ihr doch gesagt.«

»Ariane wird es vergessen haben, Angela. Aber den feiern wir mit ihr nach«, tröstete sie der Papa.

Fünf Kerzen brannten auf der Geburtstagstorte. Es war ein Samstag, auch Rolf und seine Freundin waren am Nachmittag gekommen.

»Na, Mäuschen«, sagte der junge Onkel, »du bist ja so still. Freust du dich denn gar nicht, daß die Oma den Tisch so lustig für dich gedeckt hat und du eine Menge Geschenke bekommen hast?«

»Doch«, nickte das kleine Mädchen gehorsam, »ich freue mich sehr. Ihr seid alle so lieb.«

»Angie ist enttäuscht, daß Ariane nicht dabei ist«, warf Anja ein und schleckte genüßlich von der Sahne. »Die ist nämlich in Paris.«

»In Paris«, staunte Katarina. »Was tut sie denn da?«

»Sie besucht Verwandte dort«, erklärte Gerhard kurz, mit einer leisen Gereiztheit, während er in seinem Kaffee rührte.

»Vielleicht kümmert sich mein großer Bruder nicht genug um seine Verlobte«, sagte Anja mit einem beziehungsvollen Blick auf ihn.

»Sie hat noch nichts davon gesagt, daß sie meine Mama werden will«, wisperte Angela. »Wenn sie das nun gar nicht möchte? Dann bleib ich bei meiner Oma, immer und ewig.«

»Und der Opa zählt wohl gar nicht«, versuchte Vater Arno abzulenken.

»Wozu hat der dir den Drachen gebastelt, den wir morgen fliegen lassen wollen, wenn ein ordentlicher Wind ist?«

Angelas Gesichtchen erhellte sich. Der feuerrote Vogel nahm den größten Platz ein auf ihrem Geburtstagstisch. Sie fand ihn sehr schön, und sie war neugierig darauf, wie das ging, daß er hochflog, denn so etwas kannte sie noch nicht. Nun erzählten die Brüder, wie sie früher ihren Spaß damit gehabt hatten, der große und der kleine, und so wurde es doch noch ganz lustig, weil sie Angela damit zum Lachen brachten.

Dann kam doch noch ein Anruf aus Paris. Die Oma hatte ihn entgegengenommen. »Für dich, Angela«, sagte sie. »Es ist Ariane.«

Das Kind war so schnell vom Stuhl gerutscht, daß er beinahe umgekippt wäre. »Hallo«, piepste Angela mit heißgewordenen Wangen.

»Mir ist eingefallen, daß du heute Geburtstag hast. Ich möchte dir herzlich gratulieren, Angela«, sagte die dunkle Frauenstimme.

»Ja, danke.« Mehr brachte die aufgeregte Kleine nicht hervor.

»Mein Geschenk bekommst du später. Das bringe ich dir aus Paris mit.«

»Ja…«

»Wirst du denn auch gefeiert, du Geburtstagskind?«

»Ja. Alle sind da…«

»Das ist schön.« Ein kurzes Schweigen, dann… »Grüße den Papa von mir. Auf Wiedersehen, Angela.«

»Auf Wiedersehen«, flüsterte das Kind. Am Tisch richtete sie mit gesenkten Lidern den Gruß aus.

Ariane hatte sie doch nicht vergessen. Aber sie hatte auch nicht gesagt, was für sie das schönste Geschenk zum Geburtstag gewesen wäre.

Still blies Angela die Kerzen aus, denn ihr Fest war nun vorüber.

*

»Drei Wochen sind genug«, sagte Ariane. »Ich habe eure Gastfreundschaft schon zu lange in Anspruch genommen.«

»Sag das nicht«, protestierte Mireille. »Wir freuen uns doch jeden Tag, so einen lieben Gast bei uns zu haben. Wir beide, wir sind doch richtig gute Freundinnen geworden, oder?«

»Ja, Mireille, das stimmt.« Herzlich nickte Ariane der reizenden Französin zu, die in glücklicher Ehe mit Torsten lebte. Sie war unkompliziert und von heiterer Beschwingtheit, ohne jedoch oberflächlich zu sein.

»Also dann bleibst du noch«, entschied Mireille. »Wir haben doch für nächse Woche schon Karten für die Oper besorgt.« Als die andere zögerte, fügte sie hinzu: »Schau, dort vermißt dich doch niemand!«

Vielleicht hätte sie das nicht sagen sollen. Aber stimmte es denn nicht, soweit sie das von hier aus beurteilen konnte. Diese neue Beziehung, die Ariane eingegangen war, hatte doch wohl ausschließlich finanzielle Hintergründe. Es dauerte Mireille ein wenig, wenn sie sich vorstellte, daß da eine Ehe nur aus vernünftigen Erwägungen heraus geschlossen werden sollte.

Ariane war zusammengezuckt. Nein, es schien sie wirklich niemand zu vermissen. Gerhard mochte im Gegenteil ganz froh sein, daß er sich noch frei fühlen und ganz auf seine Arbeit konzentrieren konnte.

»Irene wird mich aber brauchen können, wenn das Weihnachtsgeschäft nun einsetzt«, gab sie zu bedenken.

Doch auch diesen Einwand wischte Mireille mit leichter Handbewegung fort. »Schwiegermama wird schon ohne dich fertig, ma chèrie. Sie hat dich uns ans Herz gelegt und möchte nichts anderes, als daß wir dir eine schöne Zeit bereiten.«

Das taten sie wahrhaftig, die beiden. Sie verwöhnten sie und zeigten, was diese ihre unvergleichliche Stadt dem Besucher bieten konnte. Dennoch verstanden sie es mit seltenem Feingefühl, sich von ihr fernzuhalten, wenn sie allein zu bleiben wünschte.

Mireille arbeitete an drei Tagen in der Woche vormittags in der Universitätsbibliothek. Dann ging Ariane ihre eigenen Wege. Sie besuchte Museen, an denen Paris so reich war, sie bewunderte die königlichen Parkanlagen vor dem Luvre, ließ sich von den bunten Blättern umtanzen, die der Herbstwind von den Bäumen wehte, und sie spazierte im Sonnenschein an der Seine entlang, dem vielbesungenen Fluß, der zu Paris gehörte wie der Eiffelturm und der Triumphbogen, dei Sacré Coeur und die Champs Elysées.

Und in ihrer Versunkenheit dachte sie an Gerhard, und sie wünschte, daß er neben ihr ginge…

Das wußte Mireille nicht, auch wenn sie sich in Freundschaft nahegekommen waren, daß sich in ihrem Innersten ein Wandlungsprozeß vollzog, auch er war schmerzhaft und ihr selbst unbegreiflich. Es blieb ihr Geheimnis, das sie nur in einer schwachen Stunde vor der geliebten Tante ein wenig gelüftet hatte. Sie wollte es bewahren. Hier, fern von Gerhard, konnte sie es noch. Darum wollte sie noch bleiben.

*

War das nicht Gerhard Schilling, der sich da draußen angelegentlich die Auslagen im Schaufenster betrachtete?

Irene öffnete die Tür.

»Warum kommen Sie denn nicht herein, Gerhard? Fünf Minuten später, und ich hätte geschlossen.«

»Guten Abend, Frau Keßler.« Er schien tatsächlich etwas verlegen.

Sie ließ ihn ein, schloß hinter ihm ab. Ein paar Worte hin und her, ja, er kam gerade erst aus dem Büro, es gab viel zu tun, dort, wie hier, wo es an Kundschaft nicht fehlte.

»Leider habe ich nur wenig Zeit für Sie«, bedauerte Irene lebhaft. »Ich bin heute abend eingeladen und muß vorher noch nach Hause, mich umziehen.«

»Ich will Sie auch gar nicht aufhalten. Ich wollte Sie nur fragen, was Sie von Ariane hören. Jetzt ist sie schon vier Wochen fort, und außer einer Ansichtskarte habe ich keine Nachricht von ihr.«

»Ich weiß nur, daß es ihr gut gefällt in Paris.«

»Ja, das schrieb sie mir. Aber wann kommt sie denn zurück?«

»Sie vermissen Sie wohl, Gerhard?«

»Ja, ich vermisse sie sehr.« Gerhard sah der silberhaarigen älteren Dame gerade in die Augen. »Ich liebe Ihre Nichte nämlich, Frau Keßler.«

»Dann sagen Sie ihr das doch«, gab Irene mit einem feinen Lächeln zurück.

»Wird sie das hören wollen?« zweifelte Gerhard.

»Fahren Sie nach Paris und nehmen Sie Ariane in Ihre Arme«, riet sie ihm. »Überraschen Sie sie, und Sie werden sehen, daß sie nur darauf gewartet hat.«

Gerhard stieg das Blut in die Sirn. Er sah zu, wie Irene rasch etwas auf einen Block schrieb, den Zettel abriß. »Hier ist die Adresse meines Sohnes. Machen Sie es gut, Gerhard.«

Durch den Hinterausgang verließen sie das Geschäft und stiegen in ihre Autos und fuhren nach verschiedenen Seiten davon, nicht ohne daß Irene dem Verlobten ihrer Nichte nochmals lächelnd zuwinkte.

*

»Ich gehe schon«, rief Ariane zur Küche hin, wo Mireille an diesem Samstagvormittag ihre Einkäufe für das Wochenende auspackte.

»Es mag Torsten sein, der wieder mal seine Schlüssel vergessen hat«, lachte Mireille.

Aber es war nicht Torsten. Es war Gerhard, der vor der Tür stand.

»Du…«, stammelte Ariane nur, und das Herz schlug ihr bis in den Hals. Sie ließ ihn ein. In der Diele standen sie sich gegenüber.

»Ich habe es nicht länger ausgehalten«, sagte Gerhard. »Ich liebe dich, Ariane.« Er umfaßte sie und zog sie an sich. Sie legte die Hände vor seiner Brust zusammen, sah zu ihm auf.

»Du hast es mir nie gesagt«, flüsterte sie mit bebenden Lippen.

»Manchmal schweigt man aus Furcht, zuviel zu sagen.«

Ein Lächeln blühte um ihren Mund auf, in ihre Augen kam ein Glanz, als sei ein Schleier davon genommen.

»Wer ist…« Mireille blieb das Wort im Hals stecken. Ariane in der innigen Umarmung eines Mannes! Hastig zog sie sich wieder zurück, zog leise die Küchentür hinter sich ins Schloß. Sie war so verdattert, daß sie einen Moment vor sich hin sah. Wie die beiden sich angesehen hatten, und dieses wunderschöne Lächeln von Ariane… Oh, es sollte ihr doch niemand erzählen, daß da nicht Liebe im Spiel war!

Mireille legte den Zeigefinger gegen den Mund, als ihr Mann kam. »Ariane hat Besuch bekommen. Sie sind im Wohnzimmer. Lassen wir sie erst mal allein.«

Dort hielten sie sich wiederum umfangen, als wollten sie sich nicht mehr voneinander lösen.

»Mein Herz war zugeschüttet, Gerhard«, sprach Ariane, nun mit tiefem Ernst. »Manchmal war ich dankbar, daß ich ein zugeschüttetes Herz hatte, weil ich sonst nicht hätte weiterleben können. Es gibt einen Schmerz, der sich mehr und mehr zu einer Höhe steigern kann, die schließlich über sich selbst hinauswächst und dann zusammenbricht. Dann bleiben Trümmer, die legen sich schwer und steinern auf das Herz. Du hast sie weggetragen, Stück um Stück, mit deiner Güte, und mit deiner Liebe, die du mir jetzt bekennst.«

»Ich habe dich immer geliebt, Ariane. Aber ich wollte nicht, daß du mein würdest nur aus jenen Gründen, über die viel zuviel geredet worden ist. Ich hoffte so sehr, daß du mich eines Tages auch lieben könntest. Ich war bereit, darauf zu warten.«

»Der Tag ist da, Gerhard. Ich werde deine Frau sein, weil ich dich liebe.«

Sie küßten sich, und dies war der erste Kuß, der ihr Bündnis besiegelte.

Sie flogen mit der Maschine um zwanzig Uhr heim. Die Stunden hatten sie noch in gelöster Stimmung mit den Verwandten verbracht. Mireille hatte Ariane beim Kofferpacken geholfen, während die Männer sich unterhielten.

»Schöne Freundin bist du«, schmollte Mireille. »Hast mir kein Wort davon gesagt, daß ihr euch liebt.«

»Das weiß ich ja auch erst seit heute«, sagte Ariane mit diesem neuen Lächeln, das sich auch in ihren Augen widerspiegelte.

Erst im Flugzeug fiel es Ariane ein, daß sie doch noch kein Geschenk für Angela gekauft hatte. Und das sollte doch aus Paris sein!

Gerhard griff nach ihrer Hand. »Wenn du ihr sagst, daß du ihre Mama werden willst, braucht sie nichts anderes, Liebste.«

»Ja, Gerhard, das werde ich. Ich will unserer kleinen Tochter eine gute Mutter sein.«

Sie blickte hinaus, der Himmel war nahe und voller Sterne. War es nicht, als funkelte einer besonders hell…

*

Da war niemand, der nicht froh und erleichtert gewesen wäre, daß Gerhard und Ariane sich in Liebe gefunden hatten.

»Ich habe es so sehr gehofft, daß es dazu kommen würde«, sagte Leonard von Korff bewegt zu seinem Schwiegersohn. »Du hast

Ariane aus dem Dunkel wieder ans Licht geführt. Nun ist es für uns alle hell geworden.«

So verlief die schlichte Hochzeitsfeier nur im Familienkreis in Harmonie und glücklicher Gleichstimmung. Melanie von Korff hätte freilich lieber ein gesellschaftliches Ereignis daraus gemacht, hatte es doch so lange kein Fest mehr in der Villa gegeben. Aber sie hatte sich dem ausdrücklichen Wunsch der Jungen beugen müssen und fügte sich schließlich darein und zeigte sich von ihrer besten Seite, auch der neuen Verwandschaft gegenüber.

Aus Paris waren Torsten und Mireille gekommen, zu Anjas hellem Entzücken luden sie sie ein, sie im Frühling dort einmal zu besuchen. Und Andreas Danegger hatte seinen Dienstplan getauscht, soviel lag ihm daran, den Nachfolger seines Bruders kennenzulernen.

»An der Seite dieses Mannes wird es dir gutgehen, Ariane«, sagte er, als er mit Gerhard Schilling Blick und Händedruck gewechselt hatte, bedeutungsvoll und mit männlichem Ernst.

Ariane umarmte ihn, für einen Moment legte sie ihre Wange gegen die seine. »Du hast mir viel geholfen, Andreas, indem du mir Michaels Botschaft überbracht hast.«

Ein neues Jahr, ein neues Leben.

Angela hatte ihr Zimmer in Besitz genommen, nun wohnten sie in diesem großen schönen Haus, in dem sie herumspringen konnte, wie sie wollte, denn Opa Leo betonte immer wieder, daß er sich freute, daß es nun nicht mehr so still hier war. Sowieso kamen Anja und Rolf und Katarina öfter zu Besuch, sie waren nun eine große Familie. Manchmal schlief Angela auch noch bei den anderen Großeltern, denn ihre »richtige« Oma blieb doch Oma Monika.

Als sie wieder einmal von so einem Wochenendbesuch nach Hause gebracht worden war, stand neben ihrem Bärli ein kleines weißes Kuscheltierchen, ein Häschen war es wohl. Hatte die Mama es danebengestellt, damit das Bärli nicht allein war? Angela hatte ein bißchen ein schlechtes Gewissen, denn sie beschäftigte sich gar nicht mehr so oft damit. Sie mußte es nicht mehr immer bei sich haben und an sich drücken, irgendwie war das vorbei.

Da kam ihre Mama, trat neben sie.

»Ich dachte, die beiden sollten zusammengehören«, sagte Ariane. »Das Häschen ist auch nicht mehr neu, wie du siehst…«

Es war etwas im Klang ihrer Stimme, das Angela jetzt aufblicken ließ.

»Is es – von Janine?« fragte Angela stockend, denn sie wußte alles von dem Kind ihrer Mami, das nun lange schon im Himmel war.

»Ja«, sagte Ariane.

Da hob Angela ihre Händchen und schob die beiden noch dichter zusammen, so daß es aussah, als umarme das Bärli das Häschen.

»Und eines Tages«, Ariane legte ihre Hand auf die Schulter ihres kleinen Mädchens, »wird wieder ein Kindlein damit spielen. Wir wissen nur noch nicht, ob es ein Brüderchen oder ein Schwesterchen für dich sein wird, Angela.«

»Oh«, staunte Angela mit halboffenem Mund, und ihre Aguen wurden weit. »Ist das ganz wahr?«

»Nun, ihr beiden.« Lächelnd stand Gerhard in der Tür, »habt ihr mich vergessen?«

»Papa! Die Mami hat mir eben gesagt…« Angelas Atem ging so rasch, daß ihr die Worte kaum über die Lippen kommen wollten.

»Ich kann’s mir schon denken.« Gerhard kam näher, sein Lächeln wurde tief, und Ariane gab es ihm zurück. Er breitete die Arme aus und zog sie an sein Herz, seine Frau, die ein Kind von ihm trug, und sein Töchterchen, diese beiden, die sein ganzes Glück waren.

Mami Staffel 12 – Familienroman

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