Читать книгу Mami Staffel 12 – Familienroman - Sina Holl - Страница 7
ОглавлениеUnruhig wälzte sich die neunjährige Jana in ihrem Bett hin und her. Sie konnte keinen Schlaf nach dem Streit der Eltern am Abend zuvor finden, immer und immer wieder mußte sie an das wütende Schreien des Vaters und das Weinen der Mutter denken.
Es war nicht das erste Mal gewesen, daß sich Robert und Silvia lautstark stritten, wenn sie meinten, daß die Kinder schliefen. Doch mit jedem Mal wurden die Streitgespräche heftiger und länger.
Janas siebenjähriger Bruder Alexander, kurz Alex genannt, war wie so oft schon verstört in das Bett seiner älteren Schwester gekrochen, als die ersten lauten Worte unten aus dem Wohnzimmer zu hören waren. Nun schlief er fest, und Jana hatte nicht das Herz, ihn zu wecken und in sein eigenes Zimmer zu schicken.
Vorsichtig, um nicht den Kleinen zu wecken, schwang Jana die Beine aus dem Bett und schlich aus dem Zimmer. Nun war alles still in dem modernen Einfamilienhaus, denn es war weit nach Mitternacht.
Ganz leise öffnete Jana die Tür zum elterlichen Schlafzimmer und warf einen Blick auf die schlafende Mutter – der Platz des Vaters war leer. Doch das war kein Grund zur Besorgnis, denn nach einem Streit pflegte Robert Kirstein im Gästezimmer zu übernachten.
Beruhigt stellte Jana wenig später fest, daß auch der Vater schlief. Nach einem kurzen Abstecher in die Küche, wo sie einen Schluck Mineralwasser trank, ging Jana wieder zurück in ihr Zimmer. Alex hatte nicht mitbekommen, daß seine Schwester auf Erkundungsgang gewesen war.
Die größte Sorge der Geschwister war, daß sich die Eltern eines Tages scheiden lassen könnten; beide hatten Angst, daß es dazu kommen würde. Doch solange die Eltern unter einem Dach schliefen, konnten die Kinder beruhigt sein.
Zärtlich kuschelte sich Jana an Alex’ Rücken und schlief endlich auch ein…
*
Erschrocken sah Silvia Kirstein in den Badezimmerspiegel. Ihr Gesicht sah vom Weinen verquollen aus, und dabei hatte sie an diesem Vormittag einen wichtigen Gerichtstermin.
Die Kinder schienen zu ahnen, daß mit der Ehe etwas nicht stimmte, doch auch sie brauchten nicht zu sehen, daß ihre Mutter geweint hatte.
Silvia wusch sich das Gesicht mit viel kaltem Wasser und schminkte es danach. Nun sah man ihr kaum noch die Spuren der Nacht an.
Robert hatte schon längst das Haus verlassen, als Silvias Wecker klingelte. Der erfolgreiche Immobilienmakler zog es meistens vor, in einem Café zu frühstücken anstatt mit seiner Familie.
Bevor Silvia die Kinder weckte, bereitete sie das Frühstück vor und konnte dabei kaum die Tränen zurückhalten. Wie sollte das weitergehen mit Roberts ständigen Frauengeschichten?
Nicht, daß Robert jemals erwähnte, wo er seine Abende verbrachte – aber Silvia hatte schon so oft den Geruch eines billigen Parfüms oder Lippenstiftspuren an seinen blütenweißen Hemden gefunden, daß sie sich ausrechnen konnte, daß er mal wieder gelogen hatte, als er kurz anrief und behauptete, daß es wegen eines wichtigen Geschäftsessens später werden würde, bis er nach Hause kam.
Robert Kirstein hatte nie etwas abgestritten, wenn ihn Silvia auf seine Frauengeschichten ansprach – und das machte sie noch wütender. Nicht einmal den Versuch unternahm er, zu leugnen oder zerknirscht zuzugeben, daß so etwas nie wieder vorkommen würde.
Silvia hatte gerade ihr Jurastudium beendet, als ihr Robert Kirstein über den Weg gelaufen war. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt darunter gelitten, daß ihre große Liebe Stefan Winter, ebenfalls ehemaliger Jurastudent, sich von ihr getrennt hatte.
Im Gegensatz zu Silvia, deren Traum es war, eines Tages eine erfolgreiche Rechtsanwältin zu sein, wollte Stefan Richter werden. Um diesen Berufswunsch realisieren zu können, mußte er in eine andere Stadt ziehen.
Silvia hatte gebeten und gebettelt, doch zu bleiben, aber Stefan war damals so ehrgeizig gewesen, daß er nach dem Verstand und nicht nach dem Herzen entschied. Er schwor Silvia zwar, ihr zu schreiben oder anzurufen, doch schon nach wenigen Wochen verlief die Geschichte im Sande.
Als Silvia nur wenig später dann den gutaussehenden, zehn Jahre älteren Robert Kirstein kennenlernte, befand sie sich in einem seelischen Tief, so daß sie sich gerne von dem charmanten Immobilienmakler von ihrem Kummer ablenken ließ.
Als er sie bat, seine Frau zu werden, willigte sie sofort ein. Zu seiner großen Freude gestand ihm Silvia kurze Zeit später, daß sie schwanger war. Zwei Jahre später, nach Jana, wurde Alexander geboren, und die Familie war komplett.
Doch schon nach sehr kurzer Ehezeit stellte Silvia entsetzt fest, daß Robert sie betrog. Zunächst ließ sie nichts darüber verlauten, doch als Robert immer wieder Affären hatte, stellte sie ihn zur Rede.
Doch der wunderte sich, daß seine Frau solch einen Aufstand darüber machte und erklärte ihr kühl, daß es nichts zu bedeuten hätte – und schließlich würde das jeder Mann so machen.
Robert hatte Silvia nie soviel bedeutet wie Stefan, doch taten ihr die gefühllosen Worte weh. Sie wußte in diesem Moment, daß sich Robert nie ändern würde und sie damit leben mußte.
Als Alex drei Jahre alt war, eröffnete Silvia ihre eigene Anwaltskanzlei. Robert finanzierte großzügig Kanzleiräume und Mobiliar. Möglicherweise war dies eine Art Entschädigung für seine Seitensprünge, doch Silvia hatte nie danach gefragt. Sie genoß es, ihre Tage damit zu verbringen, in Not geratene Menschen vor dem Gericht zu vertreten. Natürlich hatte sie damals oft ein schlechtes Gewissen wegen der Kinder gehabt; sie konnte nicht mehr viel Zeit mit ihnen verbringen. Doch Alex ging bereits in den Kindergarten, und Jana würde im kommenden Jahr zur Schule kommen. Sie waren nicht mehr so klein, daß sie ihre Mutter rund um die Uhr brauchten.
Glücklich war Silvia schon lange nicht mehr, sie konnte sich zwar jeden erdenklichen Luxus für sich und die Kinder leisten, doch von Robert entfremdete sie sich immer mehr.
Nachdenklich stellte Silvia die Kaffeemaschine an. Vielleicht war eine Trennung doch besser als dieses ständige Hintergangenwerden? Schon lange sagte Silvia Robert ihre Meinung, was sie von seinen Seitensprüngen hielt, was zu immer heftigeren Streitgesprächen führte.
Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Flurspiegel, bevor sie ins obere Stockwerk ging, um Jana und Alex zu wecken. Als Silvia das Zimmer ihrer Tochter betrat, sah sie besorgt, daß Alex wieder bei seiner Schwester schlief.
Still blieb sie einen Moment im Türrahmen stehen und lehnte den Kopf an das kühle Holz. Immer, wenn sie und ihr Mann sich am Abend stritten, fand sie den Kleinen in Janas Bett. Wie oft hatte sie Robert gebeten, nicht so laut zu schreien, damit die Kinder nicht wach wurden – doch wenn er in Rage war, dachte er nie daran, Rücksicht zu nehmen.
Silvia machte sich keine Illusionen darüber, daß die Kinder ahnungslos waren, was die Ehe der Eltern betraf. Doch sie wußte nicht, ob es ratsam war, mit den Kindern darüber zu reden. Was sollte sie ihnen sagen? Daß ihr Vater nichts von ehelicher Treue hielt und es aus diesem Grund immer wieder zum Streit kam?
Nein, das konnte Silvia den Kleinen nicht antun. Bevor sie nun Jana und Alex sanft wachrüttelte, setzte sie eine fröhlichere Miene auf…
*
Alex war schon zu Hause, als Jana an diesem Mittag von der Schule kam.
»Frau Siegert ist krank, da ist die letzte Stunde ausgefallen«, sagte er zu seiner Schwester und beugte sich wieder über sein Schulheft, in dem er angestrengt verschiedene Buchstaben malte.
»Mama wird auch bald hier sein«, entgegnete Jana. »Hast du Hunger? Dann mache ich dir bis zum Mittagessen ein Brot.«
Alex schüttelte wortlos den Kopf und schrieb weiter. Obwohl beide Kinder in ihren Zimmern Schreibtische für die Schularbeiten hatten, zogen sie es vor, sich dafür an den Küchentisch zu setzen. Sie liebten es, in der Nähe der Mutter zu sein, wenn sie aus der Kanzlei kam und das Mittagessen zubereitete.
»Du, Jana?« fragte Alex unvermittelt und legte den Stift beiseite.
»Hm?«
»Glaubst du, daß sich Mama und Papa scheiden lassen werden?«
»Nein, ich denke, es ist normal, wenn sich Erwachsene streiten«, gab Jana schnell zurück.
»Aber von Patrick die Eltern, die haben sich auch immer gestritten – und jetzt lassen sie sich scheiden.« Alex’ Stimme klang klein und weinerlich.
Obwohl sich Robert nie viel um seine Kinder gekümmert hatte, vergötterten Jana und Alex ihn ebenso wie ihre Mutter und konnten sich nicht vorstellen, von einem Elternteil getrennt zu leben.
»Ach, Alex.« Jana trat zu ihrem kleinen Bruder. »Du mußt keine Angst haben. Mama und Papa werden sich nicht scheiden lassen.«
Der Junge hob den Kopf. »Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es eben«, antwortete Jana mit fester Stimme. Sie atmete auf, als sie Silvias Schlüssel in der Haustür hörte. Wie lange würde sie Alex noch beruhigen können, wie lange würde sie noch überzeugend auf ihn einreden können? Dabei hatte sie selbst doch ebenso große Angst, daß sich die Eltern trennen würden.
»Na, ihr beiden?« begrüßte Silvia ihre Kinder lächelnd und stellte den gefüllten Einkaufskorb auf die Arbeitsplatte. »Wie ich sehe, seid ihr schon fleißig bei den Schularbeiten.«
»Sieh mal, Mama.« Stolz hob Alex sein Heft hoch. »Das haben wir heute alles gelernt.«
Alex besuchte die erste Klasse der Grundschule und lernte jeden Tag etwas Neues, das er dann mittags seiner Mutter präsentierte.
»Das hast du aber schön gemacht«, sagte Silvia erfreut. »Wenn du weiterhin so fleißig bist, wirst du bald richtige Worte schreiben können.«
»Ich hatte heute keinen Fehler bei der Rechenarbeit!« rief Jana, die ihrem Bruder in nichts nachstehen wollte. »Außer mir hat nur noch ein Junge null Fehler gehabt.«
Silvia beugte sich zu Jana hinunter und nahm sie in den Arm. »Ich bin wirklich stolz auf euch. Was haltet ihr davon, wenn ich uns jetzt einen großen Topf Spaghetti koche?«
»Mit Ketchup?« fragte Alex.
»Mit Ketchup.«
Bei dem darauffolgenden Freudenschrei hielt sich Silvia lächelnd die Ohren zu. Sie war froh, daß ihr die Kinder keinen Kummer machten und sie sich auf sie verlassen konnte, wenn sie arbeitete.
Während Silvia die Einkäufe aus dem Korb nahm, wurde sie unauffällig von Jana beobachtet. Der Mutter war nicht anzusehen, ob sie noch an den Streit vom Vorabend dachte oder nicht – sie schien wie immer zu sein…
Nachdem Silvia nach dem Essen wieder zurück in die Kanzlei gefahren war, packten die Kinder ihre Sporttaschen. Alex hatte Fußballtraining und Jana ihr wöchentliches Volleyballtraining. Beide Kinder waren im Sportverein und mit Begeisterung bei der Sache.
»Du brauchst dich nicht zu beeilen, Alex«, sagte Jana, als sich ihr Bruder seine Schuhe anziehen wollte. »Das Training fängt doch erst in einer Stunde an. Wir können heute mit dem Fahrrad fahren, da sind wir dann schneller an der Turnhalle.«
Wenn es regnete, fuhren die Kinder mit dem Bus.
»Fein, dann können wir ja ein Wettrennen veranstalten. Wer zuerst an der Turnhalle ist, hat gewonnen.«
»Von wegen. Du weißt, daß uns Mama verboten hat, so schnell mit dem Fahrrad zu rasen«, bremste die vernünftige Jana ihren kleinen Bruder. »Oder willst du, daß einer von uns unter ein Auto gerät?«
»Nein«, gab Alex kleinlaut zurück. »Und ich will auch nicht, daß Mama böse auf uns ist.«
»Na, siehst du.«
»Glaubst du, daß Papa heute pünktlich nach Hause kommt?«
Jana zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Du weißt doch, daß er viel Arbeit hat.«
»Mama hat auch viel Arbeit und ist trotzdem abends hier«, maulte Alex und nahm sein Jojo zur Hand. »Aber vielleicht ist es besser, wenn Papa später kommt – dann streiten sie sich wenigstens nicht so lange.«
Jana sah den traurigen Gesichtsausdruck ihres kleinen Bruders. Daß die Eltern nicht in Frieden leben konnten, belastete ihn sehr. Doch sie überging Alex’ Bemerkung und sagte spontan: »Wenn du möchtest, leihe ich dir heute abend eine meiner Märchenkassetten.«
Sofort erhellte sich sein Gesichtchen. »Die mit dem Zauberer und der schönen Prinzessin?«
»Ja, wenn du willst. Aber jetzt müssen wir uns langsam auf den Weg machen, damit wir pünktlich beim Training sind.«
*
»Herr Sander läßt sich entschuldigen, er kommt eine Viertelstunde später, Frau Kirstein«, sagte zur selben Zeit Verena Böttcher, Silvias Sekretärin. »Soll ich Ihnen inzwischen einen Kaffee bringen?«
»Danke, das ist sehr nett«, sagte Silvia lächelnd. »Eine kleine Verschnaufpause tut mir sicherlich nach dem turbulenten Vormittag im Gericht gut.«
Tatsächlich war Silvia an diesem Tag kaum zum Nachdenken gekommen.
Das war einerseits ganz gut, andererseits mußte sie sich langsam Gedanken darüber machen, wie es mit ihr und Robert in Zukunft weitergehen sollte.
Ihr Blick fiel auf das gerahmte Foto vor ihr auf dem Schreibtisch. Es zeigte einen in die Kamera lachenden Robert, der auf jeder Seite eines der Kinder an sich gedrückt hielt.
Wehmütig lächelte Silvia. Die Aufnahme stammte aus dem letzten Urlaub in der Türkei. Die ganzen vierzehn Tage hatte sich Robert liebevoll um seine Familie gekümmert und nicht ein einziges Mal Interesse an einer anderen Frau gezeigt. Silvia war sehr glücklich gewesen und hatte gehofft, daß ihre Ehe wieder besser werden würde.
Doch schon kurz nach der Rückkehr ins kühle Deutschland ging Robert wieder dazu über, seine Abende lieber bei anderen Frauen anstatt bei seiner eigenen zu verbringen.
»Herr Sander ist jetzt da«, schnarrte Verenas Stimme plötzlich durch die Sprechanlage.
Nach einer Schrecksekunde sagte Silvia: »In Ordnung, Frau Böttcher. Schicken Sie ihn zu mir, bitte.«
Sie holte tief Luft; nun galt es, sich wieder auf ihren Beruf zu konzentrieren. Zum Grübeln hatte sie noch den ganzen Abend…
*
Silvia zuckte zusammen, als das Telefon klingelte. Schon, bevor sie abnahm, wußte sie, daß Robert am anderen Ende der Leitung war.
»Hallo, Schatz«, rief er gut gelaunt in den Hörer. »Bei mir wird es heute wieder später, also warte nicht auf mich.«
Silvia stieß ein verächtliches Lachen aus. »Laß mich raten – ein wichtiges Geschäftsessen?«
»Sei nicht so ironisch. Gib den Kindern einen Kuß von mir, ja?«
Noch bevor Silvia zu einer Antwort ansetzen konnte, hatte Robert bereits aufgelegt.
Jana bemerkte sofort den bitteren Zug um den Mund ihrer Mutter und fragte hastig: »Soll ich dir mal das Gedicht aufsagen, das ich für die Schule gelernt habe?«
»Ja, Schatz, mach das.« Silvia mühte sich ein Lächeln ab und setzte sich. Es hatte ja doch keinen Sinn, zornig zu sein und die schlechte Laune an den Kindern auszulassen.
Jana baute sich vor Silvia auf und sagte das relativ lange Gedicht ohne zu stottern auf.
Anschließend klatschte Silvia begeistert in die Hände. »Das hast du wirklich sehr gut gemacht, Jana – und das, obwohl ich dir nicht ein einziges Mal dabei geholfen habe. Sicher bekommst du morgen eine gute Note dafür.«
Die Kleine strahlte über das ganze Gesicht. Ein Lob von der Mutter war tausendmal mehr wert als ein großzügiges Taschengeld.
»Bald fangen die ersten Weihnachtsbastelnachmittage für die Eltern an«, sagte sie. »Kannst du nicht auch mal da hingehen?«
Silvia seufzte und nahm ihre Tochter in den Arm. »Du weißt doch, daß ich immer bis zum späten Nachmittag arbeiten muß.« In Gedanken fügte sie hinzu: Vielleicht wird es bald sehr wichtig sein, daß ich mein eigenes Geld verdiene.
»Aber andere Mütter kommen auch«, maulte Jana. »Die nehmen sich auch die Zeit.«
»Andere Mütter arbeiten auch nicht und können sich ihre Zeit frei einteilen. Ich kann doch nicht Klienten fortschicken oder wichtige Gerichtstermine absagen, weil ich zu einem Bastelnachmittag gehe. Das verstehst du, nicht wahr? Du bist doch schon groß.«
Janas Gesicht leuchtete wieder auf. Wenn ihre Mutter sie für ein vernünftiges großes Mädchen hielt, wurde sie immer ganz stolz. Kleinlaut sagte sie: »Ich weiß ja, daß du eine sehr wichtige Arbeit hast, Mami.«
»Na, siehst du! So, und jetzt laß uns in die Küche gehen und mal nachsehen, was wir Schönes zum Abendessen machen können. Wo steckt eigentlich Alex?«
»Der sitzt vor dem Fernseher und sieht sich mal wieder seine Lieblingsserie an«, erwiderte Jana verächtlich, die sich mehr aus schönen Büchern als aus Actionserien im Fernsehen machte.
Silvia bedauerte einmal mehr, daß sie dem Wunsch der Kinder nachgekommen war, jedem ein eigenes kleines Fernsehgerät gekauft zu haben. Wenn man bei Alex nicht aufpaßte, starrte er stundenlang auf die Mattscheibe.
»Sag deinem Bruder bitte, daß wir in zehn Minuten essen und er sich die Hände waschen soll.«
»In Ordnung, Mami!« Sofort stürmte Jana die moderne Freitreppe ins Obergeschoß.
Silvia machte sich derweil auf den Weg in die Küche. Normalerweise wurde dort nur gefrühstückt, aber wenn Robert nicht zu Hause war, wurden auch die anderen Mahlzeiten dort anstatt in der großzügigen Eßecke im Wohnzimmer eingenommen.
Seufzend lehnte sich Silvia an den Kühlschrank und schloß die Augen. Es war bereits das dritte Mal in dieser Woche, daß Robert erst spätabends kommen würde.
Als das Teewasser kochte, entschloß sich Silvia, an diesem Abend auf Robert zu warten – egal, wie spät es werden würde. Sie würde ihn vor die Wahl stellen. Entweder er machte Schluß mit seinem Junggesellenleben oder…
»Mami, kann ich ein gekochtes Ei haben?« rief Alex, noch im Flur.
»Ich auch«, echote Jana hinterher.
Silvia schmunzelte. Sie war froh, daß die Kinder ihre düsteren Gedanken verscheuchten, ohne es zu ahnen.
»Meint ihr nicht, daß gekochte Eier nicht ein bißchen schwer sind? Wie wäre es mit Rührei?«
»Au ja!« rief beide wie aus einem Mund. Rühreier mochten sie noch lieber als gekochte Eier.
»Dann werde ich mal anfangen.« Silvia stellte die Pfanne auf die moderne Cerankochfläche. Solch einen Herd hatte sie sich schon gewünscht, als sich das Haus noch im Rohbau befand. Robert hatte sie ganz allein entscheiden lassen, welche Einbauküche mit welchen Geräten sie haben wollte. Wenn es um Geld ging, war Robert sehr großzügig.
»Was wollen wir denn am Wochenende machen?« fragte Jana, während sie ohne Aufforderung den Tisch deckte. »Können wir nicht irgendwohin fahren?«
»Was meinst du denn mit ›irgendwohin‹?« fragte Silvia und schlug die Eier in die Pfanne. »Hast du eine bestimmte Vorstellung?«
»Zu der Spielzeugausstellung ins Museum«, kam es spontan zurück.
»Nein, lieber in den Vergnügungspark!« krähte Alex dazwischen.
»Nun mal langsam, ihr beiden«, gab Silvia sanft zurück. »Soviel ich weiß, ist der Vergnügungspark nur im Sommer geöffnet.«
»Aber ich will keine ollen Puppen angucken«, sagte Alex verstimmt. »Das ist langweilig.«
»Dann werden wir uns gemeinsam etwas überlegen, woran wir alle Spaß haben«, schlichtete Silvia schnell. »Es sind ja noch drei Tage bis Sonntag.«
»Wird Papa denn mitkommen?« fragte Jana plötzlich. »Oder muß er am Sonntag wieder wie letztens arbeiten?«
Silvia zögerte mit der Antwort. Möglicherweise würde Robert nach dem Gespräch, das sie mit ihm führen wollte, nirgends mehr mit seiner Familie hinfahren.
»Ich weiß es nicht, Schätzchen. So, jetzt können wir essen.«
»Kann ich vor dem Schlafengehen noch die Serie mit dem fliegenden Roboter sehen? Bitte, Mami.« Alex sah seine Mutter fast flehend an.
Jana verzog das Gesicht. »So ein Blödsinn. Einen fliegenden Roboter gibt es nämlich in Wirklichkeit gar nicht.«
»Prinzessinnen und Zauberer auch nicht!« konterte Alex sofort, denn seine Schwester liebte fantastische Märchen und Geschichten.
»Jetzt ist aber genug«, schalt Silvia sanft. Sie wußte, daß sich die Kinder nicht ernsthaft stritten, und wenn es darauf ankam, zusammenhielten wie Pech und Schwefel. »Jeder hat eben seine Lieblingssendung oder sein Lieblingsbuch. Also hört auf mit dem Gezanke.«
»Ich helfe dir nachher, die Küche aufzuräumen«, sagte Jana. »Können wir danach nicht noch eine Partie Mühle spielen, bis es Zeit zum Schlafengehen ist?«
»Einverstanden.« Silvia war ganz froh über die Ablenkung. Sie hatte sich zwar wie fast jeden Abend Unterlagen aus der Kanzlei mit nach Hause genommen, doch sie würde sich wohl kaum darauf konzentrieren können.
Als die Kinder schließlich im Bett waren, schaltete Silvia den Fernseher im Wohnzimmer an; die Stille war unerträglich für sie. Mit dem dicken Aktenordner auf den Knien saß sie auf der teuren Ledercouch, ohne einen Blick auf die Unterlagen zu werfen.
Sie starrte auf den Bildschirm. Ein junges Paar umarmte sich dort und schwor sich ewige Liebe. Genervt suchte Silvia einen anderen Sender. Filme mit verliebten Paaren konnte sie nicht mehr sehen, ohne an ihre unglücklich gewordene Ehe zu denken. Die Zeit, in der Robert sie zärtlich umarmt und gesagt hatte, daß er sie liebte, war schon lange vorbei. Silvia konnte sich kaum daran erinnern, wann er dies zum letzten Mal gesagt hatte.
Verstohlen blickte Silvia zur Uhr. Es war erst kurz vor neun, und es würde noch lange dauern, bis Robert kam…
*
Erschrocken fuhr Jana hoch. Hatte sie da eben die laute Stimme ihres Vaters gehört? Als es jedoch ruhig blieb, kuschelte sich das Mädchen wieder in ihr warmes Kissen und schloß die Augen.
Da war es schon wieder! Diesmal klang die Stimme noch zorniger und lauter als zuvor. Jana schob sich leise aus dem Bett und öffnete die Tür einen Spalt. Jetzt konnte man auch die Stimme der Mutter hören.
»Ist das dein letztes Wort?« Sie klang weinerlich, fand Jana.
»Darauf kannst du dich verlassen! Ich lasse mir von dir nicht vorschreiben, wie ich mein Leben gestalte.«
»Aber die Kinder sind doch auch noch da. Zählen wir denn gar nicht?«
Robert lachte verächtlich. »Jetzt, wo ich von deiner Lüge weiß, ist das eine etwas unverschämte Frage. Findest du nicht?«
»Es war keine böse Absicht, Robert, das mußt du mir glauben!« Silvias Stimme klang verzweifelt.
Langsam schloß Jana ihre Tür wieder und ging mit weichen Knien zum Bett zurück. Die Eltern stritten sich also schon wieder. Worum es bei den Streitgesprächen ging, wußte Jana nicht, doch sie ahnte, daß sie damit zusammenhingen, daß der Vater kaum zu Hause war.
Jana zog sich ihr Kissen über den Kopf, sie wollte nichts mehr davon hören. Doch als plötzlich die Haustür zugeschlagen wurde und kurze Zeit später das Motorengeräusch von Roberts Wagen zu hören war, setzte sie sich aufrecht hin – ihr Papa war gegangen!
Bedeutete dies, daß es nun tatsächlich zu der gefürchteten Scheidung kam? Jana stand wieder auf und verließ ihr Zimmer. Vom Wohnzimmer her konnte sie unterdrücktes Schluchzen hören.
Bevor das Mädchen hinunterging, um nach der Mutter zu sehen, warf es einen kurzen Blick in Alex’ Zimmer. Zum Glück schlief der Kleine ausnahmsweise tief.
Langsam tastete sich Jana in dem dunklen Flur die Treppe hinunter. Sie mußte unbedingt herausfinden, wie es der Mutter ging und weshalb der Vater mitten in der Nacht das Haus verlassen hatte.
Silvia saß zusammengesunken auf der Couch und hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Zögernd blieb Jana an der Tür stehen.
Ob es eine gute Idee war, jetzt die Mutter zu stören? Unschlüssig blickte die Kleine auf die weinende Silvia, bis sie sich einen Ruck gab und zu ihr ging.
Erst als Jana vor ihr stand, bemerkte Silvia sie. Erschrocken versuchte sie, sich das Gesicht abzuwischen und fragte: »Warum schläfst du denn nicht?«
»Ich bin aufgewacht, weil ihr so laut wart.«
Silvia zog ihre Tochter zu sich hinunter. »Tut mir leid, Schatz, wenn wir dich geweckt haben.«
»Wohin ist Papa gefahren?« fragte Jana leise. »Ich habe gehört, daß er fortgefahren ist. Kommt er nicht mehr zurück?«
Silvia schluckte hart, dann sagte sie mit zitternder Stimme: »Nein, mein Liebling, ich glaube, Papa kommt nicht zurück.«
Jana stiegen Tränen in die Augen. »Aber warum denn nicht? Weil ihr euch immer streitet?«
Silvia griff zu einem Papiertaschentuch und fuhr sich damit über das Gesicht. »Nicht, weil wir uns immer streiten, sondern…«
»Weil Papa kaum noch zu Hause ist?«
Silvia nickte mit gesenktem Kopf.
»Und deshalb hast du ihn weggeschickt?« fragte Jana ungläubig.
»Nein, Kleines, ich habe ihn nicht weggeschickt. Papa selber hat sich dafür entschieden, in Zukunft allein zu leben.«
Silvia sah ihre Tochter ängstlich mit verquollenen Augen an. »Bitte, gib nicht mir die Schuld, daß es so gekommen ist. Ich wollte immer, daß wir eine glückliche Familie sind. Glaubst du mir das?«
Jana zögerte, aber nicht lange. Für ein paar Sekunden war sie auf ihre Mutter wütend gewesen, hatte ihr insgeheim die Schuld an der Trennung gegeben.
Doch Silvia sah so unglücklich aus, wie nur jemand aussehen konnte, der dies alles nie gewollt hatte.
Spontan setzte sich das Kind neben seine Mutter und legte das Ärmchen um ihre Schulter. »Sei nicht traurig, Mama. Vielleicht wird ja doch noch alles gut.«
Silvia nickte. »Ja, vielleicht.« Doch sie wußte ganz genau, daß nichts mehr gut werden würde. Robert hatte ihr klipp und klar gesagt, daß er sich von ihr trennen würde. Ja, Silvia hatte sogar den Eindruck gehabt, daß er erleichtert gewesen war, daß sie ihn vor die Wahl gestellt hatte.
»Jetzt geh wieder ins Bett und versuche zu schlafen, ja?« sagte Silvia mit sanfter Stimme und fuhr Jana durch das zerzauste Haar. »Und sag bitte Alex noch nichts davon. Ich möchte selber mit ihm reden.«
Jana nickte. In diesem Moment wußte sie, daß die Scheidung der Eltern bereits beschlossene Sache war.
Als die Kleine wieder hinauf in ihr Zimmer gegangen war, erhob sich auch Silvia. Sie hatte nicht vermutet, daß es so weh tun würde, verlassen zu werden – und dabei konnte sie noch nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob sie Robert überhaupt noch liebte.
*
Am nächsten Morgen wunderte sich Alex über die traurigen Gesichter der Mutter und der Schwester. Er sah von einem zum anderen und fragte schließlich: »Was habt ihr beiden denn?«
Silvia warf ihrer Tochter einen flehenden Blick zu. Sie selbst wollte Alex nach der Schule behutsam beibringen, daß sein Papa aus dem Haus ausgezogen war. Es würde ein sehr bedrückendes Gespräch werden, das wußte Silvia.
Ihr erster Termin an diesem Morgen war erst um neun Uhr im Gericht, daher verließ Silvia ausnahmsweise nicht mit den Kindern gemeinsam das Haus.
Nachdem sich Alex und Jana auf den Weg zur Schule gemacht hatten, ging Silvia ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Roberts Anzüge hingen säuberlich auf ihren Bügeln, er hatte am Vorabend nichts außer seiner Kulturtasche mitgenommen.
Wo mochte er wohl übernachtet haben? Bei seiner neuesten Flamme oder in einem Hotel? Nun, es würde jedenfalls nicht lange dauern, bis er kommen und seine persönlichen Sachen abholen würde.
Silvia wußte, daß sie über den Verlust hinwegkommen würde – auch wenn sie sich das noch nicht richtig vorstellen konnte. Aber die Kinder würden lange darunter leiden, ihren Papa nur noch alle paar Wochenenden zu sehen.
Nachdenklich fuhr Silvia über den schweren Stoff eines Jacketts, das Robert besonders gern trug. Plötzlich nagten Zweifel in ihr, ob sie das Richtige getan hatte. Wäre es für die Kinder nicht besser gewesen, wenn sie alles hätte weiterlaufen lassen, ohne Robert vor die Wahl zu stellen?
Mit einer abrupten Handbewegung schob Silvia die Tür des Kleiderschrankes wieder zu. Nein, es wäre nicht besser gewesen, Roberts ausschweifendes Leben ohne Kommentar weiter zu dulden – weder für die Kinder noch für sie.
Als sie den Schlüssel in der Haustür hörte, fuhr Silvia herum. Hatte eines der Kinder etwas vergessen? Doch bevor sie ihn sehen konnte, wußte sie, daß es Robert war.
»Was machst du denn hier?« fragte er verblüfft, als er das Schlafzimmer betrat. »Warum bist du nicht in der Kanzlei?«
»Ich muß erst später ins Gericht zu einer Verhandlung. Es lohnte sich nicht, vorher noch Kliententermine zu machen«, erklärte sie und sah mit vor der Brust verschränkten Armen zu, wie Robert einen großen Koffer auf das breite Bett stellte und ihn öffnete. »Du kannst es wohl überhaupt nicht abwarten, von hier wegzukommen?«
Er sah flüchtig auf. »Das ist alles deine Schuld, das weißt du hoffentlich – und die Kinder wissen es bestimmt auch.«
Silvia lachte hart auf. »Glaubst du, die Kinder haben noch nicht mitbekommen, was sich hier abgespielt hat? Hast du gedacht, sie sind so naiv, daß sie nicht wissen, daß in unserer Ehe schon lange nichts mehr stimmt?«
Robert hielt einen Stapel Hosen in der Hand, als er erwiderte: »Hättest du mir meine Freiheiten gelassen, wäre es nie zum Streit gekommen und alles wäre weitergelaufen wie bisher.«
»Ja, das hätte dir gut in den Kram gepaßt. Zu Hause die Frau, die sich um Kinder und Haus kümmert, und…«
»Du mußt gerade reden!« fuhr Robert dazwischen. »Was du mir gestern abend gesagt hast, war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte!« Wütend warf er die Hosen in den Koffer.
Silvia drehte sich um und verließ das Zimmer. Sie wußte, es hatte keinen Zweck, mit Robert zu reden. Das würde nur zu einem weiteren Streit ausarten – und dazu hatte sie keine Kraft mehr.
Sie wartete, bis er mit dem schweren Koffer zurück ins Erdgeschoß kam. Dann fragte sie: »Was ist mit den Kindern?«
»Du bekommst das Sorgerecht, und ich zahle, was nötig sein wird. Über das Haus müssen wir uns noch unterhalten.«
»Das meinte ich nicht! Sie werden nach dir fragen. Willst du zu ihnen etwa auch den Kontakt abbrechen?«
»Natürlich nicht. Ich werde heute abend anrufen und mit ihnen reden. Am Wochenende hole ich sie, und wir unternehmen etwas. Bist du jetzt zufrieden?«
»Wie sollte ich zufrieden sein, wo du Jana und Alex dies alles antust?« fragte sie verzweifelt.
»Tja, daran ist nichts mehr zu ändern. Wie haben es die beiden aufgenommen?«
»Jana war sehr vernünftig, und Alex weiß es noch gar nicht.«
»Wie? Du hast es meinem Sohn vorenthalten, daß wir uns trennen?«
»Ich habe es heute morgen noch nichts übers Herz gebracht; er hängt besonders an dir.«
»Kein Wunder!«
Silvia überging die Anspielung. »Jana ist heute nacht von dem Lärm aufgewacht. Sie hat sofort begriffen, daß es zu Ende ist.«
»Ich denke, ihr werdet es überstehen«, gab er zurück und hatte schon den Griff der Haustür in der Hand.
»Wie kannst du nur so herzlos reden?« rief Silvia aufgebracht.
»Reg dich nicht schon wieder auf. Was ändert sich denn großartig, wenn ich nicht mehr hier lebe? Vorher war ich doch auch höchstens mal am Wochenende für die Kinder da – das will ich auch weiterhin. Ihr lebt in einem schönen Haus und müßt keinen Hunger leiden, ich denke, es gibt Schlimmeres.«
Mit diesen Worten verließ Robert Kirstein das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Wütend blickte Silvia auf die geschlossene Tür. Robert hatte ganz recht mit seiner Behauptung, daß es ihnen finanziell nie an etwas mangeln würde – aber gab es nicht auch noch etwas anderes, was die Kinder vermissen würden? Nämlich einen Vater! Es gab sehr wohl einen Unterschied, ob er bei seiner Familie wohnte oder die Kinder am Wochenende für ein paar Stunden zu sich holte.
*
Silvia versuchte sich mit aller Kraft auf die Gerichtsverhandlung zu konzentrieren; schließlich erwartete ihr Klient nichts anderes von ihr. Es ging um einen Verkehrsunfall, und in diesem Prozeß sollte geklärt werden, ob Silvias Klient schuld daran war oder nicht.
Schließlich wurde ein wichtiger Zeuge aufgerufen. Der jedoch war nicht erschienen, und so wurde die Verhandlung auf einen späteren Zeitpunkt vertagt.
Silvia hatte große Mühe, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen.
»Es wird schon alles gutgehen, Herr Meisner«, sagte sie zu ihrem Klienten vor dem Gerichtsgebäude.
»Und wenn er jetzt ganz kneift?« fragte Herr Meisner verzweifelt. »Dann bekomme ich eine Strafe für etwas, an dem ich keine Schuld habe.«
»Darüber brauchen Sie sich nicht den Kopf zerbrechen. Der Zeuge wurde vorgeladen, und wenn er beim nächsten Mal nicht erscheint, macht er sich selber strafbar.«
Herr Meisner atmete hörbar auf und reichte Silvia die Hand. »Dann danke ich Ihnen erst einmal.«
»Ich werde Sie rechtzeitig informieren, wenn der Prozeß fortgeführt wird. Aber Sie werden auch vom Gericht Bescheid bekommen.«
Nachdem Herr Meisner beruhigt gegangen war, schlenderte Silvia langsam zu ihrem Wagen zurück. Achtlos warf sie ihren Talar auf die Rückbank und nahm ihr Handy, um in der Kanzlei anzurufen.
»Hat jemand Wichtiges angerufen, Frau Böttcher?« fragte sie, nachdem die Sekretärin abgenommen hatte.
»Nein, nur das Übliche. Ist die Verhandlung denn schon vorüber?«
»Sie wurde wegen des Fehlens eines Zeugen vertagt. Wann ist denn der erste Termin heute nachmittag?«
»Um halb vier, Frau Kirstein. Soll ich ihn verlegen?«
»Nein, nein. Ich werde pünktlich in der Kanzlei sein. Bis dann.«
Ratlos blickte Silvia durch die Windschutzscheibe, bevor sie den Motor anstellte. Es war noch lange Zeit, bis Alex von der Schule kam. Was sollte sie mit dem Rest des Vormittages nur anfangen?
Einkaufen war sie erst einen Tag zuvor, und ansonsten gab es auch nichts zu besorgen, das Silvia die Zeit vertreiben könnte. Es graute ihr, in das stille Haus zurückzufahren, das Robert vor knapp zwei Stunden für immer verlassen hatte.
Dann fuhr Silvia los; ziellos durchquerte sie die Straßen und stand schließlich doch vor ihrem Haus in der eleganten Neubausiedlung.
»Guten Tag, Frau Kirstein!« rief vom Nachbargrundstück der pensionierte Zahnarzt Dr. Räber. »Schon Feierabend?«
»Nein, nur ein geplatzter Gerichtstermin!« rief sie zurück und gab ihrer Stimme einen leichten Ton.
»Ach, sagen Sie Ihrem Mann doch bei Gelegenheit, daß ich ein Häuschen im Süden suche, ja? Vielleicht hat er ja etwas Passendes anzubieten.«
»Ich werde es ihm ausrichten, Herr Doktor.« Sie hob die Hand zum Gruß, bevor sie im Haus verschwand.
Noch wußte niemand in der Nachbarschaft von der Trennung – doch das würde sich schnell ändern. Ob es ihrem Ruf als Anwältin schadete, wenn sie geschieden war?
Kopfschüttelnd zog sich Silvia Mantel und Stiefel aus. Darüber brauchte sie sich wohl im Moment keine Gedanken zu machen, viel wichtiger war, sich genau zu überlegen, was sie Alex sagen wollte, wenn er aus der Schule kam.
Silvia sah flüchtig die Post durch. Die Mehrheit davon war für Robert bestimmt, und sie warf die Briefe achtlos auf die Ablage zurück.
In der Küche stellte Silvia das Radio an und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Dann stellte sie sich ans Fenster und sah in das trübe Spätherbstlicht hinaus.
Wie würde Alex die Neuigkeit aufnehmen? Der sensible Junge konnte einen seelischen Schaden erleiden, wenn Silvia zu unvorsichtig war. Daß er so vernünftig wie Jana reagieren würde – damit war nicht zu rechnen.
Silvia betete im stillen, daß er nicht ihr die ganze Schuld an der Trennung in die Schuhe schob.
In diesem Moment sah Silvia ihren kleinen Sohn in seinem knallroten Anorak um die Ecke biegen und schaute verwundert zur Uhr. Richtig, Alex hatte gestern davon gesprochen, daß eine der Lehrerinnen krank war und deshalb einige Schulstunden ausfielen.
Nun hatte sie so viel Zeit mit düsteren Gedanken vertrödelt und wußte noch immer nicht, wie sie das Gespräch beginnen sollte.
Bevor Alex seinen eigenen Schlüssel ins Schloß stecken konnte, öffnete Silvia und erschrak. Der Junge hatte vom Weinen verquollene Augen – er wußte es bereits!
»Mama?« fragte er mit seiner feinen Stimme. »Wieso bist du schon hier?«
»Ein Termin wurde verschoben«, erklärte sie schnell, während sie Alex ins Haus zog. »Du siehst nicht besonders glücklich aus.«
Der Kleine stellte seine Schultasche ab und öffnete den Reißverschluß seiner Jacke. »Papa und du – ihr laßt euch scheiden, nicht wahr?« Er sah dabei nicht auf.
»Hat Jana mit dir darüber gesprochen? Ich hatte sie gebeten, mir zu überlassen, mit dir darüber zu reden«, sagte sie und machte eine hilflose Geste.
»Zuerst hat sie ja auch gesagt, sie darf mir nichts verraten. Sie war nämlich so still auf dem Weg zur Schule.«
»Und dann hat sie es doch gesagt?«
Alex sah seine Mutter bittend an. »Bitte, schimpf nicht mit Jana, Mami! Eigentlich hat sie gar nichts gesagt, ich habe sie gefragt, ob ihr euch scheiden laßt; da hat sie dann genickt.«
Silvia beugte sich zu dem Jungen hinunter und nahm ihn in die Arme. Da hatte er vor ein paar Stunden vom Ende der Familie Kirstein gehört – und seine größte Sorge war, daß seine Schwester deshalb Ärger mit der Mutter bekam.
»Ist schon gut, mein Kleiner«, sagte Silvia sanft und fuhr ihm durch das wirre Haar. »Ich werde nicht mit Jana schimpfen, das verspreche ich dir.«
»Ehrlich nicht?«
»Nein, bestimmt nicht. Magst du nicht mit in die Küche kommen? Dann koche ich dir einen Becher Kakao, und wir reden in Ruhe darüber.«
Gehorsam folgte Alex seiner Mutter und setzte sich an den Küchentisch. »Sehen wir Papa jetzt nie wieder?«
»Aber natürlich, mein Schatz! Wahrscheinlich seht ihr ihn nun sogar häufiger als vorher. Er war vorhin hier und hat gesagt, daß er am Wochenende mit euch einen Ausflug machen will.«
»Und du? Kommst du auch mit?«
Silvia zögerte. »Nein, ich werde zu Hause bleiben und mich um die liegengebliebene Hausarbeit kümmern.«
»Dann ist nichts mehr so wie früher«, stellte Alex traurig fest und starrte auf seine Hände, die in allen möglichen Filzstiftfarben leuchteten.
Silvia setzte sich neben ihn und sagte: »Ich weiß doch, daß es für uns alle nicht leicht sein wird, die Zukunft zu meistern – aber du möchtest doch nicht, daß Papa und ich dauernd streiten, oder?«
Der Kleine schüttelte wild den Kopf. »Nein, das war immer schlimm.«
»Na, siehst du. In Zukunft werdet ihr euren Vater jedes Wochenende besuchen, und dann macht ihr tolle Dinge zusammen. Ist das nicht schön?«
Alex zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Wo wohnt Papa denn jetzt?«
Silvia zögerte einen Moment, dann sagte sie: »Keine Ahnung. Wahrscheinlich muß er sich erst eine neue Wohnung suchen.«
»Werden wir auch umziehen müssen?«
»Ich denke nicht. Ich werde noch einmal mit Papa reden wegen des Hauses. Für ihn allein wäre es ja doch viel zu groß, nicht wahr?«
»Hat Papa jetzt eine andere Frau?«
Silvia räusperte sich. Unmöglich konnte sie dem Siebenjährigen sagen, daß es mehr als eine Frau in Roberts Leben gab oder gegeben hatte. »Sicherlich wird er früher oder später eine andere Frau heiraten, aber im Moment natürlich noch nicht.«
Die Milch war heiß und Silvia froh, von dem heiklen Thema ablenken zu können. »So, nun noch das Kakaopulver einrühren, und dann ist dein Kakao fertig.«
»Mami?«
»Ja, mein Liebling?«
»Willst du einen anderen Mann haben?«
Silvia wirbelte herum. »Aber nein! Daß Papa und ich uns getrennt haben, hat nichts mit einem anderen Mann zu tun. Wir… wir lassen uns nur scheiden, weil wir uns nicht mehr verstehen.«
»Hast du Papa weggeschickt?«
»Nein, er selbst hat sich entschieden zu gehen. Und jetzt trink deinen Kakao, solange er heiß ist.«
Eine halbe Stunde später kam Jana von der Schule. Auch sie sah aus, als hätte sie geweint. Doch sie lächelte tapfer, als Silvia vorsichtig fragte, wie es ihr ginge.
»Ganz gut, denke ich.«
Nach dem Mittagessen sagte Silvia: »Wir drei müssen jetzt zusammenhalten. Das heißt aber nicht, daß euer Papa nicht mehr zur Familie gehört – auch wenn er nicht mehr mit uns zusammenlebt. Er wird trotzdem immer euer Papa bleiben. Habt ihr das verstanden?«
Beide Kinder nickten ernst. Auch, wenn sie vielleicht nicht begriffen, weshalb sich manche Erwachsene so oft zanken mußten und sich dann trennten, schienen sie zu wissen, daß beide Elternteile ihre Kinder gleichermaßen liebten und sie keinerlei Schuld an der Scheidung hatten…
*
Bereits eine Woche später hielt Silvia das Schreiben eines Kollegen in der Hand, der ihr mitteilte, daß Robert die Scheidung eingereicht hatte.
Ein einziges Mal hatte sie mit Robert am Telefon gesprochen, dabei ging es um das Haus. Silvia war erleichtert, daß er auf das Haus mit allem Mobiliar verzichtete, dafür jedoch keinen Unterhalt zu zahlen brauchte. Das war auch nicht nötig, denn Silvia verdiente selbst genügend, um sich und ihre Kinder zu ernähren.
Der Verlust des Hauses wäre nicht nur für Silvia, sondern auch für die Kinder ein herber Schlag gewesen. Hier war ihr aller Zuhause, Jana war erst ein Jahr alt gewesen, als es gebaut wurde.
Die Kinder rief Robert fast jeden Abend an und holte sie wie versprochen am Sonntag zu einem Ausflug ab. Für Silvia war es ein merkwürdiges Gefühl gewesen, dem Mann gegenüberzustehen, mit dem sie viele Jahre verbracht hatte.
Bei ihrer Rückkehr hatten die Kinder begeistert von dem Kinofilm und dem tollen Essen hinterher geschwärmt. Aber es war ihnen anzusehen, daß dieser Ausflug anders gewesen war als die Ausflüge, die früher die ganze Familie zusammen gemacht hatte.
Langsam gewöhnte sich Silvia an ihr neues Leben, und sie sah erleichtert, daß das Wort »Scheidung« für die Kinder seinen Schrecken verloren hatte.
Natürlich gab es immer wieder Momente, in denen sich Silvia entsetzlich einsam fühlte und die Nähe Roberts vermißte. Doch dann dachte sie an die vielen durchweinten Nächte, wenn sie vergeblich auf die Rückkehr ihres Mannes gewartet hatte – und schon ging es ihr wieder besser.
Mittlerweile wußte jeder in der Nachbarschaft und in der Schule von der Trennung der Kirsteins, doch zu Silvias Erstaunen wurde diese Tatsache eher gelassen aufgenommen. Nun, sie selbst wußte als Anwältin am besten, daß es inzwischen an der Tagesordnung war zu heiraten, um sich ein paar Jahre später wieder zu trennen.
Die Einladungen von gemeinsamen Bekannten blieben aus, doch das störte Silvia wenig. Ihr war sowieso nicht nach fröhlichen Parties zumute.
In dieser Zeit spürte Silvia, daß ihr eine gute Freundin fehlte, der sie all ihren Kummer anvertrauen konnte. Die Anwältin Sonja Koch, die Silvia wegen der Scheidung aufsuchte, machte einen vertrauenerweckenden Eindruck.
»Wie es aussieht, Frau Kollegin«, sagte sie bei Silvias erstem Besuch, »wird es keine Schwierigkeiten geben – weder wegen des Sorgerechts noch des gemeinsamen Hauses. Nach dem Trennungsjahr kann die Scheidung vollzogen werden, sofern sich Ihr Ehemann nicht doch noch querstellt.«
»Das glaube ich nicht«, gab Silvia nachdenklich zurück. »Ich hatte vielmehr den Eindruck, daß er alles dafür tun würde, um die Scheidung schnell und reibungslos hinter sich zu bringen.«
»Hm, kümmert er sich denn um die Kinder?«
»Ja, er telefoniert regelmäßig mit ihnen und holt sie am Wochenende zu sich.«
»Also ein sogenannter Bilderbuchvater.«
»Als Vater war er immer einmalig, auch wenn er nicht sehr viel Zeit hatte – seine Eigenschaften dagegen waren eher zweifelhaft.«
»Kopf hoch, Frau Kirstein.« Sonja Koch blickte Silvia aufmunternd an. »Sie werden sich schnell an ihr neues Leben gewöhnt haben und können sich dann gar nicht mehr vorstellen, wie Sie so lange dieses ganze Theater ausgehalten haben.«
Silvia hatte der Anwältin von Roberts Seitensprüngen erzählt, obwohl diese nicht danach gefragt hatte. Aber bei irgend jemandem mußte man sich ja mal aussprechen. Silvias Eltern lebten schon lange nicht mehr, und die Bekannten, die sie hatte, waren auch alle mit Robert befreundet.
Sie erhob sich. »Ich denke, es ist jetzt alles geklärt.«
Sonja Koch nickte. »Ja, ich werde dem Anwalt Ihres Mannes mitteilen, daß nun alles seinen Gang geht.«
»Schön, dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Sicherlich ist auch bei Ihnen Hochkonjunktur.«
»O ja, über Klientenmangel kann ich wirklich nicht klagen. In Ihrer Kanzlei ist es bestimmt nicht anders.«
»Nein, zum Glück. Jetzt, wo ich für meine Kinder allein sorge, kann ich jeden Pfennig gebrauchen.«
»Sie schaffen es schon, da bin ich sicher.« Sonja Koch gab Silvia zum Abschied die Hand. »Ich rufe Sie an, wenn ich vom Anwalt Ihres Mannes etwas höre. Und frohe Weihnachten.«
»Ebenfalls.«
Als Silvia wieder in ihrem Auto saß, dachte sie an das bevorstehende Weihnachtsfest – das erste Mal würde Robert fehlen. Auch wenn Silvia langsam ihren Kummer verarbeiten konnte, war ihr nicht wohl bei dem Gedanken, daß die Kinder ihren Vater am Weihnachtstag sehr vermissen würden.
*
»Glaubst du, daß Mama die Topflappen gefallen werden?« fragte Jana ihren Bruder und hielt eines der etwas unförmigen Häkelteile hoch. Gerade erst hatte sie in der Schule häkeln gelernt und wollte die Mutter zu Weihnachten mit ihrem ersten eigenen Werk überraschen.
Alex sah skeptisch auf den Topflappen. »Sieht eher aus wie ein Putzlappen.«
»Du bist gemein, Alex!« rief Jana empört. »Dabei kannst du überhaupt nicht häkeln.«
»Du auch nicht«, gab Alex zurück und streckte seiner Schwester frech die Zunge heraus. »Ich habe für Mama ein Bild gemalt, das ist tausendmal schöner als deine Lappen.«
»Ich wette mit dir, daß Mama beide Geschenke gleich schön findet.«
»Wann wollen wir eigentlich in die Stadt, um noch ein kleines Geschenk für sie zu kaufen?«
»Wenn wir genügend Taschengeld gespart haben«, gab Jana zurück und widmete sich wieder ihrer Häkelarbeit.
»Ich habe schon zehn Mark gespart«, sagte Alex stolz. »Wieviel Geld hast du?«
»Hm, mit den fünf Mark von Papa sind es siebzehn Mark.« Sie rechnete mit gerunzelter Stirn noch einmal nach.
»Dann haben wir siebenundzwanzig Mark!« rief Alex, der für sein Alter schon sehr gut rechnen konnte.
»Genau, aber davon müssen wir für Papa auch noch etwas kaufen.«
Alex dachte laut nach: »Wie wäre es mit Rasierwasser?«
»Gute Idee. Und für Mama kaufen wir ein Parfüm.«
»Ob uns Papa Heilig Abend besucht?« Alex blickte abwartend zu Jana hinüber, die mit überkreuzten Beinen auf ihrem Bett saß. »Dann könnten wir ihm gleich unser Geschenk geben.«
Jana erwiderte nach ein paar Sekunden: »Ich weiß nicht, vielleicht kommt er an einem der Weihnachtstage und holt uns in seine neue Wohnung.«
»Papas neue Wohnung ist spitze!« gab Alex begeistert zurück. Dabei faszinierte ihn am meisten der gläserne Lift an der Außenseite des supermodernen Wohnhauses.
Jana antwortete nicht. Sie fragte sich wieder einmal, ob sie sich nur einbildete, daß ihr Vater sich eindeutig mehr mit Alex beschäftigte als mit ihr, wenn sie mit ihm zusammen waren. Früher, als er noch bei seiner Frau lebte, war Jana nie aufgefallen, daß der kleine Bruder vorgezogen wurde. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein?
»Wollen wir nicht noch heute in die Stadt fahren?« drängte Alex, den es offensichtlich langweilte, seiner Schwester dabei zuzusehen, wie sie mit Haken und Wolle eine Schlaufe nach der anderen zog. »Deinen komischen Lappen kannst du doch immer noch weiternähen.«
»Häkeln«, verbesserte Jana und legte ihr Handarbeitszeug endlich zur Seite. »Meinetwegen fahren wir heute, du Nervensäge. Ich muß nur noch mein Häkelzeug verstecken, damit Mama es nicht findet.«
»Und dann müssen wir noch einen Zettel schreiben, daß wir in der Stadt sind. Damit sich Mama keine Sorgen macht, wenn sie früher als wir zu Hause ist.«
»Stimmt, aber besser ist es, wenn wir sie im Büro anrufen.« Jana sprang von ihrem Bett. »Ich erledige das, während du deinen dicken Pullover anziehst.«
»Ich habe doch schon einen an«, sagte Alex.
»Ja, aber draußen ist es bitterkalt. Also zieh deinen Norwegerpullover über.«
»Immer mußt du über mich bestimmen«, maulte Alex, verzog sich aber trotzdem in sein Zimmer, um sich umzuziehen.
Jana rief in der Kanzlei an und sagte Frau Böttcher, daß sie und ihr Bruder in die Stadt fahren wollten, um Weihnachtsgeschenke zu besorgen.
»Na, dann viel Spaß, ihr beiden«, sagte Verena Böttcher freundlich. »Ich richte es eurer Mutter aus.«
Als die Kinder aus dem Haus gingen, wurde es schon fast dunkel. Zum Glück war die Bushaltestelle nicht weit entfernt, und es gab ein Häuschen, in dem man sich vor dem eiskalten Wind schützen konnte.
Alex zitterte schon nach kurzem vor Kälte, und Jana sagte fast schadenfroh: »Und du wolltest noch nicht einmal deinen dicken Pullover anziehen.«
»Hast ja recht.« Alex trat von einem Fuß auf den anderen. »Sieh mal, da kommt der Bus!«
Die Geschäfte der Innenstadt waren festlich geschmückt, und es wimmelte nur so von Menschen. Jana hatte Mühe, Alex nicht in der Menge zu verlieren, denn der blieb an jeder Auslage mit glänzenden Augen stehen, selbst wenn es sich um Geschirr oder Bohrmaschinen handelte.
»Jetzt komm endlich!« mahnte Jana und zog ihren Bruder ungeduldig am Jackenärmel. »Wenn wir die Geschenke gekauft haben, können wir noch ein bißchen bummeln.«
»Au ja! Ich habe gehört, daß es ein neues Computerspiel gibt, das möchte ich gern mal in der Spielwarenabteilung ausprobieren.«
Jana stöhnte und verdrehte die Augen. »Also gut, aber zuerst gehen wir in die Parfümabteilung.«
Schnell hatten die Kinder das Passende für die Eltern gefunden, und Alex durfte endlich in die heißgeliebte Spielwarenabteilung. Sie atmete erleichtert auf, als der Kleine nach einer Weile meinte: »So, jetzt können wir nach Hause fahren.«
Sie drängten sich durch die Menschenmassen zum Ausgang des Kaufhauses. Auf dem Gehweg schrie Alex plötzlich: »Sieh mal, da hinten ist Papi.«
»Wo?«
»Na, da auf der anderen Straßenseite.«
Nun sah ihn auch Jana. Robert stand vor dem Schaufenster eines eleganten Juweliergeschäftes. Alex wollte gerade die Straße überqueren, als Jana ihn zurückhielt.
»Spinnst du? Siehst du nicht die Autos? Um ein Haar wärst du überfahren worden. Warte jetzt, bis kein Auto kommt.«
Alex sah zur anderen Straßenseite hinüber. »Wo ist Papa denn jetzt hin?«
Auch Jana sah sich suchend um. »Vielleicht ist er in den Laden da gegangen?«
»Na gut, dann sehen wir mal nach. Komm, jetzt ist die Straße frei.«
Tatsächlich stand Robert in dem Geschäft und ließ sich von der Verkäuferin ein paar Brillantringe zeigen. Die Kinder drückten sich an der Schaufensterscheibe die Nasen platt, um nichts zu versäumen.
»Für wen will Papa denn einen Ring kaufen?« fragte Alex verständnislos.
»Woher soll ich das wissen?« gab Jana ärgerlich zurück.
Plötzlich erhellte sich Alex’ Gesicht. »Vielleicht für Mama. Dann versöhnen sie sich wieder und lassen sich nicht scheiden.«
Jana blickte nachdenklich durch das Schaufenster. »Meinst du? Das wäre natürlich super.«
Inzwischen hatte sich Robert für einen der kostbar glitzernden Ringe entschieden und ließ ihn sich in Geschenkpapier einpacken.
»Auf alle Fälle ist der Ring ein Geschenk«, sagte Alex leise.
»Natürlich, du Blödi. Dachtest du etwa, Papa kauft für sich selber so einen Ring?«
»Ich bin kein Blödi«, maulte Alex, »und ich weiß selber, daß das ein Frauenring ist, den Papa gekauft hat.«
»Achtung, er kommt! Laß uns um die Ecke rumgehen, damit er uns nicht sieht.«
»Aber warum soll er uns denn nicht sehen? Wir wollten ihm doch guten Tag sagen.«
»Wir werden ihm hinterhergehen und so tun, als wenn wir ihn erst dann gesehen haben. Sonst denkt er noch, daß wir ihm nachspionieren.«
»Ach so.« Willenlos ließ sich Alex in den nächsten Hauseingang zerren.
Robert hatte das Geschäft verlassen und sah sehr zufrieden aus. Er schlug den Mantelkragen hoch und ging schnellen Schrittes in die entgegengesetzte Richtung. Mit einem größeren Abstand folgten die Kinder ihm zögernd.
»Trödele nicht so, Alex«, ermahnte Jana den kleinen Bruder, »sonst verlieren wir Papa noch aus den Augen.«
Plötzlich blieb sie abrupt stehen und hielt auch Alex an. Mittlerweile hatten sie den großen Parkplatz erreicht, und Robert steuerte auf seinen Wagen zu. Vor der Limousine stand eine hübsche platinblonde Frau, die augenscheinlich auf ihn gewartet hatte. Robert nahm die Frau in die Arme und küßte sie.
Die Kinder sahen fassungslos mit offenen Mündern dem Schauspiel zu. Schnell stieg das Paar in den Wagen, der wenig später davonbrauste.
»Der Ring ist nicht für Mama«, sagte Alex nach ein paar Schrecksekunden. »Papa hat eine andere Frau.«
Der Kleine sah so traurig aus, daß ihm Jana tröstend über die Schulter strich. »Mach dir nichts draus.«
»Mach ich aber doch!« rief Alex und streifte wütend Janas Arm von sich. »Deshalb ist Papa ausgezogen. Wegen der da…«
»Das weißt du doch gar nicht«, versuchte Jana zu beschwichtigen, dabei dachte sie an die vielen Abende, die der Vater nicht nach Hause gekommen war und an die Mutter, die dann am nächsten stets rotgeweinte Augen gehabt hatte.
»Ich gehe nie wieder zu Papa!« Alex wischte sich mit einer zornigen Handbewegung eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben.«
»Laß uns erst einmal von hier verschwinden, mir ist kalt. Wir können uns zu Hause darüber unterhalten.«
Silvia war noch nicht da, als die bedrückten Kinder wenig später das Haus betraten.
»Wir dürfen uns vor Mama nichts anmerken lassen«, sagte Jana und hängte die Jacke ihres Bruders auf den Garderobenhaken. »Sonst ist sie noch trauriger, als sie sowieso schon ist.«
»Glaubst du, daß Papa diese Frau heiraten will?«
Jana zuckte ratlos die Schultern. »Keine Ahnung, schon möglich.«
»Wenn die bei Papa einzieht, sieht er mich nie wieder«, vertrat Alex weiterhin hartnäckig seinen Standpunkt.
»Pst, ich habe gerade Mamas Auto gehört. Also, benimm dich jetzt gefälligst.«
»Na, meine Süßen, ihr seid ja auch wieder da. Frau Böttcher hat mir ausgerichtet, daß ihr Weihnachtsgeschenke gekauft habt.«
»Ja, haben wir«, erwiderten beide wie aus einem Munde.
Erstaunt drehte sich Silvia um. »Was ist denn in euch gefahren? Ihr seht so bedrückt aus.«
»Äh, wir haben nur kalte Füße«, sagte Jana hastig. »Komm, Alex, wir bringen die Geschenke nach oben.«
Zögernd folgte er seiner Schwester, und Silvia sah ihren Kindern besorgt nach. Irgend etwas stimmte da nicht. Sie nahm sich vor, Jana noch am selben Abend auszufragen.
Auch während des Abendessens herrschte eine bedrückte Stimmung, die sich Silvia nicht erklären konnte. Es mußte etwas vorgefallen sein, das die Kinder verstört hatte.
»Fängt nicht gleich deine Lieblingsserie an, Alex?« fragte Silvia nach dem Essen. »Meinetwegen kannst du aufstehen und sie dir ansehen.«
Nur langsam erhob sich Alex und ging mit gesenktem Kopf aus der Küche. Als Jana ihm folgen wollte, hielt Silvia sie zurück.
»Hiergeblieben, junges Fräulein«, sagte sie in bestimmtem Ton. »Ich will jetzt von dir wissen, weshalb hier so eine miese Stimmung herrscht.«
Jana setzte sich wieder und starrte angestrengt auf das karierte Tischtuch. »Wir haben Papa gesehen.«
»Ach, wo denn?«
»In der Stadt.« Dann berichtete Jana zögernd von ihrer Entdeckung.
Silvia ließ sich nicht anmerken, daß sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog.
Bisher waren Roberts Freundinnen nur gesichtslose Gestalten gewesen; doch nach Janas Schilderung hatte sie nun eine sehr genaue Vorstellung von dem Typ Frau, die Robert so anziehend fand.
Sie legte den Arm um Janas Schulter. »Sei nicht traurig, Schatz. Papa wird sicherlich nicht den Rest seines Lebens allein verbringen wollen; ich habe schließlich euch beide, aber Papa ist ohne uns bestimmt sehr einsam.«
»Dann hätte er eben nicht ausziehen müssen!« rief Jana so heftig, daß Silvia erschrak. So aufgebracht kannte sie ihre Tochter gar nicht.
»Das verstehst du noch nicht«, erwiderte sie schließlich lahm.
»Doch, das verstehe ich. Deshalb hast du immer geweint, und ihr habt gestritten.«
»Aber nein. Es ging um… ganz andere Dinge.« Silvia wußte, wie albern sich diese Erklärung anhörte, doch sie wollte auf jeden Fall verhindern, daß die Kinder nichts mehr mit ihrem Vater zu tun haben wollten.
»Das glaube ich nicht, Mama.« Janas Augen glänzten vor Tränen. »Papa ist an allem schuld.«
»So etwas darfst du nicht sagen, Kind.« Verzweifelt suchte Silvia nach den richtigen Worten. »Weißt du, wenn eine Ehe nicht mehr funktioniert, haben beide Partner schuld. Wenn du größer bist, wirst du das sicher begreifen.«
»Mama, Alex und ich hatten so gehofft, daß Papa eines Tages zurückkommt und wir wieder alle zusammen sind – aber jetzt wollen wir das nicht mehr.«
»Ist schon in Ordnung.« Silvia hatte den Kindern bewußt verschwiegen, daß Robert die Scheidung eingereicht hatte. Vielleicht hätte sie ihnen von Anfang an sagen sollen, daß es kein Zurück mehr geben würde. Dann wäre die Enttäuschung nicht so groß gewesen.
»Ihr dürft eurem Vater nicht böse sein, hörst du? Genauso hätte es passieren können, daß ich zuerst einen neuen Mann kennengelernt hätte.«
»Bitte, tu uns das nicht an!« flehte Jana.
»Natürlich nicht. Ich bin ganz zufrieden damit, nur mit euch beiden zusammenzusein. So, und jetzt lauf zu Alex und versuche ihm zu erklären, was ich dir gesagt habe. Ich glaube, auf dich hört er eher, als wenn ich mit ihm rede.«
Als die Kinder an diesem Abend im Bett waren, dachte Silvia noch einmal in aller Ruhe über das nach, was Jana gesagt hatte. Die Kinder waren wütend auf Robert und machten nun ihn für die Trennung verantwortlich.
Sie hatten ja recht mit ihrer Behauptung – doch genau das hatte Silvia verhindern wollen. Es war schlimm gewesen, daß Jana und Alex anfangs ihr die Schuld am Scheitern der Ehe gegeben hatten. Nun, wo sie mit eigenen Augen gesehen hatten, daß ihr Vater beileibe kein Engel war, mußte sich Silvia eingestehen, daß ihr dies ganz und gar nicht gefiel.
Es tat immer noch weh, wenn sie an Robert dachte, auch wenn sie in den letzten Tagen diese Gedanken immer wieder verdrängt hatte. Sie hatte geglaubt, bald darüber hinwegzukommen; die Entdeckung der Kinder hatte die gerade heilende Wunde wieder aufgerissen.
*
Es war einen Tag vor Heiligabend. Die Kinder waren bei Nachbarskindern, und Silvia machte sich an die letzten Vorbereitungen für das Fest. Auch für sie war es der letzte Arbeitstag des alten Jahres gewesen; auf Verena Böttchers Drängen hatte Silvia die Kanzlei kurzerhand bis ins neue Jahr geschlossen.
Die Sekretärin wollte verreisen und führte an, daß es sich gar nicht lohnen würde, die Kanzlei zwischen den Jahren zu öffnen. Außerdem hätte die Chefin mal ausgiebig Zeit für ihre Kinder.
Nur allzu gern hatte sich Silvia überzeugen lassen, und nun freute sie sich auf die freie Zeit.
Ansonsten hatte sie es immer eilig, die Küchenarbeit zu erledigen, aber nun machte es ihr direkt Spaß, den traditionellen Heringssalat vorzubereiten. Jede Menge Plätzchen hatte sie mit den Kindern schon am vergangenen Wochenende gebacken, und der Mandelkuchen im Backofen duftete verführerisch.
Als das Telefon klingelte, unterbrach Silvia nur ungern ihre Tätigkeit. Sie wusch sich schließlich die Hände und nahm ab.
»Hallo, ich bin’s!«
»Hallo, Robert. Was gibt es?« fragte Silvia kühl und stellte erleichtert fest, daß ihr Herz nicht mehr so schnell klopfte, wenn sie seine Stimme vernahm.
»Was hast du mit den Kindern gemacht?«
»Ich verstehe nicht…«
»Du brauchst gar nicht zu leugnen, Silvia. Als sie am vergangenen Sonntag bei mir waren, fand ich sie sehr zurückhaltend. Hast du ihnen Lügen über mich erzählt?« Roberts Stimme klang wütend.
Silvia lachte auf. »Warum hast du sie nicht gefragt?«
»Habe ich ja, doch sie waren richtig verstockt.«
»Möglicherweise liegt es daran, daß sie dich mit einer deiner Flammen gesehen haben.«
»Blödsinn!«
»So, meinst du? Mir haben sie jedenfalls genau geschildert, daß sie dich mit deiner neuen Freundin in der Stadt gesehen haben. Ich mußte Alex regelrecht überreden, mit dir zu gehen. Es tut mir leid, Robert, aber ich habe mein Bestes getan, damit du nicht wie ein Bösewicht dastehst. Aber die Kinder sind nicht dumm und können eins und eins zusammenzählen.«
Einen Moment blieb es still in der Leitung, es schien, als würde Robert ernsthaft über Silvias Worte nachdenken. Unvermittelt fragte er plötzlich: »Was macht ihr morgen abend?«
»Wir werden schön essen und dann unter dem Weihnachtsbaum unsere Geschenke auspacken – wie jedes Jahr.«
»Vielleicht ist es eine gute Idee, wenn ich dabei bin?«
Silvia erschrak. Nein, sie wollte nicht, daß Robert wieder Unruhe stiftete.
»Ich halte das für keine gute Idee. Es reicht, wenn du die Kinder an einem der Feiertage zu dir holst. Und jetzt entschuldige mich bitte, mein Kuchen ist gleich fertig.« Ohne ein weiteres Wort legte Silvia auf.
Kopfschüttelnd blieb sie noch ein paar Sekunden neben dem Telefon stehen. Was hatte das denn eben zu bedeuten? Entweder hatte Roberts Freundin etwas anderes vor, oder er wollte den Kindern beweisen, welch guter Vater er war.
Ansonsten hätte Silvia nichts dagegen einzuwenden gehabt, daß Robert den Heiligen Abend mit seiner Familie verbrachte – doch Jana und Alex waren momentan nicht besonders gut auf ihren Vater zu sprechen.
Nachdenklich ging Silvia in die Küche zurück. Der Mandelkuchen war tatsächlich fertig und duftete herrlich. Zum Abkühlen stellte ihn Silvia auf den Eßtisch im Wohnzimmer.
Sie lächelte. Ab morgen würde man nicht mehr so leichtsinnig Eßwaren offen stehenlassen können, denn Silvia wollte den Kindern einen langersehnten Wunsch erfüllen: Pünktlich zur Bescherung würde es klingeln und von einem Mitarbeiter der Tierhandlung ein junger Bernhardiner gebracht werden.
Robert hatte nie Tiere im Haus geduldet, er hatte immer behauptet, daß sie nur Schmutz und Lärm machten. Nun brauchte niemand mehr auf den ehemaligen Hausherrn Rücksicht nehmen – und zum ersten Mal seit der Trennung fühlte sich Silvia wohl in ihrer Haut.
Die Kinder würden Augen machen, wenn sie den Hund sahen; von dem Angebot Roberts sollten sie jedoch nichts erfahren, entschied Silvia.
Es war noch etwas Zeit, bis die Kinder vom Basteln bei den Nachbarskindern zurückkommen würden, und Silvia ging in ihr Schlafzimmer, wo sie die Geschenke versteckt hatte. Es hatte einen Riesenspaß gemacht, die Geschäfte nach den Sachen zu durchstöbern, von denen sie glaubte, daß sie die Kinder glücklich machen würden. Bisher hatte Robert immer entschieden, was die Kinder zu Weihnachten und den Geburtstagen bekamen – das war ihr eigentlich nie aufgefallen!
»Mami, wo steckst du?« Das war eindeutig Alex’ helles Stimmchen.
»Ich bin hier oben!« Silvia verschloß die Schlafzimmertür und ging hinunter, wo sich die Kinder gerade von ihren dicken Jacken und Stiefeln befreiten.
»Hattet ihr einen schönen Nachmittag?« fragte sie und strich Alex eine vorwitzige Strähne aus der Stirn.
»Hm, wir haben eine Krippe aus Ton und einen Weihnachtsstern für den Baum gebastelt«, erwiderte der Kleine stolz.
Die Mutter der Nachbarskinder Sascha und Tina war eine ehemalige Handarbeitslehrerin, die die schönsten Bastelvorschläge hatte und die die Kinder begeistert nacharbeiteten. Daß Frau Bunge Janas etwas schiefen Topflappen geschickt korrigiert hatte, brauchte Silvia ja nicht unbedingt zu erfahren.
»Wie wäre es mit einer Kostprobe frisch gebackenen Mandelkuchens?« fragte Silvia schließlich.
Bei dem anschließenden Jubelschrei hielt sie sich lachend die Ohren zu.
*
Das Weihnachtsfest verlief so harmonisch, wie Silvia gehofft hatte. Robert rief gegen Abend an, um den Kindern zu sagen, daß er am nächsten Tag mit ihnen ein Weihnachtsmärchen im Theater besuchen und natürlich seine Geschenke abliefern wollte.
Silvia wußte nicht, ob er damit rechnete, daß die Kinder ihn bitten würden, schon am Heiligen Abend zu kommen. Sie taten es nicht, worüber Silvia sehr erleichtert war.
Während Jana nicht mehr ganz so distanziert mit Robert sprach, wechselte Alex nur wenige Worte mit ihm. Vermissen schienen ihn alle beide jedenfalls nicht besonders.
Die Augen der Kinder wurden immer größer, als der junge Bernhardinerrüde pünktlich gebracht wurde. Auf tapsigen Pfoten kam der Hund schwanzwedelnd sofort auf die beiden Kinder zu, die ihr Glück gar nicht fassen konnten.
Bewegt sah Silvia zu, wie das Hundebaby jaulend abwechselnd an seinem neuen Herrchen und Frauchen hochsprang. Jana faßte sich als erstes: »Mami, ist das jetzt unser Hund?«
Silvia nickte mit Tränen der Rührung in den Augen. Es war schon lange her, daß die Kinder so glücklich um die Wette gestrahlt hatten.
»Ja, das ist jetzt euer Hund. Er heißt übrigens Tobias von Waldhof.«
»Wie?« fragte Alex staunend.
»Nun, euer Hund hat einen hervorragenden Stammbaum, daher der lange Name. Aber ich glaube, er wird auch auf euch hören, wenn ihr ihn Tobi nennt.«
Als ob er seinen Namen bereits verstünde, lief Tobi zu Silvia und sprang auch sie an.
»Du bist aber ein ganz Lieber«, lobte Silvia und tätschelte den weichen Hundekopf.
»Tobi«, lockte Alex, »komm mal her. Ich bin jetzt dein Herrchen und das ist dein Frauchen. Und unsere Mama ist deine Oma.«
»Wie bitte?« Lachend stemmte Silvia die Fäuste in die Hüften. »Das mit der Oma vergessen wir aber ganz schnell wieder!«
Kichernd nahmen die Kinder den Hund in ihre Mitte und gingen mit ihm ins Wohnzimmer, wo unter dem festlich geschmückten Weihnachtsbaum noch jede Menge liebevoll verpackter Geschenke lagen.
*
Am Mittag des letzten Tages im Jahr rief Gudrun Schäfer an. Sie und ihr Mann Horst betrieben ebenfalls ein gut florierendes Immobilien-Büro. Es war übrigens das erste Mal, daß sich jemand aus dem Bekanntenkreis bei Silvia meldete.
»Wie geht es dir?« fragte Gudrun in ihrer lockeren Art. »Die Feiertage gut überstanden?«
»Ja, danke«, gab Silvia leicht verwundert zurück. »Was verschafft mir die Ehre deines Anrufes?«
»Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob du Lust hast, heute abend unser Gast zu sein. Wir wollen nicht großartig feiern, nur eine kleine Runde wird anwesend sein. Du weißt doch, wie nett unsere kleinen Parties immer sind.«
O ja, daran konnte sich Silvia noch gut erinnern. Eine Menge Geschäftsleute, deren einzige Themen Grundstückspreise und Aktienkurse waren, während die Ehefrauen mehr oder weniger gelangweilt die neueste Mode- und Frisurentrends durchhechelten. Diese sogenannten Parties waren Silvia schon früher verhaßt – trotzdem fand sie es von Gudrun nett, daß sie an sie gedacht hatte.
»Tut mir leid«, sagte Silvia, »aber ich bekomme so schnell keine Betreuung mehr für meine Kinder – und außerdem habe ich ihnen versprochen, um Mitternacht ein Feuerwerk im Garten zu machen, falls sie bis dahin noch wach sind.«
»Ach, das ist aber schade, daß du nicht kommen kannst. Nun ja, wahrscheinlich kam meine Einladung etwas kurzfristig. Übrigens kommt Robert mit seiner Manuela nicht, falls dir das Sorgen macht.«
»Manuela?«
»Ja, äh… seine Freundin – wegen ihr habt ihr euch doch getrennt, oder?«
»Kennst du sie etwa?«
»Wir haben die beiden in den letzten eineinhalb Jahren häufiger getroffen«, erklärte Gudrun.
Silvia glaubte, sich verhört zu haben. »Wie lange kennen sich Robert und diese… Manuela schon?«
Gudrun zögerte ein paar Sekunden. »Soviel ich weiß, haben sie sich kennengelernt, als du mit den Kindern zum Skifahren in Österreich warst – aber ich will nichts gesagt haben.«
Silvia schwirrten die Gedanken im Kopf herum. Der Winterurlaub war bereits vor zwei Jahren gewesen.
Robert hatte nicht mitkommen können wegen eines wichtigen Projektes; daher war Silvia kurzerhand mit Jana und Alex allein gefahren.
»Silvia, bist du noch dran?« fragte Gudrun mit unsicherer Stimme.
Ohne darauf zu reagieren, fragte Silvia zurück: »Und Robert hat die ganzen Jahre über ein Verhältnis mit dieser Frau gehabt?«
»Ich dachte, du wußtest davon.«
»Ich wußte, daß er nicht treu sein kann – aber daß er ein festes Verhältnis hat, davon höre ich heute zum ersten Mal.«
»Oh, wenn ich das gewußt hätte…«
»Schon gut, Gudrun. Im Grunde genommen ist es jetzt auch egal. Wir haben uns getrennt und werden nächstes Jahr im Herbst geschieden. Ich wünsche dir und Horst einen guten Rutsch ins Neue Jahr und viel Spaß heute abend.«
Wie benommen setzte sich Silvia auf den nächsten Stuhl. Wahrscheinlich hatten alle Bekannten von Roberts Zweitfrau gewußt – und niemand hatte es für nötig gehalten, die ahnungslose Ehefrau darüber aufzuklären.
Jana und Alex waren mit Tobi unterwegs; es wurde bereits dunkel, doch Silvia bemerkte es nicht. Das Gespräch mit Gudrun hatte ihr zumindest die Augen über Roberts Heuchelei geöffnet. Hatte er doch immer behauptet, ein Abenteuer zwischendurch hätte nichts mit der Ehefrau zu tun und wäre schon am nächsten Tag wieder vergessen gewesen.
Kein Wunder, daß es Robert so eilig hatte, auszuziehen – die andere hatte ihn bereits sehnsüchtig erwartet! Robert war sogar zu feige gewesen, von dieser Manuela zu erzählen, nachdem die Trennung schon feststand.
Die Kinder durften unter keinen Umständen erfahren, daß ihr Vater schon lange nebenher eine andere Frau hatte; sie würden ihn noch mehr verachten, als sie es jetzt schon taten.
Plötzlich erklang ein tiefes Bellen von draußen. Silvia erhob sich, um die Tür zu öffnen und dann einen fröhlichen Silvesterabend mit Jana und Alex zu verbringen. Das Thema Robert war für Silvia mit diesem letzten Tag des alten Jahres endgültig erledigt.
*
Als nach einem langen, kalten Winter der Frühling ins Land zog, hatte sich Silvia längst an das Alleinsein gewöhnt; auch die Kinder hatten überwunden, den Vater nur noch sporadisch zu sehen. Tobi war längst kein tolpatschiges Hundebaby mehr, sondern zu einem Prachtexemplar seiner Rasse herangewachsen.
Mittlerweile hatte sich Silvia mit ihrer Scheidungsanwältin Sonja Koch angefreundet, nachdem sie sich bei einer Ausstellung zufällig begegnet waren. Sonja lebte nach einer längeren Beziehung allein und war zufrieden mit ihrem Leben.
Hin und wieder, wenn Silvia eine Betreuung für die Kinder fand, gingen die beiden Frauen gemeinsam aus; mal ins Kino, mal in ein Tanzlokal. Silvia lebte in der Gesellschaft ihrer Berufskollegin förmlich auf und verstand überhaupt nicht, wieso sie der Beziehung mit Robert nachgetrauert hatte.
»Weißt du«, sagte Sonja, als sie und Silvia nach einem Einkaufsbummel am Samstag nachmittag in einem Café saßen, »ich glaube, Robert gehört zu der Kategorie Männer, die nie mit der Frau zufrieden sind, mit der sie gerade leben.«
»Nun, mit dieser Manuela war er immerhin über zwei Jahre zusammen – und wir waren auch acht Jahre verheiratet.«
»Schon, aber er war dir nie treu – und ich schätze, daß er auch Manuela nicht treu war«, konterte Sonja und rührte ihren Mokka um. »Du kannst dich glücklich schätzen, daß du Robert losgeworden bist.«
Silvia schmunzelte. »Das bin ich auch – jetzt zumindest. Am Anfang war es sehr schwer. Auch zu sehen, wie die Kinder gelitten haben, war nicht einfach für mich.«
»Deine prächtigen Kinder haben Roberts Fortgang genauso überwunden wie du, da bin ich sicher. Hast du dir schon einmal Gedanken über eine neue Beziehung gemacht?«
»Nein, so weit bin ich noch nicht. Außerdem mußte ich Jana und Alex versprechen, daß wir drei allein bleiben.«
»So? Wann war denn das?«
»Kurz, nachdem die Kinder beim Weihnachtsbummel Robert mit seiner Freundin engumschlungen gesehen hatten. Sie waren danach sehr verstört und ich mußte ihnen versprechen, daß wir drei zusammenhalten.«
»Aber inzwischen ist doch ziemlich viel Zeit vergangen…«
Silvia hob grinsend den Zeigefinger. »Komm nicht auf die Idee, mich verkuppeln zu wollen, da spiele ich nämlich nicht mit. Ich fühle mich ganz wohl ohne Mann.«
Sonja hob abwehrend die Hände. »Nie im Leben würde ich dich verkuppeln wollen – apropos, im Mai findet ein Gartenfest bei einem befreundeten Staatsanwalt statt. Hast du nicht Lust, mit deinen Kindern zu kommen? Ihr könnt sogar Tobi mitbringen, denn Jörg hat einen riesigen Garten und selbst zwei Hunde.«
Skeptisch blickte Silvia zu der anderen hinüber. »Du hegst aber keine Hintergedanken bei dieser Einladung?«
»Was du immer von mir glaubst«, gab Sonja gespielt empört zurück. »Ich weiß doch überhaupt nicht, wer alles auf der Gästeliste steht!«
Daß eigentlich die Einführung eines neuen Richters am Amtsgericht gefeiert werden sollte, brauchte Silvia nicht unbedingt zu erfahren. Sonja kannte den Mann nicht, wußte aber, daß er ungebunden war und vom Alter her gut zu Silvia passen würde.
*
»Ich würde dich gern mit den Kindern am Sonntag zum Essen einladen«, sagte Robert ein paar Tage später am Telefon. »Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht.«
»Das ist ja auch schon lange nicht mehr notwendig«, entgegnete Silvia kühl.
»Nun sei doch nicht so ironisch, ich weiß ja mittlerweile, daß ich jede Menge Mist verzapft habe.«
»Das kann man wohl sagen.«
»Also, soll ich euch am Sonntagmittag abholen? Ich kenne da ein piekfeines Restaurant, in dem man…«
»Robert, hast du noch immer nicht begriffen, daß sich Kinder in einem Nobelrestaurant nicht wohl fühlen? Sie sind schließlich keine kleinen Erwachsenen.«
»Willst du mit ihnen lieber Hamburger und Pommes essen?« fragte er leicht gereizt.
»Nicht unbedingt, aber es gibt jede Menge nette Lokale, in denen es kindgerechte Menüs gibt und Hunde gern gesehen werden.«
»Ihr wollt doch nicht etwa euer Riesenbaby mitnehmen?«
»Und ob! Tobi kommt immer mit uns, wenn wir essen gehen. Und du kannst mir glauben, daß er sich immer anständig benimmt.«
»Davon bin ich überzeugt«, murmelte er verärgert. »Dann schlage ein Lokal vor.«
»Im Gasthaus Klabautermann kann man sehr gut essen.«
Robert seufzte ergeben. »In Ordnung. Ich hole euch um die Mittagszeit ab.«
»Nicht nötig, ich fahre selbst. Wir können uns in dem Lokal treffen.«
Stirnrunzelnd legte Silvia den Hörer auf. Sie hatte eine dunkle Vorahnung, was Robert mit der Einladung zum Essen bezwecken wollte. Er fühlte sich einsam und wollte sich erneut bei seiner zukünftig geschiedenen Ehefrau einschmeicheln!
*
Schon nach einer halben Stunde im Klabautermann fand sich Silvia in ihrer Vermutung bestätigt. Robert machte Komplimente über ihr Aussehen, wie er es seit Jahren nicht getan hatte.
Jana und Alex warfen sich immer wieder verstohlene Blicke zu; sie wußten nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollten. Robert war zu ihnen immer freundlich gewesen, doch sie wußten, daß er oft mit der Mutter tagelang kein Wort gesprochen hatte, als er noch bei ihnen im Haus wohnte.
Noch vor ein paar Monaten hätte sich Silvia sehr über diese Komplimente gefreut – ob sie nun ernst oder nicht ernst gemeint waren. Doch nun empfand sie es nur als peinlich.
»Das Kostüm, das du trägst, steht dir übrigens ausgezeichnet«, sagte Robert beim Dessert.
Silvia räusperte sich. »Jana, wollt ihr nicht ein wenig mit Tobi vor die Tür gehen, wenn ihr aufgegessen habt? Ich denke, er langweilt sich hier ein bißchen.«
»Gut, Mami. Wir können einen kleinen Spaziergang mit ihm machen.« Das Verhältnis zu Robert war noch immer etwas gespannt, doch hatten sich die Kinder mittlerweile daran gewöhnt, daß ihr Vater mit einer anderen Frau zusammenlebte.
Als die Kinder das Lokal verlassen hatten, fragte Silvia mit gedämpfter Stimme: »Robert, was soll das alles?«
Er tat verwundert. »Ich weiß gar nicht, was du meinst.«
»O doch, das weißt du sehr gut; sogar den Kindern ist dein plötzliches Interesse an mir aufgefallen.«
»Ich wollte doch nur nett sein – und außerdem siehst du wirklich viel anziehender aus als früher.«
»Kein Wunder, es geht mir jetzt ja auch blendend, weil ich mir wegen niemandem mehr die Augen aus dem Kopf heulen muß.«
»Übertreibe doch nicht schon wieder. So schlecht war ich gar nicht als Ehemann und Vater, oder?«
»Als Vater wohl nicht, aber unter einem guten Ehemann verstehe ich etwas anderes.«
»Kannst du mir meine harmlosen Abenteuerchen nicht endlich verzeihen? Wenn du willst, beginnen wir noch einmal von vorne und machen das Scheidungsverfahren rückgängig – schon der Kinder wegen.«
Silvia starrte den Mann, der sie so unglücklich gemacht hatte, entgeistert an. »Das ist jetzt ein Witz, nicht wahr?«
»Ganz und gar nicht, meine Schöne«, gab er selbstsicher zurück. »Wenn du willst, kannst du mich zurückhaben.«
Wütend beugte sich Silvia zu Robert hinüber, um nicht alle anderen Gäste auf sich aufmerksam zu machen. »Hast du dir eigentlich schon mal Gedanken darüber gemacht, daß ich dich vielleicht gar nicht zurückhaben will? Ich liebe dich nicht mehr, Robert, und ich weiß, daß du das alles nur sagst, weil deine Manuela dich verlassen hat.«
Robert wurde blaß. »Woher weißt du das?«
»Eine gemeinsame Bekannte hat es mir erzählt. Übrigens hatte die Beziehung zu Manuela nichts mit einem harmlosen Seitensprung zu tun. Du kanntest diese Frau bereits seit Jahren. Und nun, wo du dich einsam fühlst, sollen ich und die Kinder wieder herhalten? Nein, mein Lieber, wir alle haben uns an das ruhige Leben zu dritt gewöhnt, und ich habe nicht vor, dies zu ändern.«
Mit diesen Worten stand Silvia auf. »Die Rechnung übernimmst du wohl; schließlich hast du uns ja eingeladen.«
Dann verließ sie mit hocherhobenem Kopf das kleine Restaurant. Sie fühlte sich großartig, hatte Robert endlich ins Gesicht sagen können, daß sie von seinem Verhältnis wußte und sie für alle Zukunft für ihn unerreichbar sein würde.
Die Kinder kamen gerade aus dem Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite zurück.
Tobi bellte freudig mit seiner tiefen Hundestimme, als er Silvia erblickte.
»Bleibt drüben, wir fahren jetzt nach Hause!«
Jana und Alex sahen sich achselzuckend an und nickten dann.
»Müssen wir uns nicht noch von Papa verabschieden?« fragte Alex mit schlechtem Gewissen.
»Ach was.« Silvia kramte in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel. »Ich habe Papa noch einen Gruß von euch ausgerichtet. So, und nun rein mit euch.«
Auf der Heimfahrt warf Silvia einen verstohlenen Blick in den Rückspiegel. Die Kinder hatten den Bernhardiner zwischen sich sitzen und unterhielten sich angeregt über die verschiedensten Arten von Hundefellpflege. Weder Alex noch Jana sahen verstört oder traurig über dem plötzlichen Aufbruch aus, und Silvia wußte, daß sie das Richtige getan hatte.
*
»Hast du dich jetzt endlich entschlossen, zum Gartenfest zu kommen?« fragte Sonja ein paar Tage später. »Jörg freut sich bestimmt, wenn er dich mal privat erlebt.«
»Das glaube ich weniger«, erwiderte Silvia lachend. »Beim letzten Prozeß habe ich es ihm ganz schön schwer gemacht.«
»Ach, das Berufliche hat doch mit dem Privaten nichts zu tun. Was glaubst du, wie oft ich schon im Gerichtssaal mit ihm zusammengerasselt bin – und danach sind wir zusammen einen Kaffee trinken gegangen.«
»Also, wenn du meinst…«
»Gib dir endlich einen Stoß; ich bin sicher, auch Jana und Alex werden sich über die Abwechslung freuen.«
Noch immer zögerte Silvia. Auf diesem Gartenfest ging es bestimmt ziemlich familiär zu. Würde sie sich dort überhaupt wohl fühlen? Doch auf der anderen Seite war es sicherlich interessant, neue Leute kennenzulernen.
»Gut, wir werden kommen«, sagte sie schließlich. »Du mußt mir nur noch die Adresse durchgeben.«
»Kein Problem. Falls das Wetter nicht mitspielen sollte, wird das Fest ins Haus verlegt.«
»Aha.«
»Ich sage das nur, damit du nicht eine Ausrede findest, falls es regnen sollte.«
»Keine Bange, wir werden schon kommen.«
»Schön, um drei Uhr geht es los. Bring deine Kinder und Tobi und großen Hunger mit. Abends will Jörg ein Spanferkel grillen.«
»Hm, das klingt gut. Bis denn.«
Nachdem Silvia den Hörer aufgelegt hatte, sah sie zur Uhr. Der nächste Klient würde bald kommen, die Zeit, die bis dahin verblieb, konnte sie sich schon mal Gedanken darüber machen, was sie zu diesem Frühlingsfest anziehen konnte.
Ihr Blick glitt über den Schreibtisch. Das Foto vom letzten Urlaub, auf dem Robert zu sehen war, war längst verschwunden. Statt dessen hatte sie ein Bild aufgestellt, daß eine fröhliche Jana und einen fröhlichen Alex mit einem wuscheligen Bernhardinerbaby in ihrer Mitte zeigte.
Silvia erinnerte sich an den Morgen nach dem plötzlichen Auszug von Robert. Wie elend sie sich gefühlt hatte, wie schutzlos und empfindlich. Diese Zeit zählte schon lange zur Vergangenheit. Die Arbeit machte wieder Spaß, und Silvia freute sich jeden Abend, heim zu ihren Kindern zu fahren.
*
Der Sonntag, an dem das Gartenfest stattfinden sollte, begann mit herrlichem Sonnenschein und einer milden Wärme. Schon lange, bevor es losgehen sollte, waren alle drei fertig angezogen. Jana hatte ihr geblümtes Lieblingskleid gewählt, und Alex hatte sich für Jeans und T-Shirt, seinem Lieblings-Outfit, entschieden.
Silvia hatte länger als gewöhnlich vor dem Kleiderschrank gestanden, bis sie sich endgültig für das Chiffonkleid in Pastellfarben entschieden hatte. Das Kleid hatte einen langen, weiten Rock und schmale Träger. Dazu gehörte ein passender Bolero. Mutig griff Silvia zu einem weißen Sonnenhut, den sie vor Jahren bei einem Spanienurlaub gekauft hatte.
Skeptisch drehte sich Silvia in dem zimmerhohen Spiegel. Sah sie nicht zu romantisch aus? Sollte sie sich vielleicht doch lieber für Jeans und Bluse entscheiden?
Abrupt verließ Silvia schließlich das Schlafzimmer. Leger kleiden konnte sie sich, wenn sie mit den Kindern in den Zoo ging oder mit Tobi einen Spaziergang am See machte.
Die Kinder machten große Augen, als ihre Mutter schließlich die Treppe heruntergeschritten kam.
»Wow, du siehst aus wie eine Südstaaten-Schönheit«, sagte Jana andächtig mit vor Staunen geöffnetem Mund.
»Ja, wie Scarlett O’Hara«, fügte Alex verzückt hinzu.
Silvia lachte glücklich. »Jetzt hört aber auf mit euren Komplimenten, ihr macht mich ja ganz verlegen.«
»Können wir jetzt losfahren?« fragte Jana aufgeregt.
Silvia sah zur Uhr. »Ich fürchte, es macht keinen besonders guten Eindruck, wenn wir über eine Stunde zu früh dort erscheinen.«
»Wir können ja solange mit Tobi in den Wald gehen«, schlug Alex vor.
»Untersteht euch! Danach seht ihr in der Regel aus wie kleine Ferkel – oder wollt ihr euch nachher wieder umziehen?«
»Nein!«
Endlich war es Zeit zum Aufbrechen. Sonja hatte kurz zuvor noch einmal angerufen, um sich zu vergewissern, daß Silvia nicht doch noch kniff.
Beide Seiten der Straße, in dem der Staatsanwalt seine Villa hatte, waren mit parkenden Autos zugepflastert, und Silvia hatte Mühe, einen Parkplatz zu finden, der für ihren großen Wagen passend war und keine Ausfahrt versperrte.
»Wir sind bestimmt die letzten«, maulte Jana, als sie endlich aussteigen konnte. »Ich mag es nicht, zu spät zu kommen.«
»Nun hör auf zu meckern und freu dich, daß das Wetter so schön ist.« Silvia nahm ihren Hut von der Rückbank und setzte ihn auf. »Wo ist Tobi?«
Der war schon ein Stück vorgelaufen und beschnüffelte die unbekannten Gehwege.
»Nehmt ihn lieber an die Leine. Wir wissen ja nicht, wie er auf die anderen Hunde reagiert.«
»Unser Tobi tut doch keinem anderen Hund etwas«, protestierte Jana, leinte den Berhardiner jedoch sofort an.
Das Tor stand einladend weit offen, und hinter dem großen Haus waren Gelächter und laute Musik zu hören.
Als das Gespann mit Hund um die Ecke trat, kam ihm gleich Sonja entgegen.
»Schön, daß ihr da sein. Hallo, Jana und Alex, wollt ihr nicht zu den anderen Kindern dort drüben gehen? Ich habe gehört, da hinten gibt es Limonade und Kuchen in Mengen.«
Das ließen sich Silvias Kinder nicht zweimal sagen. Mit dem Hund an ihrer Seite liefen sie zum hinteren Teil des gepflegten Gartens, der mit bunten Girlanden und Luftballons geschmückt war.
Sonja nahm Silvias Arm. »Und wir beide gönnen uns jetzt ein schönes Glas Frühlingsbowle.«
»Frau Kirstein, wie schön, daß Sie kommen konnten!« Jörg Bürgers kam mit großen Schritten auf die beiden Frauen zu und reichte Silvia die Hand. »So gefallen Sie mir übrigens wesentlich besser, als wenn Sie mir im strengen Kostüm im Gerichtssaal gegenüberstehen und mir die Hölle heiß machen.«
Silvia lachte fröhlich. »Welch niederschmetterndes Urteil! Bin ich wirklich so schrecklich?«
»Nun, für Ihre Klienten ist es natürlich das beste, was ihnen passieren kann. Ach, da kommt meine Frau. Ich darf Sie bekannt machen?«
»Sehr erfreut.« Gabriele Bürgers war eine hübsche zierliche Person, die Silvia auf Anhieb mochte. »Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohl fühlen.«
»Ich fühle mich jetzt schon sehr wohl«, entgegnete Silvia herzlich. »Sie haben ein wunderschönes Haus.«
Inzwischen war Sonja mit zwei Gläsern Bowle zurückgekommen und reichte eines davon Silvia.
»Gabriele, ist denn unser Ehrengast schon eingetroffen?« fragte Jörg und sah sich um.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Er hat vorhin angerufen und sich für die Verspätung entschuldigt. Aber jetzt wird er bald hier sein.«
»Ein Ehrengast?« fragte Silvia mit unverhohlener Neugier. »Wer ist es denn?«
»Unser neuer Richter am Amtsgericht«, erwiderte der Staatsanwalt augenzwinkernd. »Er soll gleich wissen, mit wem er es in Zukunft zu tun haben wird.«
»Oje, da muß ich mich aber gut mit ihm stellen, damit ich einen Stein im Brett bei ihm habe!« rief Silvia übermütig.
Gabriele nickte lachend. »Dasselbe hat mein Mann auch schon gesagt. Oh, ich glaube, da kommt er schon.«
Erwartungsvoll drehte sich auch Silvia um – und erstarrte. Die Haare waren kürzer als früher und auch der Schnurrbart war verschwunden, aber bei dem neuen Richter handelte es sich eindeutig um Stefan Winter, Silvias Jugendliebe!
Jörg und Gabriele eilten auf den Neuankömmling zu, der etwas verloren dastand.
»Der sieht aber gut aus«, raunte Sonja der noch immer fassungslosen Silvia zu. »Könnte mir auch gefallen.«
»Wie bitte?«
»Ich sehe schon, er gefällt dir auch. Dann werde ich mal nachsehen, was Jana und Alex machen.« Mit diesen Worten drehte sich Sonja um und schlenderte in den hinteren Teil des Gartens. Am liebsten wäre ihr Silvia gefolgt, doch ihre Beine waren wie Blei und bewegten sich keinen Millimeter von der Stelle.
Inzwischen hatte auch Stefan die hübsche Frau in dem romantischen Kleid und dem riesigen Strohhut entdeckt. Ungläubig näherte er sich zögernd Silvia.
Als er sie erreicht hatte, fragte er leise: »Silvia? Bist du es wirklich?«
Sie konnte nur stumm nicken und nahm vor Verlegenheit einen viel zu großen Schluck von der Bowle, so daß sie sich um ein Haar verschluckt hätte. Sie räusperte sich und sagte schließlich: »Das ist eine große Überraschung, dich hier zu sehen.«
»Ja, mir geht es nicht anders. Wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen?«
»Nun, es ist viel passiert. Erzähle mir lieber, was dich in unsere Stadt zurückgetrieben hat.«
»Das ist schnell erklärt: Nach dem Abschluß meines Studiums wurde ich als Richter ans Berliner Amtsgericht berufen. Doch die Hektik dieser schnellebigen Großstadt ist nichts für mich. Als ich dann vor kurzem hörte, daß hier eine Stelle frei wird, habe ich mich sofort darum bemüht.«
Silvia nickte. »Ja, der alte Richter Mierschke geht in Pension.«
Stefan sah sich um. »Bist du allein hier?«
»Ja, das heißt natürlich nein. Meine Kinder sind auch hier irgendwo.«
»Du hast Kinder?« fragte er erstaunt, als hätte er damit nicht gerechnet.
»Ja, und Tobi ist auch hier«, fügte Silvia schnell hinzu.
»Aha, Tobi ist sicherlich dein Mann.«
»Nein, unser Hund – aber er wiegt soviel wie ein ausgewachsener Mann«, erklärte sie schmunzelnd. »Da hinten, der dicke Bernhardiner, das ist unser Tobi und die zerzausten Kinder, die ihm nachlaufen, sind Jana und Alex.«
Stefan blickte der munteren Truppe nach, bis sie hinter dem weißen Pavillon verschwunden war. »Deiner Tochter nach zu urteilen, mußt du sehr kurz nach unserer Trennung eine neue Liebe gefunden haben.«
Silvia warf ihm einen hastigen Blick zu. »Ja, weißt du… damals, als du fortgegangen warst, fühlte ich mich sehr einsam. Du hast kaum etwas von dir hören lassen, und als mir dann Robert über den Weg lief…«
»… hast du mich ganz schnell vergessen, nicht wahr?« fragte er mit traurigem Unterton.
»Nein, das habe ich nicht – obwohl ich es mir gewünscht hatte. Du warst für mich unerreichbar geworden. Als ich sehr schnell schwanger wurde, machte mir Robert einen Heiratsantrag, in den ich sofort einwilligte. Ich hatte endlich die Familie, die ich mir immer wünschte.« Silvia senkte den Kopf.
Inzwischen hatten sie sich an einen der Gartentische mit den bunten Tischdecken gesetzt. Verlegen drehte Silvia ihr Bowleglas zwischen den Händen.
»Und wo ist dein Robert heute?« fragte Stefan nach einer Weile.
Silvia holte tief Luft. »Wir leben seit Herbst letzten Jahres getrennt und haben die Scheidung eingereicht. Robert hat mich ständig betrogen, und irgendwann kam es zum endgültigen Bruch.« Silvia hielt ihren Hut mit beiden Händen fest. Es war ein leichter Wind aufgekommen, der ihr das kunstvolle Strohgebilde vom Kopf zu wehen drohte.
»Das tut mir sehr leid mit deiner mißglückten Ehe.« Stefan sah ehrlich mitfühlend zu der hübschen Frau. »Und jetzt lebst du mit deinen Kindern allein?«
Silvias Herz schlug heftiger. Stefan hatte also nach all den Jahren noch Interesse an ihr.
»Ja, es läßt sich auch ganz gut ohne Mann leben«, sagte sie leichthin.
»Das kann ich nicht beurteilen«, gab er schmunzelnd zurück. »Ich jedenfalls fühle mich ohne Frau ziemlich verloren. In ein paar Wochen wird Anke nachkommen.«
Silvias Lächeln erstarb auf ihren Lippen. »Anke?«
»Ja, wir sind seit vier Jahren verlobt. Wenn sie unsere Wohnung in Berlin aufgelöst hat, wird auch sie in diese Stadt kommen.«
»Oh«, war das einzige, was Silvia dazu einfiel. Sie mußte ziemlich naiv gewesen sein, anzunehmen, daß ein Mann wie Stefan Winter sein Leben ohne eine feste Partnerin verbrachte.
»Mami, Alex hat mich getreten!« Jana war herangetreten, ohne daß ihre Mutter es bemerkt hatte. Ihr helles Kleidchen zierte ein häßlich schmutziger Fußabdruck – eindeutig der von Alex.
»Ach, Kinder, was macht ihr bloß immer für Sachen?« Silvia gab ihrer Stimme einen ärgerlichen Ton, obwohl ihr im Moment sogar egal gewesen wäre, wenn Jana in voller Länge mit ihrem empfindlichen Kleid in eine Pfütze gefallen wäre.
Sie versuchte, mit der Hand den Schmutz aus dem Kleid zu klopfen. Zu Stefan gewandt sagte sie: »Das ist mein hoffnungsvolles Töchterchen Jana.«
»Hallo, Jana.« Stefan hob kumpelhaft die Hand. »Ich bin Stefan, ein alter Bekannter deiner Mutter.«
»Hi, Stefan! Bist du auch Rechtsanwalt wie meine Mama?«
»Na ja, so etwas Ähnliches. Ich habe zu entscheiden, wer in einem Prozeß bessere Argumente für den Angeklagten hat, der Rechtsanwalt oder der Staatsanwalt.«
»Oh, das muß aber schwierig sein.«
Stefan grinste. »Da hast du vollkommen recht, junge Dame. Ich glaube, da kommt dein kleiner Bruder.«
Tatsächlich näherte sich Alex mit neugierigen Blicken, gefolgt von Tobi, der dann sofort Stefans Hosenbeine beschnüffelte, als er den Tisch mit seinen Leuten erreicht hatte.
»Pfui, Tobi!« schimpfte Jana. »Man schnuppert nicht an fremden Menschen herum.«
»Er ist noch ziemlich jung und muß noch einiges lernen«, erklärte Silvia entschuldigend.
Sie bemerkte, daß Stefan Jana aufmerksam beobachtete und zog hastig Alex zu sich. »Und das hier ist mein Söhnchen Alexander, kurz Alex genannt.«
»Hallo, Sportsfreund!« Stefan lächelte dem Jungen freundlich zu.
»Hallo. Haben Sie auch Kinder?«
»Alex!« Silvia wurde rot bis über beide Ohren.
Doch Stefan lachte laut auf. »Laß doch den Jungen! Nein, tut mir leid, Alex, Kinder habe ich noch nicht – aber wenn ich mal welche habe, wäre ich stolz, wenn sie so wie du und deine Schwester sein würden.«
»Wollt ihr nicht wieder spielen gehen?« fragte Silvia nervös. »Dein Kleid werden wir morgen in die Reinigung bringen, Jana. Und du, Alex, trittst nicht mehr nach deiner Schwester, verstanden?«
Alex runzelte die Stirn. »War ja gar keine Absicht. Wenn Jana sich genau da hinstellt, wo ich gerade trete.…«
»Schluß mit der Debatte! Ich möchte, daß ihr euch jetzt vertragt.«
Als die Kinder wieder mit ihrem Hund abgezogen waren, meinte Stefan nachdenklich: »Es ist sicherlich nicht ganz einfach, zwei Kinder allein aufzuziehen.«
»Im Grunde genommen ist es nicht so schwierig, wie es manchmal aussieht. Auf Jana kann ich mich im allgemeinen verlassen – und allein aufgezogen habe ich die beiden eigentlich auch schon, als ich noch mit Robert zusammenlebte. Er war sehr selten zu Hause und überließ die Pflichten nur allzu gerne mir.«
Stefan nickte verstehend. »Das ist leider oft so. Wenn ich mal Kinder habe, werde ich mir die Erziehung ganz bestimmt mit meiner Frau teilen.«
»Wollen du und deine… Anke bald heiraten?« fragte Silvia leichthin und vergrub ihre Hände dabei im Schoß, damit Stefan nicht ihr Zittern bemerkte.
»Wir haben es nicht so eilig mit dem Heiraten und Kinderkriegen«, entgegnete er spontan. »Anke hat beruflich noch viel vor, bevor sie sich dem Muttersein widmen will.«
Silvia beneidete die Frau an Stefans Seite, obwohl sie sie gar nicht kannte. Es mußte wundervoll sein, mit diesem sympathischen, ausgeglichenen Mann zu leben. Entsetzt merkte Silvia, daß sie Stefan noch immer liebte.
»Darf ich stören?« fragte plötzlich Sonja hinter ihr. »Ihr beide seht aus, als würdet ihr euch kennen – oder täusche ich mich da? Ich bin übrigens Sonja Koch, Rechtsanwältin.« Sie reichte Stefan die Hand.
»Sehr angenehm. Daß ich der neue Richter Stefan Winter bin, hat sich bestimmt schon herumgesprochen.«
»Und ob! Die Leute reden von nichts anderem«, gab Sonja schmunzelnd zurück.
»Stefan und ich kennen uns tatsächlich noch von früher«, erklärte Silvia. »Wir haben uns nach dem Studium aus den Augen verloren.«
»Das ist aber schade«, erwiderte Sonja, »ihr wäret sicher ein hübsches Paar geworden.«
Silvia hoffte, daß Stefan davon erzählen würde, daß er und sie ein Paar gewesen waren, doch er sagte nur lächelnd: »Tja, es kommt immer anders, als man denkt.«
»Entschuldigt mich bitte.« Silvia erhob sich. »Ich möchte mich nur etwas frisch machen.«
Sonja setzte sich auf den freigewordenen Stuhl und begann eine anregende Unterhaltung mit Stefan, während Silvia ins Haus ging, um nach dem Badezimmer zu suchen.
Aufatmend schloß sie hinter sich ab. Das Bad sah aus wie in einem Märchen mit den schwarzen Marmorfliesen und den goldenen Armaturen. Doch Silvia hatte keinen Blick für diese Pracht, sondern lehnte ihr heißes Gesicht gegen die kühle Tür.
Ja, sie liebte Stefan noch immer! Es war, als wären es nicht über neun Jahre, sondern ein paar Stunden gewesen, in denen sie sich nicht gesehen hatten.
Seufzend nahm sie ihren Hut ab und legte ihn achtlos auf eine der vielen Ablagen. Warum hatte sie kein Glück mit den Männern? Der eine hatte sie jahrelang betrogen, und der andere liebte längst eine andere Frau und hatte nach der Trennung damals sicherlich keinen Gedanken mehr an sie verschwendet.
Am liebsten hätte Silvia das Fest auf der Stelle verlassen, doch es fiel ihr keine plausible Erklärung ein. Die Kinder freuten sich schon seit Tagen auf das Grillen und das Feuerwerk, das am Abend stattfinden sollte.
Silvia trat zum Spiegel und warf einen flüchtigen Blick hinein. Ihr Gesicht sah traurig und verletzt aus – genauso, wie sie sich fühlte. Gab es denn kein wirksames Mittel gegen Liebeskummer?
Als sie wieder zurück in den Garten kam, waren Sonja und Stefan noch immer in ihr Fachgespräch vertieft. Silvia schlenderte in den hinteren Teil des Gartens, um nach Jana und Alex zu sehen.
Die beiden Shelties der Bürgers’ sprangen um den behäbigen Tobi herum, der versuchte, nach den Hunden spielerisch zu schnappen. Als er Silvia sah, lief er auf sie zu.
»Na, mein Junge, hast du ein paar nette Partner gefunden?« Sie tätschelte den dicken Hundekopf und blickte sich um. Tatsächlich schien wirklich jeder einen Partner oder eine Partnerin zu haben – außer ihr, Sonja und Stefan. Doch Sonja fühlte sich als Single wohl, und Stefans Partnerin war zwar nicht am Ort, jedoch in seinem Herzen.
Plötzlich spürte Silvia, daß sie doch nicht so froh war, ohne Mann zu leben.
Nun, wo Stefan erneut in ihr Leben getreten war, wurde immer deutlicher, daß sie sich nach einer neuen Beziehung sehnte. Doch auf den Mann, nach dem sie sich sehnte, mußte Silvia verzichten – und das tat sehr weh.
Als es schummerig wurde, duftete es nach Gegrilltem, und der Garten leuchtete von Papierlaternen.
»Ein wirklich gelungenes Fest«, sagte Stefan, der unbemerkt hinter Silvia getreten war.
»Ja, das werden wir wohl so schnell nicht vergessen«, erwiderte sie fast wehmütig; denn dieses Fest würde sie nie wieder vergessen. Aber nicht nur, weil es so schön war, sondern weil sie Stefan dort wiedergetroffen hatte. »Wo ist Sonja eigentlich geblieben?«
»Keine Ahnung. Vorhin unterhielt sie sich mit der Frau von Richter Löhrmann.«
Im Grunde genommen interessierte es Silvia wenig, mit wem sich Sonja unterhielt, doch sie glaubte, durch viel Reden könnte sie Stefan ablenken, sie zu beobachten und möglicherweise ihre Gefühle zu erahnen.
Gleich nach dem Feuerwerk sagte sie: »Wir müssen jetzt leider aufbrechen. Ich werde mal nachsehen, wo meine Rasselbande steckt.«
»Müßt ihr wirklich schon gehen? Es ist doch noch gar nicht so spät.« Stefans Stimme klang bedauernd.
»Für uns Erwachsene vielleicht nicht, aber meine Kinder müssen morgen wieder zur Schule und daher beizeiten aufstehen.«
»Verstehe. Ich glaube, da hinten habe ich eben Janas helles Kleidchen gesehen.«
»Tatsächlich?« Jetzt hatte auch Silvia sie entdeckt. Sie machte eine Handbewegung, daß sie nach Alex suchen sollte.
»Vielleicht könnten wir gelegentlich einen Kaffee zusammen trinken?« fragte Stefan, als sich Silvia verabschiedete. »Wir werden uns ja nun wohl öfter sehen.«
»Das nehme ich auch an.« Sie gab Stefan ihre kleine, warme Hand zum Abschied. »Viel Spaß noch. Bis zu unserem nächsten Wiedersehen.«
Auf der Heimfahrt plapperten die Kinder aufgeregt durcheinander. Obwohl sie den ganzen Nachmittag herumgetobt hatten, schienen sie überhaupt nicht müde zu sein. Silvia konzentrierte sich auf den Straßenverkehr – oder versuchte es zumindest. Immer wieder glitten ihre Gedanken zu Stefan Winter, dem Mann, den sie noch immer liebte und ihr Leben lang lieben würde.
Vorsichtig warf Silvia einen Blick in den Rückspiegel und betrachtete Jana. Ob Stefan etwas bemerkt hatte? Nein, bestimmt nicht. Er war vollkommen ahnungslos, und das war gut so. Niemals brauchte er erfahren, welches Geheimnis Silvia mit sich herumtrug.
*
»Kommt Susi heute abend?« fragte Alex eine Woche später.
»Ja, ich bin froh, daß sie kurzfristig Zeit hat, um heute abend auf euch aufzupassen.«
»Warum hat dich der neue Richter zum Essen eingeladen? Macht der das mit allen Rechtsanwältinnen?«
Silvia lächelte, während sie versuchte, ihren Ohrring zu schließen. »O nein, mein Schatz, da hätte er aber viel zu tun. Ich habe dir doch erzählt, daß Stefan und ich alte Bekannte sind.«
»Magst du ihn?« bohrte Alex weiter.
Die Frage kam so unverhofft, daß Silvia aufsah. »Wie meinst du das?«
Alex zuckte die Achseln. »Würdest du ihn heiraten?«
Silvia dachte an das Gespräch mit den Kindern, nachdem sie Robert mit seiner Freundin entdeckt hatten. Sie hatte ihnen damals versprochen, die Zukunft alleine mit ihnen zu verbringen. »Du kommst vielleicht auf komische Ideen, Alex! Nein, ich würde ihn nicht heiraten, weil er längst eine Frau hat.«
»Aber warum lädt er dich dann zum Essen ein?«
»Junge, du kannst einem aber auch Löcher in den Bauch fragen. Ich habe dir doch gesagt, daß wir uns von früher kennen und uns viel zu erzählen haben – außerdem wird Sonja auch dabei sein. Zufrieden?«
Alex nickte strahlend und schoß davon, weil in diesem Moment die Türglocke anschlug. Das konnte nur Susi sein, ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft, der Silvia vertrauen konnte. Die Kinder mochten sie, und Susi freute sich, wenn sie ihr Taschengeld mit dem Babysitten aufstocken konnte.
»Oh, Frau Kirstein, Sie sehen aber hübsch aus!« rief die rundliche Susi bewundernd, als Silvia schließlich die Treppe herunterkam.
»Danke für das Kompliment«, gab diese lächelnd zurück. »Susi, vergiß bitte nicht, daß die Kinder spätestens um halb neun im Bett liegen müssen.«
»Natürlich, Frau Kirstein. Soll ich später noch mal mit Tobi Gassi gehen?«
»Das wäre sehr nett. So, jetzt muß ich mich aber sputen, sonst bekomme ich keinen Parkplatz vor dem Fürstenhof mehr.«
»Oh, in so einem feinen Restaurant würde ich auch gern mal essen«, sagte Susi bewundernd.
»Willst du nicht lieber ein paar Kilo abnehmen?« fragte Alex respektlos und grinste frech.
»Na warte!« Susi lief kichernd hinter Alex her, der vor Freude kreischte.
Silvia sah den beiden lächelnd nach und gab Jana einen Kuß. »Bis später, mein Engel.«
»Viel Spaß, Mami«, erwiderte Jana.
Als die Mutter fort war, ging sie nachdenklich zu den anderen in die Küche. Seit Silvia diesen Stefan Winter auf dem Gartenfest getroffen hatte, war sie verändert, fand Jana. Schon mehrmals hatte sie ihre Mutter ziellos auf einen unsichtbaren Punkt starrend vorgefunden. Sehr glücklich sah sie nie dabei aus – ob er ihr etwas bedeutete? Wenn es so war, war das sehr schlimm, denn Stefan Winter hatte ja bereits eine Frau. Arme Mami!
*
»Sonja läßt sich entschuldigen«, sagte Stefan, nachdem Silvia das Restaurant erreicht hatte. »Sie bekam plötzliche Kopfschmerzen und rief mich in meinem Büro an – gerade, als ich gehen wollte.«
»Schade«, sagte Silvia und meinte dies ernst. In Sonjas Gegenwart hätte sie sich auf jeden Fall sicherer gefühlt.
»Ich hoffe, es stört dich nicht, daß du nun mit mir alleine vorlieb nehmen mußt?«
»Aber nein, ganz im Gegenteil.«
Er schob ihr den Stuhl zurecht und berührte dabei zufällig mit seinem Arm ihre Schulter. Diese leichte Berührung allein reichte aus, daß ihr Herz schneller pochte und ihre Beine zitterten. Sie war froh, daß sie sich setzen konnte.
»Erinnerst du dich noch an die kleine Kneipe, in der wir immer Frikadellen mit Kartoffelsalat gegessen haben?« fragte Stefan, nachdem er sich zu Silvia gesetzt hatte.
Sie lächelte. »Und ob. Etwas anderes konnten wir uns mit unserem schmalen Geldbeutel auch gar nicht leisten. Die Kneipe gibt es übrigens noch immer.«
»Tatsächlich?«
»Ja, ich fahre jeden Morgen auf dem Weg zur Kanzlei daran vorüber.«
»Ob die Frikadellen noch immer so gut sind?«
Sie grinste. »Keine Ahnung, ich war schon seit Ewigkeiten nicht mehr dort.«
Der vornehm gekleidete Ober war mit den in weinrotem Leder gebundenen Menükarten im Anmarsch, als Stefan sich zu Silvia hinüberbeugte und ihr zuraunte: »Ist dir plötzlich auch so nach Frikadellen mit Kartoffelsalat?«
»Ja – jetzt, wo du es sagst…«
Stefan nahm Silvia bei der Hand und zog sie hoch. »Worauf warten wir dann noch?«
Der Ober sah den beiden lachenden Gästen kopfschüttelnd nach. Ein Benehmen hatten die vornehmen Leute manchmal – erst bestellten sie einen Tisch und dann gingen sie einfach ohne ein Wort der Erklärung.
In der Lindenklause herrschte Hochbetrieb. Der Wirt hatte gewechselt, aber das Mobiliar war noch dasselbe wie vor zehn Jahren. Silvia fühlte sich in ihre unbeschwerte Studentenzeit zurückversetzt und vergaß für ein paar Stunden, daß sie und Stefan längst kein Paar mehr waren.
Als sie zu vorgerückter Stunde aufbrachen, fragte Stefan: »Wo steht dein Wagen?«
Sie kicherte albern. »Noch immer vor dem Fürstenhof. Hast du vergessen, daß wir mit deinem Wagen hierhergefahren sind?«
Stefan sah sich orientierungslos um und fuhr sich durchs Haar. »Und wo steht mein Auto?«
»Da vorne. Aber ich denke, ich werde dich nach Hause fahren. Du hast etwas getrunken, und bis zum Fürstenhof sind es nur ein paar Meter zu Fuß.«
»Du meinst wohl ein paar Kilometer«, murrte er, ließ sich jedoch von Silvia mitziehen.
»Ach, jetzt stell dich nicht so an! Ein kleiner Spaziergang und die frische Luft wird Ihnen guttun, Herr Richter.«
Auch auf dem Weg zu Silvias Wagen schwelgten beide in Erinnerungen an vergangene Tage.
»Ich habe mich heute abend köstlich amüsiert«, meinte Stefan schließlich. »Vielleicht ist es ganz gut, daß Sonja nicht mitkommen konnte. Ich denke, sie hätte kein Verständnis, daß wir leichte Hausmannskost einem luxuriösen Mahl vorgezogen haben.«
Silvia nickte lachend. Sie stellte fest, daß sie die Freundin überhaupt nicht an diesem Abend vermißt hatte.
Stefan dirigierte Silvia zu der Straße, in der er wohnte. Vor einem eleganten Mehrfamilienhaus sagte er: »Hier ist es.«
Mit einem Schlag war Silvias Heiterkeit verschwunden, und die graue Wirklichkeit hatte sie wieder. Hier würde Stefan also bald mit seiner geliebten Anke leben!
Sie spürte, daß Stefan sie betrachtete und wagte nicht, den Kopf in seine Richtung zu wenden.
»Silvia«, sagte er plötzlich sanft. »Es war ein wunderschöner Abend.« Er beugte sich zu ihr hinüber und streichelte zärtlich ihr Haar.
»Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt aussteigst«, erwiderte sie mit beklommener Stimme. »Es war wirklich sehr schön, in der Vergangenheit zu schwelgen, aber nun sind wir wieder in der Gegenwart.«
Augenblicklich ließ Stefan seine Hand sinken. Er räusperte sich und sagte tonlos: »Du hat recht. Wir müssen die Vergangenheit ruhen lassen. Komm gut nach Hause.«
Erst, als er im Hauseingang verschwunden war, startete Silvia ihren Wagen. Mit tränenverschleiertem Blick lenkte sie ihn durch die leeren Straßen.
Es war ein Fehler gewesen, sich mit Stefan zu treffen; jetzt tat es noch mehr weh, daß er nicht mehr frei war. Daß er sie zum Abschied küssen wollte, hatte sicherlich nichts zu bedeuten. Stefan schien wohl für einen kurzen Moment geglaubt zu haben, daß sie wieder die verliebten Jura-Studenten von einst gewesen waren.
Als Stefan am Mittag vor dem Gerichtsgebäude gefragt hatte, ob sie und Sonja, die ebenfalls im Gericht zu tun gehabt hatte, dem armen Strohwitwer bei einem feinen Essen Gesellschaft leisten wollten, hatte Silvia gezögert. Sonja jedoch hatte sofort begeistert eingewilligt. Sicher, so glücklich wie an diesem Abend war Silvia schon lange nicht mehr gewesen, aber der Preis, den sie nun dafür zu zahlen hatte, war zu hoch. Nun wußte sie mit letzter Bestimmtheit, daß Stefan der einzige Mann auf der Welt war, der sie glücklich machen konnte – und dabei tat er unbewußt genau das Gegenteil.
*
In den nächsten Tagen hörte und sah Silvia nichts von Stefan, und sie war erleichtert darüber. Der nächste Gerichtstermin war erst in einigen Tagen, und sie würde es dann mit Richter Löhrmann zu tun haben.
Sonja hatte mehrmals versucht, Silvia wegen des Abends auszufragen, doch diese antwortete stets: »Es war nett mit ihm, wir hatten endlich mal die Ruhe, von früher zu erzählen.«
»Frau Kirstein, ein Herr möchte Sie sprechen«, schnarrte plötzlich Verena Böttchers Stimme durch die Sprechanlage.
Stefan! dachte Silvia im ersten Impuls und bat die Sekretärin, den Besucher zu ihr zu schicken, ohne nach dessen Namen zu fragen.
Doch nicht Stefan, sondern Robert betrat wenig später den Raum.
»Du?« fragte sie verdutzt. »Was treibt dich denn hierher?«
»Darf ich mich erst mal setzen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zog sich Robert einen der Besucherstühle heran und ließ sich darauf nieder. »Wir müssen etwas bereden.«
»Aha, und warum suchst du mich in meiner Kanzlei deswegen auf?«
»Am Telefon läßt sich das schlecht erklären – und bei dir zu Hause hat man auch keine Ruhe.«
»Also, was willst du?« Inzwischen konnte sie Robert gelassen begegnen, als wären sie nie etwas anderes als flüchtige Bekannte gewesen.
»Ich habe vor, nach der Scheidung die Stadt zu verlassen. Ich werde wieder heiraten.«
»Herzlichen Glückwunsch«, gab sie spöttisch lächelnd zurück. »Wer ist denn die Glückliche?«
»Das spielt doch keine Rolle.« Er machte eine ärgerliche Handbewegung. »Es geht um das Sorgerecht für Alex.«
Silvia setzte sich kerzengerade hin. »Wie meinst du das? Wir waren uns doch einig, daß ich das Sorgerecht für beide Kinder bekomme.«
»Das war, bevor ich Diana kennengelernt habe. Sie ist die perfekte Frau für mich; leider hat sie in München ihre Modeboutique. Also werde ich zu ihr ziehen.«
»Und was hat das mit Alex zu tun?« fragte Silvia, obwohl sie bereits ahnte, auf was Robert hinauswollte.
»Ich möchte ihn mitnehmen; schließlich ist er auch mein Sohn.«
Aufgebracht sprang Silvia von ihrem Stuhl. »Das kannst du nicht machen.«
»Und aus welchem Grunde nicht?«
»Er würde nicht nur Jana, sondern auch mich schrecklich vermissen. Außerdem war er sehr schockiert, als er dich mit dieser Manuela zusammen gesehen hat.«
»Ach, darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Er wird sich schon an Diana gewöhnen, sie ist eine wirklich bezaubernde, warmherzige Frau – und in den Schulferien kann er dich und Jana doch besuchen. Außerdem wirst auch du eines Tages sicherlich wieder heiraten, da müßte sich der Junge auch an deinen neuen Partner gewöhnen.«
»Ich werde ganz bestimmt nicht wieder heiraten, und selbst wenn, könnte ich es niemals übers Herz bringen, die Kinder zu trennen.«
»Sie werden es überstehen.« Er stand auf, und Silvia bemerkte flüchtig, daß er viel zuviel seines teuren After shaves aufgetragen hatte. »Ich habe heute morgen bereits mit meinem Anwalt gesprochen. Du wirst von ihm hören. Einen schönen Tag wünsche ich noch.«
Fassungslos ließ sich Silvia auf den Stuhl zurückfallen. Nachdem sie sich einigermaßen von dem Schock erholt hatte, wählte sie Sonjas Nummer.
»Der spinnt wohl!« war ihre direkte Reaktion. »Mach dir keine Sorgen, damit wird Robert niemals durchkommen.«
»Ich habe aber Angst, daß er es doch schafft. Sein Anwalt ist sehr gerissen.«
»Na, hör mal! An mir hat sich schon so mancher gegnerische Anwalt die Zähne ausgebissen!«
»Entschuldige, ich wollte nicht deine Kompetenz kritisieren«, gab Silvia lahm zurück. »Glaubst du wirklich, wir können Robert daran hindern, daß er mir Alex fortnimmt?«
»Immerhin gibt es Gesetze, die auch dein lieber Mann zu beachten hat – das solltest du als Anwältin eigentlich wissen.«
»Ach, wenn es um die eigene Familie geht, bin ich ziemlich ratlos«, sagte Silvia seufzend.
»Dafür hast du ja mich«, gab Sonja zuversichtlich zurück. »Laß den Kopf nicht hängen. Wenn du von Roberts Anwalt Bescheid bekommen hast, melde dich bei mir.«
»Das werde ich.«
Nachdenklich stützte Silvia nach dem Gespräch den Kopf in die Hände. Alles war so kompliziert geworden, nichts schien so zu laufen, daß sie aufatmen und endlich glücklich sein konnte.
*
»Warum sieht Mami manchmal so komisch aus?« fragte Alex ein paar Tage später seine Schwester. »Sie guckt immer ganz traurig.«
Jana nickte ernst. »Das ist mir auch schon aufgefallen.«
»Ob ich irgend etwas gemacht habe, das sie so traurig macht?«
»Bestimmt nicht.« Jana streichelte dem kleinen Bruder über den wilden Haarschopf und dachte an Silvias Gesicht, das neuerdings noch verschlossener als nach dem Gartenfest wirkte.
»Am besten, wir fragen Mami, was sie bedrückt«, schlug Alex vor. »Vielleicht können wir ihr sogar helfen.«
»Wir sollten lieber warten, bis sie uns von allein erzählt, was los ist«, entgegnete Jana, doch im stillen nahm sie sich vor, mit der Mutter zu reden, wenn Alex nicht dabei war.
Die Gelegenheit ergab sich bereits am nächsten Mittag. Alex hatte länger Schule als Jana, und als Silvia nach Hause kam, war er noch nicht da.
In der Post war ein Brief von dem Anwalt, von dem Jana bereits wußte, daß er ihren Vater bei der Scheidung in drei Monaten vertreten würde.
Hastig riß Silvia den Brief auf und las die wenigen Zeilen durch. Dann ließ sie das Schreiben kraftlos sinken.
»Alles in Ordnung, Mama?« fragte Jana zögernd, denn ihrer Mutter stand die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben.
Silvia faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in ihre Jackentasche. »Schon gut, mach dir keine Sorgen.«
»Ich mache mir aber Sorgen – und Alex auch!«
»Alex…« Silvias Stimme klang hoffnungslos. Sie ließ sich neben ihrer Tochter nieder und sagte: »Du bist doch schon ein großes Mädchen, nicht wahr? Kann ich dir etwas anvertrauen, das du vor deinem Bruder geheimhältst?«
Jana nickte beklommen; sie wußte, daß sie gleich etwas erfahren würde, was sie eigentlich gar nicht hören wollte.
Silvia räusperte sich. »Papa möchte wieder heiraten und Alex zu sich nehmen.«
Janas Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Aber das kann Papa doch nicht einfach machen! Dann sehe ich Alex ja nur noch am Wochenende.«
»Jana.« Silvia holte tief Luft. »Papa wird weit fort in eine andere Stadt ziehen.«
»Nein.« Ungläubig schüttelte das Mädchen den Kopf. »Nein, Mama, das können wir nicht zulassen.«
»Ich weiß, mein Schatz. Sonja wird alles tun, um zu verhindern, daß Alex mit Papa gehen muß.«
»Aber wie will sie das denn machen, wenn er Alex einfach mitnimmt?« In Janas Augen glänzten Tränen.
»So einfach geht das nicht, da hat der Familienrichter auch noch ein Wörtchen mitzureden.«
»Aber wenn der nichts dagegen hat?«
Silvia stand auf. »Wir müssen eben ganz fest daran glauben, daß der Richter ein Herz für Alex hat.«
»Kann Stefan das nicht entscheiden? Er mag doch Alex sicher auch.«
»Natürlich mag er ihn, er wollte alles über ihn und dich wissen auf dem Gartenfest. Aber Stefan wird den Fall nicht übernehmen können, fürchte ich.«
»Aber wieso nicht?«
»Weil wir uns auch privat kennen. Das nennt man Befangenheit, denn ein Richter muß neutral entscheiden.«
»Ich glaube, Alex kommt gerade.« Jana wischte sich schnell die Tränen aus den Augen. »Tobi wird nämlich schon ganz unruhig.«
»Paß auf, ich werde Sonja und Papas Anwalt bitten, daß wir uns mit ihm zusammensetzen. Vielleicht überzeugen wir Papa doch noch mit unseren Argumenten – und du sagst kein Wort zu Alex, verstanden?«
*
Mit Herzklopfen saß Silvia ein paar Tage später gemeinsam mit Sonja, Robert und dessen Anwalt Dr. Erhard Clausen gegenüber.
»Am besten, du überläßt das Reden mir«, raunte Sonja ihr zu. »Antworte nur, wenn du gefragt wirst.«
Silvia nickte zaghaft; sie würde alles tun, damit ihr Alex nicht weggenommen wurde.
»Nun, Frau Kollegin Koch«, sagte Dr. Clausen und öffnete einen Aktendeckel. »Was spricht dagegen, daß Herr Kirstein seinen Sohn zu sich nimmt?«
»Eine ganze Menge, denke ich. Der Junge würde nicht nur seine Mutter und Schwester vermissen, sondern sein gesamtes gewohntes Umfeld. Herr Kirstein hat sich schon zu der Zeit, als die Ehe noch bestand, aus beruflichen Gründen wenig um die Kinder kümmern können – und es ist unzumutbar, die Erziehung des Jungen von einem Tag auf den anderen einer fremden Frau, nämlich der zukünftigen Ehefrau Ihres Mandanten, zu überlassen. Das Wohlbefinden des Kindes hat in diesem Fall eindeutig Vorrang.«
Dr. Clausen nickte, sagte dann jedoch: »Im Prinzip haben Sie natürlich recht, Frau Kollegin. Aber Herr Kirstein hat als Vater nun mal dasselbe Recht wie die Mutter.«
»Anfangs schlug mein Mann mir vor, daß ich das alleinige Sorgerecht bekomme«, mischte sich Silvia schnell ein, was ihr einen zornigen Seitenblick Sonjas einbrachte.
»Mein Mandant hat seine Meinung aber geändert. Seien Sie doch froh, daß er nicht beide Kinder mitnehmen will.«
Silvia senkte ihren Blick – an Jana würde Robert kein allzu großes Interesse haben.
»Nun gut, wenn Sie es nicht anders wollen, müssen wir einen Termin beim Familienrichter beantragen, damit Alex selbst gefragt werden kann, bei wem er leben möchte. Mit seinen sieben Jahren ist er schon in der Lage, dies selbst zu entscheiden.« Sonja sah sehr selbstsicher bei diesen Worten aus.
Dr. Clausen warf Robert einen fragenden Blick zu.
»Wie sich das Kind entscheiden wird, wissen Sie so gut wie ich«, fuhr Sonja triumphierend fort. »Warum also wollen wir Alex dieses ganze Theater zumuten?«
Nun erhob Robert die Stimme. »Davon lasse ich mich gar nicht einschüchtern. Hat man denn als Vater in diesem Lande gar keine Rechte?«
»Beruhigen Sie sich bitte, Herr Kirstein. Wenn Sie darauf bestehen, werden wir versuchen, das Sorgerecht für Ihren Sohn zu bekommen. Aber es wird schwierig, und Frau Koch hat recht: Der Familienrichter wird bei einer Unstimmigkeit den Jungen selber befragen.«
»Dann soll er das tun«, antwortete Robert mürrisch.
»Du bist das reinste Scheusal!« zischte Silvia empört. »Hast du denn gar kein Herz?«
»Hattest du damals ein Herz, als du mich so schamlos angelogen hast?« fauchte er zurück.
Dr. Clausen und Sonja sahen Silvia erwartungsvoll an. Die wurde rot und sagte mit schleppender Stimme: »Das hat absolut nichts mit Alex zu tun.«
»Vielleicht sollte ich einigen Leuten mal reinen Wein einschenken, damit sie wissen, was für eine hinterhältige Frau du bist.«
Silvia erhob sich abrupt. »Komm, Sonja, ich glaube, es gibt nichts mehr zu sagen.«
Auch Sonja stand langsam auf und warf der Freundin einen fragenden Blick zu. Zu Dr. Clausen gewandt sagte sie: »Ich werde also einen Termin beim Familienrichter vereinbaren, damit er sich mit Alex unterhalten kann.« Dann lief sie hinter Silvia her, die bereits grußlos die Kanzlei von Dr. Clausen verlassen hatte.
Erst vor der gläsernen Eingangstür des Bürokomplexes holte sie Silvia ein. »Jetzt warte doch mal! Was ist denn plötzlich in dich gefahren?«
»Ich möchte nicht darüber reden.«
»Sei nicht albern, du brauchst gerade jetzt jemanden, mit dem du reden kannst. Du kannst dich mir ruhig anvertrauen. Nun, was ist?«
Silvia blickte sich zögernd um. »Ich möchte es eigentlich niemandem erzählen.«
»Das solltest du aber. Auf was hat Robert vorhin angespielt?«
Silvia hob hilflos die Arme. »In Ordnung, du hast gewonnen. Laß uns irgendwohin gehen, wo wir ungestört reden können.«
»Da kenne ich einen todsicheren Platz – nämlich meine Wohnung. Oder hast du heute noch einen Termin?«
»Nein, und die Kinder sind bei einem Geburtstag.«
»Na also, worauf warten wir denn noch?«
Sonja bewohnte eine Altbauwohnung mit hohen Fenstern und knarrenden Dielen. Silvia mochte es, wie die Freundin die Räume eingerichtet hatte.
»Setz dich hin, ich koche einen starken Kaffee. Aber lauf in der Zwischenzeit ja nicht weg.«
»Bestimmt nicht.« Silvia ließ sich in einem der bequemen, altmodischen Sessel nieder. Vielleicht war es ganz gut, sich endlich einmal auszusprechen.
»Also, schieß los«, sagte Sonja, als sie wenig später mit einem vollgestellten Tablett zurückkam. »Was ist dein großes Geheimnis, kleine Silvia?«
»Tja, am besten fange ich am Anfang an.«
»Das ist eine wundervolle Idee – und denke daran, daß dein Geheimnis bei mir in guten Händen ist.«
»Das weiß ich doch.« Silvia lächelte müde und begann zu erzählen: »Ich habe dir ja erzählt, daß Stefan und ich früher ein Paar waren. Als er mich verließ, war ich todunglücklich. Immer wieder hoffte ich auf ein Zeichen von ihm, aber außer ein paar belanglosen Briefen hörte ich nichts mehr von ihm. Etwa eine Woche, nachdem Stefan die Stadt verlassen hatte, bemerkte ich, daß ich mich gesundheitlich nicht besonders fühlte. Ich führte diesen Zustand mit dem Liebeskummer, den ich wegen Stefan hatte, in Zusammenhang und ignorierte ihn. Etwas später verschwand das Unwohlsein wieder und ich lernte Robert kennen. Ich fühlte mich sehr einsam und genoß die schmeichelhaften Komplimente, die er mir machte. Sein gutes Benehmen und wie er mich nach Strich und Faden verwöhnte, imponierte mir. Ich bildete mir ein, mich in ihn verliebt zu haben und verdrängte Stefan aus meinem Herzen. Kurze Zeit später fiel mir auf, daß meine Hosen und Röcke zu eng wurden und ich zugenommen hatte. Ich hatte einen bestimmten Verdacht und machte einen Schwangerschaftstest – er war positiv. Robert war ganz aus dem Häuschen, und auch ich habe mich wahnsinnig darüber gefreut, ich wollte so gern Mutter werden. Robert machte mir auf der Stelle einen Heiratsantrag, den ich gerne annahm. Auf sein Drängen suchte ich schließlich einen Arzt auf, um die Schwangerschaft bestätigen zu lassen. Stutzig wurde ich erst, als der Arzt mir den Geburtstermin ausrechnete. Sonja, ich war bereits im fünften Monat!«
Die Freundin hatte mit vor Spannung großen Augen zugehört und nickte jetzt verstehend. »Das Kind konnte nicht von Robert sein, nicht wahr?«
»Ja, das wurde mir augenblicklich klar. Stefan ist Janas Vater. Ich habe damals lange mit mir gerungen, Robert die Wahrheit zu sagen, doch dann hielt ich es für besser zu schweigen. Was hätte ich sonst auch tun sollen? Robert hätte sich wahrscheinlich auf der Stelle von mir getrennt, wenn ich ihm gesagt hätte, daß ich von einem anderen Mann ein Kind bekommen würde.«
»Und so hast du all die Jahre geschwiegen?«
»Ja, anfangs hatte ich große Gewissensbisse, doch als Jana geboren wurde und Robert so stolz auf seine vermeintliche Tochter war, brachte ich es nicht mehr übers Herz, ihm die Wahrheit zu sagen.«
»Ist er denn nicht stutzig geworden, daß das Kind viel zu früh kam?«
»Jana hat sich viel Zeit gelassen, sie wurde fast zwei Wochen nach dem errechneten Termin geboren. Robert habe ich dann gesagt, daß sie zu früh geboren wäre. Sie war so klein und zierlich, da fiel es nicht auf, daß ich geschwindelt hatte.«
»Ich verstehe«, sagte Sonja. »Aber woher weiß Robert jetzt davon?«
»Es ist mir bei unserem letzten Streit herausgeplatzt. Robert hat mich so gereizt, daß ich ihm ins Gesicht geschleudert habe, daß er nicht Janas Vater ist. Daraufhin hat er sofort das Haus verlassen und spielte den hintergangenen Ehemann. Aber ich habe gemerkt, daß mein unfreiwilliges Geständnis ein guter Grund für ihn war, die Scheidung einzureichen.«
Es blieb eine Weile still, nachdem Silvia ihren Bericht beendet hatte. Dann fragte Silvia: »Glaubst du, daß Robert vor Gericht sagen wird, daß ich ihm ein Kind untergejubelt habe und deshalb vielleicht nicht fähig bin, seinen Sohn weiter zu erziehen?«
»Nein, das glaube ich nicht – und wenn, wird es den Richter wenig interessieren. Immerhin hast du Robert nicht arglistig getäuscht, du wußtest doch anfangs gar nicht, daß das Kind nicht von ihm war…«
»Das muß ich aber erst einmal beweisen.«
»Ach, laß dir deswegen keine grauen Haare wachsen. Dem Richter geht es nur um Alex’ Wohl. Aber was viel wichtiger ist: Du solltest Stefan sagen, daß er eine Tochter hat.«
»Niemals!« rief Silvia aufgebracht. »Bitte, versprich mir, daß du ihm nichts sagst.«
»Natürlich sage ich ihm nichts, was hältst du denn von mir? Das ist allein deine Entscheidung.«
»Eben.«
»Aber ich würde es ihm trotzdem sagen. Er hat ein Recht, es zu wissen.«
Silvia schüttelte traurig den Kopf. »Und dann? Möglicherweise fühlt er sich mir gegenüber verpflichtet, und das will ich auf keinen Fall. Du weißt doch, daß seine Freundin demnächst kommt.«
»Nun, den Blicken nach zu urteilen, die Stefan dir zuwirft, hat er keine besondere Sehnsucht nach dieser Anke.«
»Wie kannst du so etwas sagen?«
»Ich habe Augen im Kopf, meine Liebe. Ich glaube, daß ihr beide auf dem besten Weg seid, wieder ein Paar zu werden.«
»Ach, du bist ja verrückt!« rief Silvia und lachte gelöst. Es hatte nicht nur gutgetan, sich bei der Freundin auszusprechen – auch die Neuigkeit, daß Stefan anscheinend noch immer Interesse an ihr zeigte, machte sie froh. Doch dann verfinsterte sich ihr Gesicht wieder.
»Was ist denn jetzt wieder los?« fragte Sonja erschrocken.
»Wie soll es jetzt bloß weitergehen? Ich muß um meinen Sohn bangen, und der Mann, den ich…«
»… den du liebst?« fragte Sonja vorsichtig. »Schön zu hören, daß du doch nicht zu meiner Zunft gehörst, die sehr gut ohne Mann leben kann.«
Silvia sah verlegen auf ihre Hände. »Ich habe wohl nie aufgehört, Stefan zu lieben.«
Die Freundin legte beruhigend eine Hand auf Silvias Arm. »Es wird alles gut, glaube mir.«
*
»Das ist ja der Gipfel!« sagte Stefan entrüstet, als Silvia ihm bei ihrem nächsten zufälligen Treffen im Gerichtsgebäude von Roberts plötzlichen Ansprüchen erzählte. »Was ist das denn für ein Vater, der sein Kind aus seiner gewohnten Umgebung reißt, nur um Genugtuung zu bekommen?«
»Ich denke, er will sich an mir rächen, weil ich es abgelehnt habe, noch einmal einen Neuanfang mit ihm zu starten. Natürlich hängt er auch sehr an Alex.«
»Und was ist mit Jana? Für sie will Robert nicht das Sorgerecht haben?«
Silvia wurde blaß. »Jana war schon immer ein richtiges Mama-Kind, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Leider kann ich dir bei deiner Scheidung überhaupt nicht helfen; ich würde es so gerne tun.« Stefan sah Silvia mitfühlend an.
»Das ist nett von dir, aber dabei kann mir kein Mensch helfen. Ich weiß zwar, daß Alex bei der Anhörung spontan sagen wird, daß er bei mir und Jana bleiben will – aber ich hätte ihm die Vorstellung beim Familienrichter gern erspart.«
»Laß den Kopf nicht hängen, Silvia.« Stefan hätte gern tröstend seinen Arm um ihre Schulter gelegt, doch das traute er sich nicht. »Es wird schon alles gutgehen.«
Silvia nickte müde. »Ja, Sonja meint das auch. Ach, wenn doch schon alles vorüber wäre.«
Sie wandte sich zum Gehen. »Entschuldige, wenn ich dich mit meinen Problemen belaste.«
»Aber ich bin doch froh, daß du mit mir über deine Sorgen sprichst! Übrigens war der Abend letztens mit dir wunderschön.«
Silvia lächelte. »Ja, es hat mir auch gut gefallen, aber man kann die Zeit nicht zurückdrehen, nicht wahr?«
Er nickte. »Nein, das kann man wohl nicht.« Damit hatte Silvia ihm eindeutig mitgeteilt, daß dieser ausgelassene Abend ein einmaliges Ereignis gewesen war.
»Wann kommt Anke denn endgültig hierher?« fragte sie ablenkend.
»Oh, das steht noch gar nicht fest. Es gibt noch viel zu regeln, weißt du? Aber wir brauchen ja nichts zu überstürzen.«
»Eben. Ihr habt noch euer ganzes Leben, um zusammenzusein.« Mit diesen Worten drehte sie sich wieder um. »Ich muß jetzt los, meine Kinder warten sicherlich schon auf mich.«
»Dann grüß sie mal von mir«, gab er gespielt locker zurück. »Vielleicht treffe ich sie ja auch mal wieder.«
»Bestimmt.«
Auf dem Weg zu ihrem Wagen stiegen Silvia Tränen in die Augen. Das Gespräch mit Stefan hatte sie wieder überdeutlich spüren lassen, wie sehr sie ihn liebte und ihn gerade jetzt brauchte. Aber er durfte nie wieder mehr als ein guter Freund für sie sein.
*
»Warum muß ich denn zu diesem doofen Richter?« fragte Alex eine Woche später. »Ich möchte lieber mit Tobi im Garten spielen.«
»Das kannst du danach immer noch«, erwiderte Silvia ruhig und kämmte ihm die widerborstigen Haare zurück. »Es wird nicht lange dauern.«
Unter keinen Umständen durfte Alex merken, wie aufgewühlt und nervös seine Mutter war.
»Kannst du nicht mit reinkommen?« bat der Junge. »Ich kenne den Richter doch gar nicht.«
»Ich muß leider hier draußen warten, mein Liebling. Aber habe keine Angst, Richter Löhrmann ist sehr nett, du kennst ihn noch vom Gartenfest im Mai.«
»Ist das der mit der dicken Frau?« fragte Alex respektlos.
»Pst, nicht so laut. Ja, genau der ist es. Du hast doch keine Angst vor ihm, nicht wahr?«
Heftig schüttelte Alex den Kopf, obwohl ihm gar nicht wohl war. Was der Richter wohl von ihm wollte? Ob es um Mamis Arbeit ging? Er wußte, daß seine Mutter oft in diesem riesigen Gerichtsgebäude zu tun hatte.
»Du bist sicherlich der Alexander Kirstein, nicht wahr?« Unbemerkt war eine ältere Frau zu der Bank in dem Gerichtsflur getreten. Sie reichte ihm die Hand. »Ich bin Magda Heider, die Sekretärin von Richter Löhrmann. Er erwartet dich schon.«
Hilfesuchend sah Alex zu Silvia hinüber, die ihm aufmunternd zunickte. »Na, lauf schon. Es reißt dir keiner den Kopf ab.«
Widerstrebend ließ sich Alex schließlich von Frau Heider in eine der Amtsstuben mit den hohen Türen führen.
Silvia lehnte sich erschöpft zurück. Es hatte sie so viel Kraft gekostet, die letzten Tage so zu überstehen, daß Alex keinen Verdacht schöpfte, wie wichtig das Gespräch mit dem Richter war.
Das Geräusch von hohen Absätzen hallte durch den leeren Flur und näherte sich rasch.
Sonja hatte gerade eine Verhandlung hinter sich und trug noch den schwarzen Talar.
»Ist Alex schon drin?« fragte sie außer Atem und ließ sich neben Silvia auf der harten Holzbank nieder.
»Ja, vor ein paar Minuten hat Frau Heider ihn geholt. Ich hoffe nur, daß Richter Löhrmann keine Fragen stellt, die Alex verwirren.«
»Löhrmann ist dafür bekannt, daß er sehr einfühlsam zu Kindern ist. Ich traf vorhin Stefan, er drückt die Daumen, daß alles gutgeht.«
Sonja streifte den Talar ab und legte ihn über die Seitenlehne der Bank. »Findest du es eigentlich nicht merkwürdig, daß seine Anke es noch immer nicht geschafft hat, die Wohnung in Berlin aufzulösen?«
»Wieso?« fragte Silvia verständnislos.
»Ganz einfach: Stefan lebt seit Mitte April hier, jetzt haben wir bereits Ende Juli.«
»Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht«, gab Silvia nachdenklich zurück.
»Natürlich nicht, du hast im Moment wichtigere Dinge im Kopf. Aber mir ist aufgefallen, daß Stefan jedesmal, wenn man ihn nach seiner Freundin fragt, Ausflüchte hat.«
»Er wird seine Gründe haben, denke ich.«
»Ganz sicher hat er die! Ich möchte nur wissen, welche.«
Silvia mußte trotz der angespannten Situation lachen. »Dann frage ihn doch einfach, damit du wieder ruhig schlafen kannst.«
»Einen Teufel werde ich tun! Ach, da kommt ja unser kleiner Sonnenschein!«
Tatsächlich stand Alex in der Tür, begleitet von Richter Löhrmann, der dem Jungen jetzt über den Kopf strich und danach den beiden Frauen zunickte.
Silvia stand mit zitternden Beinen auf, als Alex ihr entgegenkam. »War es schlimm?«
»Überhaupt nicht. Hallo, Sonja! Der Richter war sehr nett, ich habe Kakao und Kekse bekommen. Dann wollte er nur so merkwürdige Dinge wissen über Papa und ob ich mich bei dir und Jana wohl fühle. Das war alles, Mami. Können wir jetzt nach Hause fahren?«
»Natürlich, mein Schätzchen.« Silvia nahm ihre Tasche von der Bank. »Kommst du auch mit, Sonja?«
»Leider nicht. Ich habe noch einen Termin beim Staatsanwalt. Ich rufe dich später an.«
Auf der Heimfahrt fühlte sich Silvia erleichtert; Alex war keineswegs verstört, sondern plapperte von dem Fußballturnier, daß er mit seiner Vereinsmannschaft am Wochenende haben würde.
Zu Hause wurden sie bereits sehnsüchtig von Jana und Tobi erwartet.
Als Alex dann mit dem Hund in den Garten lief, fragte Jana: »Und was hat der Richter jetzt entschieden?«
»Das weiß ich noch nicht, ich werde es erst am Tag der Scheidung erfahren. Aber ich habe ein sehr gutes Gefühl.«
»Ehrlich?« Jana strahlte über das ganze Gesicht.
»Ja, ehrlich. Jetzt müssen wir nur noch die Zeit bis November abwarten.«
»Das ist aber noch schrecklich lange, Mama.«
»Die Zeit wird schneller vergehen, als du denkst. Und jetzt gehe zu Alex in den Garten. Ich bereite inzwischen das Abendessen vor.«
Gedankenverloren schnitt Silvia Gurken- und Tomatenscheiben in eine Glasschüssel. Es sollte einen frischen Salat geben, der schmeckte bei der Wärme am besten.
Silvia fiel ein, was Sonja über Stefans Freundin gesagt hatte; auch sie selbst hatte den Eindruck gehabt, daß er nicht traurig darüber war, daß Anke sich so viel Zeit mit dem Umzug ließ.
Konnte es möglich sein…? Nein, daran durfte sie nicht denken! Selbst, wenn Stefan noch etwas für sie empfand, durfte sie dieser Versuchung nicht nachgeben – sie hatte ihren Kindern versprochen, daß es keinen Mann mehr in ihrem Leben geben würde, solange sie noch so klein waren.
*
Robert holte die Kinder nach wie vor jedes Wochenende zu sich, entweder von Freitag auf Samstag oder von Samstag auf Sonntag. Silvia hatte schon eine ganze Weile bemerkt, daß sich weder Alex noch Jana besonders auf die Zeit mit ihrem Vater freuten.
Als sie an einem Sonntagnachmittag zurückkamen, fragte Silvia kurzentschlossen: »Also, raus mit der Sprache. Warum seid ihr nicht mehr so gern mit eurem Vater zusammen?«
»Was?« fragte Jana, als hätte sie die Frage nicht richtig verstanden.
»Was meinst du damit, Mami?« piepste Alex mit seiner hellen Stimme hinterher.
»Ihr wißt sehr genau, was ich meine, Sportsfreunde. Nun?«
Die Kinder sahen sich unsicher an, dann sagte Jana: »Es ist wegen dieser Frau…«
»Wegen welcher Frau?«
»Die oft bei Papa ist. Sie redet so komisch.«
»Papa sagt, sie kommt aus München«, fügte Alex erklärend hinzu. »Die hat sooo lange knallrote Fingernägel.«
»Alex hat recht, und sie hat immer Sachen an wie die Leute im Fernsehen. Papa hat gesagt, daß sie bald heiraten und fortziehen werden.«
»Ja, und mich fragt Papa dauernd, ob ich nicht mit nach München will!« rief Alex empört. »Mami, du darfst nicht zulassen, daß Papa mich mitnimmt!«
Bestürzt nahm Silvia ihren aufgebrachten Sohn in die Arme. »Das werde ich niemals zulassen.«
»Versprochen?« Unter Tränen sah Alex zu seiner Mutter hoch.
»Versprochen.« Sie schloß die Augen und betete, daß sie dieses Versprechen halten konnte.
*
Der Termin der Scheidung stand mittlerweile fest, und Silvia erwartete ihn mit Bangen. Sonja hatte nicht herausbekommen, wie sich der Richter wegen des Sorgerechts entschieden hatte. Bei einer Kaffeepause in der Gerichtskantine sagte sie: »Löhrmann müßte ein Ungeheuer sein, wenn er Robert das Sorgerecht geben würde.«
»Das denke ich ja auch immer, aber dann kommen mir wieder Zweifel. Was soll ich denn tun, wenn man mir Alex wirklich wegnimmt?«
»Dann legen wir Einspruch ein. Aber so weit wird es nicht kommen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, sagte Silvia ironisch. »Ich weiß gar nicht, wie ich die Zeit bis zum Scheidungstermin überleben soll.«
»Es ist ja nicht mehr lange bis dahin. Was hast du danach eigentlich vor?«
»Was sollte ich denn vorhaben?«
»Ich meine, wegen Stefan. Hast du schon bemerkt, daß er kein Wort mehr über Anke verliert?« Sonja sah die Freundin eindringlich an. »Ich wette, er ist gar nicht mehr mit ihr zusammen.«
»Was du immer so denkst. Ich habe dir doch gesagt, daß ich mit meinen Kindern allein leben will, wenn dies alles vorüber ist.«
»Das sagst du doch nur so. Ich sehe doch, daß dir Stefan noch längst nicht egal ist.«
»Ich habe meinen Kindern versprechen müssen, daß wir für uns allein bleiben«, beharrte Silvia auf ihrer Meinung.
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Jana und Alex so egoistisch sind, daß sie dir ein zweites Glück nicht gönnen. Ich glaube eher, daß du Angst hast, Stefan die Wahrheit zu sagen.«
Silvia sah sich hastig um. »Mußt du denn so schreien?«
»Ich habe nicht geschrien, aber du erscheinst mir etwas gereizt.«
»Entschuldige, ich weiß im Moment manchmal selber nicht, wie ich mich benehme. Einige meiner Klienten haben mich auch schon eigenartig angesehen, wenn ich ihnen anscheinend etwas ganz anderes erzähle, als sie hören wollten.«
»Wenn du so weitermachst, wirst du noch deine Klienten verlieren«, witzelte Sonja. »Jana fragte mich letztens, ob ich es für möglich halte, daß Robert Alex zugesprochen bekommt. Du hast mit ihr darüber geredet? Findest du es sinnvoll, daß sie es weiß?«
Silvia hob ratlos die Hand. »Was sollte ich denn tun? Ich bin mir auch nicht mehr sicher, ob es richtig war, sie einzuweihen. Sie läuft neuerdings oft mit sorgenvoller Miene herum.«
»Hast du ihr auch gesagt, wer ihr wahrer Vater ist?« fragte Sonja leise.
»Natürlich nicht! Ich wünschte, ich hätte überhaupt niemandem davon erzählt.«
»Also, ich bin froh, daß du mich eingeweiht hast.«
Silvia warf der anderen einen warnenden Blick zu. »Ich hoffe, du wirst mein Vertrauen nicht mißbrauchen.«
»Niemals. Du mußt selber wissen, was du tust. Aber wenn du mich fragst…«
»Ich frage dich aber nicht«, gab Silvia schnell zurück. »Und jetzt wechsele bitte das Thema, da hinten kommt die Kollegin Wagner, du weißt doch, wie neugierig sie ist und bei allem, was sie hört, die Ohren spitzt.«
*
Silvia schlug die Augen auf und wußte im ersten Moment gar nicht, wo sie sich befand. Sie hatte sich bis in die frühen Morgenstunden ruhelos im Bett herumgewälzt, und als sie schließlich doch einschlief, hatte sie geträumt, daß Robert ihr Alex aus den Armen riß und mit ihm lachend in der Dunkelheit verschwand.
Silvia griff nach ihrem Wecker. Es war Zeit zum Aufstehen! Normalerweise machte es ihr nichts aus, früh aus den Federn zu steigen, aber an diesem Tag war alles anders – es war der Tag der Scheidung!
In ein paar Stunden wußte Silvia, ob sie ihren Sohn verlieren würde. Sie hatte den Kindern absichtlich nichts gesagt, damit sie unbefangen zur Schule gehen konnten.
Silvia hatte erklärt, daß sie zur Mittagszeit nicht nach Hause kommen würde, was hin und wieder tatsächlich vorkam.
Susi würde mittags kommen und für die Kinder eine Kleinigkeit kochen.
»Du siehst so blaß aus, Mami«, sagte Alex prompt am Frühstückstisch. »Geht es dir nicht gut?«
»Nur ein bißchen Kopfschmerzen. Du weißt doch, daß ich öfter mal welche habe bei diesem trüben Wetter.«
»Dann nimm doch eine Tablette«, schlug er vor.
Jana blickte ihre Mutter skeptisch an, und sofort setzte Silvia eine heitere Miene auf. »Also, tanzt Susi nachher nicht auf der Nase herum, verstanden? Und vergeßt nicht, mit Tobi Gassi zu gehen; ihr wißt ja, daß man ihn bei diesem Wetter direkt hinauszerren muß.«
»Wird gemacht«, sagte Jana. »Los, Alex, wir müssen uns jetzt auf den Weg machen. Viel Spaß bei der Arbeit, Mama.«
»Den werde ich heute bestimmt haben«, sagte sie leichthin und drückte jedem Kind einen Kuß auf die Wange. Nachdenklich sah sie ihnen nach, als sie das Haus verließen.
Was würde dieser Tag wohl bringen?
*
Die Tür des Gerichtssaales II wurde wütend aufgestoßen. Heraus stürmte Robert Kirstein, gefolgt von seinem Anwalt Dr. Clausen.
»Das können die doch nicht einfach machen!« rief er so laut, daß sich mehrere Leute neugierig nach ihm umdrehten. »Das lasse ich mir nicht gefallen.«
»So beruhigen Sie sich doch, um Gottes willen«, redete Dr. Clausen auf Robert ein. »Ich hatte Ihnen doch vorher schon gesagt, daß Sie keine große Chance haben, das Sorgerecht für den Jungen zu bekommen.«
Robert erwiderte wütend: »Wofür bezahle ich Sie eigentlich, wenn Sie nicht fähig sind, mir zu meinem Recht zu verhelfen?«
Dr. Clausen rückte empört seine Goldrandbrille zurecht. »Also, erlauben Sie mal…«
»Ich erlaube gar nichts!« rief er unwirsch aus. »Ein anderer Anwalt hätte es bestimmt geschafft, daß ich Alex mitnehmen kann.«
»Das hätte kein Anwalt geschafft«, verteidigte sich Dr. Clausen. »In diesem Fall hat der Familienrichter bestimmt, was das Beste für Ihren Sohn ist.«
»Pah, das Beste! Woher will der das denn wissen?«
»Vielleicht aus Erfahrung?«
»Immerhin bin ich Alex’ Vater! Habe ich denn überhaupt nichts zu sagen?«
Der Anwalt schwieg. Er wußte, daß kein noch so vernünftig ausgeführtes Argument den rasenden Mann vor sich zur Raison bringen konnte.
Im Gerichtssaal umarmten sich Silvia und Sonja abwechselnd weinend und lachend. Richter Löhrmann sah schmunzelnd zu.
»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte Silvia schließlich, und es war ihr vollkommen egal, daß ihr Make-up verschmiert war.
»Vielleicht revanchieren Sie sich damit in Zukunft, daß Sie es mir bei Ihren Mandanten nicht mehr so schwer mit den Urteilen machen, Frau Anwältin.«
»Ich werde mein Bestes tun«, erwiderte sie strahlend. »Muß ich eigentlich Angst haben, daß mein Ex-Mann Berufung gegen das Urteil einlegt?«
Der Richter wiegte sein schweres Haupt. »Theoretisch könnte er dies wohl tun, aber er hätte keine Aussicht auf Änderung des Urteils. Ich hoffe, Dr. Clausen wird ihn darüber aufklären. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, der nächste Fall wartet.«
»Robert ist schon fort«, sagte Sonja, als sie auf den Flur traten.
»Gott sei Dank. Bei seinem Gesichtsausdruck, den er vorhin gemacht hat, hätte ich direkt Angst, daß er mir an die Gurgel springt.«
»Das würde er nicht wagen! Komm, jetzt gehen wir in das kleine Bistro nebenan, ich spendiere Champagner.«
»Sollte ich nicht besser dir einen ausgeben? Du hast es verdient, bist eine großartige Anwältin. So großartig, daß ich direkt neidisch werden könnte, wenn du nicht meine beste Freundin wärst.«
»Jetzt machst du mich aber verlegen. Dabei habe ich gar nicht viel getan, außer wegen Alex ward ihr euch ja einig. Aber ich lasse mich natürlich gern von dir einladen.«
Lachend verließen die beiden Frauen das Gerichtsgebäude. Sie sahen nicht, daß Stefan sie beobachtete. Er atmete erleichtert auf, dem Gebaren der beiden zu urteilen, war das Urteil zu Silvias Gunsten ausgefallen.
*
Als Silvia nach Hause kam, wurde sie bereits sehnsüchtig von Jana erwartet. Alex spielte mit Susi in seinem Zimmer das neue Computerspiel, das er zum letzten Geburtstag bekommen hatte.
»Mami?« fragte sie leise. »Heute war die Scheidung, nicht wahr?«
Erstaunt blickte Silvia ihre Tochter an. »Woher weißt du das?«
»Ich habe es dir heute morgen angesehen, daß etwas anders war als sonst. Was wird jetzt aus Alex?« Ihre Stimme war ganz zaghaft geworden.
Silvia nahm Jana in die Arme. »Keine Angst, mein Schatz, Alex wird bei uns bleiben.«
»Für immer?«
»Ja, für immer. Am besten wird sein, wenn er gar nichts von dem Gerangele um ihn erfährt.«
Jana nickte ernsthaft. »Ich verspreche dir, ihm nichts zu sagen.«
»Mami, da bist du ja wieder!« Alex kam die Treppe hinuntergestürmt. »Ich habe jedesmal gegen Susi gewonnen!«
»Na, das ist wunderbar«, erwiderte Silvia gelöst. Endlich konnte sie mit ihren Kindern wieder ein normales Leben führen – ohne Angst, daß ihr der Junge weggenommen werden könnte. Wenn doch bloß nicht Stefan wieder in ihr Leben getreten wäre.
*
»Ich freue mich sehr, daß sich alles zum Guten gewendet hat.« Stefan sah erleichtert aus. Es war drei Tage nach Silvias Scheidung, und er saß mit Sonja in der Kantine. »Wie hat es ihr Mann aufgenommen?«
»Der hat wie ein wilder Stier getobt!« Bei dem Gedanken, wie sich Robert vor dem Gerichtssaal aufgeführt hatte, mußte sie nachträglich schmunzeln.
»Ist er noch in der Stadt?«
»Ja, aber soviel ich weiß, ist er dabei, sich auf den Umzug nach München vorzubereiten.«
»Was sagen Jana und Alex dazu, daß sie ihren Vater jetzt nicht mehr so häufig sehen können?« fragte er interessiert. »Immerhin ist München ziemlich weit weg von hier.«
»Nun, nachdem die Kinder Roberts zukünftige Ehefrau kennengelernt haben, ist ihre Begeisterung so ziemlich auf den Nullpunkt gelangt. Ich denke, es wird ihnen nicht allzu viel ausmachen, ihren Vater nur alle paar Monate in den Ferien zu besuchen.«
»Sicher ist es für Silvia nicht einfach, Kinder und Beruf unter einen Hut zu bekommen.«
Sonja blickte Stefan aufmerksam an. »Sie schafft das schon; früher mußte sie schließlich auch für alles allein sorgen, weil Robert kaum zu Hause war. Aber ich denke, ein Mann, der sie unterstützt, würde ihr nicht schaden.«
Stefan nickte und sah angestrengt in seine Kaffeetasse.
Sonja gab sich einen Ruck, dann fragte sie leichthin: »Apropos, wann kommt denn Anke hierher?«
Er blickte wie ertappt auf. »Nun, ich fürchte, überhaupt nicht. So, jetzt weißt du es.«
Sie tat, als wäre sie erstaunt, dabei hatte sie schon lange geahnt, daß Stefan nicht mehr viel für Anke empfinden würde.
»Ach, wie kommt das denn?« fragte sie scheinheilig. »Habt ihr euch gestritten oder auseinandergelebt?«
Stefan wurde abwechselnd rot und weiß im Gesicht.
»Es ist wegen Silvia, nicht wahr?« fragte Sonja sanft. »Mir kannst du es ruhig erzählen – ich weiß es doch sowieso.«
»Und Silvia, weiß sie es auch?«
Sonja zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, da mußt du sie schon selber fragen.«
»Ich glaube, ich bin nur noch ein alter Bekannter für sie. Wenn ich damals nicht so dumm gewesen und bei ihr geblieben wäre, hätte alles so schön werden können.«
»Silvia hat mir erzählt, daß du dich nach deinem Weggang nicht mehr bei ihr gemeldet hast. Warum nicht?«
Stefan fuhr sich durch das dichte Haar. »Ich wollte sie so schnell wie möglich vergessen, weil ich mir einbildete, Karriere zu machen sei wichtiger als die Liebe einer Frau.«
»Eine ziemlich blöde Ansicht, findest du nicht?«
»Ja, heute finde ich das auch. Aber ich habe nie aufgehört, Silvia zu lieben. Ein Grund, weshalb ich in diese Stadt zurückkam, war, daß ich Silvia wiedersehen würde.«
»Wußte Anke von ihr?«
»Nein, natürlich nicht. Sie ist eine liebe Person, aber sie konnte mir Silvia nie ersetzen.«
Sonja fragte vorsichtig: »Und jetzt hast du einfach die Beziehung mit ihr beendet?«
»Nicht ganz. Sie selbst hat bei einem Besuch hier gemerkt, daß wir uns nichts mehr zu sagen haben. Als sie vorschlug, in Freundschaft auseinanderzugehen, stimmte ich sofort zu.«
»Tja, dann rate ich dir, daß du dich jetzt intensiv um Silvia bemühst und ihr genau das sagst, was du mir eben gesagt hast. Ich muß jetzt gehen.« Sonja stand auf. »Das ist die Chance deines Lebens, Stefan. Mach was draus.«
Stefan blieb nachdenklich sitzen. Der Kaffee war schon längst kalt geworden, aber das bemerkte er nicht, als er ihn trank.
*
»Eigentlich habe ich gar keine Lust, ins Kino zu gehen.« Silvia suchte nach einer Ausrede. »Ich habe zu Hause noch jede Menge Bügelwäsche liegen, und die Fenster müssen auch mal wieder geputzt werden.«
»Ach, sei kein Frosch, deine Hausarbeit läuft dir doch nicht weg. Komm doch mit, alleine macht es keinen Spaß.« Sonja wollte sich unbedingt den Film ansehen, von dem die ganze Stadt sprach. »Und danach können wir noch eine Kleinigkeit essen gehen. Was meinst du?«
Silvia holte tief Luft. »Gut, aber nur unter der Bedingung, daß Susi heute abend Zeit hat. Ich lasse meine Kinder nämlich abends nie allein.«
»Natürlich nicht. Ruf Susi an und frage sie.«
»Du gibst niemals Ruhe, nicht wahr?« fragte Silvia und lachte in den Hörer. »Du hast mal wieder gewonnen. Bis heute abend dann.«
Sonja hatte die Begabung, Silvia zu etwas zu überreden, was sie eigentlich gar nicht wollte – und mittlerweile freute sie sich auf den Abend mit der lebensfrohen Freundin.
»Frau Böttcher, wieviel Termine habe ich heute noch?« fragte sie durch die Sprechanlage.
»Nur noch zwei, Frau Kirstein. Soll ich sie absagen?«
»Nein, nein. Ich wollte es nur wissen. Kann ich bis zum nächsten Klienten noch ein Telefongespräch führen?«
»Selbstverständlich. Wenn Herr Körner kommt, bitte ich ihn um etwas Geduld.«
Silvia war froh, daß sie eine Sekretärin hatte, die so fähig wie Verena Böttcher war.
Zwei Minuten später war das Telefongespräch schon wieder beendet. Susis Mutter war am Apparat gewesen und hatte gesagt, daß Susi auf einer Klassenfahrt war und erst am Wochenende zurückkäme.
Enttäuscht wählte Silvia die Nummer von Sonjas Kanzlei, um ihr zu sagen, daß aus dem Kinoabend nichts wurde.
»Laß den Kopf nicht hängen, ich kenne jemanden, der sich sicherlich gern um deine Kinder kümmern wird.«
»So? Wer denn?«
»Sei nicht so neugierig. Ich hole dich um halb acht ab und bringe deinen Babysitter mit.«
»Also, das ist mir aber gar nicht recht…«
»Entschuldige bitte, ich habe jetzt zu tun. Bis heute abend.«
*
»Wer wird denn nachher auf uns aufpassen?« fragte Alex verwundert, und auch Jana sah ihre Mutter fragend an.
»Ich weiß es nicht, Sonja tat ziemlich geheimnisvoll. Jana, gib mir doch bitte mal die Schatulle mit dem Modeschmuck rüber.«
Die Kinder standen neben Silvia im Schlafzimmer und sahen interessiert zu, wie aus der strengen Anwältin ein bezaubernde Frau im engen Rock und mit Stöckelschuhen wurde.
Als es an der Haustür klingelte, stürzten beide Kinder gleichzeitig aus dem Zimmer. Silvia sah ihnen lächelnd nach, ging dann selber auch hinunter. Auf der letzten Treppenstufe blieb sie abrupt stehen.
»Stefan? Was tust du hier?«
»Das war meine Idee«, ertönte Sonjas Stimme aus dem Hintergrund.
Silvia trat zu ihm und fragte unsicher: »Und du willst meine Kinder heute abend betreuen? Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist; sie kennen dich doch kaum.«
»Das habe ich mir auch gesagt und kurzerhand umdisponiert«, meldete sich Sonja wieder zu Wort. Verständnislos sah Silvia ihr zu, wie sie ihre Jacke an der Garderobe aufhängte. »Anstatt mit mir wirst du mit Stefan ins Kino gehen, und ich kümmere mich um deine Rasselbande.«
»Au fein!« rief Alex. »Ich muß dir unbedingt mein neues Computerspiel zeigen!«
Sonja warf einen Blick an die Zimmerdecke. »Na, da habe ich mir ja etwas Feines eingebrockt!« Und zu Silvia gewandt: »Wenn ihr euch nicht beeilt, kommt ihr zu spät zur Vorstellung.«
Stefan hatte noch immer nichts gesagt, sondern stand wie ein Zuschauer bei einer Theatervorstellung da.
Silvia sah ihn fragend an, und endlich begann er zu reden: »Ja, wir sollten uns wirklich beeilen. Oder ist es dir unangenehm, mit mir ins Kino zu gehen?«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete sie viel zu schnell. »Ich hole nur meine Handtasche.« Sie sah nicht, daß Sonja ihm aufmunternd zuzwinkerte.
Dann saßen sie schweigend im Auto.
Während Stefan den Wagen in die Innenstadt lenkte, warf er immer wieder einen aufmerksamen Blick auf Silvia. Schließlich fragte er: »Entschuldige, daß Sonja und ich dich überrumpelt haben, es war Sonjas spontaner Vorschlag, weil dein Babysitter nicht kommen konnte.«
Silvia nickte. Sie dachte an den Abend mit Stefan, als er beim Abschied versucht hatte, sie zu küssen. So etwas durfte nie wieder geschehen, sonst würde sie nie darüber hinwegkommen, daß er nun einer anderen Frau gehörte.
Der Film war sehr gut, doch Silvia bekam kaum etwas von der Handlung mit. Stefans Nähe machte sie nervös und gleichzeitig glücklich; sie war vollkommen durcheinander.
Als der Film vorüber war, atmete Silvia erleichtert auf. Vor dem Kino fragte Stefan: »Hat er dir gefallen?«
»Wer?« fragte sie verstört.
Stefan grinste. »Der Film natürlich.«
»Ach so. Ja, er war sehr schön.« Sie trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.
»Hast du nicht Lust auf ein Glas Wein?« fragte er.
»Ich weiß nicht, ich muß morgen wieder früh aus den Federn«, gab sie zögernd zurück.
»Bitte, nur eine halbe Stunde. Ich möchte dir nämlich etwas sagen, das mir schon lange auf der Zunge brennt. Gleich da vorn gibt es ein kleines Lokal.«
Silvia setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen. Was konnte es bloß sein, worüber er mit ihr sprechen wollte? Er hatte doch hoffentlich nicht herausgefunden, daß Jana seine Tochter war?
Nachdem Stefan zwei Glas Wein bestellt hatte, sagte er zu Silvia: »Ich bin jetzt sehr froh über Sonjas Einfall. Endlich habe ich die Gelegenheit, dir zu sagen, was ich mir bisher nicht zugetraut habe.«
»Und das wäre?« Nun, wo sie saß und er nicht das Zittern ihrer Beine bemerken konnte, fühlte sie sich wieder etwas sicherer. »Was gibt es so Wichtiges, was du mir zu sagen hast?«
»Ich liebe dich noch immer.«
Sie sah Stefan ungläubig an, dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Das… kann ich mir nicht vorstellen.«
»Und warum nicht? Weil ich damals so verbohrt war und nur meinen beruflichen Aufstieg im Kopf hatte? Kannst du mir das denn nicht verzeihen?«
Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie sich eine Strähne ihres dunklen Haares aus der Stirn. »Ich habe dir längst verziehen.«
»Also bedeute ich dir nichts mehr?« fragte er, und seine Stimme klang traurig. »Ich hatte so gehofft, daß du mir eine Chance geben würdest.«
Silvia schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals herunter. »Ich liebe dich auch noch immer, Stefan.«
Seine Augen strahlten glücklich. »Aber weshalb bist du dann so spröde und unnahbar geworden?«
»Kannst du dir das denn nicht denken? Immerhin gibt es mittlerweile eine andere Frau in deinem Leben.«
Er griff erleichtert nach ihrer Hand. »Wenn du Anke meinst – das ist vorbei. Nachdem ich dich wiedergefunden hatte, wurde mir sehr schnell klar, daß du die einzige Frau bist, die ich will.«
Erstaunt sah Silvia ihn an. »Du meinst, ihr seid gar nicht mehr zusammen?«
»Nein, Anke und ich haben uns in aller Freundschaft getrennt. Unserem Glück steht nichts mehr im Wege.«
Silvias eben noch glückliches Gesicht verfinsterte sich schlagartig. »Es geht trotzdem nicht.«
»Ja, aber weshalb denn nicht? Bist du so enttäuscht von Robert, daß du Angst vor einer neuen Beziehung hast?«
Sie lächelte lahm. »Nein, ich weiß doch, daß du nicht wie Robert bist – es geht um meine Kinder. Sie leiden sehr darunter, daß ihr Vater mit einer anderen Frau zusammenlebt und sind aus diesem Grunde nicht mehr gern bei ihm. Ich will nicht, daß…«
»Aber Liebling, wir haben doch alle Zeit der Welt, Jana und Alex ganz langsam daran zu gewöhnen, daß ich dich heiraten will. Meinst du nicht, daß deine Kinder sich wohlfühlen werden, wenn sie in einer intakten Familie aufwachsen?«
Mit Schaudern dachte Silvia daran, daß es bald an der Zeit war, Stefan von seiner Tochter zu erzählen. »Laß mir Zeit, mit den Kindern zu reden, ja?«
»So viel Zeit, wie du brauchst, mein Schatz.« Zärtlich küßte er ihre zarte Hand, die er noch immer in seiner eigenen hielt.
*
Silvia sah von Jana zu Alex und wieder zurück. »Ich möchte mit euch etwas besprechen. Alex, mach bitte den Fernseher aus.«
Erwartungsvoll blickten beide Kinder zu ihr empor. Sie setzte sich ihnen gegenüber.
»Was gibt es denn?« fragte Jana. »Du siehst so ernst aus.«
Verzweifelt suchte Silvia nach den richtigen Worten. »Es hat sich etwas ereignet, worüber ihr unbedingt Bescheid wissen müßt – und ihr sollt entscheiden, ob ihr damit einverstanden seid.«
Jana sah Alex wissend an und fragte dann: »Geht es um Stefan?«
Silvia starrte ihre Tochter an. »Woher weißt du das?«
»Och, Sonja hat uns gestern abend erzählt, daß ihr beide euch so dolle mögt und ob wir etwas dagegen hätten, wenn er hier mit uns zusammenleben würde.«
»Und? Was habt ihr geantwortet?« fragte Silvia atemlos.
»Wenn Stefan mit mir auch mal Fußball spielt und nicht so oft weg ist wie Papa, sind wir einverstanden. Nicht wahr, Jana?« Alex warf seiner Schwester einen Blick zu. Diese nickte überschwenglich.
»Oh, da bin ich aber erleichtert. Kommt her zu mir, meine Süßen.« Sie öffnete die Arme.
Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen und kuschelten sich bei ihrer Mutter an. Auch wenn sie sich im allgemeinen für zu groß hielten, mit Silvia zu schmusen, genossen doch beide ihre geborgene Nähe.
»Aber wenn Stefan dich auch zum Weinen bringt, muß er wieder gehen«, verlangte Alex in bestimmtem Ton. »Dann sind Jana und ich nämlich auch traurig.«
»Ich werde Stefan ausrichten, daß er uns glücklich machen muß«, sagte Silvia und küßte Alex zärtlich auf den Scheitel. »Und ich denke, er wird sich auf diesen Kompromiß einlassen.«
»Und er muß uns erlauben, Tobi zu behalten!« rief Jana, um Silvias Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Hoffentlich mag er Hunde.«
»Bestimmt mag er Tobi genauso, wie wir ihn mögen. Was meint ihr? Sollen wir Stefan am Sonntag zum Essen einladen?«
*
Silvia war erleichtert, als sie hörte, das Robert die Stadt verlassen hatte. Inzwischen war es wieder Vorweihnachtszeit geworden, und sie dachte mit Schaudern an die Zeit vor einem Jahr zurück. Damals fühlte sie sich einsam und nicht wissend, wie es weitergehen sollte.
In diesem Jahr war alles anders. Stefan war nun häufiger Gast im Hause Kirstein. Die Kinder freuten sich, wenn er kam, und sogar Tobi hatte ihn längst als neues Familienmitglied akzeptiert. Es hätte alles so schön sein können, wenn Silvia ihr Gewissen nicht geplagt hätte.
Sonja hatte sie schon mehrmals bedrängt, Stefan zu sagen, wessen Tochter Jana sei – doch sie fürchtete sich vor seiner Reaktion. Was sollte sie tun, wenn er sich danach von ihr enttäuscht abwendete, weil sie ihm seine Vaterschaft so lange verschwiegen hatte?
Doch sie sah ein, daß sie erst wieder ruhig schlafen konnte, wenn Stefan Bescheid wußte – egal, wie er reagieren würde.
Die Kinder waren schon im Bett, als sie schließlich begann: »Ich muß mit dir reden.«
Er nahm sie in die Arme und küßte sie auf die Nasenspitze. »Du siehst so ernst aus. Geht es um die Weihnachtsgeschenke für die Kinder?« versuchte er zu scherzen.
Sie seufzte. »Schön wär’s. Leider gibt es etwas viel Schlimmeres, was du wissen mußt, bevor wir heiraten.«
»Was bedrückt dich, Liebling?«
»Ich habe schreckliche Angst, daß du mich danach nicht mehr willst«, antwortete sie leise und drückte sich so nah an ihn heran, als wäre es das letzte Mal.
Er hob behutsam ihr Kinn an. »Ist es wegen Jana?«
Erschrocken riß sie sich los. »Was weißt du darüber?«
»Sie ist meine Tochter, nicht wahr?«
Silvia senkte den Blick und nickte. »Hat Sonja ihren Mund nicht halten können?«
»Wieso Sonja? Sie hat mir keinen Ton davon erzählt, ich wußte noch nicht einmal, daß du sie eingeweiht hast.«
»Aber woher weißt du es dann?«
»Ich habe es nur geahnt. Mir ist sofort die Ähnlichkeit deiner Tochter mit mir aufgefallen, und als ich hörte, wann sie geboren wurde, war mir klar, daß Robert nicht ihr Vater sein konnte.«
»Und du bist nicht böse, daß ich so lange geschwiegen habe?« fragte sie und sah ihn unsicher an.
Stefan streichelte ihr tränenüberströmtes Gesicht. »Nein, ich bin nur erleichtert, daß du es mir endlich gesagt hast. Ich verstehe nur nicht, warum du mich damals nicht informiert hast.«
Silvia erklärte in knappen Sätzen von dem Mißverständnis. »Als mir klar wurde, daß Robert gar nicht Janas Vater sein konnte, war es zu spät. Das Hochzeitsaufgebot war bereits bestellt, und du wolltest nichts mehr von mir wissen. Was hätte ich denn tun sollen?«
»Ist schon in Ordnung, mein Liebling. Jetzt ist ja alles gesagt. Was meinst du, wollen wir Jana einweihen?«
*
Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Maihimmel, als das frischgebackene Ehepaar aus der Kirche trat. Draußen wurden sie durch Applaus befreundeter Kollegen und Kolleginnen begrüßt.
Sonja nahm Jana und Alex an die Hand und sagte seufzend: »Vielleicht ist es doch keine gute Idee, als Single durchs Leben zu gehen.«
Jana sah aus wie eine kleine Prinzessin in ihrem langen rosa Kleidchen. »So einen Mann wie meinen Papi findest du aber nicht.«
»Das befürchte ich auch«, gab Sonja schmunzelnd zurück. »Der einzige Trost ist die Freude auf die Hochzeitstorte nachher.«
Wehmütig blickte sie auf das Paar, das sich nun zur Freude aller auf der Kirchentreppe küßte. Doch im nächsten Moment dachte sie daran, daß auch sie ein kleines Stückchen dazu beigetragen hatte, daß sich Stefan und Silvia wiedergefunden hatten – und das machte sie sehr, sehr froh…