Читать книгу Gemeinsam einsam durch die Welt - Sina Wunderlich - Страница 16
Seljalandsfoss
ОглавлениеMai 1998
Immer diese Menschen, die zu spät kommen müssen. Wo bleibt er nur? Oh Gott. Weiß er überhaupt, wann er am Flughafen sein muss? Ich dachte, Philias hätte es ihm gesagt! Seine Verspätung ist definitiv nicht in meine Zeitplanung mit eingerechnet! Also wenn er hier nicht bald auftaucht, dann gehe ich ohne ihn.
Nein! Stopp! Ich kann nicht allein in ein Flugzeug steigen. Ich brauche jemanden an meiner Seite. Ich bin noch nie in meinem Leben geflogen. Das machen meine Nerven nicht mit, wenn er mich jetzt allein lässt. Wieso taucht dieser Kerl denn nicht auf? Mein Gott, bin ich eigentlich dumm? Wieso habe ich mich überhaupt darauf eingelassen? Wieso fliege ich mit jemanden, den ich eigentlich gar nicht kenne, einfach so ans andere Ende der Welt? Aber Philias hätte mich niemals mit jemandem weggelassen, wenn er nicht genau wüsste, wie er tickt. Philias ist wie ein großer Bruder für mich, wie ein Beschützer.
Wo zum Teufel steckt Kilian? Ich laufe langsam zum Check-in-Schalter vor, bleibe aber nach zwei Schritten stehen. Ich kann das nicht ohne ihn. Wo bleibt er nur? Ich kaue auf meiner Lippe herum und stelle meinen Koffer neben mir ab. Ich spüre eine Hand an meiner Taille und zucke zusammen. Aua! Jetzt habe ich mir auf die Lippe gebissen! So ein Mist! Kurz bevor ich um mich geschlagen hätte, erkenne ich Kilian. Ich atme erleichtert aus. „Du bist zu spät!“, zische ich und schlendere mit meinem Koffer an ihm vorbei, vor zum Check-in-Schalter. Er macht zwei große Schritte und hat mich wieder eingeholt.
„Ich bin nicht zu spät! Voll pünktlich. Nur zwanzig Minuten zu spät. Aber die Zeit reicht doch noch vollkommen aus.“ Er zieht die Augenbrauen hoch und grinst mich an. Mein finsterer Blick lässt sein Grinsen leider nicht auslöschen. Wenn das jetzt sieben Monate so geht, raste ich aus. Es ist schließlich nicht nur ein Urlaub, sondern fast eine Weltreise.
* * *
„Darf ich dich mal was fragen?“
Wir sitzen nebeneinander im Flugzeug und sind gerade gestartet. Ich habe immer noch ein mulmiges Gefühl. Der Druck in meinen Ohren lässt langsam nach. Es ist schon faszinierend, dass so eine schwere Maschine abheben kann. Die Welt sieht von oben so unfassbar klein aus. Alles schaut aus wie Spielzeug. Wie eine Landschaft in einem Modelleisenbahnmuseum. Ich habe darauf bestanden, dass ich am Fenster sitzen darf. Kilian hat mich schon total komisch angeschaut, als ich ihm erzählt habe, dass ich noch nie geflogen bin. Ich wende meinen Blick nur langsam vom Fenster ab und schaue ihn fragend an.
„So eine Reise ist ganz sicher nicht billig. Ich meine, es sind sieben Monate. Wo hast du das ganze Geld her, wenn du auch noch die Tickets für Philias mit bezahlt hast?“
„Meine Oma hatte viel Geld, als sie starb. Sie hat es mir und meinem Bruder vermacht, als sie leider von uns gegangen ist. Sie hat sich immer gewünscht, dass ich ihre Lieblingsorte auf der Welt auch einmal sehe. Sie ist viel gereist in ihrem Leben. Ich glaube, ein wirkliches Zuhause hatte sie nicht. Sie war überall Zuhause. Kurz bevor sie starb, gab sie mir eine Liste mit den Ländern, die sie liebte und die ich mir unbedingt anschauen solle. Diese Liste arbeite ich jetzt ab.“
Er nickt nachdenklich und wendet seinen Blick wieder von mir. Ich drehe mich gerade wieder zum Fenster, als er mich anstupst. „Ist mir ein bisschen peinlich, das jetzt zu fragen. Hab’ eben nicht aufgepasst. Aber ... ähm wohin fliegen wir eigentlich? Irland? Island? Irgendwas mit I. Oder?“ Ich muss lachen. Als ob er einfach in ein Flugzeug steigt, mit einer wildfremden Person neben sich, und nicht mal weiß, wohin es geht. Philias scheint ihm ja echt viel erzählt zu haben.
„Unsere erste Station ist Island.“
„Ist es da nicht total kalt?“ Er verzieht das Gesicht.
„Na ja fünf Grad, wenn wir Glück haben. Aber glaube mir, die Landschaften müssen der Hammer sein! Die werden dir auch gefallen, obwohl es kalt ist.“
„Musst mich noch überzeugen von dem Land, befürchte ich. Wo geht es danach hin?“
„Das sag ich dir nicht. Lass dich überraschen, wo die Flugzeuge dich so hintragen“, sage ich schmunzelnd.
Er verdreht die Augen. „Ich wandere doch gerne durch die Welt, ohne zu wissen, wo wir gerade sind. Und wo übernachten wir? Ich hoffe ja mal nicht, auf der Straße.“
„Doch natürlich. Als ob ich dich mit in meinem Bett schlafen lasse.“
Jetzt müssen wir beide lachen.
„Nur der Anfang der Reise ist komplett gebucht. Am Ende sind es nur die Flüge, da habe ich noch keine Jugendherbergen. Aber wir sind ja spontan. Ich hoffe zumindest, dass du es bist. Ich plane nämlich alles eigentlich immer durch. Philias hat mir nur verboten, die ganze Reise von vorne bis hinten zu buchen. Er wollte mir Spontanität beibringen. Ihn hat es genervt, dass ich immer alles planen muss. Dumm ist nur, dass es mich wahnsinnig macht, wenn ich etwas nicht planen kann. Du hast allein schon mit deinen zwanzig Minuten Verspätung meinen ganzen Zeitplan durcheinandergeschmissen. Gewöhn dir das ja ab.“
„Alter Schwede. Hol mal Luft zwischendurch. Das ist ja nicht normal, wie schnell und wie viel du redest. Gewöhn dir das mal lieber ab, sonst halte ich es keine zwei Stunden mit dir aus.“
Ich grinse ihn nur an. Da hat er recht. Das ist eine meiner Schwächen. Ich rede definitiv manchmal zu viel. Und vor allem zu schnell. Ich lehne mich entspannt zurück und schaue aus dem kleinen Fenster. Jetzt kann ich nur noch viele weiße Wolken und blauen Himmel erkennen.
* * *
Nach sechseinhalb Stunden Flug sind wir endlich in Reykjavik angekommen. Die Hauptstadt Islands. Als wir aus dem Flugzeug steigen, ist es tatsächlich kälter, als ich erwartet habe. Da fliegt man im Mai in den Urlaub und es ist kälter als in der Heimatstadt. Aber das hatte ich ja geplant. Die Sommerklamotten bleiben in diesem Monat wohl definitiv im Koffer. Die frische, kalte Luft tut trotzdem gut, als wir endlich aus dem Flugzeug dürfen.
Eine kurze Taxifahrt später sind wir auch in unserem Hostel angekommen. Es ist nicht sonderlich groß, aber bis jetzt sind die Menschen total nett und auch mit unserem Zimmer komme ich klar. Ich stelle meinen Koffer an eine Wand und betrachte das Zimmer genauer. Ein kleines Zimmer, das aber vollkommen ausreichend ist. Es ist mit zwei Betten, einem Tisch, einem großen Schrank und einem Bad ausgestattet. Mich wundert es, dass es sogar zwei Betten gibt und kein Doppelbett hier steht, aber das ist mir auch ganz recht so. Kilian hat schon ein Bett beschlagnahmt und seine Sachen darauf geschmissen.
„Wie lange bleiben wir jetzt hier, wenn ich fragen darf?“, fragt er mich. Die Betten sind so hoch, dass er seine Beine baumeln lassen kann, auch wenn sie nur zwei Zentimeter über dem Boden schweben. Er sitzt da wie ein kleines, ungeduldiges Kind. Irgendwie süß.
„Zwei Wochen. Danach geht es für zwei Wochen in eine kleine Stadt, die auch in Island liegt. Wir reisen immer relativ am Anfang eines Monats ins nächste Land. Und das sieben Monate lang, also sind wir in sieben Ländern unterwegs“, erkläre ich ihm meinen Plan.
„Okay. Gecheckt.“
Wäre auch seltsam, wenn nicht. Ich habe es ja sehr ausführlich erklärt. Erst jetzt bemerke ich, dass ich eigentlich keine Ahnung habe, wer er ist. Bis auf seinen Vornamen weiß ich absolut nichts. Gut, er hat mir seinen kompletten Namen gesagt, aber den habe ich schon wieder vergessen. Ich weiß nicht, wie viel Philias von mir erzählt hat, aber viel dürfte Kilian auch von mir nicht wissen. Ich glaube, ich muss noch so einiges über ihn herausfinden. Ich habe sieben Monate Zeit dafür, beschließe aber jetzt schon, damit anzufangen. Ich will wissen, wer er ist.
„Lass uns noch kurz rausgehen und die Gegend erkunden. Es ist schließlich noch hell.“
Sein Vorschlag kommt mir sehr gelegen. Dann kann ich ihn ja gleich draußen über ihn ausfragen.
Als wir draußen ankommen, erschlägt mich die Kälte für einen kurzen Moment. Ich ziehe meinen Schal tiefer ins Gesicht und mache meine Jacke noch ein Stück weiter zu. Auch Kilian steckt seine Hände erst einmal in seine Jackentaschen. Wir haben zwar über null Grad, aber die Kälte sind wir irgendwie beide nicht mehr gewöhnt. Bei uns in Frankfurt ist es schließlich fast Sommer.
Wir laufen die Straße entlang. Ein paar kleine Geschäfte sind an den Straßenseiten zu erkennen. Was das für Geschäfte sind, kann ich nicht ganz herausfinden, da überall nur alles auf Isländisch über den Ladentüren steht. Von Isländisch habe ich nicht viel Ahnung. Da auch Kilian gerade die Läden kritisch anschaut, nehme ich an, er weiß auch nicht, was das alles heißen soll. Ich schaue zu ihm hoch. Er ist mindestens einen halben Kopf größer als ich. „Erzähl mal ein bisschen über dich. Ich habe eigentlich keine Ahnung, wer du bist.“
„Also, wo fange ich am besten an?“ Er überlegt kurz, dann fängt er an zu erzählen und ich höre seiner schönen, rauen Stimme zu. „Wie du schon weißt, heiße ich Kilian James Settler. Ich bin 23 Jahre alt, werde im November 24. Ich bin Automechaniker und arbeite nebenbei ab und zu abends in Klubs. Und bei dir so?“
Ein Automechaniker, der in Klubs arbeitet. Ja, das passt sehr gut zu ihm. Kann ich mir genau vorstellen.
Ich erzähle ihm kurz von meiner abgeschlossenen Ausbildung als Erzieher und davon, dass ich nach dieser Reise in dem Kindergarten anfange fest zu arbeiten. Außerdem erwähne ich, dass ich im April 21 wurde. „Wo kommst du ursprünglich her?“, frage ich ihn neugierig.
„Meine Mum kommt aus Eritrea, im Osten von Afrika. Deswegen meine Hautfarbe. Sie liebte ihr Heimatland. Aber da gab es mich noch nicht. Ich wurde in Frankreich geboren, aber wirklich lange haben wir dort auch nicht gelebt. Wir sind schnell umgezogen und nach Deutschland gekommen.“
„Oh wirklich? Ich wurde zwar in Deutschland geboren, aber meine Eltern kommen ursprünglich aus Frankreich. Deswegen auch der französische Nachname Aveline. Sie mussten leider aufgrund ihrer Jobs umziehen. Ich weiß, wie sehr sie ihr Heimatland Frankreich eigentlich lieben. Wo genau wurdest du geboren?“
„Es ist eine kleine Stadt östlich von Paris. Ich glaube nicht, dass du sie kennst. Sie heißt Gerbepal.“
„Nein, das sagt mir tatsächlich nichts. Meine Eltern kommen beide aus Orleans.“
Kilian nickt nur und so schweigen wir für einen kurzen Moment.
„Wie heißt deine Mama?“, frage ich weiter.
„Neyla Settler.“
Der Name ist wunderschön. Ich würde gerne mit ihm nach Eritrea gehen, um ihm das Heimatland seiner Mama zu zeigen, aber leider steht das nicht auf meiner Liste.
„Was ist mit deinem Vater?“, frage ich, doch Kilian weicht meinem Blick und auch meiner Frage aus. Wir kommen zum Stehen.
„Es ist wunderschön hier“, flüstert er.
Ich folge seinem Blick und erst jetzt fällt mir auf, dass wir nahe am Meer stehen. Ich wusste, dass unser Hostel in der Nähe des Meeres ist, aber es jetzt wirklich zu sehen, ist unglaublich. Es dämmert schon und die Sonne spiegelt sich im Wasser. Der Anblick ist atemberaubend. Es ist unfassbar still hier. Wir stehen lange da und schauen auf das Meer raus. Was wohl mit Kilians Vater ist? Vielleicht hat er Kilian und seine Mama verlassen. Solche Sachen kommen vor. Er ist der Frage dermaßen ausgewichen, das war ganz sicher kein Zufall. Aber vielleicht will er einfach nur noch nicht darüber reden. Ich meine, wir kennen uns ja eigentlich kaum.
Er berührt meinen Arm und zieht mich aus meiner Gedankenwelt. „Lass uns zurückgehen. Es ist verdammt kalt geworden.“
Er hat recht. Ich glaube zwar nicht, dass es kälter ist, als vorhin, aber je länger wir nur an einem Fleck stehen, desto kälter wird es. Ich nicke ihm zu und wir drehen um.
* * *
Wow. Das nenne ich mal ein Sixpack. Wieso sieht er nur so verdammt gut aus? So verdammt gut und heiß. Jetzt geht er sich mit der Hand durch seine schwarzen Locken. Holy. Da bleibt einem ja gar nichts anderes übrig, als ihn anzustarren. Wieso hat er kein T-Shirt an?!
Plötzlich fängt Kilian an, zu lachen, und reißt mich aus meiner Trance. „Kann es sein, dass da jemand auf Bauchmuskeln steht?“, fragt er mich schmunzelnd.
Ich schaue schnell beleidigt weg von ihm. „Nein. Du solltest definitiv noch mehr trainieren.“
„Komm, gib es zu, dass mein Körper schon geil ist.“
Hat er das jetzt ernsthaft gesagt? Was ein Ego! Jetzt fange ich auch an, zu lachen, und wende ihm meinen Blick wieder zu. Ich schüttele den Kopf. Das sag ich ihm ganz sicher nicht, sonst würde ich ihm ja einen Gefallen tun. „Ist es nicht ein bisschen kalt, so zu schlafen?“, frage ich ihn, da es zwar im Zimmer ganz angenehm ist, aber trotzdem eigentlich keine hohen Temperaturen herrschen.
„Du, also eigentlich hatte ich zwar vor, mir noch was überzuziehen, aber ich kann auch so bleiben, wenn du etwas zum Dahinschmelzen brauchst.“ Ich werde rot. So war das nicht gemeint! Ich lege mich in mein Bett und mache das Licht aus, in der Hoffnung, dass er jetzt auch endlich zu seinem Bett geht und hier nicht halb nackt vor mir steht. Es wird stockdunkel im Zimmer. Okay, das war nicht geplant.
„Hey! Ich muss schon noch irgendwie mein Bett finden. Oder soll ich mit in deins kommen?“
Flirtet er gerade mit mir? Ernsthaft?
Ich mache kurz das Licht an und warte, bis er sein Bett gefunden hat und endlich liegt. Ich drücke wieder auf den Lichtschalter und lege mich hin. Ich höre, wie Kilian sich die ganze Zeit von links nach rechts und rechts nach links dreht. Auch ich kann nicht einschlafen.
„Wusstest du, dass Reykjavik die am nördlichsten gelegene Hauptstadt der Welt ist?“, frage ich leise in Kilians Richtung.
Ich höre nichts mehr von ihm. Vielleicht ist er eingeschlafen.
„Nein, woher auch?“, fragt er leise.
Gut. Er schläft doch noch nicht. Ich zucke automatisch mit den Schultern. Es dauert einen Moment, bis ich realisiere, dass er das ja nicht sehen kann.
„Reykjavik heißt übersetzt Rauchbucht.“
„Hast du den Wikipedia-Artikel auswendig gelernt?“
„Nein, eigentlich nicht“, antworte ich lächelnd.
„Dann bist du eindeutig ein wandelndes Lexikon“, stellt er fest.
Ich weiß genau, dass er gerade auch grinsen muss, aber das kann ich in der Dunkelheit nicht sehen.
„Weißt du noch irgendwelche Fakten über Island?“, fragt er weiter.
„Ja, aber nur so nebensächliches Zeug wie zum Beispiel, dass nur ein Prozent des Landes bewaldet ist“, antworte ich ihm. Mir würde bestimmt noch mehr einfallen, aber ich belasse es erst einmal mit dem einen Fakt. Kilian antwortet nicht und auch ich werde langsam müde.
„Gute Nacht, wandelndes Lexikon“, murmelt er.
Ich muss lächeln. „Gute Nacht, Kilian“, sage ich leise. Dann schlafe ich ein.
* * *
Trotz der Kälte sitzen wir noch am Abend mitten in Reykjavik, etwa vier Kilometer von unserem Hostel entfernt. Es ist der letzte Abend hier. Morgen fahren wir weiter. Es war eine schöne Zeit in der Hauptstadt Islands. Wir haben uns die Hallgrimskirche angeschaut. Eine 1986 geweihte Kathedrale mit einem 73 Meter hohen Turm. Den Golden Circle, auf isländisch auch Gullni hringurinn genannt, sind wir entlanggefahren. Das ist eine etwa neunstündige Reiseroute, bei der wir Wasserfälle, Geysire und einen Vulkankrater gesehen haben. Es war wirklich ein schöner Tag, der sich definitiv gelohnt hat. Die Skulptur Sonnenfahrt haben wir begutachtet und auch in der kleinen Bucht Nautholsvik waren wir. Dort war ein sehr schöner goldener Sandstrand, an dem wir einen tollen Tag verbracht haben.
Heute, an unserem letzten Abend, haben wir es uns auf einer Bank gemütlich gemacht und schauen auf den See Tjörnin, der sich in der Stadt befindet. Heute Mittag sind wir hierhergefahren, um ein bisschen durch die Stadt zu schlendern. Es war ein schöner Tag, den wir nun ausklingen lassen. Ich habe das Gefühl, je später es wird, desto mehr Menschen sind in der Stadt unterwegs. Seltsam. Ich schaue mich um. Wirklich überall laufen Leute entlang, die meisten sogar schick angezogen. „Warum sind hier so viele Leute unterwegs?“, frage ich Kilian verwirrt.
„Höchst wahrscheinlich wegen des Nachtlebens hier. Habe gehört, dass Island ein krasses Nachtleben haben soll.“
Ich schaue ihn nur verwirrt an, weil ich nicht genau weiß, was er meint.
„Jetzt sag mir nicht, ich weiß etwas besser als mein wandelndes Lexikon. Nachtleben halt. Klubs. Partys. Wir haben Freitagabend. Kann schon sein, dass wir gerade an so einer Ecke sitzen, wo viele Leute unterwegs sind. Dreh dich mal um. Schau mal die Straße dort vorne.“ Er zeigt auf eine Straße nicht weit von uns.
„All die Lichter, die dort an sind, sind wahrscheinlich irgendwelche Klubs, wo Leute feiern gehen.“
Ich zucke mit den Schultern. „Mit Klubs und Partys habe ich es nicht so am Hut.“
„Jetzt sag mir bitte nicht, du warst mit 21 noch nie betrunken und hast Spaß gehabt?“
„Wieso? Ich kann auch ohne Alkohol Spaß haben“, antworte ich schulterzuckend.
Kilian springt auf. Er stellt sich vor mich und reicht mir seine Hand. „Darf ich dich mit dem Nachtleben von Island vertraut machen?“
Ich zögere kurz.
„Komm schon. Lass uns feiern gehen. Bis in den Morgen tanzen. Spaß haben.“
Ich willige widerwillig ein und gebe ihm meine Hand. Er zieht mich hoch und lässt meine Hand auch nach fünf Metern noch nicht los. Er zerrt mich vor zu der beleuchteten Straße, in den ersten Klub hinein.
Laute Musik. Viele Leute. Eigentlich nicht meine Welt, aber ich muss schon sagen, dass die Atmosphäre hier wirklich nicht schlecht ist.
Kilian schleppt mich zur Bar. „Was willst du trinken?“
„Keine Ahnung. Cola?“
Er zuckt mit den Schultern und verschwindet in den Menschenmassen. Jetzt lässt er mich hier auch noch allein stehen. Ich schaue mich um. Die meisten Leute sind auf der Tanzfläche unterwegs, die anderen stehen an der Bar und unterhalten sich. Ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagen. Ein Typ kommt auf mich zu, der definitiv älter ist als ich. Na super. Was mache ich jetzt? Kann der mich bitte in Ruhe lassen? Verzweifelt schaue ich mich um und suche Kilian, aber ich kann ihn nirgendwo erkennen. Der Typ lächelt mich an, aber mir gefällt sein Lächeln absolut nicht.
„Við skulum dansa, þú falleg stelpa“, fragt er.
Oder sagt er? Ich habe keinen blassen Schimmer. Ich versuche, ihm irgendwie auf Englisch klarzumachen, dass ich kein Isländisch spreche, aber entweder ist es zu laut hier oder er spricht kein Englisch. Auf jeden Fall versteht er mich nicht. Ich kann Kilian erkennen, der mit zwei Gläsern wiederkommt. Als er den Typen und meinen verzweifelten Blick sieht, läuft er einen Schritt schneller. Er drückt mir das Glas in die Hand und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Der Typ schaut von mir zu Kilian und wieder zu mir. Dann entfernt er sich.
„Sorry“, murmelt Kilian in mein Ohr, „Aber der wäre sonst nicht abgehauen.“
Ich bin ihm eher dankbar, dass er den Typen vertrieben hat. Ich nippe an meinem Glas. Bahh. Was zum Teufel hat er mir da gebracht? Das ist keine Cola! Ich verziehe das Gesicht. „Was zum Henker ist das?!“
„Cola.“
Ich ziehe die Augenbrauen hoch.
„Cola mit Alkohol halt. Dachtest du, die haben hier irgendetwas ohne Alkohol?“
„Was ist das denn?“
„Bacardi. Trink mal noch drei Schlucke, dann schmeckt es besser. Glaub mir.“ Er leer sein halbes Glas.
Ich habe keine Ahnung, was darin ist, und vielleicht will ich es auch nicht wissen. Ich tue, was er mir geraten hat, und nippe noch ein bisschen an dem Glas. Er hat recht. Nach einer gewissen Zeit ist das Getränk gar nicht mehr so ekelhaft. Es brennt ein wenig im Hals, aber es schmeckt.
Er hält mir seine Hand hin und lächelt mich breit an. „Kommst du mit tanzen?“, raunt er mir ins Ohr. Ich gebe ihm meine Hand und lasse mich auf die Tanzfläche ziehen. Seine Hände wandern an meine Hüfte. Die Musik ist gut. Die Tanzfläche voll. Nach kurzer Zeit habe ich schon wieder ein Glas in der Hand. Ich habe keine Ahnung, woher das auf einmal kommt. Ich trinke ein paar Schlucke, aber so wirklich schmecken tut es nicht. Ich reiche es Kilian, der aber auch nicht wirklich viel davon trinkt. Ich bin froh, dass Kilian mich die meiste Zeit festhält, denn irgendwie wird mir leicht schwindelig. Kommt das vom Alkohol? So viel habe ich doch noch gar nicht getrunken. Also glaube ich. Wissen? Nein, wissen tue ich es nicht. Aber es ist lustig hier. Wirklich lustig. Spaßig. Witzig. Geil. Ich bin zu gut drauf gerade. Richtig gut drauf. So fröhlich war ich lange nicht mehr. Alles macht auf einem Spaß und ist witzig. Der Alkohol wirkt. Definitiv.
* * *
„Guten Morgen, Sonnenschein!“
Ich blinzele zweimal. Kilian steht schon wieder grinsend halb nackt vor mir. Kopfschmerzen. Oh, mein Kopf dröhnt. Aua. Ich will nicht aufstehen. „Fresse“, sage ich trotzig. Mehr Kommentar gibt es gerade von mir nicht.
„Haben wir gestern etwa zu viel getrunken?“, fragt Kilian schmunzelnd.
Wieso zur Hölle ist der denn so gut gelaunt? „Weiß ich nicht mehr“, murmele ich in die Decke und drehe mich um. Plötzlich wird es arg kalt. Hat er mir gerade ernsthaft die Decke weggezogen?
„Du Arschloch“, sage ich lachend und setze mich auf.
„Bin ja schon fast fertig.“
Ich schaue an mir herunter und bemerke, dass ich immer noch die Sachen von gestern anhabe.
Kilian sieht meinen Blick und antwortet: „Ja, ich wollte dich nicht ausziehen. Glaube, das hättest du im Endeffekt nicht so cool gefunden. Außerdem bist du so schnell eingeschlafen, da habe ich dich nur noch zugedeckt.“
„Ist ja nett von dir“, sage ich lachend und stehe auf. Ich schaue auf meine Uhr und erstarre.
„Wieso hast du mich nicht früher geweckt? Der Bus kommt doch in zwanzig Minuten!“, frage ich ihn schockiert.
„Ja und? Zwanzig Minuten werden dir ja wohl reichen, oder?“
Dieser Junge macht mich noch wahnsinnig. Aua. Die Kopfschmerzen sind echt ätzend. Ich greife mir an den Kopf. Ich höre Kilian hinter mir lachen. Ich zeige ihm den Mittelfinger und verschwinde im Bad.
* * *
Die Busfahrt zieht sich irgendwie, auch wenn wir nur knapp drei Stunden Fahrt haben. Mein Kopf lehnt an Kilians Schulter, der immer noch dröhnt, aber die Schmerzen werden besser. Ich schaue aus dem Fenster. Es ist unfassbar, wie grün hier alles ist, obwohl so gut wie kein Baum zu sehen ist. Die Landschaften rauschen an uns vorbei. Wir fahren an ein paar kleinen Städten vorbei. Mich würde mal interessieren, wie grün das Land von oben aussieht. Sehr viel anderes, außer grüne Landschaften, kann ich aus dem Autofenster nicht sehen.
Exakt nach zwei Stunden und etwa fünfzig Minuten kommen wir in der winzigen Stadt Skogar an. Meine Oma wollte, dass ich unbedingt hierherkomme. Von allein wäre ich wahrscheinlich niemals auf die kleine Stadt gekommen. Wir übernachten diesmal in einem Hotel. Es ist nicht sehr teuer, deswegen können wir auch mal in einem Hotel schlafen. Wir wuchten unsere Koffer aus dem Bus und winken uns ein Taxi heran. Es kann nicht weit bis zum Hotel sein, jedoch möchte ich die Koffer nicht die ganze Strecke tragen. Nachdem endlich ein Taxi zu uns gekommen ist, fahren wir etwa drei Minuten und können dann unser Hotel betreten.
Ich habe keine drei Schritte in das Hotel gemacht, da werde ich schon von einer Frau begrüßt. „Du musst Alicia sein. Die Enkelin von Annemarie. Sie hat uns immer versprochen, dass uns eines Tages ihre Enkelin besuchen kommt. Sie hat viel von dir erzählt. Es ist so schade, dass sie von uns gehen musste. Aber jetzt kommt erst einmal herein. Herzlich willkommen in Skogar“, sagt sie uns in Englisch.
Endlich mal jemand, der nicht nur Isländisch spricht. Meine Oma muss ja einen großen Eindruck hinterlassen haben. Die Frau führt uns in unser Zimmer. Wir haben wieder zwei einzelne Betten. Das Zimmer sieht fast genauso aus wie das in Reykjavik, aber es ist ein bisschen heller, größer und freundlicher. Wir sind eben doch in einem Hotel und nicht mehr in einem Hostel.
* * *
Ich liege im Bett und starre die Decke an. Einschlafen ist wohl nicht so meine Stärke. Ich schaue zu Kilians Bett, aber es ist so dunkel, dass ich nicht erkennen kann, ob er auch wach liegt oder schläft.
„Bist du noch wach, wandelndes Lexikon?“, fragt Kilian leise, als hätte er meine Gedanken gelesen.
„Ja, ich kann nicht einschlafen.“
„Hast du wieder ein paar Fakten über die Stadt, in der wir uns befinden?“, fragt er lachend.
„Aber natürlich“, antworte ich schmunzelnd. „Also, wir sind in Skogar. Das ist im Süden von Island. Skogar heißt übersetzt Wälder. Es ist ein kleiner Ort, der nur 25 Einwohner hat. Schon niedlich.“
„Putzig. Doch so viele.“
Wir sagen beide nichts mehr, aber ich weiß, dass er auch noch wach liegt.
„Ich kann nicht schlafen, Kili“, sage ich nach ein paar Minuten leise. Es ist das erste Mal, dass ich ihn Kili nenne. Ich weiß auch nicht, warum. Ich höre, wie er seine Bettdecke hochklappt.
„Komm her“, flüstert er.
Ich zögere kurz, doch dann tapse ich über den kalten Boden zu Kilians Bett und schlüpfe unter die Decke. Sein Körper ist schön warm. Jetzt weiß ich auch, warum er nur im T-Shirt schlafen kann, ohne zu erfrieren. Ich schließe die Augen und schlafe in Kilians Armen ein.
* * *
Diese atemberaubende Schönheit. Es dämmert schon, aber das macht den Himmel im Hintergrund nur umso schöner. Das Farbenspektakel ist der Wahnsinn. Das Wasser stürzt etliche Meter in die Tiefe. Um genau zu sein, stürzt es 66 Meter in die Tiefe. Der Anblick raubt einem wirklich den Atem. Er liegt vor uns. Mit seiner Pracht und seiner Schönheit. Der Wasserfall Seljalandsfoss, was übersetzt Schluchtenbewohner heißt. Wir stehen hinter dem Wasserfall in einer Art Höhle und beobachten, wie das Wasser vor uns nach unten fällt. Ein kleiner Pfad führt hinter den Wasserfall. Auf diesem stehen wir jetzt und starren mit offenem Mund die großen Mengen Wasser an.
Der Himmel färbt sich in die Farben Orange und Rot. Es sieht so schön aus. Auf den Moment habe ich lange gewartet. Das ist definitiv das schönste Erlebnis in Island. Ich danke meiner Oma so sehr, dass sie wollte, dass ich hierherkomme. Im Tosbecken wird das ganze Wasser aufgefangen und eine leichte Prise vom Wasser sprüht in unsere Richtung. Durch den Wasserschleier sieht man die Weite Schönheit Islands. Wir stehen nebeneinander und bestaunen den Wasserfall. Ich schaue zu Kilian, der ihn förmlich anhimmelt.
„Ich wusste, dass es dir hier gefällt.“ Ich lächele ihn an, doch er schaut nicht zu mir. Er nimmt schweigend meine Hand. Wir stehen noch lange hier. So lange, bis fast die gesamte Sonne untergegangen ist und es dunkel wird. Wir genießen diesen letzten Moment, denn morgen steigen wir wieder ins Flugzeug.