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Die Welt ohne dich

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Dezember 1998

Früher war vieles leichter. Zumindest glaube ich das heute. Manchmal wäre ich gerne wieder ein Kind. Ein kleines, unschuldiges, fantasievolles Wesen. Man hat über weniger nachgedacht. Vielleicht auch, weil man eben einige Dinge noch nicht verstanden hat. Man hat sein Leben einfach gelebt. Nicht so viel an den nächsten Tag gedacht. Man hat im Hier und Jetzt gelebt. Heute gehöre ich zu der Sorte Mensch, die alles planen muss. Irgendwie geschieht in meinem Leben nichts mehr spontan. Ich weiß immer, was als Nächstes passiert, mache Listen, schreibe alles auf und plane jede Sekunde meines Lebens und somit auch meine Zukunft. Überall liegen Zettel in meiner Wohnung, auf denen ich alles festhalten muss. Auch Klebezettel sind überall verteilt, die an meinen Schränken, Tischen und Wänden heften. Trotzdem versuche ich, Ordnung zu halten, denn Unordnung ist das Letzte, was ich gebrauchen kann.

Wenn man sich früher mit Freunden gestritten hat, hat man sich nach einem Tag wieder vertragen. Man war nicht so stur wie heute, hat nicht so viel nachgedacht und einfach eingesehen, dass man den anderen zum Spielen braucht. Ohne einander wusste man gar nicht, was man allein machen sollte. Aber was ich am meisten an meiner Kindheit vermisse, sind die aufgeschürften Knie. Tränen steigen mir in die Augen, die ich versuche, möglichst schnell herunterzuschlucken. Verdammt. Selbst bei aufgeschürften Knien muss ich an ihn denken. Wenn man früher mit aufgeschürften Knien nach Hause kam, hat Mama dreimal gepustet, ein schönes Pflaster auf die Wunde geklebt und die Welt war wieder in Ordnung. Man konnte sofort wieder lachen und spielen gehen. Wie ich diese aufgeschürften Knie vermisse. Lieber zwei blutige Knie als ein gebrochenes Herz. Viel lieber. Denn bei einem gebrochenen Herzen kann Mama so stark pusten, bis ihr die Luft wegbleibt, es wird nicht besser werden. Und noch nicht einmal ein schönes, pinkfarbenes Einhornpflaster kann sie darüber kleben, sodass die Welt wieder in Ordnung ist. Wenn das so leicht wäre ...

Ich hätte gerne das schöne, glückliche Kinderlachen zurück. Denn im Moment verspüre ich nichts anderes als das Gefühl endloser Trauer. Wenn dir kalt wird und du am ganzen Körper zitterst. Du starrst unendlich lange total uninteressante Gegenstände an, ohne zu wissen, warum. Du vergisst alles um dich herum. Alles, was du hörst, ist dein Herzschlag, der dir bis zu den Ohren schlägt. Im gesamten Körper spürst du ihn. Allerdings bist du eigentlich froh, deinen Herzschlag zu hören, denn dadurch weißt du, dass du noch am Leben bist und du nicht von der Trauer erstickt wurdest.

Sobald du anfängst, über den Grund nachzudenken, weshalb du traurig bist, werden deine Augen gläsern und alles verschwimmt. Die ganze Welt vor dir verschwimmt. Nichts ist mehr klar. Du weißt nicht, was richtig und was falsch, was Wahrheit und was Lüge ist. Du fühlst den grauenvollen Schmerz in deinem Herzen. Ich würde mal behaupten, dass dieser Schmerz schlimmer ist, als jeder gebrochene Knochen, auch wenn ich mir noch nie etwas gebrochen habe.

Und das Schlimmste von allem ist, du weißt nicht, wie lange der Schmerz noch andauert. Du weißt nicht, wann er vorbei ist. Oder ob er überhaupt irgendwann vorbei sein wird. Du weißt gar nichts mehr.

Nichts.

Ja, so geht es mir gerade. Langsam richte ich meinen Blick nach vorne und höre auf, den Boden anzustarren. Ich stehe vor dem Spiegel und schaue mich skeptisch an. Ich mustere mich von oben bis unten. Meine Füße sehen ungewöhnlich klein aus in meinen schwarzen Pumps. Okay, so ungewöhnlich ist das dann doch nicht. Ich habe die Schuhe eine Nummer kleiner gekauft, da ich sonst dauernd hin und her gerutscht wäre. Ich mag die Schuhe. Aber genauso wie alle anderen hohen Schuhe sind sie unfassbar unbequem. Eventuell könnte das auch daran liegen, dass meine Feinstrumpfhose heute gar nicht sitzt. Ich habe allerdings keine andere gefunden. Sie haben alle Laufmaschen oder Flecken.

Ich streiche meinen Rock glatt und ziehe meinen schwarzen, engen Pullover an allen Seiten noch einmal zurecht. Ich mache einen Schritt zurück und betrachte mich. Das ist also mein neuer Style. Bunte Klamotten werden in nächster Zeit erst einmal nicht mehr an mir gesehen werden. Diese fröhlichen Farben passen im Moment nicht zu meiner Stimmung. Ich weiß, dass die schwarzen Klamotten aussehen, als würde ich gleich zu einer Beerdigung gehen. Das ist nicht der Fall, doch trauern tue ich trotzdem irgendwie. Ich finde es einfach unpassend, jetzt fröhliche Klamotten anzuziehen. Meine Gesamterscheinung gefällt mir aber eigentlich ganz gut. Ich sehe irgendwie erwachsener aus. Meine braunen Locken fallen ausnahmsweise Mal gut. Sie reichen geradeso bis zur Schulter, was mir aber besser steht als meine langen Haare, wie ich finde. Vor einem halben Jahr habe ich sie abschneiden lassen, da mich meine langen Haare nur noch störten. Seitdem lasse ich sie mir immer wieder auf diese Länge abschneiden, wenn sie gewachsen sind.

Mein Blick fällt auf meine Kette. Es ist eine dünne, silberne, schlichte Kette mit einem Schlüssel als Anhänger. Der Schlüssel zu seinem Herzen. Ich spüre einen Stich, der sich durch mein Herz zieht. Ich kann genau beobachten, wie meine Augen binnen Sekunden gläsern werden. Ich beiße mir auf die Lippe. Nicht schon wieder! Ich schließe kurz die Augen und hole mir den Gedanken zurück, dass ich stark bleiben muss. Schwäche zeigen, ist keine Option. Ich atme tief durch, dann öffne ich sie wieder. Meine blaugrauen Augen schauen mich durch den Spiegel an. Sie wirken zwar traurig, was auch kein Wunder ist, aber ich bin nicht mehr kurz davor, wieder in Tränen auszubrechen. Ich berühre die Kette vorsichtig mit meinen Fingern. Sie ist so wunderschön. Ich bin ihm so dankbar dafür. Es ist mit Abstand das Schönste, was ich jemals von einem Jungen geschenkt bekommen habe.

Ich drehe mich um und schaue kurz durch mein Zimmer. Es sieht ein wenig so aus, als würde hier niemand wohnen. Alle Möbel sehen so unberührt aus, aber ich bin schon immer so ordentlich gewesen. Alles sieht so normal aus, als wäre nie etwas passiert. Ein Bett, auf dem ein aufgeschütteltes Kissen und eine zusammengelegte Decke liegen. Ein Schrank, in dem alle Sachen ordentlich zusammengefaltet sind. Ein Schreibtisch, auf dem ein Blatt Papier und ein Stift schon bereitliegen. Die restlichen Stifte stehen ordentlich in einem Stifte-Behälter. Am hinteren Tischrand liegen sieben Bücher übereinandergestapelt. Sieben verschiedene Bücher, sieben verschiedene Länder. Lange Zeit habe ich mich intensiv damit beschäftigt. Ein paar Regale, in denen alle anderen Bücher nebeneinanderstehen, sind im Zimmer verteilt. Und ein paar Bilderrahmen auf einer Kommode neben meinem Bett. Ich gehe auf sie zu und nehme einen in die Hand. Er und ich. In die Kamera lachend. Glücklich. Das Bild entstand in Venezuela. Wir sitzen in einem Boot und hinter uns ist der gigantische Wasserfall. Wie ich diese Momente mit ihm vermisse. Ich vermisse sie jetzt schon und weiß absolut nicht, wie ich ohne ihn klarkommen soll. Wir hingen sieben Monate Sekunde für Sekunde aufeinander. Jetzt auf einmal getrennt sein zu müssen, zerbricht mein Herz – und nicht nur mein Herz zerbricht, sondern auch mein gesamter Körper. Ich streichle mit meinem Daumen kurz über ihn, dann stelle ich das Bild zurück. Ich gehe noch einmal auf den Spiegel zu. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht. Entschlossen schaue ich mein Spiegelbild an. Ich bin bereit. Ein Abschnitt in meinem Leben beginnt, den ich niemals leben wollte ... und auch niemals geplant hatte.

* * *

Mein Kopf lehnt an der Fensterscheibe des Autos. Die Landschaften, die Autos und all die Menschen da draußen ziehen nur so an mir vorbei. Alles sieht so verschwommen aus. Ich weiß genau, dass es das nicht ist, aber durch das schnelle Fahren wirkt es so. Ich habe das Gefühl, dass ich die Welt wie durch einen schwarz-weiß Filter sehe. Farben machen einige Dinge fröhlich. Doch gerade ist mir absolut nicht danach, fröhlich zu sein. Ich kann die Farben einfach nicht wahrnehmen. Die fröhlichen Farben. Die Welt wirkt trist und einfach. Und irgendwie traurig. Wir fahren durch die Stadt – und selbst das Lachen der Kinder, die auf den Straßen Fußball spielen, blende ich problemlos aus. Ich mache das wirklich nicht mit Absicht. Ich kann diesen schwarz-weiß Filter einfach nicht abstellen. Es geht nicht. Wir fahren gerade an eine Kreuzung heran, als meine Gedanken anfangen, abzudriften.

In welchen Situationen ist es okay, Schwäche zu zeigen?

Und was ist überhaupt Schwäche?

Im Duden stehen dazu verschiedene Definitionen. Nein, ich habe den Duden nicht auswendig gelernt. Ich weiß nur, dass es einige Definitionen von Schwäche gibt. Ich nehme stark an, dass diese auch im Duden zu finden sind.

Zum einen kann Schwäche eine fehlende körperliche Kraft sein. Eigentlich klar. Wenn der Körper nicht so funktioniert, wie man das möchte. Zum anderen wird das Wort Schwäche auch genutzt, wenn man etwas nicht kann und nicht beherrscht. Dann ist Schwäche wohl eher eine schlechte Eigenschaft des Menschen. Jedoch kann Schwäche auch bedeuten, dass man etwas oder jemanden sehr mag und somit eine große Neigung zu jemandem hat.

Tja, und was trifft bei mir zu? Irgendwie alles, aber irgendwie auch nichts. Ja, meinem Körper fehlt Kraft. Ich bin irgendwie geschwächt. Wahrscheinlich vor Trauer geschwächt. Oder vor Angst. Wenn man Angst hat, kann es auch sein, dass der Körper irgendwann den Geist aufgibt. Vielleicht nicht ganz, aber wenn man nicht mehr ganz klar denken kann, zittert und die Beine nachgeben, würde ich das schon als körperlich schwach bezeichnen. Auch die letzte Definition trifft bei mir irgendwie zu. Zumindest hat sie das einmal. Er war einmal meine Schwäche. Er war definitiv meine Schwäche.

Und jetzt? Jetzt bin ich schwach, weil er nicht mehr da ist.

Alle sagen, man soll stark sein und keine Schwäche zeigen. Aber wissen diese Personen eigentlich, wie verdammt schwer das sein kann? Wenn etwas passiert ist und du mit Trauer überschüttet bist? Ja, genau dann musst du stark sein, damit niemand merkt, wie schlecht es dir geht. Damit niemand nachfragt, was denn passiert ist. Denn jedes Mal, wenn jemand nachfragt, kommt alles wieder hoch und dir geht es direkt wieder schlecht. Aber ist das wirklich stark sein? Alles in sich hineinfressen und niemandem sein wahres Gesicht zeigen? Ist man dann stark? Vielleicht ist man ja gerade dann stark, wenn man es schafft, darüber zu reden, was einen bedrückt. Eigentlich ist man doch genau dann stark, wenn man damit umgehen kann. Wenn man zeigt, dass man nicht aufgibt und sich nicht davon unterbekommen lässt. Wenn man einen Grund hat, Schwäche zu zeigen und deprimiert im Zimmer zu sitzen, aber genau das eben nicht tut. Sondern aufsteht, den Blick nach vorne richtet und trotzdem weiter durch das Leben geht. Ja, genau das ist stark sein. Zumindest meiner Meinung nach. Und genau das versuche ich gerade, was mir aber leider sehr schwerfällt.

Die Sirene eines Krankenwagens reißt mich aus den Gedanken. Sie ist so laut! Viel zu laut! Ich halte das nicht aus! Schnell kneife ich meine Augen zusammen, doch durch die Dunkelheit sehe ich nur noch Bilder in meinem Kopf, die mich an letzte Nacht erinnern.

Ich renne immer schneller.

Meine Beine überschlagen sich fast.

Die Zeit scheint stillzustehen.

Ich breche zusammen.

Das rote Blut versinkt im weißen Schnee.

Die Sirenen werden immer lauter.

Ich muss mir die Ohren zuhalten, weil ich es nicht mehr aushalte.

Ich reiße meine Augen wieder auf.

„Wir sind da, Mäuschen“, sagt meine Mutter.

Ich hasse es, wenn sie mich Mäuschen nennt oder mir andere Kosenamen gibt, aber ich habe keine Lust – und vielleicht auch einfach keine Kraft –, etwas dazu zu sagen. Ich erinnere mich gut daran, wie sie mir, schon seit ich ein kleines Kind war, täglich neue Kosenamen gegeben hat. Ich hebe meinen Kopf von dem Autofenster und schaue zu ihr.

Sie versucht, ein Lächeln hervorzubringen, und legt ihre Hand auf meine Schulter. „Alles wird gut“, versichert sie mir. Sie macht die Autotür auf und steigt aus. Erst jetzt wird mir bewusst, dass wir wirklich da sind. Das Auto steht. Ich schaue nach vorne und das Erste, was mir auffällt, ist, dass das Gebäude aussieht wie ein großer, grauer Klotz. Kein wirklich netter Anblick. Aber zu meiner Stimmung passt es relativ gut. Ich sitze immer noch regungslos im Auto. Meine Mutter steht vor dem Auto und sieht zu dem grauen Klotz. Ihre Hände sind tief in den Jackentaschen versenkt. Es ist ein unbeschreiblich kalter Dezembertag.

Ich bin meiner Mutter wirklich dankbar, dass sie mir die Zeit gibt, die ich brauche. Ich habe unfassbar Angst, auszusteigen. Trotzdem schnalle ich mich ab und öffne langsam die Tür. Ich setzte vorsichtig meine Füße auf den Steinboden und atme noch einmal durch. Ich stehe auf und laufe zu meiner Mutter. Gemeinsam gehen wir Schritt für Schritt auf das Gebäude zu. Ich stehe in den Pumps sehr wackelig. Bei jedem Schritt hoffe ich, nicht umzuknicken. Das kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Mit jedem Schritt wird aber auch meine Angst größer. Und die Schmerzen in den Schuhen. Warum habe ich nur Schuhe mit Absatz angezogen? Wir betreten das Gebäude, aber vor meinen Augen verschwimmt schon wieder alles. Ich bekomme nicht mit, was meine Mutter zu der Frau sagt, die uns begrüßt. Ich stehe auch nicht neben meiner Mutter, sondern drei Schritte hinter ihr. Ich blicke die langen weißen Gänge entlang. Panik steigt in mir auf. Ich fühle mich wie benommen.

Wie er wohl aussieht? Was ist, wenn sein Anblick mich total erschlägt? Er war immer so fröhlich und lebensfreudig. Was passiert, wenn er jetzt einfach daliegt? Ohne etwas zu tun. Regungslos. Ich habe so Angst, ihn jetzt zu sehen. Meine Mutter kommt zu mir und sagt mir, dass wir mit dem Fahrstuhl zwei Etagen höher und dann den Gang rechts nehmen müssen. Seine Zimmernummer ist 237. Ich gebe mir Mühe, ihren Worten zu folgen. Als wir im Fahrstuhl stehen, wackeln meine Knie total. Ich versuche, gerade zu stehen, nicht zu schwanken. Das gelingt mir nur bedingt. Es stehen noch drei andere Personen im Aufzug. Eine Frau und ein Mann, die sich leise unterhalten. Ich kann nicht genau verstehen, worüber sie sprechen. Die Frau hat ihre Arme um einen kleinen Jungen geschlungen, der sich an ihr Bein klammert. Er schaut starr die Wand an. Ob sie auch trauern? Weshalb sind sie hier? Die Fragen erscheinen nur kurz in meinem Kopf. Meine Gedanken schweifen schnell wieder ab. Die Klingel des Aufzugs ertönt und holt mich wieder in die Gegenwart. Wir sind in Etage zwei angekommen.

Wir biegen nach rechts ab. Schon wieder ein langer, weißer Gang. Es stehen viele kleine Wagen hier herum und überall sieht man Menschen mit weißen Kitteln. Sie hetzen von links nach rechts und von rechts nach links. Sie kommen aus einem Raum und gehen sofort in den nächsten. Ab und zu holt eine Frau von dem Wagen, der vor der Tür steht, Medikamente und verschwindet anschließend sofort wieder im Raum. Nein, dieser Beruf wäre nichts für mich. Zu viel Stress. Zu viel Leid. Ich blicke nach oben. Die Lampen sind unglaublich hell. Typisch Krankenhaus.

Ich eile meiner Mutter nach, die schon ein paar Schritte voraus ist. Ganz am Ende des Gangs finden wir einen Raum mit einem Schild rechts neben der Tür, auf dem die Zahl 237 steht. Hier hetzen nicht mehr so viele Leute herum. Das gefällt mir schon besser. Meine Mutter öffnete die Tür und geht in das Zimmer. Es tut mir irgendwie leid, dass sie ihn in dem Zustand kennenlernen muss und nicht so, wie ich ihn kennenlernen durfte. Ich bleibe noch kurz vor dem Raum stehen. Gleich werde ich ihn sehen. Ich bin nur wenige Schritte von ihm entfernt. Doch er weiß nicht, dass ich hier bin. Er kann es nicht wissen, nicht sehen, nicht hören und auch nicht spüren. Er kann gar nichts mehr. Er kann nur daliegen.

Von wem ich die ganze Zeit rede? Von Kilian James Settler.

Der tollste Mensch, dem ich jemals begegnet bin.

Der Mensch, dem ich eigentlich nur durch Zufall begegnet bin.

Der Mensch, der in mein Leben kam und von sich aus beschlossen hat, dass er bleiben möchte.

Der Mensch, der es so gut wie immer geschafft hat, mich zum Lachen zu bringen.

Der Mensch, der mir die schönste Zeit meines Lebens geschenkt hat.

Der Mensch, den ich niemals vergessen werde.

Der Mensch, dem ich mein Herz geschenkt habe und es keine einzige Sekunde bereue.

Der Mensch, der mich verändert hat, vor allem aber mein Leben.

Ja, der Mensch, der eine Zeit lang jede Sekunde mit mir verbracht hat und auf einmal nicht mehr da ist.

Ich zögere zwar kurz, aber gehe dann doch langsam in das Zimmer hinein. Ich bleibe an der Tür stehen und schaue mich erst einmal um. Wie wahrscheinlich jeder Raum hier ist es ein komplett weiß gestrichenes Zimmer. Mir gegenüber ist eine große Fensterwand, sodass viel Licht in das Zimmer fällt. Links an der Wand stehen ein kleiner Tisch und zwei Stühle.

Langsam richte ich meinen Blick in die Mitte des Zimmers. Ein großes Bett steht vor mir. Hätte ich nicht gewusst, dass Kilian darin liegt, hätte ich ihn fast nicht erkannt. Unmengen an Schläuchen sind an ihm befestigt, die alle zu einem piependen Teil neben ihm führen. Ich zittere am ganzen Körper. Ich versuche, einen Schritt vorzugehen, um ihn genauer zu betrachten. Meine Knie fühlen sich an wie Wackelpudding. Ich habe Angst, dass sie gleich den Geist aufgeben und meine Beine mich nicht mehr halten können. Es ist ein Schock, ihn so zu sehen. So leblos. Jetzt stehe ich direkt neben ihm und kann seine Gesichtszüge sehen. Ich presse meine Hand vor meinen Mund und fange an, zu schluchzen. Tränen rollen über mein Gesicht. Das darf einfach nicht passiert sein. Wie konnte das nur passieren? Wieso er? Wieso er und nicht irgendjemand anderes? Hätte es nicht irgendjemand anderen treffen können? Meine Welt bricht zusammen. Zumindest habe ich das Gefühl, dass sie zusammenbricht. Ich schiebe meine Hände durch meine Haare. Wieso denn nur er?

Meine Mutter kommt auf mich zu und will mich umarmen, aber ich stoße sie weg.

„Wieso er? Wieso er und nicht irgendjemand anderes?“, schreie ich sie mit tränenerstickter Stimme an. Ich gehe ein paar Schritte zurück und stoße an eine Wand. Langsam lasse ich mich zu Boden gleiten. Ich halte meine Hände vor die Augen. Ich wusste von Anfang an, dass es schlimm werden würde, ihn zu sehen. Aber dass es so schlimm wird, hätte ich niemals gedacht.

Meine Mutter kommt langsam auf mich zu und streicht mir über den Kopf. „Du musst jetzt für ihn da sein. Er braucht dich“, sagt sie mit ruhiger Stimme. Dann geht sie aus dem Zimmer. Vielleicht holt sie sich einen Kaffee. Vielleicht versucht sie, auch einen Arzt zu finden, der ihr Kilians Lage erklären kann. Vielleicht braucht sie auch einfach nur frische Luft. Ich weiß es nicht.

Aber was ich weiß, ist, dass ich jetzt mit Kilian allein bin. Nach ein paar Minuten habe ich mich wieder beruhigt und stehe langsam auf. Ich halte mich dabei an der Wand fest, um nicht umzufallen. Ich streife meine Pumps von den Füßen und stelle sie zur Seite. Dann setze ich mich auf einen Stuhl neben Kilians Bett und beobachte ihn noch einmal genauer. Ich kann die Schläuche gar nicht alle zählen, die an ihm hängen. Er ist bis zur Brust zugedeckt, somit sehe ich auch nicht, wo die meisten Schläuche hinführen. Sein linker Arm liegt auf der Decke. An seiner Hand ist eine Braunüle mit einem weißen Pflaster befestigt. Zwei Schläuche führen in seine Nase und seinen Mund. Wofür der ganze Kram gut ist, ist mir nicht ganz klar, und ich weiß auch nicht, ob ich das wissen möchte. Er hat ein Pflaster über seinem rechten Auge. Wahrscheinlich hat er dort eine Platzwunde von dem Aufschlag auf der Straße. Seine Augen sind geschlossen und es sieht aus, als würde er schlafen.

Ob er wohl spürt, dass ich hier bin? Manche Menschen sagen, wenn man im Koma liegt, spürt man, wenn Menschen um einen herum sind, und hört alles, was sie sagen. Ich glaube, meine Mutter hat recht. Kilian braucht mich jetzt. Ich schaue in sein Gesicht. Er hat nicht nur eine Platzwunde über dem Auge, das ganze Auge ist irgendwie angeschwollen und auf seinen Lippen kann man noch etwas Blut sehen. Er ist eigentlich komplett zerstört, aber sieht trotzdem noch total umwerfend aus. Wie macht er das nur? Seine schwarzen Locken liegen auf dem weißen Kopfkissen. Wie gerne ich mich jetzt zu ihm legen und mich an ihn kuscheln würde.

Es ist keine vierundzwanzig Stunden her, dass es passiert ist. Meine Miene verdunkelt sich wieder. Das Ganze wäre niemals passiert, wenn wir beide nicht so stur gewesen wären. Wie konnten wir nur so dumm sein? Ich würde mir das niemals verzeihen, wenn er das jetzt nicht überleben wird. Nein. Stopp. Wie kann ich so etwas nur denken? Natürlich wird er das überleben. Ich brauche Kilian in meinem Leben. Ohne ihn gibt es mich nicht. Natürlich schafft er das. Er war schon immer stark und auch das wird er durchstehen.

Ich blicke zu seiner Hand. Irgendwie habe ich Angst davor, sie zu berühren. Warum, weiß ich nicht. Es ist so komisch, dass er sich nicht rührt. Ich zögere zwar kurz, nehme seine Hand dann doch. Schlaff liegt sie auf meiner Handfläche. Vorsichtig streiche ich über seine schokoladenfarbene Hand. Seine Hautfarbe hat mir schon immer gefallen. Sie passt zu ihm und so wie er ist, sieht er unfassbar gut aus. Es gibt Unmengen an Menschen, die ein Problem mit dunkelhäutigen Leuten haben. Warum, habe ich bis heute nicht verstanden. Ja, sie sind anders als wir hier in Deutschland. Und? Sie sind doch auch nur Menschen. Sie sehen vielleicht anders aus, aber haben doch genauso wie wir Kopf, Verstand, Seele und vor allem ein Herz. Es muss hart sein, wenn man dauernd beleidigt wird, nur, weil man eine andere Hautfarbe hat. Schließlich können diese Menschen relativ wenig dafür, wer ihre Eltern sind und wo sie geboren wurden. Über solche Themen könnte ich mich stundenlang aufregen, aber letztendlich bringt es ja doch nichts. Ich mag seine schokoladenfarbene Hautfarbe. Sie sieht aus wie Vollmilchschokolade.

Ich beschließe gerade, mir einen Kaffee zu holen, als jemand in Kilians Zimmer kommt. Es ist eine korpulente Frau, die eine genauso schöne vollmilchschokoladenfarbene Hautfarbe hat wie Kilian. Ihre schwarzen Haare sind zu winzig, kleinen Zöpfen geflochten, die alle zu einem Dutt zusammengebunden sind. Sie hält einen großen Blumenstrauß mit beiden Händen fest und bleibt an der Tür stehen. Sie schaut mich lange an. Langsam stehe ich auf. Sie hat die gleichen Augen wie Kilian. Oder besser gesagt ... Kilian hat die gleichen Augen wie sie. Es muss seine Mutter sein. Neyla Settler. Sie legt den Blumenstrauß auf den kleinen Tisch und kommt auf mich zu. „Oh, Alicia.“

Woher kennt sie meinen Namen?

Ihre Stimme klingt traurig, aber ich kann heraushören, dass es sie freut, mich zu sehen. Sie hat eine beruhigende, eher tiefe Stimme, die mir auf Anhieb gefällt. Obwohl wir uns noch nie zuvor gesehen haben, schließt sie mich sofort in ihre Arme. Ich kenne diese Frau eigentlich gar nicht, aber diese Umarmung tut unglaublich gut. Kilian meinte immer, dass sie ein Herzensmensch ist, den man einfach lieb haben muss. Jetzt weiß ich, was er damit gemeint hat. Sie muss ein unfassbar großes, gutes Herz haben.

Kilians Mutter setzt sich auf den Stuhl, auf dem ich vorher gesessen habe. Ich will gerade den Raum verlassen, aber Neyla bittet mich, noch kurz zu bleiben. Ich tue ihr den Gefallen, stelle mich an das Ende des Bettes und beobachte Kilian.

„Das Mädchen mit den braunen Locken und dem süßen Lächeln.“

Tränen stiegen in meine Augen, aber ich musste lächeln. Er hat ihr also tatsächlich von mir erzählt.

„Ich hatte nicht viel Zeit mit ihm, nachdem ihr wiedergekommen seid, aber das Erste, was er erzählt hat, war, dass er sich in ein Mädchen mit braunen Locken und einem süßen Lächeln verliebt hat“, sagt Neyla fortführend.

Jetzt laufen mir erst recht Tränen die Wange hinunter. Schnell wische ich sie mit meiner Hand weg. Wie ich diesen Jungen liebe. „Es tut mir unfassbar leid“, sage ich leise. Ich flüstere fast. Ich weiß nicht mal, was mir so leidtut. Wahrscheinlich einfach die Tatsache, dass sie ihren Sohn so sehen muss. Das hat keine Mutter verdient.

Doch sie schüttelt den Kopf. „Nein. Das muss dir nicht leidtun. Du kannst doch nichts dafür, Liebes. Er ist ein taffer Junge. Er schafft das.“

Nachdenklich nicke ich nur.

„Ich gehe mir jetzt einen Kaffee holen“, sage ich, streife meine Schuhe wieder an meine Füße und gehe auf die Tür zu. Neyla nickt nur und bringt ein knappes Lächeln hervor. Kurz hinter der Tür bleibe ich für einen Moment stehen. Ich höre, wie Neyla mit Kilian redet.

„Oh, Kili. Mein Junge. Womit hast du das nur verdient?“

Mit schnellen Schritten gehe ich weiter und lasse Neyla mit ihrem Sohn allein. Kilian hat oft von seiner Mutter erzählt. Sie kommt ursprünglich aus Eritrea, einem Land im Osten von Afrika. Als junge Frau ist sie nach Frankreich gezogen, wo Kilian geboren wurde. Als er noch klein war, sind sie nach Deutschland gekommen. Seinen Vater hat er nie erwähnt. Ich weiß bis heute nicht, was mit ihm ist. Ich habe zweimal nachgefragt, doch Kilian ist der Frage immer ausgewichen. Vielleicht will ich es auch gar nicht wissen. Ich bin mir sicher, dass Neyla schon einiges durchmachen musste. Ihr Leben war bestimmt nicht immer einfach. Sie ist nicht ohne Grund plötzlich nach Frankreich und dann weiter nach Deutschland gezogen. Kilian hat oft gesagt, wie sehr seine Mutter ihr Heimatland Eritrea liebt. Vielleicht wollte sie einfach nur weg von ihrem Mann. Schließlich gibt es nicht nur gute Menschen auf der Welt.

Neyla tut mir unfassbar leid. Ich glaube, das Schlimmste, was einem im Leben passieren kann, ist, sein Kind zu verlieren. Das ist schlimmer als der eigene Tod und alle Schmerzen dieser Welt. Niemand sollte so etwas erleben müssen. Sie hat Kilian zwar nicht verloren, aber es muss schon schlimm genug sein, ihn so zu sehen. Auch sie hat keine Gewissheit, dass er das hier überleben wird. Wir hoffen es zwar alle, jedoch können wir es nicht wissen. Ich bewundere Neyla. Diese Frau hat nicht nur ein großes Herz, sie ist auch unfassbar stark. Sie wusste, dass in diesem Zimmer ihr eigener Sohn liegt und trotzdem hat sie sich erst mir zugewandt, bevor sie sich um ihr eigenes Kind gekümmert hat. Sie ist nicht in Tränen ausgebrochen und war auch nicht knapp am Verzweifeln, so wie ich es war. Das ist stark sein. Genau das.

* * *

Die nackten Äste der zwei großen Bäume wiegen sich im Wind. Man sieht deutlich, dass die Bäume schon sehr alt sind. Die Wurzeln gehen meterweit von den Stämmen der Bäume weg. Blätter sind absolut nicht mehr zu sehen. Der Wintereinbruch ist im vollen Gange. Ich mag den Winter nicht besonders. Viel zu große Pullis anziehen und heißer Kaffee ist das Einzige, was ich an dieser Jahreszeit leiden kann. Oft ist es zu kalt und dann der ganze Matsch draußen. Das braucht doch niemand. Wenn wenigstens ordentlich Schnee liegen würde, wäre meine Meinung wahrscheinlich wieder anders. Aber mit dem Auto durch den Matsch und über die glatten Straßen zu fahren, ist absolut nicht meins. Ich brauche dringend wieder Frühling. Die Zeit, in der sich die Temperaturen langsam in die Höhe verfrachten und die Sonne schön warm scheint. Wenn die Blätter wieder grün werden, die schönen Blumen wachsen und die Welt wieder bunt wird. Nicht so eintönig grau wie jetzt gerade. Wenn man früh aufwacht und das Zwitschern der Vögel hört. Genau diese Zeit brauche ich.

Ich stehe am Ende des Gangs, in dem Kilian liegt, vor einem riesigen Fenster und schaue nach draußen in die weite Welt. Sie wirkt so traurig. Leichter Nebel schleicht sich durch die Bäume, sodass es da draußen noch düsterer aussieht. Der Anblick der Landschaft erinnert mich an einen Drehplatz für einen Horrorfilm. Es würde mich nicht wundern, wenn als Nächstes auch noch Horrorfiguren hinter den Bäumen auftauchen. Man kann nicht genau erkennen, ob graue Wolken über den ganzen Himmel verteilt sind oder der Himmel an sich so grau ist. Ich habe einen heißen Kaffeebecher in beiden Händen, der meine Finger wärmt. Ein weiterer Nachteil am Winter: Mir ist durchgehend kalt. Auch wenn ich immer mit mindestens zwei Paar Socken durch die Gegend laufe, eine Mütze auf dem Kopf habe, wenn ich rausgehe, und sogar beim Autofahren Handschuhe anziehe, da das Lenkrad immer so kalt ist.

Ab und zu nippe ich am Kaffee, aber zum Trinken ist er dann doch noch ein wenig heiß. Ich sehe meine Mutter schon von Weitem ankommen, da sie sich in der Glasscheibe spiegelt. Als sie knapp hinter mir steht, drehe ich mich langsam zu ihr um.

„Alicia, ich muss dann langsam. Willst du dich noch von ihm verabschieden?“

Natürlich möchte ich das. Eigentlich möchte ich auch gar nicht gehen. Ich glaube, ich bleibe noch ein wenig bei ihm. Er muss spüren, dass ich bei ihm bin. Ich beschließe, dass ich ihn jeden Tag besuchen gehe. Egal, wie viel Stress ich bei meiner Arbeit habe. Und egal, wie lange er hier noch liegen wird. Er braucht mich und ich brauche ihn.

Zusammen mit meiner Mutter gehe ich zu Kilians Zimmer. Neyla ist schon weg, aber ihre Blumen stehen in einer Vase neben seinem Bett. Es ist irgendwie erschreckend, dass er immer noch genauso daliegt wie vor einer Stunde. Er hat sich nicht gerührt. Er ist nicht aufgewacht. Keine Veränderung.

An meine Mutter gewandt, erkläre ich ihr, dass ich noch ein bisschen bei ihm bleiben möchte, sie aber ruhig schon gehen könne.

„Bist du sicher, dass ich dich hier allein lassen kann?“ Sie hat diesen besorgten Gesichtsausdruck, den alle Mütter aufziehen können, wenn es um ihre Kinder geht.

„Ich komme schon klar. Ganz sicher, Mum“, versichere ich ihr.

Es ist süß, wenn sie sich Sorgen um mich macht, auch wenn es manchmal nervt. Sie akzeptiert meine Antwort, gibt mir einen Kuss auf die Wange und schreitet dann mit großen Schritten aus dem Zimmer. Wahrscheinlich muss sie noch etwas für die Arbeit erledigen oder einkaufen gehen. Jetzt bin ich wieder allein mit Kilian. Es ist so unfassbar still in diesem Zimmer. Nur das schreckliche Piepen der ganzen Maschinen ist zu hören. Jetzt, wo ich darauf achte, fällt mir auf, dass die Zimmertür offen ist und sich sämtliche Ärzte auf dem Gang unterhalten. Es ist nicht still. Nur in mir drinnen, tief in mir drinnen ist es still. Totenstill. Mein einsames Herz, das schlägt, ist das Einzige, was man eventuell hören könnte. Ich setze mich auf die Bettkante und nehme Kilians Hand. Ich kann ihn nicht ansehen, ohne Tränen in meinen Augen zu spüren. Wie hat er es nur geschafft, mir innerhalb so kurzer Zeit so verdammt wichtig zu werden?

Ich habe das Gefühl, dass ich ohne ihn nicht mehr leben kann, dabei habe ich ihn erst vor sieben Monaten kennengelernt. Davor waren wir uns komplett fremd, haben uns kein einziges Mal gesehen. Zumindest haben wir uns nicht bewusst wahrgenommen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir uns vorher nicht doch irgendwann einmal über den Weg gelaufen sind.

Es klopft sachte an der Tür und ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Ein junger Arzt mit langem weißem Kittel und einer Brille auf der Nase steht an der Tür. Ich habe keine Ahnung, wie lange er dort schon steht und mich mit Kilian beobachtet. Vielleicht wollte er mich nur nicht stören. Ich sehe zu ihm hoch, sage aber nichts.

Er sieht nett aus und bringt ein zögerliches Lächeln hervor.

„Er packt das schon.“

Gemeinsam einsam durch die Welt

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