Читать книгу Auf Schatzsuche in Schottland - Sindy Sea Turtle - Страница 4

2. Das vergessene Tagebuch

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Am letzten Samstag vor den großen Ferien schlenderte Tim mit seinem Vater über den Kruschtelmarkt an der Karlsburg. Während sein Vater auf diesem traditionellen Durlacher Flohmarkt nach Schallplatten und Büchern suchte, wollte Tim hier mal wieder ein neues Nintendo-Spiel finden. Aber heute hatte er kein Glück. Es gab nur Kinderkram. Schon leicht gelangweilt folgte er seinem Vater, bis dieser am Stand eines älteren Mannes stehen blieb und begeistert rief:

„Tim, schau mal, hier ist eine ganze Kiste mit Schottlandbüchern. Das wäre doch etwas für dich. Ihr fliegt doch schon nächste Woche und du hast noch keinen Reiseführer.“

Der Verkäufer witterte wohl ein gutes Geschäft, denn er hakte gleich nach:

„Ja mein Junge, wenn du nach Schottland fährst, ist diese Kiste genau richtig. Mein verstorbener Bruder war dort und hat sich eine Menge Bücher gekauft. Wenn du die ganze Kiste nimmst, mache ich dir einen guten Preis.“

Klar, dachte Tim, den alten Schrott würde ich auch loswerden wollen. Widerwillig, denn er konnte es wirklich nicht leiden, wenn er so gedrängt wurde etwas zu kaufen, bevor er es sich angesehen hatte, nahm Tim die Kiste in Augenschein. Schmuddelig war eigentlich nur der Umzugskarton, in dem alles verstaut war. Die Bücher selbst befanden sich in einem Topzustand. Sie hatten nicht mal Eselsohren. Und die Auswahl war gar nicht so schlecht, die Reiseführer sogar relativ neu. Okay, mit den englischsprachigen Büchern, wie „The History of Scotland“ (die Geschichte Schottlands), würde er nicht so viel anfangen können. Aber er dachte auch eigentlich gar nicht daran, die ganze Kiste zu kaufen. Da hatte Tim jedoch nicht mit seinem Vater gerechnet. Denn der begeisterte sich so sehr für Bücher, noch dazu, wenn sie günstig waren, dass er sie auf Flohmärkten am liebsten stapelweise kaufte. Und jetzt war die Gelegenheit günstig: Sein Sohn brauchte schließlich einen Reiseführer und am besten las er sich auch noch in das Thema ein – solche und ähnliche Sprüche bekam Tims Mutter zu hören, als Tim mit seinem Vater und der schweren Bücherkiste nach Hause kam. Denn während Tim sich noch alles anschaute, war sein Vater mit dem Verkäufer bereits handelseinig geworden und hatte die ganze Büchersammlung für vier Euro gekauft.

In seinem Zimmer verschaffte sich Tim erst mal einen Überblick. Zunächst war er überrascht, dass einige Bücher über die Wikinger dabei waren. Schließlich hatte er immer gedacht, dass die Wikinger aus Norwegen, Schweden und Dänemark stammten. Was hatten sie mit Schottland zu tun? Inzwischen war seine Mutter hereingekommen und hatte ebenso ungläubig wie staunend den Bücherberg betrachtet. Sie erklärte ihm, dass die Wikinger Raubzüge entlang der schottischen Küste unternommen hatten. Vorwiegend Klöster und Burgen waren ihre Angriffsziele. Denn dort war am meisten zu holen. Die Wikinger hatten es aber nicht nur auf Gold und Edelsteine abgesehen. Auch Lebensmittel und, nicht zu vergessen, der schottische Whisky waren hochwillkommen. Schließlich mussten sie ihre Vorräte auffrischen. Später drangen sie entlang der Flüsse ins Landesinnere ein. Das Plündern, Rauben und Morden ging weiter. Überall, wo die Krieger aus dem Norden auftauchten, verbreiteten sie Angst und Schrecken. Überlegene Waffen, bestens geschulte Kämpfer und der feste Glaube, als gefallener Krieger im Himmel der Helden, dem Walhalla, mit dem mächtigen Gott Odin ein nie endendes Festessen einzunehmen, sicherten ihnen den Erfolg. Als sich Tim und seine Mutter gerade eine Schottlandkarte ansahen, auf der die überfallenen Burgen und Klöster eingezeichnet waren, klingelte es an der Tür. Es war Finn.

Er stürzte sich sofort auf den Bücherstapel und wühlte begeistert daran herum. „Eh, das hier scheint ja richtig super alt zu sein, das ist ja in Leder eingebunden“, sagte Finn, der ein kleines Buch, das ganz unten lag, aus dem Stapel herausgezogen hatte. Das machte auch Tim neugierig. Der Band war sogar mit einer dünnen Lederschnur zusammengebunden. Doch nachdem sie den Knoten gelöst und das Buch aufgeschlagen hatten, stellten sie verblüfft fest, dass es sich um ein Tagebuch handelte. Der Schreiber, ein Frederik Mühlgneisel, hatte seine Schottlanderlebnisse darin festgehalten. Vor anderthalb Jahren war er in den Highlands unterwegs gewesen. Die Schrift war schwer zu entziffern, aber gemeinsam schafften sie es. Bald wurde klar, dass der Ledereinband wohl nur deshalb so abgegriffen und alt aussah, weil Frederik Mühlgneisel in Schottland zu Fuß unterwegs gewesen war und das Tagebuch in seinem Rucksack mitschleppte. Diverse Fettflecken schmückten die Innenseiten und einige dunkle Stellen rochen sogar noch nach Whisky. Anfangs beschrieb er einfach seine Wanderroute, Sehenswürdigkeiten und seine zahlreichen Pubbesuche (Pubs nennt man in Schottland die Kneipen). Doch als er in der Stadt Inverness ankam, änderten sich die Einträge. Es gab keine langen, ausschweifenden Beschreibungen mehr. Die Sätze waren kurz und gaben nur noch den Inhalt von Gesprächen wieder. Frederik Mühlgeneisel hatte den irischen Mönch Pater O’Brian kennengelernt, der ihm bei einem gemeinsamen Pubbesuch von einem sehr alten Brief erzählte. Es war kein gewöhnlicher Brief, denn es handelte sich um die letzte Seite einer Bibel. Der Rand dieses Bibel-Blattes war mit einem zusätzlichen Text versehen. Geschrieben hatte die Nachricht ein Mönch mit dem Namen Mael Coluim. Dieser Mönch war vor einem Wikingerangriff auf sein Kloster an der Küste ins Landesinnere geflohen. Er hatte den Schatz seines Ordens vor den Wikingern gerettet und an einem sicheren Ort versteckt. Mit verschlüsselten Hinweisen teilte er seinen Ordensbrüdern in diesem Brief mit, wo sich der Schatz befand. Frederik Mühlgneisel hatte die Übersetzung des Textes sorgfältig notiert. Sie lautete:

Es erging uns wie unseren Brüdern in Lindisfarne. Gott hat uns eine schwere Prüfung gesandt. Die wilden Männer aus dem Norden zerstörten Muir of Ord. Nur ich konnte mich mit unserem kostbarsten Heiligtum retten. So Gott mir weiter gnädig ist, werde ich mich in den Rachen des Ungeheuers begeben und dort Schutz suchen. Eilt, wenn ihr diese Botschaft erhaltet, zu Hilfe. Mael Coluim

Pater O’Brian hatte Frederik Mühlgneisel die Bibelseite sogar gezeigt. Der Hobbyhistoriker O’Brian hatte herausgefunden, dass es sich bei Muir of Ord um einen Vorläufer der Abbtei Beauly, die nördlich von Inverness gelegen ist, handelte. Offenbar ging Pater O’Brian davon aus, dass der Schatz längst verschollen oder vielleicht doch noch in die Hände der Wikinger gefallen war. Er hielt die Bibelseite lediglich für ein interessantes historisches Dokument. Das sah Frederik Mühlgneisel nicht so. Er widmete den Rest seines Urlaubs der Schatzsuche. Doch er musste die Rückreise nach Deutschland antreten, bevor er fündig wurde.

„Wow, das ist ja super. Wetten, dass wir den Schatz aufspüren?“ Finn war begeistert. Jetzt würden sie nicht nur gemeinsam nach Schottland fahren, sondern auch noch einen richtigen Schatz entdecken – denn, dass ihnen das gelingen würde, daran zweifelte er nicht eine Sekunde. Tim war ebenso fasziniert wie Finn. Aber er hatte Bedenken.

„Aber das Tagebuch gehört uns doch gar nicht. Das ist bestimmt nur aus Versehen in der Bücherkiste gelandet. Wir müssen es zurückgeben“, wandte er zaghaft ein.

„Du spinnst, dein Vater hat doch die ganze Bücherkiste gekauft, also gehört es jetzt dir“, rief Finn empört. „Außerdem wissen wir ja überhaupt nicht, wie dieser Verkäufer heißt und wo er wohnt. Wir können es also gar nicht zurückbringen. Der Flohmarkt ist längst vorbei, es ist ja schon halb fünf Uhr.“

Je länger Finn redete, desto deutlicher hörte Tim heraus, dass Finn sich mit seinen tollen Argumenten noch nicht einmal selbst überzeugen konnte. Und als sie Tims Eltern das Tagebuch zeigten – natürlich ohne sie auf den Schatz hinzuweisen, denn der sollte ja ihr Geheimnis bleiben – meinten auch sie, Tim sollte das Tagebuch dem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben.

„Mühlgneisel ist ja wirklich kein häufiger Name. Außerdem kommen die meisten Händler auf dem Kruschtelmarkt doch aus der Umgebung. Schaut doch einfach mal im Karlsruher Telefonbuch nach, ob ihr den Namen findet“, schlug Tims Mutter vor.

Tatsächlich gab es nur einen Eintrag für „Mühlgneisel“. Ein Hans-Jörg Mühlgneisel im Vorort Grötzingen. Schweren Herzens rief Tim dort an.

„Ja, hallo. Ich bin Tim Schneider. Heute morgen hat mein Vater Ihnen eine ganze Kiste mit Schottlandbüchern abgekauft. Da war auch ein Tagebuch dabei. Also, Sie sagten ja, dass die Sachen Ihrem verstorbenen Bruder gehörten und da dachte ich, Sie wollten das vielleicht gar nicht verkaufen. Ich würde es Ihnen natürlich zurückgeben...“ Tim ratterte die Sätze, die er sich vorher zurecht gelegt hatte, möglichst schnell herunter. Finn stand daneben und verdrehte die Augen – fehlte ja nur noch, dass er den Schatz erwähnte. Doch darüber hätte er sich keine Sorgen machen müssen, denn Hans-Jörg Mühlgneisel war schwerhörig und verstand nur die Hälfte von dem, was Tim ihm sagte.

„Ach ja, der nette Junge vom Flohmarkt. Was meinst du, ein Tagebuch? Entschuldige, mein Hörgerät funktioniert gerade nicht richtig. Kannst du nicht vorbeikommen, dann können wir uns unterhalten. Ich wohne in Grötzingen, schräg gegenüber von der Eislotte, in dem alten Fachwerkhaus“, schlug Herr Mühlgneisel vor.

„Klar, kann ich machen“, antwortete Tim. Den Eissalon kannte er gut. Schon oft war er mit Finn auf dem Rückweg vom Baggersee dort vorbeigeradelt und sie hatten sich beide ein Eis gekauft.

„Kann ich einen Freund mitbringen?“ fragte Tim. Ihm war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, allein jemanden zu besuchen, den er überhaupt nicht kannte.

„Aber sicher, Hausnummer acht. Das findet ihr leicht“, antwortete Herr Mühlgneisel.

Zwanzig Minuten später standen sie mit ihren Rädern vor dem Hoftor mit der Hausnummer acht und klingelten. Herr Mühlgneisel öffnete ihnen und führte sie in die Wohnung. Das Wohnzimmer war voll mit dunklen Eichenmöbeln. Auf dem Tisch lag eine hellbraune Häkeldecke, an den Wänden hing ein nachgedunkeltes Ölbild mit einem röhrenden Hirsch. Eine große Standuhr schlug gerade sechs. Die Luft roch leicht muffig.

„Mensch, das ist ja wie eine Zeitreise. Ich dachte, solche Wohnungen gibt es längst nicht mehr“, flüsterte Finn Tim zu. Tim dagegen kannte diesen Einrichtungsstil sehr wohl. Er besuchte regelmäßig seine Oma im Altersheim. Die Senioren, die dort einzogen, richteten ihre Zwei-Zimmer-Apartments mit ihren alten Möbeln ein. Fast alle Wohnungen im „Seniorenstift Waldschlössel“ sahen so oder so ähnlich aus.

„Setzt euch doch, Jungs. Wollt ihr eine Limonade?“, fragte Herr Mühlgneisel freundlich.

„Ja, gerne“, antwortete Tim höflich. Er fragte sich, was Herr Mühlgneisel wohl unter einer Limonade verstand. Aber was das Essen und Trinken anbetraf, hatte Herr Mühlgneisel einen sehr modernen Geschmack. Er kam mit einer Packung Chips und drei Dosen Cola zurück.

„Hier, greift zu“, sagte er, warf Finn die Chipstüte zu und machte sich selbst eine Coladose auf. „Also, habe ich das richtig verstanden, ihr wollt mir etwas aus der Flohmarktkiste zurückgeben?“

Während Finn mit einem lauten Ratsch die Tüte aufplatzen lies und hungrig drauflosmampfte, setzte Tim zu einer Erklärung an:

„Ja, wir haben das Tagebuch Ihres Bruders gefunden und dachten, es ist vielleicht nur aus Versehen unter die Schottlandbücher geraten. Sicher wollen Sie das doch behalten?“

„Habt ihr es dabei? Könnt ihr es mir mal zeigen?“, fragte Herr Mühlkneisel interessiert.

„Ja hier – bitte.“

Tim zog das Tagebuch aus dem Rucksack und reichte es Herrn Mühlgneisel. Der blätterte es andächtig durch, während Tim und Finn ihre Cola tranken. “Ja, ja, der Henrik“ murmelte er hin und wieder. Er schien völlig in seine Erinnerungen versunken zu sein und schaute erst wieder auf, als Finn Tim mit dem Ellenbogen anschubste und meinte: „Wir müssen dann mal wieder los.“

Da klappte Herr Mühlgneisel das Buch zu und gab es den verblüfften Freunden zurück.

„Nehmt es ruhig wieder mit, wenn ihr Lust habt, es zu lesen. Ist ja vielleicht ganz spannend, ihr fahrt doch demnächst nach Schottland, oder?“

„Oh, ja!“, rief Finn erfreut und schnappte sich das Buch. Tim aber hatte kein gutes Gefühl bei der Sache und platzte mit der Wahrheit heraus:

„Aber Ihr Bruder hat doch Hinweise auf einen alten Schatz, der vor den Wikingern in Sicherheit gebracht wurde, gefunden.“

Finn bedachte ihn mit einem strafenden Blick.

„Echt?“, Herr Mühlgneisel lächelte erst und fing dann an zu lachen – lange und herzhaft. Finn und Tim sahen sich verständnislos an.

„Das ist kein Witz“, meinte Tim, leicht beleidigt.

„Nein, nein, natürlich nicht. Ich lache nur, weil ich mich freue, dass Henrik doch noch ein richtiges Abenteuer auf seiner Schottlandreise erlebt hat. Das hat er sich immer gewünscht, müsst ihr wissen. Er wollte auch unbedingt noch mal hinfahren. Leider ist nichts mehr daraus geworden, er war schon zu krank und ist bald nach seiner Rückkehr aus Schottland gestorben. Wisst ihr was? Sucht ihr doch nach dem Schatz. Henrik hätte es bestimmt toll gefunden, dass jemand seinen Spuren folgt. Ich bin ja schon viel zu alt für so etwas.“

Dieses Angebot nahmen Tim und Finn sofort an. Die restlichen Tage vor der Abreise nach Schottland verbrachten die beiden – sehr zur Verwunderung ihrer Eltern, denn es war eigentlich schon Schwimmbadwetter – lesend auf dem Baumhaus. Sie wollten unbedingt so viele Informationen wie möglich sammeln, bevor die Jagd nach dem Schatz losging.

Auf Schatzsuche in Schottland

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