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4. KAPITEL

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Dunkelheit

Um drei Uhr morgens traf, dem dringenden Ruf von Sergeant Wilson aus Birlstone folgend, ein leichter, von einem schweißnassen Traber gezogener Einspänner vom Hauptquartier her am Schauplatz ein, und mit ihm der oberste Kriminalbeamte der Grafschaft Sussex. Mit dem ersten Frühzug um 5.40 Uhr schickte er eine Nachricht an Scotland Yard, und um 12 Uhr mittags stand er auf dem Bahnhof von Birlstone, um uns in Empfang zu nehmen. Mr White Mason war ein ruhiger, gemütlich aussehender Mann in einem etwas zu weiten Tweedanzug, mit glattrasiertem, rötlichem Gesicht, korpulenter Statur und mächtigen, mit Gamaschen bekleideten O-Beinen. Er wirkte eher wie ein kleiner Farmer oder ein pensionierter Wildhüter oder dergleichen, aber keineswegs wie einer der fähigsten Kriminalpolizisten, die die Grafschaft aufzuweisen hatte.

»Das ist ja wirklich ein Riesending, Mr MacDonald«, wiederholte er mehrfach. »Die Zeitungsmenschen werden sich drauf stürzen wie Fliegen auf ein Stück Aas, sobald sie davon erfahren. Ich hoffe nur, wir sind mit unserer Arbeit fertig, bevor sie ihre Nasen hier reinstecken und alle Spuren zertrampeln. So einen Fall hatten wir hier noch nie, so weit ich weiß. Ich müsste mich sehr irren, wenn es da nicht einige Punkte gäbe, die Ihre Spezialität sind, Mr Holmes. Und auch Ihre, Dr Watson, denn die Herren Ärzte werden ein gewichtiges Wort mitzureden haben, bevor alles geklärt ist. Ich habe Sie übrigens im Westville Arms untergebracht. Ein anderes Gasthaus gibt es hier nicht, aber ich habe gehört, es ist sauber und ordentlich. Dieser Mann kümmert sich um Ihr Gepäck. Hier entlang, Gentlemen, wenn ich bitten darf.«

Ein kompetenter und umgänglicher Mann war er, dieser Inspektor aus Sussex. Zehn Minuten später hatten wir unser Quartier bezogen, und weitere zehn Minuten später saßen wir im Privatsalon des Gasthauses beisammen und bekamen eine knappe Schilderung der Ereignisse serviert, so wie ich sie im vorigen Kapitel in groben Zügen beschrieben habe. MacDonald machte sich gelegentlich eine Notiz, während Holmes ruhig und konzentriert dasaß. Sein Gesicht drückte Faszination und andächtige Bewunderung aus, wie das eines Botanikers angesichts einer seltenen und kostbaren Blüte.

»Interessant!« sagte er, als der Bericht zu Ende war. »Höchst interessant! Ich kann mich kaum an einen eigentümlicheren Fall erinnern.«

»Ich dachte mir schon, dass Sie das sagen würden, Mr Holmes«, sagte White Mason erfreut. »Wir sind hier in Sussex ganz auf der Höhe der Zeit. Jetzt habe ich Ihnen erzählt, wie ich die Sache vorgefunden habe, als ich sie zwischen drei und vier Uhr morgens von Sergeant Wilson übernommen habe. Donnerwetter, was hab ich die alte Mähre laufen lassen! Und dann hat sich herausgestellt, dass diese Eile gar nicht nötig war, denn es gab nichts, was ich sofort hätte tun müssen. Sergeant Wilson hatte alle Fakten beisammen. Ich bin sie durchgegangen, habe alles überdacht und vielleicht noch um ein paar Kleinigkeiten ergänzt.«

»Und die wären?« fragte Holmes gespannt.

»Zuerst habe ich mir den Hammer genau angesehen, zusammen mit Dr Wood. Aber wir haben nicht den geringsten Hinweis gefunden, dass er als Waffe benutzt worden ist. Ich hatte gehofft, dass Mr Douglas, falls er sich mit dem Hammer verteidigt hat, dem Mörder vielleicht noch eins damit verpasst hat, bevor er ihn auf den Teppich fallen ließ. Aber da ist keine Blutspur dran.«

»Das beweist natürlich gar nichts«, warf Inspektor MacDonald ein. »Es gibt jede Menge Hammer-Morde ohne Spuren an dem Ding.«

»Allerdings, es beweist nicht, dass der Hammer nicht benutzt worden ist. Aber es hätten ja Spuren dran sein können, und die wären ein wichtiges Indiz gewesen. Doch es gibt keine. Dann habe ich mir die Flinte vorgenommen. Die Patronen enthielten Rehposten und, worauf schon Sergeant Wilson hingewiesen hat, die Abzüge sind mit Draht zusammengebunden, sodass beide Läufe gleichzeitig abgefeuert werden, wenn der hintere Abzug betätigt wird. Wer auch immer das bewerkstelligt hat – er wollte sichergehen und seinem Opfer keine Chance lassen. Die abgesägte Flinte ist nur etwa sechzig Zentimeter lang; man kann sie problemlos unter dem Mantel verstecken. Der Name des Büchsenmachers ist leider nicht zu entziffern. Nur die Buchstaben P E N sind zwischen den beiden Läufen zu erkennen, der Rest ist abgesägt.«

»Ein großes P mit einem Schnörkel darüber, und das E und N etwas kleiner?« fragte Holmes.

»Ja, genau so.«

»Pennsylvania Small Arms Company – eine bekannte amerikanische Firma«, sagte Holmes.

White Mason starrte meinen Freund an wie ein bescheidener Dorfarzt einen Spezialisten aus der Harley Street, der mit einem einzigen Wort Schwierigkeiten löst, die Ersterem unüberwindlich erscheinen.

»Das ist äußerst hilfreich, Mr Holmes. Zweifellos haben Sie Recht. Großartig – ganz großartig! Sagen Sie, haben Sie die Namen aller Waffenfabrikanten der Welt im Kopf?«

Holmes tat das Thema mit einer Handbewegung ab.

»Auf alle Fälle ist das ein amerikanisches Gewehr«, fuhr White Mason fort. »Ich glaube gelesen zu haben, dass abgesägte Schrotflinten in einigen Teilen Amerikas recht beliebt sind. Darauf war ich auch schon gekommen, unabhängig vom Namen auf dem Lauf. Wir können also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit annehmen, dass der Mann, der ins Haus eingedrungen ist und den Hausherrn ermordet hat, Amerikaner ist.«

MacDonald schüttelte den Kopf. »Mein lieber Mann, jetzt gehen Ihnen aber die Pferde durch«, sagte er. »Wir haben doch noch gar keinen Beweis, dass überhaupt jemand ins Haus eingedrungen ist.«

»Das offene Fenster, die Blutspur auf der Fensterbank, das rätselhafte Kärtchen, die Stiefelabdrücke in der Ecke, die Schrotflinte.«

»Das ist nichts, was nicht auch hätte arrangiert werden können. Mr Douglas war Amerikaner, oder jedenfalls hat er lange in Amerika gelebt. Ebenso Mr Barker. Man braucht sich keinen Fremden aus Amerika auszudenken, um Amerikanisches im Haus zu erklären.«

»Ames, der Butler –«

»Was ist eigentlich mit ihm? Ist er vertrauenswürdig?«

»Er war zehn Jahre Butler bei Sir Charles Chandos – die Rechtschaffenheit in Person. Bei Douglas war er bedienstet, seit dieser Birlstone Manor House übernommen hat, also seit fünf Jahren. Er sagt, er hätte im Haus niemals so eine Flinte gesehen.«

»Sie sollte ja auch nicht gesehen werden. Eben deshalb wurden die Läufe abgesägt. Sie passt in jede größere Schachtel. Wie kann er da beschwören, dass keine solche Waffe im Haus war?«

»Na gut, jedenfalls hat er keine gesehen.«

MacDonald schüttelte seinen obstinaten schottischen Schädel. »Ich bin keineswegs sicher, dass überhaupt jemand von außen ins Haus eingedrungen ist«, sagte er. »Denken Sie doch mal nach!« Sein Aberdeen-Akzent trat stärker hervor, während er seine Argumente darlegte. »Überlegen Sie doch mal, wohin das führt, wenn man davon ausgeht, dass jemand von außerhalb diese Flinte ins Haus geschmuggelt und all diese merkwürdigen Sachen angestellt hat. O, Mann – das ist geradezu unmöglich! Es widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Ich möchte Sie fragen, Mr Holmes, was ist Ihre Meinung, nach allem, was wir bisher wissen?«

»Bitte legen Sie uns erst Ihre Sicht des Falles dar, Mr Mac«, sagte Holmes so amtlich wie möglich.

»Dieser Mann – vorausgesetzt, es gibt ihn überhaupt – ist kein simpler Einbrecher. Die Sache mit dem Ring und das komische Kärtchen deuten auf persönliche Motive hin. So weit, so gut. Denken wir uns einen Mann, der sich ins Haus schleicht mit dem Vorsatz, jemanden umzubringen. Ihm ist klar, wenn ihm überhaupt etwas klar ist, dass es schwierig sein wird, ungesehen zu entkommen, denn das Haus ist ringsum von Wasser umgeben. Was für eine Waffe würde er wählen? Ich würde sagen, die leiseste, die es gibt. Nur dann konnte er hoffen, nach getaner Tat aus dem Fenster zu schlüpfen, durch den Graben zu waten und sich in aller Ruhe davonzumachen. Das wäre einleuchtend. Aber ist es einleuchtend, dass er so verrückt ist, die lauteste Waffe mitzubringen, die er finden kann, obwohl er genau weiß, dass er damit die Hausbewohner alarmiert und alle zusammenlaufen würden, um zu sehen, was los ist, und dass es hundert zu eins steht, dass jemand ihn sieht, bevor er durch den Wassergraben durch ist? Halten Sie das für glaubhaft, Mr Holmes?«

»Sie haben Ihre Sichtweise überzeugend dargelegt«, antwortete mein Freund nachdenklich. »Ganz bestimmt besteht da großer Erklärungsbedarf. Ich möchte Sie fragen, Mr White Mason: Haben Sie die Außenseite des Grabens unverzüglich auf Spuren untersucht, die zeigen, dass dort jemand aus dem Wasser gestiegen ist?«

»Es gibt keine Spuren, Mr Holmes. Die Einfassung ist aus Stein, da kann man keine Spuren erwarten.«

»Keine Fußabdrücke oder sonstigen Hinweise?«

»Gar keine.«

»Aha! Spricht irgendetwas dagegen, Mr White Mason, wenn wir jetzt zum Herrenhaus gehen? Es könnte trotz allem noch die eine oder andere winzige Spur vorhanden sein, die von Bedeutung ist.«

»Das wollte ich gerade vorschlagen, Mr Holmes, aber ich hielt es für wichtig, Sie erst mit den Fakten vertraut zu machen. Ich darf doch davon ausgehen, wenn Sie irgendetwas finden sollten …« White Mason blickte seinen Amateurkollegen skeptisch fragend an.

»Ich habe mit Mr Holmes schon früher zusammengearbeitet«, beantwortete Inspektor MacDonald die unausgesprochene Frage. »Er hält sich an die Spielregeln.«

»Zumindest an meine Vorstellung der Spielregeln«, sagte Holmes lächelnd. »Wenn ich einen Fall untersuche, geschieht es mit dem Ziel, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen und die regulären Polizeikräfte zu unterstützen. Wenn ich getrennt von der Polizei gearbeitet habe, dann nur, weil sie sich als Erste von mir abgewandt hat. Es war nie meine Absicht, auf ihre Kosten Ruhm und Ehre einzuheimsen. Aber ich reklamiere für mich das Recht, auf meine eigene Art und Weise zu arbeiten, Mr White Mason, und meine Erkenntnisse zu einer mir gelegenen Zeit zu präsentieren – und dann vollständig und nicht auf Raten.«

»Wir freuen uns natürlich, dass Sie hier sind, Mr Holmes, und ich kann Ihnen versichern, dass wir Ihnen alle Informationen zur Verfügung stellen«, sagte White Mason konziliant. »Kommen Sie mit, Dr Watson, denn später einmal möchten wir schließlich alle in einem Ihrer Bücher auftauchen.«

Wir gingen die hübsche, zu beiden Seiten von gestutzten Ulmen gesäumte Dorfstraße hinunter. Sie mündete in einen Torweg zwischen zwei uralten, verwitterten und von Flechten überzogenen Steinpfeilern, die von einem formlosen Etwas gekrönt waren, das früher einmal der springende Löwe der Capus von Birlstone gewesen war. Nun folgten wir der kurzen, geschwungenen Zufahrt durch eine mit alten Eichen bestandene Rasenfläche, wie man sie nur im ländlichen England findet, und dann tauchte hinter einer Wendung unvermittelt das langgestreckte, niedrige Haus aus der Zeit König James’ des Ersten mit seinen dunkelbraunen Backsteinmauern vor uns auf, umgeben von einem altmodischen Garten mit beschnittenen Eibenhecken. Als wir uns dem Haus näherten, sahen wir die hölzerne Zugbrücke und den breiten Burggraben, dessen stiller Wasserspiegel unter der kalten Wintersonne hell wie Quecksilber glänzte. Drei Jahrhunderte waren an dem alten Herrenhaus vorübergezogen – Jahrhunderte, die Geburten und Heimgänge, ländliche Tänze und Jagdgesellschaften gesehen hatten. Es schien seltsam, dass jetzt, in seinen alten Tagen, die dunklen Schatten eines Verbrechens auf diese altehrwürdigen Mauern fallen sollten. Und doch schienen die steilen Dächer und die malerisch vorkragenden Giebel einen passenden Rahmen für düstere Geschehnisse abzugeben. Ich betrachtete die tiefen Fenster und die langgestreckte, dunkle, wasserumspülte Fassade, und es schien mir, als könne es kaum eine passendere Kulisse für eine solche Tragödie geben.

»Dies ist das fragliche Fenster, unmittelbar rechts von der Zugbrücke«, sagte White Mason. »Es steht offen, so wie es letzte Nacht vorgefunden wurde.«

»Ziemlich schmal, um einen erwachsenen Mann durchzulassen.«

»Na, geradezu dick kann er jedenfalls nicht gewesen sein. Um das zu wissen, brauchen wir nicht Ihre Deduktionen, Mr Holmes. Aber Sie oder ich könnten uns da schon durchquetschen.«

Holmes trat an den Rand des Grabens und blickte zur anderen Seite hinüber. Dann examinierte er die steinerne Böschung und die grasbewachsene Einfassung.

»Ich habe mir das schon genau angesehen, Mr Holmes«, sagte White Mason. »Da ist nichts zu finden, kein Anzeichen, dass jemand hier herausgeklettert ist. Aber warum sollte er auch Spuren hinterlassen?«

»Sehr richtig, warum sollte er. Ist das Wasser immer so trüb?«

»Ja, immer so wie jetzt. Der zufließende Bach trägt Lehm ein.«

»Wie tief ist der Graben?«

»Etwa einen Meter in der Mitte und gut einen halben am Rand.«

»Dann können wir den Gedanken, dass der Mann beim Durchwaten ertrunken ist, verwerfen.«

»Ja, hier würde nicht mal ein Kind ertrinken.«

Wir passierten die Zugbrücke und wurden am Tor von einem altmodisch gekleideten, verhutzelten und wie eingeschrumpft wirkenden Diener empfangen – dem Butler Ames. Der arme alte Mann war immer noch schreckensbleich und zittrig von dem Schock. Der örtliche Sergeant, ein klobiger Mann mit amtlicher, bekümmerter Miene, bewachte immer noch das Mordzimmer. Der Arzt war gegangen.

»Irgendwas Neues, Sergeant Wilson?« fragte White Mason.

»Nein, Sir.«

»Dann können Sie gehen. Sie haben Ihre Pflicht getan. Falls wir Sie brauchen, werden wir nach Ihnen schicken. Der Butler soll lieber draußen bleiben. Sagen Sie ihm bitte, er möchte Mr Cecil Barker, Mrs Douglas und die Haushälterin bitten, sich bereitzuhalten, denn wir werden gleich ein paar Worte mit ihnen zu reden haben. Und nun, Gentlemen, gestatten Sie mir, Ihnen meine Sicht der Sache darzulegen. Danach können Sie sich Ihre eigene Meinung bilden.«

Er gefiel mir, dieser Kriminalpolizist aus Sussex. Er hatte ein gutes Auge für Fakten und einen kühlen, klaren, praktischen Verstand, der ihn in seinem Beruf ein gutes Stück voranbringen würde. Holmes hörte ihm aufmerksam zu, ohne jegliches Zeichen jener Ungeduld, die offizielle Vertreter des Gesetzes so oft in ihm auslösten.

»Selbstmord oder Mord – das ist die erste Frage, Gentlemen, nicht wahr? Wenn es Selbstmord wäre, müssten wir annehmen, dass der Mann als Erstes seinen Ehering abgelegt und irgendwo versteckt hat, dass er dann im Hausmantel heruntergekommen ist, mit schmutzigen Stiefeln in der Ecke hinter dem Vorhang herumgetrampelt ist, um vorzutäuschen, dass hier jemand gestanden und ihm aufgelauert hat, dass er dann das Fenster geöffnet hat, eine Blutspur auf dem –«

»Wir wollen das als erledigt betrachten«, unterbrach MacDonald.

»Das ist auch meine Meinung. Selbstmord kommt nicht in Frage. Dann war es also Mord. Wir müssen herausfinden, ob der Täter von außerhalb des Hauses gekommen ist oder ob er zum Haus gehört.«

»Lassen Sie hören, was Sie denken.«

»Beide Varianten haben ihre Schwierigkeiten, aber eine von beiden muss die richtige sein. Nehmen wir als Erstes an, einer der Hausbewohner habe die Tat begangen. Das Opfer ist hier hereingelockt worden zu einem Zeitpunkt, als die anderen Hausbewohner sich schon zurückgezogen hatten, aber noch nicht schliefen. Die Tat wurde mit einer ungewöhnlichen und sehr lauten Waffe verübt, geradeso als hätte der Täter es darauf angelegt, das ganze Haus zu alarmieren – und noch dazu mit einer Waffe, die bisher nicht in diesem Haus gesehen wurde. Das klingt nicht sehr wahrscheinlich, oder?«

»Allerdings nicht.«

»Gut. Wir sind uns einig, dass kaum eine Minute vergangen ist zwischen dem Abfeuern der Waffe und dem Zeitpunkt, da sämtliche Hausbewohner zur Stelle waren – nicht nur Mr Cecil Barker, der angibt, der Erste gewesen zu sein, sondern auch Ames und alle anderen. Wollen Sie mir weismachen, dass der Täter in dieser kurzen Zeit Fußspuren in der Ecke machen, das Fenster öffnen, einen Blutfleck auf die Fensterbank schmieren, den Ehering vom Finger des Toten abziehen und alles Übrige tun konnte? Das ist völlig unmöglich.«

»Sie haben das sehr klar dargestellt«, sagte Holmes. »Ich bin geneigt, Ihnen zuzustimmen.«

»Gut, dann müssen wir zur ersten Hypothese zurückkehren, nämlich dass die Tat von einer Person verübt worden ist, die von außerhalb kam. Auch hier stehen wir vor Schwierigkeiten, aber nicht mehr vor einer Unmöglichkeit. Der Mann ist zwischen halb fünf und sechs Uhr nachmittags ins Haus gelangt, das heißt zwischen dem Beginn der Dämmerung und dem Zeitpunkt, wo die Zugbrücke hochgezogen wurde. Da Gäste im Haus waren, stand das Eingangstor offen, und nichts hinderte ihn, hereinzuschleichen. Dieser Mann könnte ein ganz gewöhnlicher Einbrecher sein, oder es könnte jemand sein, der eine persönliche Rechnung mit Mr Douglas zu begleichen hatte. Da Mr Douglas den größten Teil seines Lebens in Amerika verbracht hat und diese Schrotflinte höchstwahrscheinlich amerikanischer Herkunft ist, scheint die Annahme eines persönlichen Motivs die wahrscheinlichere zu sein. Er schlüpfte in dieses Zimmer, weil es dem Eingang am nächsten liegt, und verbarg sich hinter dem Vorhang. Dort blieb er bis nach elf Uhr abends. Zu dieser Zeit betrat Mr Douglas den Raum. Der Wortwechsel zwischen beiden kann nur kurz gewesen sein, falls es überhaupt einen gegeben hat, denn Mrs Douglas hat ausgesagt, dass ihr Mann sie erst kurz vor dem Schuss verlassen hatte.«

»Das beweist allein schon die Kerze«, sagte Holmes.

»Richtig. Die Kerze war neu, und sie ist kaum mehr als einen Zentimeter heruntergebrannt. Er muss den Leuchter auf den Tisch gestellt haben, bevor er angegriffen wurde, sonst wäre er natürlich zu Boden gefallen. Das zeigt, dass er nicht sofort nach seinem Eintritt ins Zimmer angegriffen wurde. Mr Barker hat dann, als er hereinkam, die Kerze gelöscht und die Tischlampe angezündet.«

»Das ist so weit plausibel.«

»Gut. Auf dieser Grundlage können wir die Vorgänge rekonstruieren. Mr Douglas betritt das Zimmer. Er stellt den Kerzenleuchter auf den Tisch. Ein Mann kommt hinter dem Vorhang hervor, mit der Flinte bewaffnet. Er verlangt den Ehering – der Himmel weiß warum, aber so muss es gewesen sein. Mr Douglas gehorcht ihm. Dann wird er von dem Eindringling brutal erschossen – entweder kaltblütig oder nach einem kurzen Kampf. Douglas hat vielleicht noch den Hammer ergriffen, der hier auf dem Teppich lag. Der Mörder lässt seine Waffe fallen, und offenbar auch diese seltsame Karte mit der Aufschrift V. V. 341 – was immer das bedeutet. Er flieht durch das Fenster und watet durch den Burggraben, als Cecil Barker hereinkommt und das Verbrechen entdeckt. Wie hört sich das an, Mr Holmes?«

»Sehr interessant, allerdings nicht ganz überzeugend.«

»Mein lieber Mann, es würde sich geradezu unsinnig anhören, wenn nicht alle anderen Erklärungen noch unsinniger wären!« rief MacDonald. »Jemand hat diesen Mann umgebracht, aber ganz gleich, wer es war, ich kann Ihnen klar beweisen, dass es anders abgelaufen sein muss. Warum in aller Welt sollte er sich aus freien Stücken selbst den Fluchtweg abschneiden? Warum in aller Welt sollte er eine Schusswaffe verwenden, wo seine einzige Chance zu entkommen darin lag, dass alles heimlich, still und leise vor sich ging? Mr Holmes, Sie haben gesagt, Mr White Masons Theorie sei nicht völlig überzeugend – jetzt sind Sie dran, uns auf die richtige Spur zu setzen.«

Holmes war der Diskussion mit größter Aufmerksamkeit gefolgt. Kein Wort war ihm entgangen, während seine scharfen Augen nach allen Seiten spähten und seine Stirn sich nachdenklich furchte.

»Ich hätte gern noch ein paar mehr Fakten, Mr Mac, bevor ich so weit gehe, eine Hypothese zu äußern«, sagte er und kniete neben der Leiche nieder. »Du liebe Güte! Diese Verletzungen sind wirklich fürchterlich. Würden Sie bitte den Butler hereinholen? … Ames, ich habe gehört, dass Sie dieses ungewöhnliche Mal schon öfter auf Mr Douglas’ Unterarm gesehen haben, ein eingebranntes Dreieck in einem Kreis?«

»Ja, Sir, häufig.«

»Ist Ihnen nie zu Ohren gekommen, was es bedeutet?«

»Nein, Sir.«

»Es muss sehr schmerzhaft gewesen sein, so ein Brandzeichen aufgedrückt zu bekommen. Und noch etwas, Ames. Dort ist ein kleines Pflaster am Kieferwinkel von Mr Douglas. Haben Sie das gesehen, als er noch am Leben war?«

»Ja, Sir, er hat sich gestern Morgen beim Rasieren geschnitten.«

»Kam das häufiger vor?«

»Nein, Sir, schon lange nicht mehr.«

»Das ist aufschlussreich«, sagte Holmes. »Es kann natürlich ein bloßer Zufall sein, aber es kann auch ein Zeichen für eine gewisse Nervosität sein, und das würde darauf hindeuten, dass er Ursache hatte, sich in Gefahr zu glauben. Haben Sie gestern etwas Auffälliges in seinem Benehmen bemerkt, Ames?«

»Ich fand, dass er etwas unruhig und nervös wirkte, Sir.«

»Ha! Dann kam der Überfall vielleicht nicht ganz uner-wartet. Wir machen Fortschritte, nicht wahr? Aber vielleicht möchten Sie die Befragung jetzt übernehmen, Mr Mac?«

»Nein, Mr Holmes, sie ist in besten Händen.«

»Gut, dann wollen wir uns dieser Karte mit der Aufschrift V. V. 341 zuwenden. Sie ist aus grobem Karton. Gibt es davon noch mehr in diesem Haushalt?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Holmes trat an den Schreibtisch, öffnete die beiden dort stehenden Tintenfässer und tupfte kleine Proben Tinte auf ein Stück Löschpapier. »Die Schrift auf der Karte stammt nicht von hier«, sagte er. »Hier haben wir schwarze Tinte, und die auf der Karte ist purpurfarben. Geschrieben wurde das mit einer breiten Feder, und die Federn hier sind fein. Nein, ich würde sagen, das wurde woanders geschrieben. Sagen Ihnen diese Buchstaben und Zahlen irgendetwas, Ames?«

»Nicht das Geringste, Sir.«

»Was meinen Sie, Mr Mac?«

»Ich denke mir, es könnte ein Code irgendeiner Geheimgesellschaft sein. Genauso wie das Zeichen auf dem Unterarm.«

»Das ist auch meine Ansicht«, sagte White Mason.

»Nun, dann wollen wir das als Arbeitshypothese gelten lassen und sehen, ob wir damit einen Teil unserer Schwierigkeiten überwinden können. Ein Agent einer Geheimgesellschaft dringt in das Haus ein, lauert Mr Douglas auf, zerschmettert ihm den Kopf mit einem Schuss aus dieser Waffe und entkommt, indem er durch den Graben watet. Neben dem Leichnam hinterlässt er eine Karte, die garantiert in den Zeitungsberichten erwähnt werden wird, wodurch er den anderen Mitgliedern der Geheimgesellschaft indirekt mitteilt, dass der Racheakt vollzogen ist. Das ergibt einen logischen Zusammenhang. Aber warum hat er ausgerechnet diese Art von Waffe gewählt?«

»Ja, wieso?«

»Und was ist mit dem Ehering?«

»Genau.«

»Und warum noch keine Verhaftung? Es ist jetzt zwei Uhr vorbei. Ich darf doch annehmen, dass jeder einzelne Polizist im Umkreis von vierzig Meilen nach einem Ortsfremden mit durchnässten Beinkleidern Ausschau hält?«

»Natürlich, Mr Holmes.«

»Nun denn, wenn er nicht hier in der Nähe einen Unterschlupf hat oder Kleidung zum Wechseln mitgebracht hat, kann er Ihnen kaum entgehen. Aber er ist Ihnen bisher entgangen.« Holmes war ans Fenster getreten und betrachtete die Blutspur auf der Fensterbank durch sein Vergrößerungsglas. »Das ist eindeutig der Abdruck einer Schuhsohle. Ungewöhnlich breit, ein Spreizfuß, würde ich sagen. Das ist eigenartig, denn soweit sich in dieser schlammverschmutzten Ecke Schuhabdrücke erkennen lassen, rühren sie von einer schmaleren Sohle her. Allerdings sind sie sehr undeutlich. Und was ist das dort, unter dem Seitentisch?«

»Das sind Mr Douglas’ Hanteln«, antwortete Ames.

»Hantel – da liegt nur eine. Wo ist die andere?«

»Das weiß ich nicht, Mr Holmes. Vielleicht war immer nur eine da. Ich habe schon seit Monaten nicht mehr darauf geachtet.«

»Eine einzelne Hantel«, sagte Holmes nachdenklich. Er wurde durch ein kräftiges Pochen an der Tür unterbrochen. Ein großer, sonnengebräunter, glattrasierter Mann mit energischem Gesicht trat ein. Es war unschwer zu erraten, dass es jener Cecil Barker sein musste, von dem wir bereits gehört hatten. Aus seinen gebieterischen Augen flogen fragende Blicke zwischen uns hin und her.

»Bitte die Störung zu entschuldigen«, sagte er, »aber ich habe Neuigkeiten für Sie.«

»Eine Festnahme?«

»Leider nein. Aber sein Fahrrad ist gefunden worden. Der Kerl hat sein Fahrrad hier versteckt. Kommen Sie und sehen Sie selbst. Es ist keine hundert Meter vom Toreingang entfernt.«

Auf dem Zufahrtsweg fanden wir eine kleine Gruppe von Bediensteten und Müßiggängern um ein Fahrrad versammelt, das man aus einem Lorbeergebüsch gezogen hatte. Es war ein reichlich abgenutztes Modell der Firma Rudge-Whitworth, von unten bis oben von Straßenschmutz bespritzt, wie nach einer langen Fahrt. In der Satteltasche fanden sich ein Schraubenschlüssel und ein Ölkännchen, aber jeder Hinweis auf den Eigentümer fehlte.

»Es wäre sehr hilfreich für die Polizei, wenn diese Dinger nummeriert und registriert würden«, sagte der Inspektor. »Aber wir müssen froh sein um das, was wir haben. Wenn wir schon nicht wissen, wohin er abgehauen ist, können wir doch rauskriegen, woher er gekommen ist. Nur – was in Gottes Namen hat den Mann dazu gebracht, das Fahrrad hierzulassen? Und wie in aller Welt ist er ohne es geflohen? In diesen Fall lässt sich einfach kein Fünkchen Licht bringen, Mr Holmes.«

»Wirklich nicht?« antwortete mein Freund gedankenvoll. »Da wäre ich nicht so sicher.«

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