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5. KAPITEL

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Die Personen des Dramas

Sind Sie mit dem Arbeitszimmer durch?« fragte White Mason, als wir ins Haus zurückkehrten.

»Vorläufig«, antwortete der Inspektor, und Holmes nickte zustimmend.

»Dann möchten Sie jetzt wahrscheinlich hören, was die Hausbewohner zu sagen haben? Wir wollen dafür das Esszimmer benutzen, Ames. Kommen Sie selbst als Erster und erzählen Sie uns, was Sie wissen.«

Die Aussage des Butlers war einfach und klar. Er machte auf uns den Eindruck vollkommener Aufrichtigkeit. Er sei vor fünf Jahren in den Dienst von Mr Douglas getreten, als dieser sich in Birlstone niedergelassen hatte. Soweit er wisse, war Mr Douglas ein reicher Gentleman, der sein Vermögen in Amerika gemacht hatte. Er sei ein freundlicher und umgänglicher Dienstherr gewesen – vielleicht nicht ganz das, was Ames gewohnt war, aber schließlich konnte man nicht alles haben. Niemals habe er irgendwelche Anzeichen von Angst bei Mr Douglas bemerkt – im Gegenteil, er sei der furchtloseste Mensch gewesen, dem Ames je begegnet sei. Dass er die Anweisung gegeben habe, jeden Abend die Zugbrücke hochzuziehen, liege nur daran, dass es ein traditioneller Brauch in diesem historischen Herrenhaus sei und die alten Sitten hochgehalten werden sollten. Nur selten sei Mr Douglas nach London gefahren, überhaupt habe er das Dorf nur selten verlassen. Am Tag vor dem Verbrechen sei er allerdings in Tunbridge Wells gewesen, um Einkäufe zu machen. An diesem Tag habe Ames an Mr Douglas eine gewisse Unruhe und Gereiztheit bemerkt, was ungewöhnlich war. Am fraglichen Abend wäre er, Ames, noch nicht zu Bett gegangen, sondern habe sich noch in der Anrichte aufgehalten, die an der Rückseite des Hauses lag und habe gerade das Silber weggeräumt, als er die Klingel wie wild läuten hörte. Einen Schuss habe er nicht gehört, aber das sei auch nicht verwunderlich, denn die Anrichte und die Küchenräume liegen im hintersten Teil des Hauses, vom Arbeitszimmer durch mehrere geschlossene Türen und einen langen Flur getrennt. Die Haushälterin sei aus ihrem Zimmer gestürzt, alarmiert durch das scharfe Glockenzeichen. Gemeinsam seien sie nach vorn geeilt. Als sie den Treppenaufgang erreicht hätten, sei gerade Mrs Douglas die Treppe heruntergekommen. Nein, sie sei nicht gerannt, sie habe nicht sonderlich beunruhigt gewirkt. Als sie am Fuß der Treppe war, sei Mr Barker hastig aus dem Arbeitszimmer gekommen. Er habe Mrs Douglas aufgehalten und sie dringend gebeten, wieder hinaufzugehen.

»Um Gottes willen, gehen Sie zurück in Ihr Zimmer!« habe er gerufen. »Der arme Jack ist tot. Sie können nichts mehr für ihn tun. Um Gottes willen, gehen Sie!«

Nach einem kurzen Wortwechsel habe Mrs Douglas das auch getan. Sie habe nicht geschrien. Mrs Allen, die Haushälterin, habe sie nach oben begleitet und sei bei ihr in ihrem Zimmer geblieben. Er, Ames, und Mr Barker seien dann ins Arbeitszimmer gegangen, wo alles genau so gewesen sei, wie die Polizei es später vorfand. Die Kerze habe nicht gebrannt, aber die Tischlampe. Sie hätten beide aus dem Fenster geschaut, aber die Nacht sei sehr dunkel gewesen und sie hätten nichts gesehen oder gehört. Dann seien sie wieder in die Eingangshalle geeilt, und er, Ames, habe die Winde betätigt, um die Zugbrücke niederzulassen, und Mr Barker sei losgelaufen, um die Polizei zu holen.

So lautete im Wesentlichen die Aussage des Butlers.

Die Aussage von Mrs Allen, der Haushälterin, deckte sich im Großen und Ganzen mit der des Butlers. Ihr Zimmer liege etwas näher zum vorderen Bereich des Hauses als die Anrichte, in der Ames beschäftigt gewesen war. Sie habe sich gerade bettfertig gemacht, als sie durch ein stürmisches Klingeln aufgeschreckt wurde. Sie sei ein wenig schwerhörig, das sei vielleicht der Grund gewesen, warum sie keinen Schuss gehört hatte; andererseits lag das Arbeitszimmer ziemlich weit von ihrem Zimmer entfernt. Sie glaube sich jedoch an einen dumpfen Knall zu erinnern, den sie für das Zuschlagen einer Tür gehalten habe. Aber das sei eine ganze Weile früher gewesen, mindestens eine halbe Stunde vor dem Glockenzeichen. Als Mr Ames zur Eingangshalle gelaufen sei, sei sie mitgelaufen. Sie habe gesehen, wie Mr Barker ganz blass und erregt aus dem Arbeitszimmer kam. Er habe Mrs Douglas, die gerade die Treppe herunterkam, aufgehalten und sie dringend gebeten, wieder nach oben zu gehen. Diese habe ihm etwas geantwortet, aber so leise, dass Mrs Allen es nicht verstanden habe.

»Bringen Sie sie hinauf. Bleiben Sie bei ihr!« habe er zu Mrs Allen gesagt.

Sie habe Mrs Douglas in deren Schlafzimmer begleitet und versucht, sie zu beruhigen. Mrs Douglas sei sehr erregt gewesen und habe am ganzen Körper gezittert, aber sie habe nicht darauf bestanden hinunterzugehen. Sie habe im Schlafrock vor dem Kamin gesessen, den Kopf in den Händen vergraben. Mrs Allen sei fast die ganze Nacht bei ihr geblieben. Die anderen Dienstboten hätten alle längst geschlafen und von dem schrecklichen Vorfall nichts mitbekommen, sie seien erst alarmiert worden, als die Polizei kam. Sie schliefen im rückwärtigen Teil des Hauses und hätten unmöglich etwas hören können.

So weit die Haushälterin. Auch ein Kreuzverhör förderte nichts weiter zu Tage als Klagen und Entsetzensbekundungen.

Auf Mrs Allen folgte Mr Cecil Barker als Zeuge. Was die Vorgänge in der vergangenen Nacht betraf, hatte er dem, was er der Polizei bereits mitgeteilt hatte, wenig hinzuzufügen. Er sei überzeugt, dass der Mörder durch das Fenster entkommen sei. Der Blutfleck ließ seiner Meinung nach in diesem Punkt keinen Zweifel zu. Außerdem habe es gar keinen anderen Fluchtweg gegeben, da die Zugbrücke hochgezogen war. Er könne sich nicht erklären, was aus dem Mörder geworden sei und warum er nicht das Fahrrad genommen hatte, falls es wirklich ihm gehörte. Ein Ertrinken im Burggraben halte er für ausgeschlossen, da dieser an keiner Stelle mehr als einen Meter tief sei.

Zu dem Mord hatte er eine klare persönliche Ansicht. Douglas sei ein verschlossener Mensch gewesen, und es habe Kapitel in seinem Leben gegeben, über die er nie gesprochen hätte. Als sehr junger Mann war er von Irland nach Amerika ausgewandert. Dort habe er prosperiert, und es sei ihm finanziell gut gegangen. Douglas und er seien sich erstmals in den Goldfeldern von Kalifornien begegnet, und sie hätten sich auf einem ertragreichen Claim bei einem Ort namens Benito Canyon als Partner zusammengetan. Das sei sehr gut gelaufen. Aber dann habe Douglas ganz plötzlich seinen Anteil verkauft und sei nach England gegangen. Er sei damals verwitwet gewesen. Er selbst, Barker, habe später ebenfalls seinen Besitz zu Geld gemacht und sich in London niedergelassen. Dort hätten sie ihre Freundschaft erneuert. Er habe oft den Eindruck gehabt, dass Douglas sich in einer unbestimmten Gefahr glaubte, was wohl auch der Grund für seinen plötzlichen Rückzug aus Kalifornien gewesen sei wie auch für die Tatsache, dass er ein Haus in einer so abgelegenen Gegend Englands gekauft hatte. Er könne sich durchaus vorstellen, dass Douglas von einer obskuren Organisation verfolgt wurde, einem unversöhnlichen Geheimbund, dessen Mitglieder nicht ruhen und rasten würden, bis sie ihn umgebracht hatten. Diese Vermutung gründe sich auf Bemerkungen, die Douglas zuweilen fallen gelassen habe, auch wenn er nie offen darüber gesprochen habe, was für eine Organisation das war oder womit er sie gegen sich aufgebracht hätte. Er könne nur vermuten, dass die Zeichen auf der Karte sich darauf bezogen.

»Wie lange waren Sie zusammen mit Douglas in Kalifornien?« fragte Inspektor MacDonald.

»Insgesamt fünf Jahre.«

»Er war damals Junggeselle, sagten Sie?«

»Nein, Witwer.«

»Haben Sie jemals gehört, woher seine erste Frau kam?«

»Nein, ich erinnere mich nur, dass er einmal erzählt hat, sie sei deutscher Herkunft gewesen. Er hat mir ein Bild von ihr gezeigt. Sie war eine sehr schöne Frau. Sie ist am Typhus gestorben, ein Jahr bevor ich ihn kennengelernt habe.«

»Ist es Ihnen möglich, sein Vorleben mit einem bestimmten Teil von Amerika in Verbindung zu bringen?«

»Er hat gelegentlich von Chicago gesprochen. Dort hatte er gearbeitet, und er kannte die Stadt gut. Dann hat er noch das Kohle- und Eisenerzrevier erwähnt. Er ist ziemlich herumgekommen.«

»War er politisch tätig? Hatte dieser Geheimbund etwas mit Politik zu tun?«

»Nein, an Politik hatte er nicht das geringste Interesse.«

»Könnte er in ein kriminelles Netzwerk verwickelt gewesen sein?«

»Auf gar keinen Fall. Ich habe niemals einen gradlinigeren Menschen als ihn gekannt.«

»Ist Ihnen an seinen Lebensgewohnheiten in Kalifornien irgendetwas besonderes aufgefallen?«

»Er blieb am liebsten auf dem Claim in den Bergen, wo unser Arbeitsfeld war. Unter Menschen ging er nur, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Das war es, was mich zuerst auf den Gedanken gebracht hat, dass jemand hinter ihm her war. Als er sich dann so plötzlich nach Europa absetzte, hat mich das in dieser Ansicht bestätigt. Ich vermute, er hatte von irgendeiner Seite eine Warnung erhalten. Er war keine Woche fort, da kamen fünf oder sechs Männer und haben nach ihm gefragt.«

»Was für Leute waren das?«

»Na ja … ziemlich üble Burschen. Sie kamen zu unserem Claim und wollten wissen, wo er steckt. Ich habe gesagt, er ist fort nach Europa, aber ich wisse nicht genau, wohin. Die hatten nichts Gutes im Sinn, das war sonnenklar.«

»Waren es Amerikaner? Aus Kalifornien?«

»Also, ob aus Kalifornien, das kann ich nicht sagen. Aber ganz sicher waren sie Amerikaner. Jedenfalls waren es keine Goldgräber. Ich weiß nicht, was die waren, aber ich war froh, sie wieder von hinten zu sehen.«

»Das war vor sechs Jahren?«

»Eher schon sieben.«

»Wenn Sie vorher fünf Jahre in Kalifornien zusammengearbeitet haben, dann muss diese Geschichte nicht weniger als elf Jahre zurückliegen.«

»Richtig.«

»Das muss eine sehr ernste Sache gewesen sein, wenn die Fehde so lange und so unerbittlich aufrechterhalten wurde. Um eine Kleinigkeit kann es sich nicht gehandelt haben.«

»Ich glaube, sie hat sein ganzes Leben überschattet. Sie ist ihm niemals aus dem Kopf gegangen.«

»Aber wenn ein Mensch weiß, dass er in Gefahr ist, und wenn er diese Gefahr kennt, würde er sich dann nicht an die Polizei wenden und um Schutz bitten?«

»Vielleicht war es eine Gefahr, vor der die Polizei ihn nicht schützen konnte. Eins sollten Sie nämlich wissen: Er war stets bewaffnet. Der Revolver steckte immer in seiner Tasche. Das Unglück wollte es, dass er im Hausmantel herunterkam und seine Waffe im Schlafzimmer gelassen hatte. Vielleicht glaubte er sich sicher, sobald die Zugbrücke oben war.«

»Ich hätte die Daten gern noch ein bisschen präziser«, sagte MacDonald. »Es ist jetzt sechs Jahre her, dass Douglas Kalifornien verlassen hat. Sie sind ihm im Jahr darauf gefolgt, ist das richtig?«

»Ja.«

»Und er ist seit fünf Jahren verheiratet. Sie müssten also genau um die Zeit nach England gekommen sein, als er sich wieder verheiratet hat.«

»Etwa einen Monat davor. Ich war sein Trauzeuge.«

»Kannten Sie Mrs Douglas schon vor ihrer Heirat?«

»Nein. Ich war ja gut zehn Jahre von England fort.«

»Aber seither haben Sie sie ziemlich oft gesehen?«

Barker bedachte den Detektiv mit einem abweisenden Blick.

»Ich habe ihn seither ziemlich oft gesehen«, antwortete er. »Natürlich habe ich sie auch gesehen – man kann ja schlecht einen Mann besuchen, ohne auch seine Frau zu sehen. Aber falls Sie sich einbilden, es gäbe da einen Zusammenhang –«

»Ich bilde mir gar nichts ein, Mr Barker. Es ist meine Pflicht, nach allem zu fragen, was für den Fall von Belang sein könnte. Damit ist keinerlei Anschuldigung verbunden.«

»Manche Fragen sind einfach ungehörig«, knurrte Barker.

»Uns geht es nur um die Fakten. Es ist in Ihrem Interesse und im Interesse aller Beteiligten, dass sie geklärt werden. Hat Mr Douglas Ihre Freundschaft mit seiner Frau uneingeschränkt gebilligt?«

Barker wurde blass, und seine großen kräftigen Hände ballten sich zu Fäusten.

»Sie haben kein Recht, solche Fragen zu stellen!« rief er. »Was hat das mit der Sache zu tun, in der Sie ermitteln?«

»Ich muss die Frage wiederholen.«

»Dann verweigere ich die Antwort.«

»Sie können die Antwort verweigern, aber Sie müssen sich klar darüber sein, dass die Weigerung selbst eine Antwort auf meine Frage ist, denn Sie würden es nicht tun, wenn Sie nichts zu verbergen hätten.«

Barker stand einen Augenblick lang bewegungslos da, das Gesicht grimmig gefurcht, die kräftigen schwarzen Brauen tief zusammengezogen. Er dachte angestrengt nach. Dann blickte er mit einem raschen Lächeln auf.

»Schön, Gentlemen, ich denke mal, Sie tun nur Ihre Pflicht, und ich habe nicht das Recht, Ihnen dabei im Weg zu stehen. Ich möchte Sie nur bitten, Mrs Douglas nicht mit dieser Frage zu behelligen, sie hat schon genug zu leiden. Ich kann Ihnen sagen, dass der arme Douglas einen einzigen Fehler hatte, das war seine Eifersucht. Er mochte mich – so sehr, wie man einen Freund nur mögen kann. Und seine Frau hat er angebetet. Er hat sich immer gefreut, wenn ich kam, und er hat mich oft eingeladen. Aber trotzdem – wenn ich mich mit seiner Frau unterhielt und wir uns offensichtlich gut verstanden, dann wurde er von seiner Eifersucht übermannt, spuckte Gift und Galle und sagte die wildesten Sachen. Mehr als einmal habe ich mir geschworen, nicht mehr herzukommen, aber dann schrieb er mir wieder so zerknirscht und bat mich so inständig zu kommen, dass ich es doch tat. Aber Sie können mir glauben, Gentlemen, und das sage ich so ernst, als ob es mein letztes Wort wäre: Nie hatte ein Mann eine so treue, liebende Frau – und ich darf auch sagen: Nie hatte jemand einen loyaleren Freund als mich.«

Er hatte mit Leidenschaft und Bewegung gesprochen, trotzdem beharrte Inspektor MacDonald auf seiner Fragestellung.

»Sie wissen, dass man dem Toten den Ehering vom Finger gezogen hat?« fragte er.

»Ja, scheint so«, antwortete Barker.

»Was meinen Sie mit ›scheint so‹? Sie wissen doch, dass es eine Tatsache ist.«

Der Mann wirkte plötzlich unsicher und zögerlich.

»Mit ›scheint so‹ meinte ich nur, dass es ja durchaus möglich ist, dass er ihn selbst abgezogen hat.«

»Die bloße Tatsache, dass der Ring fehlt, wer auch immer ihn abgezogen hat, dürfte doch jedermann auf den Gedanken bringen, dass zwischen seiner Ehe und der Tragödie ein Zusammenhang besteht, meinen Sie nicht?«

Barker zuckte seine breiten Schultern.

»Ich kann nicht behaupten, dass ich weiß, auf welchen Gedanken einen das bringen soll«, erwiderte er. »Aber wenn Sie damit andeuten wollen, es würde ein ungutes Licht auf die Ehre der Lady werfen« – seine Augen sprühten, aber er riss sich gewaltsam zusammen und bekam seine Gefühlswallung in den Griff –, »also, da sind Sie auf dem Holzweg und damit basta.«

»Vorerst habe ich keine weiteren Fragen an Sie«, sagte MacDonald kühl.

»Eine Kleinigkeit noch«, warf Sherlock Holmes ein. »Als Sie das Zimmer betraten, brannte dort lediglich die Kerze auf dem Tisch, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt.«

»In diesem Licht haben Sie gesehen, dass etwas Schreckliches vorgefallen war?«

»Ja.«

»Sie haben sofort nach Hilfe geklingelt?«

»Ja.«

»Und die war rasch zur Stelle?«

»Innerhalb einer Minute.«

»Aber als die Dienstboten eintrafen, war die Kerze erloschen und die Tischlampe brannte. Das scheint mir sehr bemerkenswert.«

Wieder zeigte Barker eine leichte Unsicherheit.

»Ich wüsste nicht, was daran bemerkenswert sein soll, Mr Holmes«, antwortete er nach kurzem Überlegen. »Die Kerze gab sehr wenig Licht. Mein erster Gedanke war, besseres Licht zu schaffen. Auf dem Tisch stand eine Lampe, die habe ich angezündet.«

»Und die Kerze ausgeblasen?«

»Ja.«

Holmes stellte keine weiteren Fragen, worauf Barker einen Blick in die Runde warf, in dem mir etwas wie Trotz zu liegen schien, sich umdrehte und das Zimmer verließ.

Inspektor MacDonald hatte Mrs Douglas ein paar Zeilen des Inhalts geschickt, dass er sich erlauben würde, sie in ihrem Zimmer aufzusuchen, aber sie hatte geantwortet, lieber in das Speisezimmer herunterkommen zu wollen. Nun trat sie ein, eine hochgewachsene, schöne Frau von etwa dreißig Jahren, reserviert und erstaunlich selbstbeherrscht – alles andere als die tragische, gebrochene Erscheinung, die ich erwartet hatte. Ihr Gesicht war zwar blass und abgespannt wie das eines Menschen, der einen Schock erlitten hat, aber sie gab sich gefasst und diszipliniert, und ihre feingliedrige Hand, die auf dem Tischrand ruhte, war ebenso ruhig wie meine. Ihre traurigen schönen Augen wanderten mit einem eigenartig forschenden Ausdruck zwischen uns hin und her, dann schlug ihr fragender Blick abrupt in Worte um.

»Haben Sie schon etwas herausgefunden?«

War es Einbildung, dass ich aus dieser Frage eher einen besorgten als einen hoffnungsvollen Unterton herauszuhören glaubte?

»Wir haben alle erforderlichen Schritte eingeleitet, Mrs Douglas«, antwortete der Inspektor. »Sie dürfen darauf vertrauen, dass wir nichts unversucht lassen.«

»Scheuen Sie keine Kosten«, sagte sie mit tonloser, flacher Stimme. »Ich möchte, dass alles nur Erdenkliche getan wird.«

»Vielleicht können Sie uns helfen, etwas Licht in die Sache zu bringen.«

»Ich glaube kaum, aber ich stehe Ihnen mit allem, was ich weiß, zur Verfügung.«

»Wir haben von Mr Barker erfahren, dass Sie die L … – dass Sie das Zimmer, in dem die Tragödie sich ereignet hat, nicht betreten haben.«

»Das stimmt. Er hat mich an der Treppe aufgehalten und mich gebeten, umzukehren und wieder in mein Zimmer hinaufzugehen.«

»Ganz recht. Sie haben also den Schuss gehört und sind sofort heruntergekommen.«

»Ja, ich habe nur meinen Morgenrock übergeworfen und bin sogleich hinuntergegangen.«

»Wie viel Zeit ist vergangen zwischen dem Moment, wo Sie den Schuss gehört haben, und Ihrem Zusammentreffen mit Mr Barker an der Treppe?«

»Vielleicht ein paar Minuten. In solchen Situationen denkt man nicht an die Zeit. Er beschwor mich, nicht weiterzugehen. Er versicherte mir, dass ich nichts tun könne. Dann brachte Mrs Allen, unsere Haushälterin, mich wieder nach oben. Es war alles wie in einem schrecklichen Traum.«

»Können Sie ungefähr sagen, wie lange Ihr Gatte sich im Erdgeschoss aufgehalten hat, bevor Sie den Schuss gehört haben?«

»Nein, das kann ich leider nicht. Er war in seinem Ankleidezimmer, und ich habe gar nicht gehört, dass er nach unten gegangen ist. Er machte jeden Abend seine Runde durch das Haus, denn er sorgte sich wegen einer möglichen Feuergefahr. Das ist übrigens das Einzige, worüber ich ihn je besorgt gesehen habe.«

»Das ist genau der Punkt, über den ich mit Ihnen sprechen möchte, Mrs Douglas. Sie haben Ihren Gatten in England kennengelernt, nicht wahr?«

»Ja. Wir sind seit fünf Jahren verheiratet.«

»Hat er Ihnen jemals von einem Vorkommnis in Amerika erzählt, das für ihn eine Gefahr sein könnte?«

Mrs Douglas dachte eine Weile nach, bevor sie antwortete.

»Ja«, sagte sie schließlich. »Ich habe immer gespürt, dass eine Gefahr über ihm hängt. Aber er wollte nicht mit mir darüber sprechen. Nicht etwa aus Mangel an Vertrauen – zwischen uns herrschte wahre Liebe und volles Vertrauen –, sondern weil er mir Kummer ersparen wollte. Er wusste, dass ich darüber nachgrübeln würde, deshalb sagte er lieber nichts.«

»Wie haben Sie dann davon erfahren?«

Ein rasches Lächeln flog über Mrs Douglas’ Gesicht.

»Glauben Sie, ein Ehemann kann sein ganzes Leben lang ein Geheimnis mit sich herumtragen, ohne dass die Frau, die ihn liebt, es merkt? Ich habe auf viele Arten davon erfahren. Durch seine Weigerung, über bestimmte Zeiten in seinem Leben in den Vereinigten Staaten zu sprechen. Durch bestimmte Vorsichtsmaßnahmen, die er ergriff. Durch Worte, die er gelegentlich fallen ließ. Durch die Art und Weise, wie er unerwartet auftauchende Fremde beobachtete. Ich war sicher, dass er mächtige Feinde hatte und dass er glaubte, sie seien ihm auf der Spur, und dass er ständig vor ihnen auf der Hut war. Ich war mir so sicher, dass ich jahrelang vor Angst vergangen bin, wenn er einmal länger als erwartet ausblieb.«

»Darf ich fragen«, warf Holmes ein, »welche Worte es waren, die Ihnen aufgefallen sind?«

»Das Tal der Angst«, antwortete die Lady. »Diesen Ausdruck hat er benutzt, wenn ich ihn gefragt habe. ›Ich war im Tal der Angst. Ich bin immer noch nicht heraus.‹ – ›Werden wir diesem Tal der Angst denn niemals entkommen?‹ habe ich ihn mehrfach gefragt, wenn er mir besonders bedrückt vorkam. – ›Manchmal glaube ich, nie‹, hat er geantwortet.«

»Sie haben ihn doch bestimmt gefragt, was es mit diesem ›Tal der Angst‹ auf sich hatte?«

»Natürlich, aber dann wurde sein Gesicht schrecklich düster, und er hat nur den Kopf geschüttelt. ›Es ist schlimm genug, dass einer von uns in seinem Schatten leben muss‹, hat er gesagt. ›Gott gebe, dass dieser Schatten niemals auf dich fällt.‹ Es war offenbar ein wirkliches Tal, in dem er gelebt hat und in dem sich irgendetwas Schreckliches zugetragen hat – da bin ich mir ziemlich sicher, aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Hat er denn nie irgendwelche Namen genannt?«

»Doch. Vor drei Jahren, als er diesen Jagdunfall hatte und danach im Fieber delirierte. Da kam ein Name immer wieder über seine Lippen. Er sprach ihn zornig aus, aber auch mit einer Art von Entsetzen. McGinty war der Name – Logenmeister McGinty. Als er wieder gesund war, habe ich ihn gefragt, wer dieser Logenmeister McGinty ist und wessen Meister er sei. ›Nicht meiner, Gott sei Dank!‹ hat er geantwortet, aber mehr konnte ich nicht aus ihm herausbringen. Doch es muss eine Verbindung geben zwischen diesem Logenmeister McGinty und dem ›Tal der Angst‹.«

»Ich möchte Sie noch zu einem anderen Punkt etwas fragen«, sagte Inspektor MacDonald. »Sie haben die Bekanntschaft von Mr Douglas in einer Londoner Pension gemacht, nicht wahr? Und Sie haben sich dort mit ihm verlobt? Hatte diese Verbindung etwas Romantisches, oder vielleicht auch etwas Verstohlenes oder Mysteriöses?«

»Es war romantische Liebe. Das muss auch so sein. Da gab es nichts Mysteriöses.«

»Es gab keinen Rivalen?«

»Aber nein, ich war vollkommen ungebunden.«

»Sie haben sicherlich erfahren, dass sein Ehering verschwunden ist. Haben Sie dazu irgendeine Vermutung? Angenommen, ein Verfolger aus seinem früheren Leben in Amerika hat ihn aufgespürt und das Verbrechen verübt – welchen Grund könnte dieser haben, den Ehering zu entwenden?«

Ich hätte schwören können, dass für einen Augenblick ein kaum merkliches Lächeln um ihre Lippen zuckte.

»Dazu kann ich wirklich nichts sagen«, antwortete sie. »Das ist zweifellos sehr seltsam.«

»Gut, dann wollen wir Sie nicht länger aufhalten«, sagte der Inspektor. »Es tut uns sehr leid, Sie zu einem solchen Zeitpunkt belästigen zu müssen. Wir haben bestimmt noch ein paar weitere Fragen, damit werden wir uns zu gegebener Zeit an Sie wenden.«

Sie erhob sich, und wieder bemerkte ich jenen raschen forschenden Blick, mit dem sie uns musterte, als wollte sie fragen: ›Welchen Eindruck hat meine Aussage auf Sie gemacht?‹ Sie hätte diese Frage genauso gut laut stellen können. Dann neigte sie anmutig den Kopf und schwebte aus dem Zimmer.

»Eine schöne Frau – eine auffallend schöne Frau«, sagte MacDonald nachdenklich, nachdem die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte. »Dieser Barker ging hier offenbar ein und aus. Er ist genau der Typ Mann, den viele Frauen attraktiv finden. Er gibt zu, dass der Tote eifersüchtig war, und vielleicht weiß er selbst am besten, dass das nicht grundlos war. Und dann die Geschichte mit dem Ehering. Darum kommen wir nicht herum. Ein Mörder, der den Trauring von der Hand eines Toten reißt – was sagen Sie dazu, Mr Holmes?«

Mein Freund hatte schweigend dagesessen, den Kopf in die Hände gestützt, tief in Gedanken versunken. Nun stand er auf und zog die Klingel.

»Ames«, sagte er, als der Butler erschien, »wo ist Mr Barker momentan?«

»Ich werde nachsehen, Sir.«

Wenig später kehrte er zurück und meldete, Mr Barker sei im Garten.

»Können Sie sich erinnern, Ames, was Mr Barker an den Füßen trug, als Sie ihn gestern Nacht im Arbeitszimmer angetroffen haben?«

»Jawohl, Mr Holmes. Er trug Pantoffeln. Ich brachte ihm seine Stiefel, als er zur Polizei laufen wollte.«

»Wo sind die Pantoffeln jetzt?«

»Sie liegen noch unter dem Stuhl in der Eingangshalle.«

»Danke, Ames. Es ist natürlich wichtig für uns zu wissen, welche Fußspuren von Mr Barker stammen und welche von dem Fremden.«

»Ja, Sir. Ich darf vielleicht erwähnen, dass mir an den Pantoffeln Blutflecken aufgefallen sind – allerdings sind an meinen eigenen auch welche.«

»Das ist nicht verwunderlich, wenn man den Zustand des Zimmers bedenkt. Danke, Ames, wir werden läuten, wenn wir Sie brauchen.«

Kurz darauf waren wir wieder im Studierzimmer versammelt. Holmes hatte die Pantoffeln aus der Halle geholt. Wie Ames gesagt hatte, waren beide Sohlen dunkel von Blut.

»Sonderbar«, murmelte Holmes, der am Fenster stand und sie eingehend betrachtete. »Sehr sonderbar!«

Mit einer seiner charakteristischen raschen, katzenartigen Bewegungen bückte er sich und legte einen Pantoffel auf die Blutspur auf der Fensterbank. Beide waren deckungsgleich. Wortlos lächelnd blickte er zu seinen Kollegen auf.

Der Inspektor geriet wie aus dem Häuschen vor Begeisterung. Sein heimatlicher Akzent ratterte, als würde man einen Stock über Zaunlatten ziehen.

»Menschenskind!« rief er. »Kein Zweifel möglich! Barker hat diese Blutspur selbst gemacht! Der Abdruck ist viel breiter als von einem Stiefel. Ich weiß noch, wie Sie gesagt haben, es müsste ein Spreizfuß sein, hier haben wir die Erklärung. Was wird hier gespielt, Mr Holmes, was wird hier gespielt?«

»Ja, was wird hier gespielt?« wiederholte mein Freund nachdenklich.

White Mason gluckste und rieb sich in professioneller Genugtuung die dicken Hände.

»Ich hab ja gesagt, es ist ein Riesending!« rief er. »Ein Rie-sen-ding!«

Das Tal der Angst

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