Читать книгу Dr. Brinkmeier Staffel 3 – Arztroman - Sissi Merz - Страница 9

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»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Bub! Und alles Gute.« Dr. Josef Brinkmeier nahm seinen Sohn Max in den Arm und drückte ihn herzlich. Der junge Landarzt lächelte.

»Dank schön, Vater, aber ich finde, ihr habt’s euch viel zu viel Arbeit gemacht. Wenn ich allein an die vielen Kuchen denke, die die Afra gebacken hat… Das wäre doch net nötig gewesen.«

Brinkmeier senior setzte sich zu seinem Sohn an den Frühstückstisch. Die beiden sahen sich sehr ähnlich, hatten beide sandblondes Haar und grau-blaue Augen. Josef war sozusagen die ältere Ausgabe von Max. Und auch was das Wesen betraf, ähnelten sie sich. Sie waren beide Mediziner mit Leib und Seele, wobei es ihnen darum ging, ihren Patienten wirklich zu helfen. Nicht nur ihre körperlichen Leiden zu kurieren, sondern den ganzen Menschen mit all seinen Problemen zu sehen. Und wenn sie dann einen Erfolg erringen konnten, war ihnen das Lob und Dank zugleich. Bescheiden waren sie, die Brinkmeiers, und sie mochten es nicht, wenn um ihre Person viel Aufhebens gemacht wurde.

In diesem Fall aber war Josef anderer Ansicht als sein Sohn und ließ ihn das auch wissen: »Es ist jetzt bald ein Jahr her, dass du zurück nach Wildenberg gekommen bist, Bub. Und ich bin mit der Afra einer Meinung, dass wir heut auch daran denken und uns ein bissel darüber freuen wollen. Deshalb soll dein Geburtstag etwas Besonderes sein in diesem Jahr.«

Der junge Mediziner machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ein Jahr ist es schon her? Mei, das ist mir gar net bewusst gewesen.« Dachte er daran, wie schwer es ihm seinerzeit gefallen war, diesen Einschnitt in seinem Leben zu setzen, konnte er das heute nur noch bedingt nachvollziehen…

Vor einem Jahr hatte Max noch auf der kleinen Missionsstation Holy Spirit im ruandischen Hochland gelebt und gearbeitet. Gut zehn Jahre lang waren für ihn und Dr. Julia Bruckner, die Frau, die er liebte, die Station und ihre Kranken zur Lebensaufgabe geworden. Direkt nach dem Studium war das junge Paar in die Entwicklungshilfe gegangen und hatte aus der kleinen, schlecht eingerichteten Station, auf der nur ein paar Nonnen gelebt hatten, ein funktionierendes Buschhospital gemacht. Niemals wäre es Max in den Sinn gekommen, dass er Holy Spirit einmal freiwillig verlassen würde. Doch dann war sein Vater krank geworden und hatte die Landarztpraxis in Wildenberg nicht mehr allein führen können. Zwischen Vater und Sohn hatte nicht eben das beste Einvernehmen geherrscht. Josef hatte sich seinerzeit gewünscht, dass Max nach dem Studienabschluss in seine Praxis einstieg. Dass dieser lieber »auf Abenteuer« ausging, hatte der Vater ihm übel genommen. Und er hatte auch nicht daran gedacht, Max zur Rückkehr zu bewegen.

Christel Brenner, seine langjährige Sprechstundenhilfe, hatte da vermitteln müssen. Letztlich hatte Max sich für Wildenberg entschieden und diese Entscheidung nicht bereuen müssen. Er liebte sein Heimattal und ging in seiner Arbeit auf. Das einzige, was ihm täglich fehlte, war Julia Bruckner. Aber sie hatte sich für die Station entschieden, und damit musste Max sich abfinden. Auch wenn es ihm alles andere als leichtfiel.

»Du hast dich als mein Nachfolger mehr als bewährt«, sagte Josef nun in die Gedanken seines Sohnes hinein. »Und ich muss net sagen, wie stolz ich auf dich bin, Max. Aber etwas macht mir schon Kummer. Weißt, was ich meine, gelt?«

Der Landarzt lächelte schmal. »Freilich, mir macht es ja auch Kummer, dass die Julia wieder fort ist. Ich hab’ zwar gelernt, irgendwie damit zu leben. Doch auf Dauer ist das kein Zustand, da hast recht, Vater.«

»Hast dir mal ein paar Gedanken gemacht, was in Zukunft geschehen soll? Wenn ich mich an Julias Besuch vor ein paar Wochen erinnere, dann weiß ich net recht, was ich davon halten soll. Und du wohl auch net, oder?«

Max seufzte schwer. Er dachte an die Wochen, die Julia in Wildenberg verbracht hatte. Angeblich hatte sie es in Afrika ohne ihn nicht mehr ausgehalten. Aber dann war ein Kollege aus der Missionsstation aufgetaucht, und Julia hatte ihn begleitet. Für Max war das ein schwerer Schlag gewesen, zumal sie bereits Heiratspläne geschmiedet hatten.

»Weißt, Vater, ich hab’ mich darauf verlassen, dass die Julia sich für mich entschieden hat. Aber ich habe mir da nur etwas vorgemacht, das weiß ich jetzt. Im Grunde ist ihr die Station immer wichtiger gewesen als ich. Von Anfang an.«

»Tust ihr da net unrecht? Sie hat dich lieb.«

»Gewiss, ich sie ja auch. Aber die Arbeit in der Entwicklungshilfe, davon hat sie schon im Studium geträumt.« Er senkte den Blick und gab zu: »Ich hab’ damals genau gewusst, dass sie auch ohne mich nach Ruanda gegangen wäre. Aber ich wollte sie net verlieren, deshalb habe ich mich gegen die Mitarbeit in deiner Praxis entschieden.«

Josef stutzte. »Ist das wahr? Wieso hast mir damals nix gesagt? Das hätte viel böses Blut zwischen uns verhindern können. Ich hab’ ja net geahnt…«

»Schau, Vater, ich hab’ mir da was vorgemacht, das weiß ich in der Zwischenzeit. Die zehn Jahre in Ruanda, das war eine besondere Zeit, die ich net missen möchte. Aber das Leben dort hat mich nie restlos glücklich gemacht. Ich hab’ Wildenberg immer vermisst, die ganze Zeit hatte ich Heimweh. Die Julia ist da ganz anders. Sie lebt für die Station, hat dort ihre Lebensaufgabe gefunden. Deshalb kann sie sich auch net von Holy Spirit trennen, das weiß ich jetzt. Sie wäre hier mit mir auf die Dauer nicht glücklich geworden. Ich darf da dem Kennedy keine Vorwürfe machen, dass er sie zurückgeholt hat. Es ist eine bittere und schmerzliche Erkenntnis, aber so wie es jetzt ausschaut, kann es für die Julia und mich kein Zusammenleben mehr geben. Sie wird die Station nie aufgeben. Und ich bin net bereit, Wildenberg wieder zu verlassen.«

Josef hatte seinem Sohn aufmerksam zugehört, nun legte er Max eine Hand auf die Schulter und versicherte ihm: »Ich verstehe deine Situation, Bub. Und ich bin natürlich froh, dass du dich in der Pflicht fühlst. Aber du sollst wissen, es käme mir nie in den Sinn, dich zu etwas zu zwingen. Lieber schließe ich die Praxis und schicke die Patienten zum Haselbeck nach Schlehbusch als zu riskieren, dass du unglücklich bist.«

»Ist schon recht, Vater, du musst dich net sorgen. Ich hab’ hier meine Lebensaufgabe gefunden. Und die geb’ ich nimmer auf. Auch wenn es bitter für die Julia und mich ist; manchmal muss man auf sein Glück verzichten, um es nicht zu zerstören.«

Josef wusste nicht recht, was er sagen sollte, er empfand Mitleid mit seinem Sohn, denn er wusste, wie groß die Liebe zwischen ihm und Julia Bruckner war. Dass es für die zwei keine gemeinsame Basis gab, mochte er einfach nicht glauben.

»Was ist denn los? Solche langen Gesichter am Geburtstag mag ich fei net sehen!«, ließ sich da die betagte Hauserin Afra vernehmen, die mit Kaffee und frischen Semmeln die Stube betrat. »Und du, Doktor, iss was, du musst gleich in die Praxis. Nachher wird gefeiert, wie es sich gehört. Dann musst pünktlich sein, da dulde ich fei keine Ausreden! Und dass du mir von jedem Kuchen auch ein Stückerl kosten tust!«

Max musste lachen. »Bedroh’ mich net gleich am frühen Morgen, Afra, sonst bin ich noch gelähmt vor Schreck«, frotzelte er.

»Frechdachs! Und so was will ein ausgewachsener Doktor sein.« Kopfschüttelnd verließ sie die Stube, Max stellte fest: »Die Afra hat aber Recht, die Sprechstunde fängt gleich an. Wen habt’s denn alles eingeladen? Hoffentlich net das halbe Dorf.«

»Keine Sorge, die Tina und der Lukas kommen, die Anna Stadler und der Hochwürden haben sich angesagt. Und dein Freund Peter Brosius schaut vielleicht auch herein. Von den vielen Gratulanten ganz zu schweigen, aber ich denke, die wirst schon in der Sprechstunde packen.«

Der Landarzt verdrehte die Augen. »In Holy Spirit gab’s an meinem Geburtstag ein kleines Stück Kuchen und eine Tasse Tee. Ich finde, das war völlig ausreichend.«

»Du bist aber nimmer in Ruanda. Und du kannst es deinen Mitmenschen net verdenken, wenn sie dir alles Gute wünschen wollen für’s neue Lebensjahr…«

Tatsächlich stellte sich heraus, dass Josef nicht übertrieben hatte. Christel Brenner hatte Max’ Schreibtisch bereits mit einem Feldblumenstrauß verziert und überreichte ihm mit den besten Wünschen eine Flasche Wein. Und jeder Patient, der an diesem Samstag im August in der Praxis erschien, drückte dem Doktor herzlich die Hand und wünschte ihm alles Gute. Manch einer brachte auch ein kleines Geschenk mit. Als Dr. Brinkmeier gegen Mittag die Praxis schloss, sagte er zu Christel Brenner: »Ich fühle mich fast ein bissel wie an Weihnachten. Dass die Leut’ immer gleich übertreiben müssen…«

»Aber das tun Sie doch gar net, Doktor. Bist halt beliebt. Und ein jeder, dem du schon mal was Gutes getan hast, der hat sich halt auch revanchieren mögen.«

Mit einem Blick auf die Präsente murmelte er: »So viele?«

»Ja, freilich. In einem Jahr geschieht allerlei. Und faul bist ganz bestimmt net gewesen. Die Wildenberger sind halt stolz auf ihren tüchtigen Doktor.«

»So, so.« Max schüttelte leicht den Kopf, er schien noch immer nicht genau zu wissen, was er von alledem halten sollte. »Na, sei’s drum. Allerdings werde ich die ganze Schokolade net selbst essen. Die Kinder von Sankt Bartholomä freuen sich gewiss darüber.« Er hob die Schultern. »Ich sollte noch ein paar Hausbesuche machen und auch im Kinderheim vorbeischauen…«

»Wennst schlau bist, lässt das heut ausfallen. Die Afra wird sonst bös’. Und schließlich warten alle nur auf dich, Doktor.«

»Also schön, ich will niemanden enttäuschen. Kommst gleich mit, Christel? Du bist doch auch eingeladen, net wahr?«

»Freilich, das lasse ich mir net entgehen.« Sie folgte Max und wollte eben die Tür zur Praxis schließen, als das Telefon sich meldete. Der junge Landarzt kehrte um, Christel lauschte kurz und konnte feststellen, dass es sich um keinen Notfall handelte. Aber ein wenig später würde Dr. Brinkmeier trotzdem zu seinem Geburtstagsfest kommen…

*

Dr. Julia Bruckner atmete auf, als sie Max Brinkmeiers Stimme hörte. Trotzdem zögerte sie kurz, sich zu melden. Schließlich hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, seit sie Wildenberg ohne Abschied verlassen hatte. Ob er ihr noch böse war? Sie hatte ein wenig Angst vor diesem Moment gehabt. Aber sie sehnte sich auch danach, wenigstens seine Stimme zu hören.

»Max, hier ist Julia«, sagte sie schließlich leise. »Ich möchte dir zum Geburtstag gratulieren. Alles Liebe!«

»Julia…« Obwohl er eigentlich damit gerechnet hatte, traf es ihn doch, ihre Stimme zu hören. Sie rief all die tiefe Sehnsucht in Max wach, die er sich in den vergangenen Wochen verboten hatte. Noch immer empfand er die Enttäuschung, das schwere Unglück, sie wieder verloren zu haben. Doch das innige Gefühl der wahren Liebe war stärker als alles andere. »Ich danke dir. Und ich bin froh, dass du dich endlich wieder bei mir meldest.«

»Wirklich?« Er hörte die Erleichterung, meinte aber, dass auch Tränen in ihrer Stimme mitschwangen. »Oh, Max, ich vermisse dich so schrecklich! Ich weiß, ich habe kein Recht, das zu sagen, denn schließlich war es meine Entscheidung, Wildenberg wieder zu verlassen. Aber ich weine mich jede Nacht in den Schlaf. Immer muss ich darüber nachdenken, ob es nicht doch ein Fehler gewesen ist, fortzugehen. Ich bin schrecklich unglücklich.«

Er schwieg kurz, musste sich dann erst räuspern, bevor er ihr versichern konnte: »Es war bestimmt ein Fehler, weil wir jetzt wieder getrennt sind. Aber es war für dich der einzige Weg.«

»Das sagst du? Und ich dachte, du hasst mich. Dein Vater hat mir davon abgeraten, dich anzurufen. Und Anna Stadler…«

»Ich weiß, sie hat es mir gesagt. Sie meinte es nicht böse, aber sie hat sich Sorgen um mich gemacht. Deine Abreise hat mir nämlich sehr zu schaffen gemacht.«

»Ach, Max, ich hasse mich selbst dafür!«

»Nicht, Julia, das bringt doch nichts. Wir wissen beide, dass die Station für dich an erster Stelle steht, das war schon immer so. Ich möchte dir keine Vorwürfe machen, denn ich verstehe dich. Es ist bitter für uns beide, aber momentan gibt es keine Lösung für unser Problem, das müssen wir akzeptieren.«

»Ich hätte bei dir bleiben sollen. Man darf seine Entscheidungen wirklich nicht so leichtfertig ändern.«

»Glaubst du, das hätte etwas gebracht? Du bist mit dem Herzen in Afrika geblieben. Wahrscheinlich hättest du mir irgendwann Vorwürfe gemacht, wenn auch nur unterbewusst. Und so etwas ist der Anfang vom Ende, das wissen wir doch beide.«

»Vielleicht hast du recht. Aber ich hätte es darauf ankommen lassen. Wenn Tom nicht in Wildenberg aufgetaucht wäre, hätte ich nicht daran gedacht, wieder fortzugehen. Ich möchte, dass du etwas weißt: Ich habe unsere Heiratspläne wirklich ernst genommen. Es waren nicht nur Lippenbekenntnisse.«

»Ich habe nie daran gezweifelt. Jedenfalls nicht an deinem guten Willen«, beteuerte er.

»Was meinst du damit? Denkst du, ich wollte es nicht wirklich? Bitte, Max, wir sollten jetzt ganz ehrlich zueinander sein. Alles andere hätte keinen Sinn. Vielleicht wird es lange dauern, bis wir uns wiedersehen. Und ich möchte einfach nicht, dass sich falsche Töne einschleichen.«

»Also gut, wenn du es hören willst, sage ich es dir: Wir wissen beide, dass du eine gewisse Scheu vor einer festen Bindung hast. Deine Mutter wurde geschieden, als du noch ein Kind warst. Du hast mir mal erzählt, dass sie die Scheidung nie verwunden hat und quasi an gebrochenem Herzen starb. Das ist etwas, das man nicht vergessen kann.«

»Ja, das stimmt. Aber in unserer Beziehung ist alles anders. Wir lieben uns, ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Und ich habe keine Angst mehr, mich zu binden.«

»Wirklich nicht? Ich erinnere mich an mehrere Anträge während der zehn Jahre in Afrika. Du hast mir jedesmal einen Korb gegeben. Vielleicht wolltest du es diesmal nicht so direkt…«

»Max, ich bitte dich, wie kannst du mir so etwas unterstellen? Das ist unfair, ich bin der Entscheidung nicht ausgewichen.«

Der junge Mann schwieg eine Weile nachdenklich, schließlich stellte er fest: »Dieses Gespräch läuft in eine Richtung, die ich nicht wollte. Es hat wenig Sinn, wenn wir uns jetzt gegenseitig Schuld zuweisen. Fakt ist nun mal, dass wir uns mit der räumlichen Trennung abfinden müssen, die Gründe sind ja hinlänglich bekannt. Ich weiß zwar nicht genau, wie wir es schaffen sollen, aber wir müssen lernen, damit zu leben.«

»Ich glaube nicht, dass ich das kann. Nicht auf Dauer.« Julia seufzte bekümmert auf. »Die Arbeit in Holy Spirit hat nicht mehr die gleiche Qualität für mich wie früher. Ich empfinde noch eine gewisse Befriedigung, aber es ist alles anders geworden. Ich habe mir eingeredet, das läge an Grete Sörensen, die gegen mich intrigiert hat. Doch das stimmt nicht. Es liegt einzig und allein daran, dass du fort bist. Holy Spirit, das waren wir beide. Und das ist jetzt vorbei.«

»Julia, sprich net so, das tut mir weh. Es klingt so endgültig. Und es macht das Opfer, das unsere Trennung für mich darstellt, irgendwie sinnlos.«

»Ja, du hast recht. Ich wollte dir auch nix vorjammern, schon gar net an deinem Geburtstag. Ich bin sehr froh, dass wir wieder miteinander reden. Vielleicht schaffen wir es ja tatsächlich, irgendwie mit der Situation umzugehen.«

Max lächelte flüchtig. »Das schaffen wir ganz bestimmt. Ich melde mich bald wieder bei dir. Jetzt muss ich rauf, meine Geburtstagsfeier findet sonst noch ohne mich statt.«

»Grüß alle von mir. Bis bald…«

Der junge Landarzt legte den Hörer auf und blickte noch eine Weile sinnend vor sich hin. Er hatte sich in gewisser Weise vor diesem Telefonat gefürchtet. Nachdem Julia einfach abgereist war, ihm nur ein paar Zeilen dagelassen hatte, war Max sozusagen in ein schwarzes Loch gefallen. Die neuerliche Trennung hatte ihm schwer zu schaffen gemacht. Und er war eine ganze Weile sehr wütend und enttäuscht gewesen.

Nun aber hatte er seine Gefühle wieder im Griff und war erleichtert, auf einer vertrauten Ebene mit Julia in Kontakt zu kommen. Das war zumindest ein kleiner Schritt in die richtige Richtung…

Im ersten Stock des Doktorhauses wohnte Josef, Max hatte die Wohnung darüber. Bei den Mahlzeiten gesellte er sich stets zu seinem Vater, um der Hauserin keine unnötige Arbeit zu machen. Und auch die Geburtstagstafel war in der guten Stube von Brinkmeier senior gedeckt. Als Max erschien, wurde er gleich mit guten Wünschen empfangen.

»Alles Gute, Bruderherz, leben sollst«, meinte Lukas jovial. Der jüngere Brinkmeier führte den Erbhof der Familie in Wildenberg und sah Max überhaupt nicht ähnlich. Er war ein Abbild der früh verstorbenen Mutter mit dem dunklen Haar und den samtbraunen Augen. Leider hatte er aber nicht deren sanftes Wesen geerbt; im Gegenteil. Lukas war ein auffahrender und oft unbeherrschter Mensch. In jungen Jahren war er neidisch auf seinen klügeren Bruder gewesen, und dieses Gefühl der ewigen Unterlegenheit hatte sich erst in letzter Zeit relativiert. Seit Lukas mit der patenten Tina verheiratet und Vater eines kleinen Buben war, hatte er ein wenig Selbstbewußtsein entwickelt und schaffte es leidlich, mit seinem älteren Bruder auszukommen.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Max.« Tina drückte ihm ein Busserl auf die Wange, und der kleine Max streckte die Ärmchen nach seinem Onkel aus, der ihn gerne nahm. »Du hast ein Händerl für Kinder, solltest dir auch welche anschaffen«, riet die Tina ihm schmunzeln. »Gelt, Anna?«

Anna Stadler, die Apothekerin von Wildenberg, errötete ein wenig. Sie war in Max verliebt, was mittlerweile als offenes Geheimnis in Wildenberg galt. Sie schenkte dem jungen Mann ein zartes Busserl und überreichte ihm ein Fachbuch, über das er sich sehr freute.

Hochwürden Hirtner, der Dorfgeistliche, sprach ebenfalls die besten Wünsche aus, doch nicht nur in seinem eigenen Namen. »Die Mutter Oberin von St. Bartholomä schickt dir ebenfalls ihre Segenswünsche, Max. Und von den Kindern kommt das hier.«

Dr. Brinkmeier nahm das Blatt Papier, das Dominik Hirtner ihm reichte, und faltete es auseinander; es zeigte ein großes Haus, davor eine Menge Kinder. Und inmitten dieser munteren Schar einen großen, blonden Mann mit einer schwarzen Tasche. Max musste lachen, als er das sah.

»Das ist aber lieb, da werde ich mich beim nächsten Hausbesuch ordentlich bedanken müssen.«

»Bist halt beliebt bei den Kindern«, meinte Anna. »Und das ist ja auch kein Wunder.« Sie streichelte dem kleinen Max die runde Wange, der sich auf dem Arm seines Onkels pudelwohl fühlte.

Nun erschien die Hauserin Afra – zur Feier des Tages in ihrem besten Dirndl – und brachte den frisch gebrühten Kaffee. Man versammelte sich um die Tafel, Josef scherzte: »Bist ja so fesch heut, Afra, magst noch zum Tanzvergnügen gehen?«

Alle lachten, die Hauserin drohte dem alten Doktor mit der Kuchenschaufel, was gleich zu weiteren Heiterkeitsausbrüchen führte. So wurde es ein lustiger Nachmittag in heiterer Runde. Max fühlte sich sehr wohl im Kreis von Freunden und Verwandten und stellte erst am Abend fest, dass er nicht einmal an Julia gedacht hatte… Tina Brinkmeier brachte die Sprache bald auf die alte Almhütte oberhalb des Erbhofes. Lukas verdrehte die Augen. »Was hast denn allerweil mit dem uralten Hüttel? Da war seit Jahren keiner drin. Ich glaub’, da hausen nur Murmeltiere. Das Hüttel ist zu nix mehr zu gebrauchen.«

»Aber einer hat es mal gebaut und da muss es doch einen Nutzen gehabt haben«, hielt seine Frau ihm entgegen. »Wieso blockst nur immer ab, wenn ich davon rede? Gewiss könnte man noch etwas damit anfangen. Ich finde es schade, dass es da droben verrottet.«

Josef nickte, ein feines Schmunzeln legte sich auf sein Gesicht, als er erzählte: »Die Walli und ich, wir haben da droben unsere Flitterwochen verbracht. Ja, da schaut’s, gelt? Damals konnte man net eben mal irgendwohin verreisen, da fehlte es an Zeit und Geld. Meine Eltern waren nimmer die Jüngsten und auf meine Hilfe bei der Hofarbeit angewiesen. Außerdem habe ich die Praxis eingerichtet, das war kein leichtes Unterfangen. Am Geld hat es allerweil gemangelt. Und da haben eure Mutter und ich uns überlegt, dass man auch in einem Sennhüttel glücklich sein kann.« Er lachte. »Glücklich waren wir da droben, der lebende Beweis sitzt mir gegenüber.«

Max musste schmunzeln. »Das klingt recht romantisch. Warum ist denn das Hüttel später nimmer benutzt worden?«

»Ursprünglich war es dem Senn vorbehalten, der da im Sommer lebte und gekäst hat. Aber das hat sich irgendwann nimmer rentiert, das Handwerk war ja fast ausgestorben.«

»Aber heutzutage gibt es wieder eine Nachfrage für Almkäse«, meldete Tina sich zu Wort. »Und deshalb würde ich diese alte Tradition gerne wieder aufleben lassen.«

»Aber net mit mir«, brummte Lukas. »Jetzt in der Ernte hab’ ich fei keine Zeit für solche Spirenzerln.«

»Ich würde dir gerne helfen, Tina«, erklärte Anna Stadler spontan. »So ein Almhüttel, das ist schon was Schönes.« Sie wechselte einen beredten Blick mit Max. Als dieser vor ein paar Wochen in der Nähe Urlaub in einer solchen Hütte gemacht hatte, war Anna mit von der Partie gewesen und hatte diese Zeit sehr genossen. »Wir bringen das Hüttel zusammen wieder auf Vordermann. Habt ihr denn Vieh auf den angrenzenden Almen?«

»Mei, Anna, sag nur, du verstehst auch was von Almwirtschaft«, wunderte Max sich. »Du überraschst mich immer wieder.«

»Ein bissel verstehe ich schon davon. Meine Großmutter hatte auch so ein Hüttel. Und ich würde mich gerne dort droben nützlich machen, wenn ich darf.«

Tina war sofort einverstanden, die beiden jungen Frauen verstanden sich sowieso gut, waren ein wenig befreundet. Sie verabredeten sich für den Montagnachmittag am Hüttel und machten gleich Pläne, wie sie vorgehen wollten.

»So ein Schmarrn«, knurrte Lukas unwillig. »Dabei wird eh nix herauskommen. Ich wette mit dir, Max, dass das ganze Hüttel zusammenbricht, wenn die zwei versuchen, die Tür zu öffnen.«

*

»Was machst denn? Gehen wir schwimmen?« Susanne Fey schaute ihre Freundin Peggy Andersen fragend an. Die beiden waren Schülerinnen des Gymnasiums, siebzehn Jahre alt, und lebten im Internat von St. Bartholomä in der Nähe von Wildenberg.

Susanne war ein etwas pummeliges Mädchen mit Brille, das leicht übersehen wurde, während Peggy immer im Mittelpunkt stand. Mit dem blonden Haar, den himmelblauen Augen und der im Sommer gebräunten Haut wirkte sie wie der Star der Klasse. Peggys Eltern waren Unternehmer, sie kam eigentlich aus Norddeutschland, während Susanne aus der Gegend stammte und trotzdem häufig unter Heimweh litt. Peggy schien dieses Gefühl fremd zu sein. Sie hatte sich gleich wohl gefühlt im Internat, war ein sehr selbständiges Madel. Nun lag sie auf ihrem Bett und blätterte lustlos in einem Modeheft.

»Schwimmen? Keine Lust. Dazu bin ich heut viel zu faul.«

»Was willst denn sonst machen bei dem schönen Wetter? Nur hier rumhängen? Mei, das ist fei arg fad. Dazu hab’ ich keine Lust.«

»Dann geh doch schwimmen. Keiner hindert dich daran.« Peggy drehte sich auf den Rücken und blickte hinter halb geschlossenen Lidern wie träumend vor sich hin. Ihre Freundin lächelte wissend. »Du denkst wieder an den Neumann, gelt? Ich versteh’ das net. Wie kann man nur für einen Lehrer schwärmen?«

»Du hast eben keine Ahnung«, meinte Peggy herablassend. »Der Christian ist ein wunderbarer Mann, ganz nach meinem Geschmack. Und ich werde ihn mir anlachen, du wirst schon sehen.«

»Aber er ist doch verheiratet«, hielt Susanne ihr unsicher entgegen. »Und seine Frau kriegt ein Baby. Du darfst dich net in eine Ehe drängen, Peggy. Das wäre eine Sünde.«

»Ach herrje, man merkt doch, dass du im Sonntagsgottesdienst immer wach bist, während ich lieber ein Nickerchen mache«, spottete das blonde Mädchen. »Man muss sich im Leben nehmen, was man will, sonst ist man der Depp, verstehst du?«

»Aber was du vorhast, ist trotzdem falsch. Außerdem wird der Neumann nicht darauf eingehen. Er liebt doch seine Frau.«

»Na und? Wo liegt denn da das Problem? Ich bin zehn Jahre jünger als diese Bruthenne. Die steche ich mit Leichtigkeit aus. Ich weiß nämlich sehr genau, wie man einen Mann richtig anmacht. Ich heize ihm ein, bis er total den Kopf verliert.« Sie lächelte siegesgewiss. »Und dann kann ich mit ihm machen, was ich will.«

»Wie in ›Lolita‹. Aber der Film ist schlecht ausgegangen«, sinnierte Susanne und nahm ihre Brille ab, um sie zu putzen.

»Was murmelst du dir denn da wieder in den Bart?«

»Na, der Film, den wir uns vor kurzem zusammen angesehen haben. Da ging es auch um ein Mädchen, das einen älteren Mann verführt hat. Am Ende kam heraus, dass sie das nur gemacht hat, um einen anderen zu kriegen. Und der Professor, der war ihr hörig. Er konnte nicht mehr ohne sie leben und hat den Nebenbuhler erschossen.« Susanne schwärmte für alte Hollywoodfilme, während Peggy nur abwinkte.

»Bei dem Schinken bin ich eingeschlafen. Außerdem hat das mit der Wirklichkeit gar nichts zu tun.«

»Aber der Autor der Romanvorlage hat, glaube ich, dafür sogar den Nobelpreis bekommen. Dann kann es doch nicht schlecht sein.«

»Was geht mich das an? Ich werde mein Ziel schon erreichen, alles andere ist unwichtig.«

Susanne seufzte leise. »Und dann? Ich meine, was willst du dann machen? Willst du den Neumann heiraten?«

»Spinnst du? Darauf lege ich es nicht an. Nein, ich plane nicht so weit in die Zukunft. Ich will, dass er sich in mich verliebt. Dann bin ich zufrieden.«

Susanne wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Sie kannte die Freundin gut genug, um zu wissen, dass diese nicht nur angab oder sich wichtig tat, sondern es wirklich so meinte. Und ihr war klar, dass dies eine Menge Ärger bedeutete…

Christian Neumann, der junge Lehrer, der in St. Bartholomä Geschichte und Geographie gab, ahnte nicht, welche dunklen Wolken sich da über seinem Kopf zusammenbrauten. Er lebte seit kurzem mit seiner Frau Sabine in Wildenberg, wo sie sich ein kleines Häuschen mit großem Garten gekauft hatten. Sie stammten beide aus der Gegend, waren bodenständige Menschen und fühlten sich in ihrem blühenden Paradies sehr wohl.

Seit Christian wusste, dass er bald Vater wurde, war sein Glück perfekt. An diesem sonnigen Sommertag hatte der junge Mann bereits tüchtig im Garten gearbeitet und saß nun mit Sabine zusammen auf der Terrasse. Sie tranken Kaffee, genossen den frisch gebackenen Mohnstrudel und bewunderten ihr gemeinsames Werk, denn auch die junge Lehrersfrau machte sich gerne draußen nützlich.

»Der Nutzgarten macht sich, in den nächsten Tagen kannst wieder Bohnen und Salat ernten«, sagte Christian zu seiner Frau. »Und

ab nächster Woche geht’s an die Kirschernte. Mei, ist das net schön? Wenn wir uns noch ein Wutzerl und ein paar Hühner halten würden, könnten wir uns gleich selbst versorgen.«

»Ich fürchte nur, dann müssten wir Vegetarier werden. Oder denkst, du kannst einem Hühnderl den Hals umdrehen? Von einer Wutz ganz zu schweigen…«

Der sportliche blonde Mann mit den tiefblauen Augen schaute Sabine kurz an, dann musste er herzhaft lachen. »Recht hast, wie immer. Manchmal komme ich halt ins Spintisieren, wenn ich mir die ganze Pracht hier anschaue.«

»Bist eben mit ganzem Herzen dabei«, stellte die junge Frau wohlwollend fest. »So soll es sein. Aber ich würde gerne mal über was anderes mit dir reden, Chris. Darfst mir nur net bös’ sein. Versprichst es?«

»Wie könnte ich dir böse sein, mein Engerl?« Er drückte ihr ein verliebtes Busserl auf die blühenden Lippen und nahm ihre Hände in seine. »Was hast denn auf dem Herzen? Nur heraus mit der Sprache, ich höre dir zu.«

»Also, schau, ich weiß, wieviel dir die Anstellung im Internat bedeutet. Und ich hab’ mich ja auch gefreut, als es geklappt hat. Schließlich ist es net leicht, an so einen Job zu kommen.«

»Und er hat uns das Häusel eingebracht. Mit Jobben und Aushilfe allein hätte ich das kaum geschafft«, gab er zu bedenken, denn er ahnte bereits, worauf sie hinaus wollte.

»Das stimmt natürlich. Aber manchmal frage ich mich, ob es denn unbedingt ein Mädcheninternat hat sein müssen. Versteh’ mich net falsch, ich will dir gewiss nix unterstellen. Aber in so einer Umgebung ist ein fesches Mannsbild wie du halt ständig gewissen Versuchungen ausgesetzt, das kannst net leugnen.«

Christian musste schmunzeln. »Ich weiß es zu schätzen, dass du allerweil noch eifersüchtig sein kannst, Engerl. Aber du musst dir keine Sorgen machen, es besteht nicht die geringste Gefahr. Auch wenn ich zugeben muss, dass die Madeln heutzutag’ schon recht kess daherkommen. Und manch eine legt es freilich darauf an, mit ein bissel nacktem Fleisch bessere Noten zu kriegen. Aber da sind die Damen bei mir an der falschen Adresse, das haben sie gewiss schon alle gespannt.«

»Ach, Chris, ich mag es gar net, wennst so daherredest.«

»Hast denn kein Vertrauen mehr zu mir? Ich dachte, darüber müssen wir uns nimmer unterhalten. Und wir haben doch auch zusammen die Entscheidung für Sankt Barth getroffen.«

Sabine nickte. »Ja, das stimmt natürlich. Ach, vergiss einfach, was ich gesagt hab’. Ich möchte nicht, dass zwischen uns eine Missstimmung aufkommt. Nur manchmal, da…«

»Ja? Sprich nur aus, was dir durch den Sinn geht, Liebes. Ich möchte nicht, dass sich da was aufstaut, das würde unserer Ehe nur schaden. Reden kann man schließlich über alles, gelt?«

»Na schön, dann will ich es dir sagen. Als wir geheiratet haben, da bist Taxi gefahren und ich hab’ im Supermarkt gearbeitet. Für dich war das nur ein Übergang, aber ich hab’ eben net mehr gelernt. Und wenn ich mich jetzt hier so umschaue, dann kriege ich manchmal richtig Angst. Dann sag ich mir, dass mir soviel eigentlich gar net zusteht. Ein Mann wie du, so ein schönes Haus mit Garten… Dass du eigentlich eine ganz andere Frau brauchst, eine, die zu dir

passt, verstehst?«

»Na, wirklich net. Weil ich die nämlich schon hab’. Und um nix in der Welt würde ich sie fei wieder hergeben.« Er nahm Sabine in den Arm und küsste sie innig. »Ich hab’ dich von Herzen lieb, mein Engerl. Und ich möchte nie wieder so was Dummes von dir hören. Du bist für mich der wichtigste Mensch auf der Welt. Wenn es dir net recht ist, dass ich im Mädcheninternat arbeite, dann werde ich mich eben nach einer anderen Anstellung umschauen.«

»Aber, Chris, das geht doch net…«

Er lachte jungenhaft. »Alles geht, wenn man sich lieb hat. Ich will ja nur, dass du zufrieden bist. Dann bin ich es auch, ganz egal, wo und wie wir zwei, respektabel wir drei, bald leben.«

»Das hast schön gesagt.« Die junge Frau atmete ein wenig auf und schmiegte sich in die Arme ihres Mannes. Wenn Christian so bei ihr war, dann fühlte sie sich vollkommen glücklich, und es gab nichts, was dieses Glück trüben konnte. Aber leider war Sabine eben auch oft allein. Dann kamen die Zweifel. Und mit ihr die Angst, ihr besonderes Glück wieder zu verlieren. Sie bemühte sich, nicht darüber nachzudenken, denn sie ahnte, dass ihr Leben ohne Christian ganz sinnlos wäre…

*

»Was ist denn los? Wo bleiben Sie so lange? Ich brauche weitere Spritzen. Das Serum neigt sich auch dem Ende zu!« Dr. Tom Kennedy feuerte die leere Schachtel in eine Zimmerecke. »Frau Kollegin, Tempo, bitte!« Der schottische Arzt verabreichte im Minutentakt Spritzen, der große Krankensaal der Missionsstation Holy Spirit im ruandischen Hochland war bis auf das letzte Bett belegt. Seit Tagen kamen neue Fieberfälle hinzu, es gab kaum noch Platz auf der Station. Die Nonnen, die hier lebten und arbeiteten, waren bereits zusammengerückt, um weiteren Stauraum zu schaffen.

»So schlimm war es noch nie«, murmelte Oberschwester Mary, die gerade mit einem Tablett voller Medikamente vorbeiging. »Es sieht schon fast nach einer Epidemie aus. Ich begreife nicht, dass es trotz der Impfaktionen so weit hat kommen können…«

»Das Fiebervirus ist mutiert, dagegen hilft unser altes Serum nicht«, knurrte der Hüne mit dem brandroten Haar. »Verdammt noch mal, wo bleibt die Sörensen? Ich habe keine Spritzen mehr!«

»Ich sehe rasch nach.« Die farbige Nonne stellte ihr Tablett ab und eilte in die Medikamentenkammer. Sie fand Grete Sörensen zusammengesunken auf dem Boden. Ihre Stirn glühte, und sie war ohne Bewusstsein. Mary legte die schmale Person auf eine Liege und kehrte dann mit Spritzen und neuem Serum zu Dr. Kennedy zurück. Eher beiläufig ließ sie ihn wissen: »Es hat Frau Doktor Sörensen ebenfalls erwischt. Sie liegt in der Medikamentenkammer und ist ohne Bewusstsein.«

Tom Kennedy hob leicht die Augenbrauen. »Hat sie was genommen?« Er brauchte seine Worte nicht zu konkretisieren, denn Schwester Mary wusste, was gemeint war. Dr. Sörensen war nicht sonderlich beliebt auf der Station, nachdem sie versucht hatte, Julia Bruckner wegzumobben. Dass sie zudem krankhaft ehrgeizig war und ein Problem mit Medikamenten hatte, machte die Situation für alle Beteiligten nicht eben einfacher.

»Kann ich nicht sagen.« Schwester Mary nahm ihr Tablett wieder auf. »Aber es muss wohl so sein, sonst hätte das neue Serum sie vor einer Ansteckung geschützt, nicht wahr?«

»Ich dachte, eine fromme Schwester darf nicht hämisch sein.« Tom Kennedy musste grinsen, als Mary ihn nur mit einem sehr ausdrucksvollen Blick bedachte und sich dann entfernte.

Der Schotte schaute sich nach Julia Bruckner um und fand sie auf der Terrasse, wo sie die leichteren Fälle ambulant behandelte. »Sehen Sie bitte mal nach der Kollegin Sörensen. Schwester Mary sagt, es hat sie erwischt«, bat er knapp.

»Wieso tun Sie das nicht? Ich habe keine Zeit«, kam es abweisend von der schönen Ärztin.

»Nun überwinden Sie mal Ihre Antipathie und tun Sie, worum ich Sie gebeten habe«, knurrte Tom, kam damit aber nicht weiter.

Julia dachte gar nicht daran, seine Anweisung zu befolgen. Obwohl sie sich nach ihrer Rückkehr ausgesprochen hatten, machte sie es ihm noch immer heimlich zum Vorwurf, dass er sie wieder aus Wildenberg weggeholt hatte.

»Julia, bitte, mir zuliebe.« Er schaute sie intensiv an. »Ich komme einfach nicht dazu. Und Grete liegt in der Medikammer. Ich weiß nicht genau, wie ihr Zustand ist.«

»Appellieren Sie an mein ärztliches Ethos?« Julia musterte den Kollegen unwillig. »Also schön, sobald ich hier weg kann.«

»Danke.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich in der offenen Tür noch einmal um und betrachtete Dr. Bruckner einen Moment lang mit einem schwer erklärlichen Ausdruck in den hellen Augen.

»Stimmt was nicht? Oder haben Sie noch was auf dem Herzen?«, fragte sie leicht irritiert.

»Ach nichts.« Zu Julias Erstaunen wirkte Tom beinahe verlegen, als er zugab: »Mir ist eben nur mal wieder klar geworden, dass ich über Ihre Rückkehr hierher sehr froh bin.«

Dr. Bruckner kümmerte sich noch um ein halbes Dutzend Kranke, bis sie nach drinnen gehen und Grete Sörensen untersuchen konnte. Es dauerte nicht lange, dann erschien Schwester Mary, um ihr zur Hand zu gehen. Die Medizinerin spritzte ein fiebersenkendes Mittel und bat Mary, die Kranke in ihr privates Zimmer zu bringen. »Sieh bitte alle Stunde nach ihr. Wenn das Fieber nicht sinkt, lege ich eine Infusion. Ihr Zustand ist ernst. Ich begreife das nicht. Wir sind doch alle geimpft.«

Die farbige Nonne hob angedeutet die Schultern. »Es gibt Stoffe, die eine wirksame Aufnahme des Serums verhindern…«

»Sicher, das weiß ich auch. Aber doch nur bei bestimmten Vorgaben wie Alkoholismus, Drogen oder Medikamentenmissbrauch.« Sie bedachte Mary mit einem irritierten Blick. »Soll das heißen, die Kollegin Sörensen ist süchtig?«

»Sie erinnern sich doch bestimmt an den Vorfall mit dem Valium. Frau Sörensen hatte damit schon früher ein Problem. Und wie es aussieht, besteht das nach wie vor. Sonst wäre sie jetzt nicht erkrankt.«

»Sie ist also doch tablettenabhängig. Dabei hat sie es seinerzeit vehement abgestritten.« Julia seufzte leise und rieb sich die Stirn. »Langsam bezweifle ich, dass es eine gute Idee von Tom war, diese Frau hier zu behalten.«

»Es ging Doktor Kennedy um einen dritten Arzt auf der Station. Und das war eigentlich eine gute Idee. Andernfalls hätten wir hier ganz ohne medizinische Versorgung auskommen müssen, als Sie und Doktor Kennedy in Deutschland waren.«

»Die Grundidee war sicher gut. Aber Grete Sörensen hat uns bisher nur Ärger gemacht. Und ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändern wird; im Gegenteil.«

»Vielleicht sollten Sie heute abend mit Doktor Kennedy reden.« Schwester Mary machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich muss zugeben, dass ich diese Frau nicht mag.«

»Dazu hast du auch allen Grund, Mary, ebenso wie ich.«

»Trotzdem sollten Sie es sich gut überlegen, bevor Sie Doktor Sörensen wegschicken. Sie verstehen schon, was ich meine?«

»Sicher. Der dritte Arzt ist wie eine Option für mich, irgendwann wieder nach Wildenberg fahren zu können. Aber ich kann und darf in dieser Beziehung nicht nur an mich denken. Selbst wenn ich es gerne wollte…«

Es wurde spät, bis Julia dazu kam, mit ihrem schottischen Kollegen zu sprechen. Die Uhr zeigte bereits nach Mitternacht, als sie sich bei einer späten Mahlzeit zusammensetzen. Buhla Iwrati, die Köchin der Station, hatte einen Kuchen gebacken und Kaffee gekocht. »Wegen der vielen Arbeit«, hatte sie gemeint.

»Grete ist also erkrankt«, nahm Tom den Gesprächsfaden auf. Er wirkte müde, gab sich aber Mühe, sachlich zu sein. »Das bedeutet, sie hat mich wieder einmal angelogen. Sie ist nach wie vor auf Valium.«

»Was wollen Sie tun?«, fragte Julia schlicht.

Nachdem Grete Sörensen zu Beginn ihres Aufenthaltes die ganze Station durcheinander gewirbelt hatte, war Tom Kennedy zu dem Entschluss gelangt, ihr persönlich helfen zu wollen. Seither sprachen die mehrmals die Woche über Gretes Probleme. Sie hatte diese »Therapie« gerne angenommen, und er war überzeugt gewesen, ihr damit tatsächlich etwas Gutes zu tun. Nun zeigte sich aber, dass Grete ihm nicht in allem die Wahrheit gesagt hatte. Und das ließ seine Bemühungen in einem ganz anderen Licht erscheinen.

Er rieb sich die Nasenwurzel und stellte fest: »Es hat wenig Sinn, jetzt einfach aufzugeben, obwohl ich das gern tun würde. Diese Frau benötigt Hilfe. Ich fürchte, ich kann sie ihr nicht geben, solange sie kein wirkliches Vertrauen zu mir hat. Deshalb werde ich daran arbeiten, ein echtes Vertrauensverhältnis aufzubauen. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig. Es sei denn, wir schicken Grete nach Hause. Aber diese Entscheidung kann und will ich nicht allein treffen.« Er schaute sie offen an. »Was denken Sie, Julia? Können wir es verantworten, sie hier zu behalten? Ist sie bislang nicht eher eine Belastung für uns alle gewesen, keine Hilfe?«

Dr. Bruckner ließ sich Zeit mit einer Antwort. Wäre sie spontan ihrem Gefühl gefolgt, hätte sie leichten Herzen zustimmen können, Dr. Sörensen fortzuschicken. Doch so leicht wollte sie es sich nicht machen. »Versuchen Sie, etwas zu erreichen. Ich stehe hinter Ihnen. Aber wenn sich herausstellen sollte, dass es sinnlos ist, werde ich diese Frau nicht länger hier dulden. Sie hat sich bereits eine ganze Menge zuschulden kommen lassen. Und es geht mir in erster Linie darum, dass diese Station funktioniert.«

»Und in zweiter Linie?«

»Sie geben wohl nie Ruhe, was? Genügt es Ihnen nicht, dass ich Wildenberg und Max verlassen habe und wieder hierher zurückgekommen bin? Was wollen Sie denn noch?«

Tom Kennedy lächelte schmal, als er behauptete: »Es genügt mir ja, keine Angst. Jedenfalls vorerst…«

*

»Morgen, Christel. Na, wie geht’s? Hast deinen kleinen Kater mittlerweile überwunden?« Max Brinkmeier musste schmunzeln, als die langjährige Sprechstundenhilfe mit ungewöhnlich grantiger Miene abwinkte und murrte: »Gestern bin ich den ganzen Tag net aus dem Bett gekommen, so einen Brummschädel hatt’ ich. Und heut fühle ich mich immer noch net fit. Mei, der Johannisbeerwein von der Afra hat es wirklich in sich.«

»Der trinkt sich wie Saft und schmerzt wie Schnaps, ich weiß«, scherzte der junge Landarzt und nahm sich die Liste der Patienten, die an diesem Morgen in der Sprechstunde erwartet wurden. »Lass es nur langsam angehen, Christel.«

»Anders geht es auch net«, seufzte diese und löste sich eine Schmerztablette in Wasser auf. »So einen Kater hatte ich ja seit Jahren nimmer, es ist eine Schande…«

»Ja, mei, die Brennerin in derangiertem Zustand. Dass ich so was noch erleben darf…« Milli Reiter, die betagte Hauserin von Hochwürden Hirtner, musterte die Sprechstundenhilfe schadenfroh. »Was hast denn getrieben, Christel? In deinem Alter sollte man fei nimmer über die Stränge schlagen. Schaust recht greuslig aus. Willst vielleicht die Patienten abschrecken?«

Christel bedachte die Alte mit einem bösen Blick und murmelte: »Geh nur rein, bist heut die Erste, Milli.«

»Was? Ich hab’s net gehört, red’ halt ein bissel lauter!«

Doch damit konnte sie die Sprechstundenhilfe nicht ärgern, denn diese wies nur stumm auf die Tür zum Sprechzimmer und widmete sich wieder ihrer Schreibarbeit am Computer.

Milli hob schnippisch die Schultern. Bei Max Brinkmeier gab sie sich stets freundlich. Aber ohne Tratsch kam sie auch in Gegenwart des Landarztes nicht aus. »Im Internat der frommen Schwestern hat es einen neuen Lehrer, der junge Neumann, stammt fei aus unserem Tal. Mei, Doktor, da wirst bald Beulen und Platzwunden behandeln können, denk’ an meine Worte.«

»Ich fürchte, ich kann dir net ganz folgen, Milli«, musste dieser zugeben.

»Ja, mei, ein fescher Bursch ist er halt, der Neumann. Und die vielen jungen Madeln, die werden sich gewiss um ihn reißen. Aua!«, sie starrte den Mediziner ärgerlich an. »Das tut fei weh!«

»Ebenso wie mancher Klatsch. Hast immer noch Morgensteifigkeit? Oder ist es ein bissel besser geworden?«

»Mit den neuen Tabletten hat es nachgelassen. Sag einmal, Doktor, steht die Frau vom Neumann net in der Hoffnung? Das ist doch das Madel vom Zinzer-Hof droben, wart einmal… In die Stadt ist sie gezogen, wollte was Besseres sein. Und wo ist sie jetzt wieder gelandet? Ja, mei, im alten Häusel vom Untersbacher. Kein Mensch hat es noch wollen und…«

»So, Milli, da ist dein Rezept, das war alles für heut.« Max Brinkmeier schaute die Alte, die sich überrumpelt fühlte, fragend an. »Oder hast sonst noch Beschwerden?«

»Na, nix.« Sie verließ beleidigt das Sprechzimmer. Der Doktor hatte einfach keinen Sinn fürs Zwischenmenschliche. Bevor Milli die Praxis verließ, warf sie noch einen neugierigen Blick auf Sabine Neumann, die nach ihr das Sprechzimmer betrat…

Max Brinkmeier begrüßte die junge Frau freundlich und wollte wissen, wie sie sich fühle. »Beschwerden?«

»Keine. Ich fühle mich rundum wohl«, versicherte die junge Lehrersfrau.

»Schön, wir machen heut die dritte Vorsorgeuntersuchung.« Er warf einen Blick in ihre Patientenkarte. »Aber etwas wüsste ich doch noch ganz gern; wie schaut es mit dem Seelenleben aus?« Der junge Landarzt wusste, dass Sabine Neumann schon öfter mit Depressionen zu kämpfen gehabt hatte. Als junges Mädchen war sie in psychologischer Behandlung gewesen. Nach der Heirat mit Christian hatte sich ihr Zustand stabilisiert. Doch die Schwangerschaft schien wieder ein wenig Unordnung in das Seelenleben der sensiblen Frau gebracht zu haben.

»Ganz gut. Ab und an bin ich ein bissel ängstlich und traurig. Dann hab’ ich das deutliche Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren wird. Ich weiß, es ist ein Schmarrn. Und ich versuche dann auch allerweil, mich zusammenzureißen. Aber das gelingt mir doch net immer.«

»Das sollen Sie auch gar nicht erst versuchen. Was hatten wir denn abgemacht, wissen Sie es noch?«

»Ich kann meinen Mann net immer damit belästigen. Und ich will das auch nicht. Der Christian freut sich aufs Baby, für ihn ist alles in bester Ordnung. Und im Grunde genommen ist es das ja auch. Ich habe keinen vernünftigen Grund, mich zu beschweren.«

»Sabine, Sie setzen sich schon wieder selbst ins Unrecht und unter Druck. Das ist falsch. Ihre Empfindungen sind ebenso richtig oder wichtig wie die Ihres Mannes. Und Sie wissen doch, dass es nix bringt, seine Gefühle zu unterdrücken. Sie werden nur stärker, und dann kriegen wir ein echtes Problem.«

»Sie meinen, ich muss wieder in Behandlung? Das will ich net.«

Dr. Brinkmeier schaute seine Patientin ernst an. »Sie haben sich im Leben manche Chance verbaut, weil Sie sich nichts zutrauen. Die Matura geschmissen, Lehrstellen abgebrochen. Sie haben mir das doch alles erzählt.«

Sabine senkte den Blick, trotzig erwiderte sie: »Ich bin halt dumm, dafür kann ich nix.«

»Das stimmt so nicht. Sie können schon etwas dafür, weil Sie nämlich net dumm sind, im Gegenteil. Sie müssen nur endlich

lernen, zu Ihren Schwächen und Ängsten zu stehen. Reden Sie über alles mit Ihrem Mann, das wird Ihnen beiden helfen.«

»Ich hab’ es schon getan, und der Chris war auch net sauer auf mich. Aber richtig beruhigt hat mich das Gespräch net. Die Angst, dass was schiefgeht mit unserer Ehe, unserem Leben, die werde ich einfach net los. Auch wenn ich mich noch so sehr darum bemühe, ich kann es nicht schaffen.« Sie warf dem Landarzt einen verschämten Blick zu. »Das ist es, was ich falsch mache, net wahr? Ich setzte mich wieder selbst unter Druck. Wenn ich das nur lassen könnte! Aber es kommt automatisch. Wissen Sie, Herr Doktor, daheim auf dem Hof meiner Eltern, da hab’ ich auch nie was richtig gemacht. Mein Bruder, der war ihr Liebling, der hatte von Anfang an einen Stein im Brett. Ich konnte mich noch so sehr anstrengen, es hat nie gereicht. Deshalb bin ich auch von daheim weg, nachdem ich die Matura geschmissen hatt’. Ich wollte neu anfangen, es diesmal allein schaffen.«

»Und das haben Sie, Sabine. Sie führen eine glückliche Ehe, werden bald Mutter. Es gibt keinen Grund, sich zu beklagen.« Max lächelte ihr freundlich zu. »Und auch keinen, sich zu ängstigen. Denken Sie daran, das Kind in Ihrem Bauch erlebt alles mit.«

»Allein deshalb will ich meine Ängste endlich in den Griff kriegen. Mein Butzerl soll ein glücklicher Mensch werden, ganz frei und selbstbewusst. Wenn ich das schaffe, dann bin ich schon zufrieden.«

Während Sabine sich im Doktorhaus aufhielt, nutzte Christian eine Freistunde, um Arbeiten zu korrigieren. Es hielt ihn dabei nicht im muffigen Lehrerzimmer. Er hatte sich auf dem Gelände des Internats unter einen großen Baum auf eine Bank gesetzt. Herrlich war es da im lichten Schatten, beim Gezwitscher der Vögel und der leisen, lauen Brise, die vom Untersberg her wehte.

Der junge Lehrer war so in seine Arbeit vertieft, dass er gar nicht bemerkte, wie sich ihm jemand näherte. Erst als das Madel artig fragte: »Haben Sie einen Moment Zeit für mich, Herr Neumann?«, schaute er auf und in das lächelnde Gesicht von Peggy Andersen. Sofort setzte Christian eine strenge Miene auf, denn Peggy gehörte zu der Sorte Mädchen, auf die seine Frau am Wochenende offensichtlich angespielt hatte. Sie war sehr frühreif, benahm sich bereits wie eine erwachsene Frau, die es darauf anlegte, ihn zu verführen. Auch wenn der junge Lehrer an dem Mädchen kein Interesse hatte, war er doch sehr darauf bedacht, nichts falsch zu machen. Wie leicht konnte er in Verruf kommen, besonders hier auf dem Land…

»Worum geht es?«, fragte er knapp.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen? Es dauert auch net lang.«

»Hast du denn jetzt überhaupt frei? Ich wusste nicht, dass heute Unterricht ausfällt.«

»Ach, ich… fühle mich nicht gut.« Sie hustete künstlich. »Ich bin eigentlich auf dem Weg zu meinem Zimmer, weil ich mich hinlegen wollte. Aber da habe ich Sie gesehen und da ist mir eingefallen, dass ich noch eine Frage wegen der Arbeit am Mittwoch habe. Darf ich?«

»Von mir aus. Aber ich habe nicht viel Zeit. Und du solltest dich auch untersuchen lassen.«

»Es wird schon wieder.« Sie schenkte ihm ein schmelzendes Lächeln. Unauffällig wanderten ihre Finger auf seine Hand. Er zog sie rasch zurück und bedachte die Schülerin mit einem unfreundlichen Blick. »Was soll der Unsinn, Peggy? Was willst du also wissen? Mach es bitte kurz.«

Sie setzte einen Schmollmund auf, der sicher an die hundertmal vor dem Spiegel geübt worden war. »Ich möchte gern wissen, warum Sie so unfreundlich zu mir sind, Herr Neumann. Ich mag Sie wirklich sehr. Wissen Sie, ich fühle mich hier oft einsam. Und wenn ich an Sie denke, dann habe ich so ein warmes Gefühl. Fast wie bei meinem Vater!«

Er atmete innerlich ein wenig auf, blieb aber auf der Hut. »Das ist schön, hat aber nichts mit der Arbeit zu tun. Also, was möchtest du zum Thema Indien wissen?«

»Ich…, ach, mir wird auf einmal so schwindlig!«

Ehe Christian Neumann reagieren konnte, war Peggy in seine Arme gesackt. Sie schmiegte sich an ihn und murmelte: »Halten Sie mich bitte ganz fest, dann wird es gleich wieder gehen.«

Doch er dachte nicht daran, schob sie von sich und erhob sich. Hastig raffte er seine Papiere zusammen und forderte: »Komm mit, wir gehen zur Mutter Oberin, die kann den Schularzt verständigen. Und dann…«

»Nicht nötig!« Peggy sprang auf, lächelte verschmitzt und war im nächsten Moment bereits verschwunden.

Der junge Lehrer wusste nicht, was er davon halten sollte. »So ein Biest«, murmelte er ärgerlich und ahnte zugleich, dass das nicht der letzte Zwischenfall dieser Art bleiben würde. Da blühte ihm wohl noch einiges…

*

Anna Stadler verdrehte die Augen. »Mei, Alois, net schon wieder! Ich hab’ wirklich keine Lust, dir zum tausendsten Mal zu erklären, warum ich net mit dir ausgehen mag!«

Alois Burgmüller, Großbauer, Viehhändler und ehrenamtlicher Ortsvorstand von Wildenberg, machte eine beschwichtigende

Geste und versicherte der hübschen Apothekerin: »Ganz ohne Hintergedanken, ein einfaches Abendessen, ich verspreche es!«

Seit einer Weile machte der verwitwete Burgmüller Anna nun den Hof, ebenso ausdauernd wie erfolglos. Er wollte einfach nicht einsehen, dass er der jungen Frau nicht gefiel. »Wennst mit dem Doktor kraxeln gehst und mit diesem Dahergelaufenen… na, was weiß ich, dann kannst doch meine Einladung annehmen!«

Susi Angerer, Annas einzige Angestellte, musste kichern. Die Apothekerin fand das Ganze allerdings nicht sehr lustig.

»Was ich mache, ist meine Sache und geht keinen was an. Und der Rainer Fewinger, auf den du da ja offensichtlich anspielst, der ist ein Studienfreund von mir. Man muss sich net bei allem immer was denken.«

»So? Ich hab’ läuten hören, er geht aufs Heiraten aus«, hielt Alois ihr unverhohlen neugierig entgegen. Als er aber Annas ärgerlichen Blick gewahrte, beteuerte er sogleich: »Ich will es gar net wissen und frag’ auch net danach. Und wenn es dir besser gefällt, dann sagen wir halt, ich lade dich ein, um deine Einstellung in Sachen Skilift ein bissel auszutesten.«

Anna konnte es nicht fassen. »Hast dir dieses sinnlose Bauprojekt etwa immer noch net aus dem Schädel geschlagen? Mei, Alois, dafür kriegst im Rat nie eine Mehrheit. Und ich bin gleich gar dagegen. Spar dir lieber das Abendessen, ich bleibe bei meiner Meinung.«

Dem Burgmüller schwoll allmählich die Zornesader, aufgebracht konterte er: »Wennst allerweil die Furie gibst, wirst fei auf Dauer kein Mannsbild fesseln können. Und mich schon gar net!« Damit rauschte er aus der Rosenapotheke und knallte die Tür hinter sich zu, dass es nur so krachte.

Anna atmete auf. »Gott sei Dank. Hoffentlich dauert dieser Zustand eine Weile an.«

»Mei, Chefin, dem haben Sie es gegeben. Aber ich fürchte, so leicht werden Sie den Burgmüller net los. Der ist ein sturer Bock und gibt nie auf.«

»Wem sagst das…« Anna drehte sich um, als die Türglocke einen Kunden meldete. »Tina, wie nett! Brauchst was fürs Baby?«, fragte sie freundlich. Die Bäuerin schüttelte den Kopf. »Ich wollte dir nur sagen, dass es heut net klappt mit dem Hüttel, ich komm’ daheim net weg. Kannst morgen vielleicht auch?«

»Tut mir leid, aber da geht es net. Dann am Samstag?«

Tina Brinkmeier überlegte kurz und schlug vor: »Ich steige morgen schon mal allein auffi und schaue mir alles an. Und wennst Zeit hast, kommst einfach vorbei. Einverstanden?«

»Ja, das ist eine gute Idee. Aber net, dass du denkst, ich will mich drücken. Ich freu’ mich schon darauf, alles auf Vordermann zu bringen und dann dort droben einen echten Almkäse zu machen.«

Susi Angerer, die interessiert zugehört hatte, fragte nun ungläubig: »Wollt ihr wirklich im Sennhüttel käsen? Mei, das ist ja wie zu Großmutters Zeiten.«

»Freilich, warum denn net? Hast mal in der Stadt in einem besseren Geschäft geschaut, was so ein Almkäse kostet?«

»Schon, aber das ist doch arg anstrengend. Also ich hätte dazu keine Lust. Kühe melken, Käse ansetzen, abschöpfen und auspressen, formen und einreiben, umschichten und…«

»Woher weißt denn du das alles?«, wunderte Anna sich.

»Kunststück. Zu unserem Hof gehört freilich auch ein Hüttel. Aber das wird schon lange nimmer bewirtschaftet, weil es sich net rentiert hat. Allerdings…, wenn ihr damit einen Profit macht, dann werde ich meinen Eltern ein Lichterl aufstecken. Vielleicht gibt es dann bald mehr Almkäse in Wildenberg…«

Zunächst einmal musste Tina Brinkmeier aber dem schmalen Pfad folgen, der vom Erbhof aus bergan führte. Sie tat dies früh am nächsten Morgen, direkt nach dem Frühstück. Lukas und der Großteil des Gesindes waren in der Heuernte. Am Mittag musste die Magd Lissy das Essen aufs Feld bringen, denn für eine Heimkehr vor dem Abend war keine Zeit. Tina hatte mit Lissy zusammen einen Gemüseeintopf aufgesetzt und dieser aufgetragen, sich darum zu kümmern. So hatte die Bäuerin ein wenig freie Zeit, die sie für ihr neues Unterfangen nutzen konnte.

Während Tina zügig aufstieg, schaute sie sich mit offenen Augen um. Die gelernte Krankenschwester lebte erst seit ihrer Heirat mit Lukas Brinkmeier auf dem Land. Vorher hatte sie in Berchtesgaden im Spital gearbeitet und dort auch gewohnt. Doch es war immer ihr Traum gewesen, als Bäuerin auf dem eigenen Hof zu wirtschaften. Und in Wildenberg hatte Tina sich auf Anhieb wohl gefühlt, denn die Landschaft war hier einfach einmalig.

Mitten im lieblichen Berchtesgadener Land in einer sanften Talmulde gelegen, bot sich nach allen vier Himmelsrichtungen die schönste Aussicht von Wildenberg aus. Im Norden erhoben sich Grünstein und Jenner, daneben lag der Nationalpark mit dem Königssee und dem berühmten Kloster direkt am Wasser. In der verblauenden Ferne bildete das Tennengebirge eine himmelhohe Zackenlinie. Südlich fand sich der Untersberg, der Hausberg des Ortes mit der Wildenbach-Klamm. Im Osten führte die schmale Landstraße nach Ramsau und zum Nachbarort Schlehbusch. Dazwischen fanden sich der Zauberwald mit dem romantisch auf einer Lichtung gelegenen Hintersee, eine Waldschenke und das große Kloster Sankt Bartholomä. Der barocke Bau stand majestätisch auf einer Anhöhe, umgeben von einer parkähnlichen Landschaft mit Weiden, Pferdekoppeln und Gärten. Und schließlich in westlicher Richtung erstreckte sich Markt Berchtesgaden, das von hier oben aus wie eine Spielzeugstadt in der Ferne wirkte. Tina betrachtete sich die herrliche Umgebung, genoss die wärmenden Sonnenstrahlen, atmete die würzige Bergluft tief ein und lächelte dabei zufrieden. Im unendlichen Blau zwitscherten Meise, Bergfink und Amsel, vielerlei Insekten besuchten die Wildkräuter der Almwiesen. Es war ein Idyll, wie man es nur selten fand. Und Tina betrachtete es als wunderbare Fügung des Schicksals, dass sie hier leben durfte und ihr Glück gefunden hatte. Der Aufstieg zur Sennhütte dauerte etwa eine halbe Stunde. Die junge Frau war sportlich und kaum außer Atem, als sie ihr Ziel erreichte. Allerdings sah Tina auf den ersten Blick, dass hier etwas nicht stimmte.

Am Vorabend hatte sie noch einmal mit Lukas über die Hütte gesprochen. Und er hatte ihr versichert, dass hier seit Jahren niemand mehr gewesen sei. »Alles ist verrammelt. Nimm dir lieber ein Brecheisen mit«, hatte er ihr geraten.

Tina sah das als übertrieben an. Und sie fühlte sich in ihrer Auffassung bestätigt, als sie sich nun der Hütte näherte. Denn hier war nichts verrammelt; im Gegenteil. Die Läden vor den beiden Fenstern waren abgenommen, die Tür stand offen. Was hatte das zu bedeuten? Die junge Bäuerin überlegte kurz. Sie fragte sich, ob das wohl das Werk ihres Mannes war. Hatte Lukas sie damit überraschen wollen? Eigentlich erschien ihr das eher unwahrscheinlich. Lukas war ein offener, direkter Mensch, der immer sagte, was er dachte. Er war gegen ihre Idee, der Sennhütte neues Leben einzuhauchen. Und er würde ihr deshalb ganz sicher nicht helfen. Der Zustand der Hütte musste also einen anderen Grund haben. Und Tina war fest entschlossen, diesen in Erfahrung zu bringen…

*

»Wozu soll denn das gut sein?« Susanne Fey musterte ihre Freundin und Zimmergenossin skeptisch. »Das nimmt dir eh keiner ab. Und der Neumann schon gar net.«

Peggy lachte vergnügt, während sie den blauen Flecken auf ihrem Oberschenkel noch ein wenig mehr anmalte. »Natürlich nimmt man mir das ab. So eine Quetschung ist eine prima Entschuldigung für die Sportstunde. Ich setze mich erst auf die Bank und verkrümele mich dann.« Sie warf Susanne einen bedeutsamen Blick zu. »Christian hat eine Freistunde. Und ich werde in seiner Nähe sein, darauf kannst du dich verlassen.«

»Ich weiß net… Beim letzen Mal hat er dich ganz schön abblitzen lassen. Willst es net doch lieber aufgeben? Das führt doch zu nix. Du fliegst höchstens von der Schule.«

»Ich?« Sie tat überlegen. »Wenn der Christian net das macht, was ich will, dann werde ich dafür sorgen, dass er fliegt.«

»Peggy, das darfst net! Denk doch an seine Frau, und an das Baby, das sie bekommt. Wenn ihr jetzt was geschieht…«

»Was soll ihr schon geschehen? Ich nehme ihr doch nix weg. Ich habe ja gar nicht vor, Christian zu heiraten. Ich will nur, dass er mich liebt. Dann bin ich zufrieden!«

Susanne schien der Freundin nicht zu glauben. »So hast dich noch bei keinem angestrengt. Weißt eigentlich, dass der Neumann strafversetzt wird, wenn er sich auf was einlässt?«

»Na und? Für die wahre Liebe muß man Opfer bringen.« Das blonde Mädchen sprang von seinem Bett. »So, ich bin fertig, damit kann der zweite Teil von meinem Plan starten…«

Christian Neumann ahnte nichts Böses, als er seine Freistunde wieder im Schulpark verbrachte. Diesmal war eine Kollegin in seiner Gesellschaft, wie Peggy ärgerlich feststellen musste. Die beiden unterhielten sich eine ganze Weile, bis die Lehrerin sich endlich entfernte.

Peggy humpelte dekorativ auf die Bank zu, doch diesmal bemerkte Christian Neumann sie bereits von weitem. Er schaute ihr sehr streng entgegen und fragte: »Was tust du hier, Peggy? Du hast doch jetzt sicher Unterricht.«

»Ja, aber ich bin vom Sport befreit.« Sie lüpfte ihre Rock und zeigte den blauen Fleck. »Ich habe mich verletzt.«

»So.« Der junge Lehrer schlug ein Buch auf und ignorierte das Mädchen eine Weile, doch Peggy machte keine Anstalten, zu gehen. Sie setzte sich unaufgefordert neben ihn und rückte dabei recht nahe auf. Als sie Christian dann auch noch kokett zulächelte, sah der den Zeitpunkt gekommen, ihr einmal direkt und ganz offen die Meinung zu sagen.

Der junge Mann legte sein Buch beiseite und erklärte mit ruhiger Stimme: »Ich würde gerne mal etwas klarstellen, Peggy. Es schmeichelt mir natürlich, dass du meine Nähe suchst und mich offensichtlich gut leiden kannst. Aber ich muss dich bitten, das in Zukunft sein zu lassen. Es bringt uns beide in ein falsches Licht, und kann mir sehr schaden. Hast du das verstanden?«

Sie schaute ihn fassungslos an. »Sie glauben, ich will Ihnen was Schlechtes? Um Himmels willen, das käme mir nie in den Sinn! Ich habe mir gar nichts dabei gedacht. Ach, ich mache aber auch immer alles falsch! Dabei wollte ich nur in Ihrer Nähe sein, weil ich mich dann nicht mehr so einsam fühle. Bitte, seien Sie mir nicht böse, das könnte ich nicht ertragen!«

»Aber, Peggy, du übertreibst. Ich bin dir ja gar nicht böse. Ich möchte nur nicht, dass…«

»Sie hassen mich!« Das Mädchen starrte den jungen Lehrer verzweifelt an. »Alle hassen mich. Ich habe gehofft, dass Sie wenigstens ein klein wenig Verständnis für mich hätten. Aber ich habe mich getäuscht. Ach, es ist alles sinnlos!« Peggy sprang auf und rannte davon, in Richtung des nahen Weihers.

Christian Neumann überlegte kurz, was er tun sollte. Schließlich entschied er, ihr zu folgen. Sie schien in einem seltsam erregten Zustand zu sein, in dem alles geschehen konnte. Und er wollte nichts versäumen, sich nicht schuldig machen. Dass er genauso reagierte, wie Peggy es gehofft hatte, ahnte er dabei nicht einmal. Eilig lief der junge Mann der Schülerin hinterher. Es dauerte nicht lange, bis er den Weiher erreicht hatte, doch Peggy konnte er nirgends ausmachen.

»Peggy, wo bist du? Was ist denn los mit dir? Soll ich Frau Schubert holen? Sie könnte mit dir reden…«

»Ich brauche niemanden«, sagte sie da ganz in seiner Nähe. Christian fuhr überrascht herum. Und im nächsten Moment wurde ihm klar, dass er nicht ganz unrecht gehabt hatte. Peggy saß auf einem Ast der großen Trauerweide, deren lange Blattranken sie ganz verbargen, und der direkt über dem Wasser lag. Sie starrte wie träumend auf den Weiher, wirkte geistig abwesend. Und was sie sagte, passte genau zu diesem Eindruck: »Ich brauche gar nichts mehr. Mein Leben ist ganz sinnlos, weil ich jemanden lieb habe, der nichts von mir wissen will. Wenn ich weg wäre, würde ich niemandem fehlen.«

»Das ist nicht wahr. Deine Eltern würden dich vermissen, deine Freunde. Du siehst das zu krass, Peggy. Komm einmal von dem Baum runter, dann reden wir vernünftig miteinander.«

Sie warf ihm einen gleichgültigen Blick zu. »Sie kümmern sich nur um mich, weil Sie Angst haben, dass etwas passiert. Ich bin Ihnen doch vollkommen gleichgültig.«

»Ich möchte dir helfen, weil ich sehe, dass es dir schlecht geht, du Kummer hast«, erwiderte er diplomatisch. »Nun komm, gib mir die Hand. Und dann unterhalten wir uns mal ausführlich.«

Peggy zögerte noch kurz, dann ergriff sie aber die Hand, die der junge Lehrer ihr entgegenstreckte. Und im nächsten Moment ließ sie sich in seine Arme gleiten. Sie blickte ihm tief in die Augen und flüsterte: »Ich habe Sie lieb, Christian, mein Herz gehört nur Ihnen. Bitte, schicken Sie mich nicht weg. Ohne Sie ist mein Leben ganz sinnlos…«

Der junge Mann stellte Peggy auf die Füße und erklärte ihr kategorisch: »Du musst sofort aufhören mit diesem Unsinn. Ich bin dein Lehrer, zwischen uns wird nie etwas sein. Und wenn du nicht in der Lage bist, deine sinnlose Schwärmerei aufzugeben, wird das ernste Konsequenzen für dich haben, Peggy!«

»Was?« Sie starrte ihn ungläubig an. »Wie können Sie nur so gemein zu mir sein? Ich werde mir das Leben nehmen!«

»Sei still. All dein Gerede und Getue ist nichts weiter als unausgegorenes Theater. Du weißt noch nichts vom Leben, hast keine Ahnung, in was für eine Lage du mich hier bringst. Und ich warne dich jetzt zum letzten Mal: Entweder wirst du auf der Stelle vernünftig, oder aber ich muss Schritte gegen dich unternehmen. Oder bildest du dir im Ernst ein, dass ich mir mein Leben von einem verliebten Teenager zerstören lasse?«

Peggy konnte es noch immer nicht fassen. Natürlich war ihr klar, dass es nicht so einfach sein würde, Christian Neumann für sich zu gewinnen. Doch nun hatte er sich als eiskalter Brocken entpuppt. Sie hatte ihre Gefühle an einen Fiesling verschwendet! Aber sie wollte das nicht so einfach hinnehmen. Christian musste für sein mieses Verhalten büßen!

»Also schön, wie Sie wollen«, erwiderte sie hoheitsvoll. »Ich werde Ihnen nicht mehr zu nahe treten, keine Angst. Aber alles, was noch passieren wird, das haben Sie sich selbst zuzuschreiben, merken Sie sich das!« Damit stolzierte sie hoch erhobenen Hauptes davon.

Der junge Lehrer atmete halbwegs auf. Er hatte gehofft, um eine solche Rüge herumzukommen, doch es war ja nicht möglich gewesen. Er nahm an, dass Peggy ihn nun endlich verstanden hatte, dass die Sache damit vorbei war. Doch er ahnte auch, dass dieses Mädchen so leicht keine Ruhe geben würde. Sie schien es sich in den Kopf gesetzt zu haben, ihn zu erobern. Und dass sie nun einfach aufgab, war doch mehr als unwahrscheinlich, das musste Christian sich selbst eingestehen, auch wenn es ihm gar nicht gefiel. Kurz dachte er daran, Sabine einzuweihen. Sollte Peggy noch etwas anstellen, wäre seine Frau vorbereitet gewesen. Doch er verwarf diesen Gedanken schließlich wieder. Christian wollte nicht, dass seine Frau grundlos beunruhigt wurde. Er konnte nicht ahnen, dass er ihnen beiden damit eine Menge Leid erspart hätte.

*

Tina Brinkmeier näherte sich vorsichtig der Sennhütte. Sie lauschte, hörte aber keine verdächtigen Geräusche. Auch keine Bewegungen waren auszumachen, die darauf schließen ließen, dass sich jemand innerhalb der Hütte aufhielt. Die junge Bäuerin war ratlos. Während sie über die blühende Almwiese schritt, fragte sie sich immer wieder, was das zu bedeuten hatte. Wer mochte die Hütte geöffnet haben, wer hielt sich hier auf?

Endlich trat Tina in die offene Tür. Sie sah gleich, dass hier jemand kampierte. Direkt neben der Tür lag ein Tourenrucksack auf dem Boden. Das schmale Bett zierte ein Schlafsack. Auf dem wackligen Tisch lagen die Überreste einer Brotzeit. Doch der heimliche Bewohner schien ausgeflogen zu sein. Dass Tina sich geirrt hatte, wurde ihr klar, als sie eine Bewegung wahrnahm. Sie kam vom Bett. Und im nächsten Moment drehte sich jemand im Rucksack um und blinzelte sie verschlafen an.

Die junge Bäuerin wich automatisch zurück, auch wenn das jungenhafte Gesicht mit dem wirren Haar und den Bartstoppeln nicht unsympathisch wirkte. »Was…« Tina musste sich erst die Stimme freiräuspern. »Was machen Sie hier? Das ist Privatbesitz. Sie können doch hier net einfach wohnen. Wer sind Sie?«

Der Fremde setzte sich auf, betrachtete Tina eine Weile schweigend. Sie sah, dass er verkrustetes Blut am Kopf hatte. Und an seinen Händen waren bereits verheilte Schürfwunden. Er schien einen Unfall erlitten zu haben.

»Kann ich Ihnen helfen? Brauchen Sie einen Doktor?«

»Das sind viele Fragen auf einmal. Ich fürchte, ich kann Ihnen net einmal eine beantworten. Aber wenn Ihnen das Hüttel gehört, dann haben Sie natürlich ein Recht, diese Fragen zu stellen. Und ich will versuchen, Ihnen alles zu sagen, was ich weiß.«

»Ich bin die Tina Brinkmeier«, stellte sie sich vor und trat ein wenig näher. Der junge Mann hatte eine angenehme Stimme, der positive erste Eindruck, den Tina von ihm gewonnen hatte, verstärkte sich. »Das Hüttel gehört zum Brinkmeier-Hof.«

»Wie heißt der Ort drunten im Tal?«

»Wildenberg. Und wie sind Sie hierher gekommen? Urlaub?«

Er lächelte hilflos. »Wenn ich das wüsste. Sie werden es mir bestimmt net abnehmen, ich kann es ja selbst kaum glauben. Aber ich habe mein Gedächtnis verloren.«

»Ach herrje. Wie ist das passiert? Sie hatten einen Unfall, vermutlich einen Sturz mit einer starken Gehirnerschütterung. So etwas kann eine zeitweise Amnesie auslösen.«

»Sind Sie Ärztin?«, fragte er verblüfft.

Sie mußte schmunzeln. »Ich bin die Bäuerin auf dem Erbhof drunten. Aber ich bin auch ausgebildete Krankenschwester und kenne mich deshalb ein bissel aus. Sie müssen zum Doktor.«

»Hätte denn das einen Sinn? Gibt es eine Behandlung, die mir mein Gedächtnis wiederbringt?«

»Na ja, das direkt net. Aber der Sturz kann noch andere Verletzungen verursacht haben, die Sie im Moment vielleicht gar net spüren. Mit so was ist net zu scherzen. Wenn es Ihnen recht ist, gebe ich meinem Schwager Bescheid. Er ist der Landarzt von Wildenberg und kann Ihnen sicher helfen.«

»Bitte, Frau Brinkmeier, warten Sie.« Etwas mühsam kam der junge Mann auf die Beine. Er wankte leicht, als er auf Tina zuging. Und hätte sie nicht geistesgegenwärtig reagiert, wäre er gestürzt. Sie fing ihn auf und half ihm, sich zu setzen. Eine feine Röte stieg in seine Wangen, er senkte den Blick und bat: »Entschuldigen Sie, das ist mir peinlich. Ich habe Sie eigentlich nur um etwas bitten wollen.«

»Es muss Ihnen net peinlich sein, ich bin Schwester, mir ist nix Menschliches fremd. Und nun raus mit der Bitte«, bat sie burschikos, denn der hilflose junge Mann tat ihr leid.

»Ja, also, net, dass Sie schlecht von mir denken. Aber es wäre mir einfach lieber, wenn Sie Ihrem Schwager noch nichts von mir sagen. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich hierher gekommen bin, wer ich bin, was mir zugestoßen ist. Und in dem Zustand möchte ich mit niemandem reden, verstehen Sie das?«

Tina zögerte kurz. »Schon, nur möchte ich nix versäumen. Wissen Sie denn, wie lange Sie schon im Hüttel sind?«

»Ich glaube, erst seit gestern. Ich bin in der Nähe auf einem Geröllfeld zu mir gekommen.«

»Dann waren Sie kraxeln?«

»Wohl eher Bergwandern, weil ich keine Steigeisen oder ähnliches bei mir hatte. Ich fühlte mich sehr schlecht, hatte Schmerzen, mir war übel. Nur sehr mühsam habe ich mich bis hierher schleppen können und bin dann wieder bewusstlos geworden. Bei Sonnenaufgang kam ich zu mir, habe die Läden geöffnet und etwas gegessen. Und dann haben Sie mich gefunden…«

Die junge Bäuerin schaute den Fremden etwas ratlos an. Sie hatte das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Er wirkte eigentlich nicht wie ein Mann, der etwas zu verbergen hatte. Doch konnte sie da sicher sein? Es wäre wohl das Vernünftigste gewesen, Lukas zu informieren, oder besser gleich Anderl Stumpf, den Gendarmen von Wildenberg. Aber der Fremde dauerte sie, und sie wollte ihn nicht vor aller Welt bloßstellen.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, meinte sie schließlich zögernd. »Sie bleiben hier, ruhen sich ein paar Tage aus. Ich schicke Ihnen einmal am Tag eine Magd auffi, die Sie mit allem versorgt. Sollte es Ihnen schlechter gehen, muss ich aber den Doktor verständigen. Und wenn Ihr Gedächtnis sich net meldet, dann müssen wir eine andere Lösung finden. Denn ewig können Sie fei net hier im Hüttel bleiben.«

Tina sah die Dankbarkeit in den klaren Augen des jungen Mannes leuchten und meinte, das Richtige getan zu haben.

»Das ist sehr nett und großzügig von Ihnen. Ich werde Sie später natürlich bezahlen. Aber im Moment habe ich weder Geld noch Papiere bei mir…«

»Schmarrn, dafür nehme ich kein Geld, das ist reine Christenpflicht. Und jetzt legen Sie sich wieder hin, ruhen Sie sich aus. Die Lissy, unsere Magd, wird am Abend nach Ihnen sehen und dann auch etwas zum Essen mitbringen.«

»Vielen Dank, Frau Brinkmeier. Sind denn alle Menschen hier so nett und hilfsbereit?«

»Die Wildenberger sind schon ganz in Ordnung«, meinte sie lächelnd.

»Wenn das so ist, werde ich vielleicht hier bleiben, falls ich mein Gedächtnis nicht wiederfinde«, scherzte er trocken.

Die Bäuerin weihte nach ihrer Rückkehr auf den Erbhof nur die Magd Lissy ein, die große Augen machte.

»Mei, ein Fremder droben auf dem Hüttel? Wie aufregend! Und es soll außer uns niemand wissen, Bäuerin?«

»Vorerst net. Der junge Mann weiß nicht, wer er ist. Und es ist ihm peinlich, in so einem hilflosen Zustand von Fremden abhängig zu sein. Kannst denn ein Geheimnis bewahren?«

Die hübsche blonde Magd nickte eifrig. »Freilich, von mir erfährt keiner was. Und ich darf mich um ihn kümmern?«

»Du steigst einmal am Tag zum Hüttel auffi und schaust nach dem rechten. Wenn es ihm schlechter geht, sagst mir Bescheid, dann muss sich der Doktor Brinkmeier um ihn kümmern.«

Lissy seufzte leise. »Mei, ist das romantisch…«

Die Bäuerin maß sie mit einem skeptischen Blick und fragte sich, ob sie da nicht die Falsche eingeweiht hatte. Doch nun war es zu spät, und sie konnte nur hoffen, dass alles gutging.

»Und was wird jetzt aus dem Almkäse?«, fragte Lissy noch.

»Ach, das habe ich ganz vergessen. Na, den können wir fürs erste abschreiben. Jetzt müssen wir zunächst mal diesem jungen Mann im Hüttel wieder auf die Beine helfen…«

Lukas Brinkmeier sprach seine Frau beim Nachtmahl ebenfalls

auf die alte Sennhütte an. »Und, habt’s was erreichen können droben? Oder ist das Hüttel zusammengebrochen?«

»Mei, Lukas, musst mich net allerweil pflanzen. Es stimmt schon, dass dort droben nimmer viel steht. Aber die Idee mit dem Almkäse lass ich mir trotzdem net ausreden.«

»Ist vielleicht net schlecht, dass nix daraus wird«, meinte Lukas. »Am End’ wärst dort droben noch dem Bankräuber begegnet.«

»Was für einem Bankräuber denn? Wovon sprichst?«

»Ja, mei, es war doch heut in den Nachrichten. In Berchtesgaden ist die Sparkasse überfallen worden. Drei Täter sollen es gewesen sein. Zwei haben sie schon geschnappt. Aber der Dritte soll sich in die Berge abgesetzt haben. Stell dir vor, du hockst ganz friedlich beim Käsen und urplötzlich steht der Kerl mit einer Pistole vor dir. Man muss sich ja net unnötig in Gefahr begeben, gelt?« Lukas warf Tina einen fragenden Blick zu, die blass geworden war. »Was hast denn? Stimmt was net?«

»Na, es ist alles in Ordnung«, murmelte sie automatisch und erhob sich. »Ich schau’ mal nach dem Maxl, bin gleich wieder da.« Sie spürte, dass die Knie ihr ein wenig weich geworden waren, gab sich aber Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Erst nachdem sie das

Esszimmer verlassen hatte, atmete Tina tief durch und überlegte zugleich fieberhaft, was sie tun sollte. Wenn der Mann ohne Gedächtnis im Sennhüttel nun der gesuchte Bankräuber war? Da hatte sie sich ja auf etwas Schönes eingelassen…

*

»Was hast denn, Chris? Bist schon den ganzen Abend so still. Hast vielleicht Ärger in der Schule gehabt?« Sabine Neumann schaute ihren Mann forschend an. »Du hast doch Kummer.«

Er erwiderte ihren Blick fragend, war mit den Gedanken ganz woanders gewesen. Nun aber behauptete er: »Es ist alles in bester Ordnung, ich bin nur ein bissel müd’. Erzähl’ du mir lieber, was der Doktor Brinkmeier gesagt hat. Bist doch heut’ zur Untersuchung bei ihm gewesen, gelt?«

Sabine zögerte mit einer Antwort, sie wurde den Eindruck nicht los, dass ihr Mann ihr etwas verheimlichte. Doch als er einen Arm um ihre Schultern legte und sie zart auf die Schläfe küsste, verscheuchte sie die trüben Gedanken. »Er sagt, es ist alles in Ordnung. Aber ich soll mich ein bissel schonen. Weißt, Chris, die dumme Sache von früher, die holt mich halt manchmal ein.«

»Hast wieder Depressionen? Das musst mir aber sagen«, forderte er streng. »Ich will net, dass du versuchst, alles mit dir selbst abzumachen. Wir wissen doch beide, wohin das führt.«

Sie schmiegte sich an ihn und seufzte. »Ich komme mir so dumm vor. Da hab’ ich alles, was ein Mensch sich nur wünschen kann, und dann bin ich net in der Lage, es einfach zu genießen.«

Christian nahm ihr Gesicht in beide Hände uns schenkte ihr ein inniges Busserl. »Dafür kannst du gewiss nix. Das haben deine Eltern verbrochen, weil sie dich net so behandelt haben, wie man ein Kind behandeln sollte. Aber zusammen kriegen wir das in den Griff, das haben wir doch schon öfter geschafft.«

»Du hast so viel Geduld mit mir, ich schäme mich fast.«

»Ich hab’ dich lieb und möchte, dass du glücklich bist«, erklärte er schlicht. »Und dafür würde ich alles tun…«

Zur gleichen Zeit hockte Peggy im Schneidersitz auf ihrem Bett und starrte verbissen vor sich hin. Susanne bedachte sie von Zeit zu Zeit mit einem unsicheren Blick, wagte es aber nicht, sie anzusprechen. Irgendetwas musste passiert sein. Seit dem Vormittag benahm Peggy sich sehr seltsam. Sie redete kaum ein Wort und wirkte ständig geistig abwesend.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie nun und schaute ihre Freundin so unglücklich an, wie diese es noch nie erlebt hatte.

»Was ist denn los, Peggy? Was ist passiert?«

»Ach, es ist grauenhaft…« Sie brach in Tränen aus und heulte wie ein Schlosshund. Susanne wurde allerdings den Eindruck nicht los, dass es sich nur um Krokodilstränen handelte. Trotzdem setzte sie sich zu Peggy aufs Bett, legte einen Arm um ihre Schulter und bat: »Erzähl mir halt, was los war.«

»Dieser Neumann ist ein Scheusal. Er hat sich mir gegenüber widerlich benommen, du kannst es dir gar nicht vorstellen!«

Susanne stutzte. »Widerlich? Willst damit sagen…? Ist er am End’ zudringlich geworden? Aber er hat dich doch bis jetzt immer abblitzen lassen.«

Das blonde Mädchen wischte sich die Tränen ab und schneuzte sich. So hatte Peggy Gelegenheit, zu überlegen. Denn was Susanne da gerade angedeutet hatte, erschien ihr als geniale Idee, die sie sofort in die Tat umsetzen wollte.

»Ich kann gar nicht darüber reden«, behauptete sie dann mit gesenktem Blick. »Er hat meine Gefühle schamlos ausgenutzt. Und als ich nicht so wollte wie er, da… ist er sogar richtig grob geworden. So was habe ich noch nie erlebt.«

»Peggy!« Die pummelige Schülerin starrte ihr Gegenüber erschrocken an. »Ist das auch wahr? Wennst so was nur erfindest, dann kannst in Teufels Küche kommen!«

»Erfinden? Ich brauche nix zu erfinden, weil alles passiert ist. Es war schrecklich. Und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich ihn wieder… Nein, ich kann es nicht aussprechen!«

»Du musst mit der Mutter Oberin reden. Wenn der Neumann dir so etwas angetan hat, dann soll er dafür auch bestraft werden.«

Peggy schüttelte vehement den Kopf. »Ich kann nicht, ich schäme mich zu sehr. Sie werden mir die Schuld geben, sagen, ich hätte mich an ihn rangeschmissen. Und das stimmt ja auch. Aber ich habe doch nicht ahnen können, was für ein Scheusal er ist. Bitte, Susanne, du musst mir helfen. Du musst mir beistehen!«

»Freilich helfe ich dir, das versteht sich doch von selbst.«

»Danke, das ist lieb von dir. Wenn dich einer fragt, dann darfst nicht verraten, dass ich für den Neumann geschwärmt habe. Du musst sagen, er hat sich an mich rangemacht, nicht umgekehrt. Und das stimmt ja auch.«

Susanne zögerte. »Ich weiß net… Warum sagst net einfach, wie es gewesen ist? Schließlich kann sich jeder verlieben, das ist doch kein Verbrechen. Aber was der Neumann getan hat…«

»Aber sie werden mir nicht glauben, wenn herauskommt, dass ich mit ihm geflirtet habe. Dann kriege ich große Schwierigkeiten. Wahrscheinlich werden meine Eltern mich auf eine andere Schule schicken. Und außerdem wird der Neumann sich dann immer weitere Opfer suchen, die er so widerlich begrapscht und…«

»Sei still, ich mag das net hören! Und ich will auch net, dass du fortgehst. Also schön, ich sage, was du verlangst. Geschieht dem Neumann ganz recht. Der hat Strafe verdient!«

Peggy lächelte boshaft. »Ja, das geschieht ihm ganz recht…«

*

Lissy Meir, die Magd vom Brinkmeier-Hof, machte sich gleich nach dem Abendessen auf den Weg zur Almhütte. Sie trug einen Weidenkorb mit Essen bei sich und achtete darauf, dass keiner sie sah. Schließlich hatte die Bäuerin ihr ja eingeschärft, dass niemand etwas von dem Fremden auf der Alm erfahren durfte.

Ein wenig seltsam war dem Madel schon zumute, während sie zur Hütte aufstieg. Man hörte schließlich so allerlei. Und wenn der Fremde nun ein gesuchter Verbrecher war? Schließlich befand sich in dieser Gegend doch ein Bankräuber auf der Flucht…

Lissy schauerte leicht zusammen, schob diesen Gedanken aber rasch wieder von sich. Einen Kriminellen hätte die Bäuerin ganz sicher nicht geschützt. Gewiss war alles in Ordnung mit dem Logiergast dort droben, abgesehen davon, dass er nicht wusste, wer er war und woher er kam…

Lissy klopfte an, bevor sie die Hütte betrat. Sie fand den jungen Mann damit beschäftigt, seinen Rucksack zu durchwühlen. Er starrte sie einen Moment lang überrascht an, dann bat er verlegen: »Seien Sie mir net bös, aber mit so hübschem Besuch habe ich fei net gerechnet. Schickt die Frau Brinkmeier Sie?«

Lissy konnte nur nicken, sie hatte mit einem Mal einen dicken Kloß im Hals, ohne sich den Grund dafür erklären zu können. Nachdem sie sich geräuspert hatte, stellte sie den Korb ab und sagte: »Ich bin die Lissy vom Brinkmeier-Hof. Und das ist Ihr Abendessen, Herr… Ach, tut mir leid.«

»Ist schon gut. Setz dich nur her, Lissy. Erzähl mir ein bissel von Wildenberg, vielleicht kann ich mich dann an was erinnern.« Er fuhr fort, in seinem Rucksack zu kramen, während die Magd zu bedenken gab: »Ich kann mich net lange aufhalten, sonst merkt drunten noch einer was. Und das muss ja net sein.«

Der junge Mann rieb sich das Kinn. »Wenn ich mich wenigstens rasieren könnte. Aber für eine Übernachtung bin ich offenbar net ausgerüstet gewesen. Es ist wie ein schlechter Traum. Man wird wach und hat keinen Schimmer, wo man ist und wer man ist…« Er drehte den Rucksack um und schüttelte ihn ein wenig.

Lissy wollte gerade etwas sagen, als neben einer Regenjacke, einem Kompass und einer kleinen Taschenlampe, sowie diversem Kleinkram eine brünierte Waffe auf den welligen Dielen der Hütte landete. Das hohle Poltern ließ den jungen Mann leicht zusammenfahren. Er starrte ein paar Sekunden lang auf die Waffe, zugleich blitzte in seiner Erinnerung ein Bild auf: Leichter Regen, Nebelfetzen, eine Hand, die ihn über den Abgrund stieß…

Lissy fuhr von ihrem Stuhl auf. Im ersten Impuls wollte sie weglaufen, aber etwas hielt sie davon ab. Vielleicht war es einfach die Tatsache, dass der junge Mann nicht wie ein Verbrecher aussah. Oder dass er über das Vorhandensein der Waffe ebenso entsetzt zu sein schien wie sie selbst.

»Woher kommt die?« Die Magd musterte ihn scheu. »Gehört die Ihnen? Sind Sie vielleicht ein… Polizist?« Sie lachte nervös. »Oder eher das Gegenteil, ich meine…«

Der Fremde hob mit einer hilflosen Geste die Schultern. »Ich hab’ keine Ahnung, Lissy.«

Sie schob die Waffe mit der Fußspitze ein Stück nach vorne. »Wissen Sie vielleicht, wie man so was benutzt?«

Er lächelte schmal. »Eine gute Idee. Wenn ich es weiß, muss das Ding wohl mir gehören. Obwohl ich das sichere Gefühl habe, so etwas noch nie in der Hand gehalten zu haben.« Er nahm die Waffe auf, betrachtete sie von allen Seiten, zog den Hahn ein Stück durch, doch nichts tat sich.

Lissy, deren Vater Jagdhelfer war und selbst einen Stutzen besaß, atmete auf. Der junge Mann schien tatsächlich keine Ahnung zu haben, wie man eine Waffe benutzte. Er wusste nicht mal, dass man sie erst entsichern musste.

»Ich weiß net, warum, aber ich glaube, dass dies Ding mir net gehört«, schloss nun auch er. »Aber wie kommt es in meinen Rucksack? Ich begreife das nicht…«

»Schauen Sie halt mal nach, vielleicht finden wir noch was, das uns einen Hinweis geben könnte.«

Er bedachte sie mit einem abwägenden Blick, lächelte dann ein wenig und tat, was sie vorgeschlagen hatte. »Leider ist nichts mehr drin, tut mir leid. Und du solltest jetzt auch besser gehen. Ich mag dich net zu lang aufhalten.«

»Ist schon recht.« Lissy war ein wenig unentschlossen, sie wäre lieber noch geblieben. »Ich bring’ morgen Rasierzeug mit. Brauchen Sie sonst noch was?«

»Ich weiß net, trotzdem danke.«

»Gut, dann geh ich jetzt. Also, bis morgen.«

»Du, Lissy, würdest mir noch eine Frage beantworten? Wieso bist eben net weggelaufen, als wir diese Knarre gefunden haben? Es schaut doch akkurat so aus, als hätte ich was zu verbergen.«

Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln, als sie versicherte: »Sie sind ganz bestimmt kein schlechter Mensch. Sie haben nämlich gute Augen. Lachen Sie mich nur aus, aber ich hab’ dafür einen Blick. Und mir war gleich klar, dass ich Ihnen vertrauen kann.« Sie errötete ein wenig, als er ihr Lächeln erwiderte. »Dann bis morgen!« Weg war sie.

Der junge Mann setzte sich an den Tisch, um sein Abendessen zu verzehren. Dabei fiel ihm auf, wie still es war. Am Tag gab es immer Geräusche, da zwitscherten die Vögel, Kühe auf der nahen Alm muhten oder ein Flugzeug brummte am Himmel vorbei. Nun aber war es ganz ruhig. Der Abend hatte gleichsam ein dunkles Tuch des Schweigens über die Alm gebreitet. Der einsame Mann in der kleinen Hütte hatte dabei ein wenig den Eindruck, als sei er der einzige Mensch auf der Welt. Immer wieder wanderte sein Blick auf die Waffe, die er auf den Tisch gelegt hatte. Sie erschien ihm wie der Schüssel zu seinem Geheimnis. Oder täuschte er sich? Alles war ungewiss, nur eines wusste er genau: Er konnte den Menschen, die ihm geholfen hatten, vertrauen. Und vielleicht würde er es mit ihrer Unterstützung sogar schaffen, endlich das Dunkel zu durchdringen, das sich über seine Vergangenheit gebreitet hatte. Ganz egal, was dann zum Vorschein kam…

*

Tina Brinkmeier war gerade beim Einkochen, als Anna Stadler vorbeischaute. Es war Samstagnachmittag, die hübsche Apothekerin hatte ein wenig Freizeit, die sie für das Projekt »Almkäse« verwenden wollte. Tina stöhnte, als Anna erschien: »Hast keinen guten Zeitpunkt erwischt, Anna. Ich steck’ mitten in der Arbeit und komm’ heut gewiss net hier weg.«

»Soll ich dir helfen? Dann geht es geschwinder.«

Die junge Bäuerin lächelte schmal. »Das würde auch nix nützen. Ich fürchte, fürs erste müssen wir unseren Plan auf Eis legen, Anna. Das Almhüttel steht uns sozusagen net zur Verfügung.«

»Was soll jetzt das heißen?« wunderte die blonde Apothekerin sich ehrlich. »Ist es am End’ wirklich zusammengekracht?«

Tina füllte das letzte Glas mit Herzkirschen und schloss den Einkocher. Dann goss sie Kaffee in zwei Tassen und bot Anna von dem Kirschstrudel an, den sie am Morgen gebacken hatte.

»Hm, sehr lecker! Aber jetzt sag, was droben los war. Kriegt man das Hüttel wieder hin, oder muss ein neues gebaut werden?«

»Mei, Anna, das Hüttel ist schon in Ordnung, da liegt net das Problem. Es geht um was anderes… Schau, als ich das erste Mal auffi gestiegen bin, da hab’ ich sozusagen einen Logiergast dort angetroffen. Es handelt sich um einen jungen Kraxler, der abgestürzt ist und dabei sein Gedächtnis verloren hat.«

Anna machte große Augen. »Einen Mann mit Amnesie? Das klingt ja wie im Roman. Und was hast gemacht?«

»Ich hab’ mich eine Weile mit ihm unterhalten und meine, dass er ein recht netter Mensch ist. Deshalb habe ich ihm erlaubt, eine Zeitlang im Hüttel zu bleiben und sich von seinem Unfall zu erholen.«

»Weiß der Max Bescheid? Der Mann muss doch behandelt werden.«

»Das will er net. Er schämt sich, weil er net sagen kann, wer er ist und woher er kommt. Und wir wissen doch beide, dass es bei Amnesie keine wirklich wirksame Behandlung gibt.«

»Mei, Tina, das klingt ein bissel seltsam. Ich will dir ja keine Angst machen, aber hast vielleicht gehört, dass hier in der Gegend ein Bankräuber untergetaucht sein soll? Und wenn der Mann ohne Gedächtnis dir nur etwas vorgespielt hat? Wenn er ein Versteck sucht, weil er… der Bankräuber ist?«

»Meinst, daran hätte ich net auch schon gedacht? Aber ich habe einfach den Eindruck, dass man ihm trauen kann. Warte, ich ruf die Lissy. Sie kümmert sich um ihn.«

»Hast sonst keinen eingeweiht? Auch den Lukas nicht?«

Tina schüttelte den Kopf. »Der hätte wahrscheinlich gleich den Anderl Stumpf informiert. Und das will ich net.«

»Also, ich weiß net. Das ist ein gefährliches Spiel, das du da spielst. Und es könnte durchaus ins Auge gehen…«

»Ja, es könnte aber auch gut gehen. Und ich mag es net, wenn man einen Menschen ohne Beweise verdächtigt. Lissy, komm einmal in die Kuchel!«

Die junge Magd erschien sogleich und wollte wissen, was sie helfen könne. »Du sollst uns mal was sagen. Hat der Mann droben im Hüttel sich in den letzten Tagen irgendwie komisch benommen? Wir denken da an den Banküberfall in Berchtesgaden.«

Lissy errötete ein wenig, als sie behauptete: »Er hat sich sehr nett mir gegenüber benommen. Und ich bin sicher, dass er ein guter Mensch ist, er kann gar kein Bankräuber sein.«

»Und wie kommst zu der Überzeugung?«

Lissy lächelte verschämt. »Weil er gute Augen hat, er kann einem nicht belügen, ohne dass man es merkt. Er ist ehrlich.«

Anna lächelte ein wenig. »Das klingt so, als ob du ihn magst.«

»Ich finde ihn nett«, wich die Magd aus. »War das alles?«

»Net ganz.« Tina schaute Lissy streng an. »Du hast unsere Frage net beantwortet. Ist dir also was aufgefallen oder net?«

»Ja, also… Da war schon was. Am ersten Abend hat er nämlich nach Rasierzeug gesucht. Und dabei ist eine Pistole aus seinem Rucksack gefallen.«

Die junge Bäuerin riss erstaunt die Augen auf, während Anna mahnte: »Das hättest aber gleich sagen müssen. Dann ist er es bestimmt, der Gesuchte, meine ich. Und wir müssen sofort dem Stumpf Bescheid sagen, sonst machen wir uns ja mitschuldig.«

»Na, das hat nix zu sagen! Er kann ja gar net mit der Waffe umgehen. Und wenn er der Bankräuber wäre, hätte er sie doch gewiss vor mir versteckt. Ich glaube nicht, dass er was damit zu tun hat.«

»Und woher soll dann die Waffe kommen?« Tina schüttelte leicht den Kopf. »Hätte ich das gewusst… Wie konntest nur so leichtsinnig sein, Lissy? Was alles hätte passieren können…«

»Gar nix, weil der Mann dort droben kein Krimineller ist. Bitt’ schön, Bäuerin, hab’ halt ein Vertrauen. Ich bin ganz sicher, dass er mit der hässlichen Sach’ nix zu tun hat!«

»Aber die Waffe…«

»Die kann er doch gefunden haben. Oder er hat sie dem echten Bankräuber abgenommen, bevor er den Unfall hatte.« Lissy riss die Augen auf. »So ist es bestimmt auch zu dem Sturz gekommen. Am End’ hat er mit dem Bankräuber gekämpft, nachdem er ihn im Gebirge gestellt hat. Gewiss ist er ein Polizist, aber kein gewöhnlicher. So einer für die schwierigen Fälle…«

»Mei, Lissy, du guckst zu viele Krimis«, warf Tina der Magd da vor. »Jetzt geh wieder an deine Arbeit.«

»Ist schon recht. Aber, gelt, Bäuerin, du wirst ihn net verraten. Er muss die Gelegenheit kriegen, sich zu erinnern. Erst dann wird sich alles aufklären, da bin ich ganz sicher!«

»Und was sollen wir jetzt machen?«, fragte Tina die Besucherin, nachdem Lissy die Küche verlassen hatte. »Ich weiß mir keinen Rat. Falls er der Bankräuber ist, wäre es unsere Pflicht, die Polizei zu verständigen. Und wenn net, bringen wir ihn vielleicht in große Schwierigkeiten, obwohl er unschuldig ist. Das ist wirklich keine leichte Entscheidung.«

Anna musste nicht lange überlegen. »Wenn es dir recht ist, rede ich mit dem Max. Er kann uns bestimmt einen Rat geben.«

»Ja, das wird das Beste sein.« Tina lächelte der Freundin zu. »Nimmst ihm ein Stückerl Kirschstrudel mit, den mag er…«

Dr. Max Brinkmeier freute sich immer, Anna Stadler zu sehen. Und als sie mit frisch gebackenem Kuchen im Doktorhaus erschien, meinte er schmunzelnd: »So einen Besuch lasse ich mir gefallen. Trinkst fei ein Haferl Kaffee mit, gelt?«

»Lieber net, sonst kriege ich Herzklopfen. Ich habe nämlich schon Kaffee getrunken; bei deiner Schwägerin. Und von ihr stammt auch der Strudel.«

»So? Bedeutet das, die Tina und du, ihr habt euren Plan in die Tat umgesetzt und stellt einen Almkäse her?«

»Noch net wirklich. Aber ich würde gerne etwas mit dir besprechen, Max, das mit dem Sennhüttel zusammenhängt.«

»Aha, dann nur heraus mit der Sprache. Ich höre dir zu.«

Anna gab sich einen Ruck und berichtete, was Tina ihr anvertraut hatte. Schließlich endete sie mit der Feststellung: »Die Tina will dem Mann Zeit lassen, sein Gedächtnis wiederzufinden, das ist meiner Meinung nach aber recht leichtsinnig. Solange wir net sicher sein können, dass er nicht der Bankräuber ist, jedenfalls.«

Max hatte sich alles genau angehört und nickte nun. »Ich kann dir nicht widersprechen. Aber ich verstehe auch die Tina, sie will dem Mann helfen, das ist so ihre Art.«

»Und was sollen wir nun machen? Gib du uns halt einen Rat.«

»Schwer zu sagen. Wenn ihr wollt, steige ich mal auffi zum Hüttel und untersuche ihn. Vielleicht finden wir zusammen einen Anhaltspunkt, was seine Identität betrifft. Und ich finde, ihr solltet den Lukas einweihen. Hinter seinem Rücken eine solche Sache durchzuziehen, das ist net recht. Schließlich gehört das Hüttel zu seinem Hof. Und wenn da was auf ihn zukommt, muss er wenigstens Bescheid wissen.«

Anna seufzte leise. »Ich habe auch kein gutes Gefühl bei dieser Geschichte. Aber ich wollte der Tina keine Vorschriften machen. Schließlich ist es ihre Entscheidung.«

*

Dr. Julia Bruckner hatte ihre Runde durch den großen Krankensaal beendet und kehrte ins Ärztebüro zurück. Es ging auf Mitternacht zu, die schöne Ärztin war abgespannt, spürte die Müdigkeit eines langen Tages.

»Machen Sie Feierabend, Julia, ich löse Sie ab«, schlug da Tom Kennedy von der Tür her vor. »Die Lage entspannt sich allmählich. Seit zwei Tagen sind keine neuen Fieberfälle aufgetaucht. Wir können also hoffen.«

»Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Das ist nicht die erste Fieberwelle, die ich hier erlebe. Wenn mal eine Woche ohne weitere Neuerkrankungen vergangen ist, dürfen wir anfangen zu hoffen«, stellte sie klar. »Aber Sie haben recht, es ist zumindest ein kleiner Lichtblick.«

»Trinken Sie noch einen Kaffee mit mir?«

»Lieber nicht, dann kann ich nicht schlafen. Außerdem muss ich noch nach der Kollegin Sörensen sehen.«

»Sie hat mal wieder auf stur geschaltet.« Tom setzte sich hinter den Schreibtisch. »Ich habe heute versucht, vernünftig mit ihr zu reden; sinnlos. Vielleicht ist sie ja zu Ihnen ehrlich. Aber ich scheine es mit ihr verdorben zu haben.«

Julia lächelte flüchtig. »Die Frau ist unberechenbar. Ich werde trotzdem versuchen, offen mit ihr zu sprechen.«

»Na, dann viel Glück«, murmelte der Schotte ironisch.

Dr. Bruckner verließ die Ordonanz und folgte dem schmalen Gang, der zu den Privaträumen der Ärzte führte. Knapp eine Woche war nun vergangen, seit Dr. Sörensen in der Medikamentenkammer zusammengebrochen war. Ihr Zustand hatte sich in der Zwischenzeit stabilisiert, doch sie war noch längst nicht gesund. Julia hatte sich um sie gekümmert, was die Kranke dankbar hingenommen hatte. Als sie nun aber an Grete Sörensens Bett trat, bat diese: »Schicken Sie mir doch eine Schwester, ich möchte Ihnen nicht noch zusätzliche Arbeit machen, wo ich schon ausfalle.«

»Wie fühlen Sie sich? Gelenkschmerzen? Übelkeit?« Dr. Bruckner ging nicht auf ihre Worte ein, sie hatte es sich angewöhnt, den persönlichen Kontakt zu der Kollegin auf ein Minimum zu beschränken. Während sie die Kranke untersuchte, erklärte diese: »Es geht mir schon wieder leidlich, das Fieber ist runter. In den nächsten Tagen kann ich wieder arbeiten.«

»Daran sollten Sie nicht mal denken. Erinnern Sie sich noch daran, als Tom eine ähnliche Erkrankung hatte? Er ist zu früh aufgestanden und musste danach etwas länger liegen. Also seien Sie bitte vernünftig und stehen Sie erst auf, wenn ich es Ihnen erlaube.« Julia wandte sich zum Gehen, Grete bat: »Warten Sie noch einen Moment, ich möchte Ihnen etwas sagen. Es… tut mir leid, ich weiß, es war meine eigene Schuld, dass ich erkrankt bin. Aber ich versichere Ihnen, dass ich nicht süchtig bin! Seit ich hier liege, habe ich kein Valium mehr genommen.«

Julia trat wieder an das Bett der Kollegin und schaute sie ernst an. »Sie haben mich schon einmal belogen, was diese Sache angeht. Wieso sollte ich Ihnen nun glauben?«

»Weil ich die Wahrheit sage. Ich bin nicht süchtig!«

»Das haben Sie auch behauptet, als Sie Valium aus der Medikammer gestohlen haben. Ich kann mir nicht helfen, Grete, aber ich glaube, Sie belügen sich selbst. Sie zeigen das klassische Verhalten eines Süchtigen. Und dazu gehört auch, dass Sie die Sache vor sich selbst herunterspielen und nicht zugeben wollen. So ist es doch, oder irre ich mich?«

»Es ist nur Toms Schuld«, behauptete sie da überraschend. »Hätte er mich nicht gezwungen, diese lächerliche Therapie mit ihm zu machen, dann wäre es niemals dazu gekommen!«

»Wie meinen Sie das? Hat der Kollege Kennedy Ihnen vielleicht Valium verschrieben?«

»Natürlich nicht. Aber wir haben meine ganze Vergangenheit aufgearbeitet, auch die Zeit in der Klinik, als ich zum ersten mal

Probleme mit dem Einschlafen und Abschalten hatte und deshalb zu Valium gegriffen habe. Ich… habe diese ganze miese Phase meines Lebens noch einmal durchmachen müssen.«

»Aber das ist doch kein Grund, Fehler von früher zu wiederholen, im Gegenteil. Sie hätten stolz auf sich sein müssen, weil Sie es geschafft haben, diese Sucht hinter sich zu lassen.« Die schöne Ärztin zögerte. »Oder war es vielleicht ganz anders? Haben Sie die Sucht gar nicht überwunden?«

»Ich möchte nicht darüber reden«, wich Dr. Sörensen ihr aus. »Ich bin sehr müde und muss jetzt schlafen.«

»Verstecken Sie sich nicht hinter Ihrem Zustand, geben Sie mir Antwort. Als Sie nach Holy Spirit gekommen sind, hatten Sie da ein Suchtproblem?«

»Nein, hatte ich nicht! Und jetzt gehen Sie endlich!« Die junge Dänin starrte ihre Kollegin so abweisend an, dass diese freiwillig das Feld räumte. Es war, wie Tom Kennedy gesagt hatte; Grete schaltete mal wieder auf stur. Während Julia zu ihren eigenen Räumen ging, fragte sie sich, ob es ihr wohl jemals gelingen würde, ein ehrliches und aufrichtiges Gespräch mit Dr. Sörensen zu führen. So langsam bezweifelte sie es…

*

»Vater, kannst vielleicht den Rest der Sprechstunde übernehmen? Ich muss zu einem Notfall.«

Josef Brinkmeier war sofort einverstanden. »Kein Problem, das mache ich doch gern. Fahr nur, ich kümmere mich um alles.«

Max warf seinem Vater einen dankbaren Blick zu, dann verließ er eilig das Doktorhaus. Als Josef gleich darauf die Praxis betrat, ließ Christel Brenner ihn wissen: »Es sind nur noch drei Patienten da. Die wirst gewiss schaffen, Doktor, gelt?«

»Hältst mich vielleicht für einen Mummelgreis, der das Stethoskop nimmer halten kann?«, knurrte der ärgerlich. »Ich kann allerweil noch meine Pflicht erfüllen, wirst schon sehen.«

»Nix für ungut, Doktor«, lenkte die altgediente Sprechstundenhilfe da ein. »Ich meine es doch nur gut. Aber einer, der schon mal ein Herzkasperl hatte, soll auf sich achten, das hast doch deinen Patienten auch immer gesagt.«

Brinkmeier senior bedachte Christel mit einem leicht strafenden Blick und bat dann: »Schick halt den Nächsten rein.«

Max war derweil auf dem Weg zum Kloster St. Bartholomä, das noch ein Kinderheim und ein katholisches Internat beherbergte. Die Mutter Oberin hatte ihn verständigt, weil eine Schülerin über seltsame Schmerzen und Beschwerden klagte.

Schwester Maria-Roberta erwartete den jungen Landarzt bereits. Sie schätzte ihn, denn er betreute die Waisen des Kinderheims mit großem Engagement. Max drückte ihr die Hand und wollte wissen: »Was ist denn los? Gibt es schon Anhaltspunkte?«

Nebeneinander liefen sie über den breiten gebohnerten Gang, der zu den Zimmern der Internatsschülerinnen führte. Die Mutter Oberin konnte ihm nicht viel sagen.

»Das Mädchen ist siebzehn und heißt Peggy Andersen. Bisher ist es nicht auffällig geworden. Seit ein paar Tagen klagt es aber andauernd über Übelkeit und diverse Schmerzen, die sich nun dramatisch verschlechtert haben.«

»Gibt es einen Verdacht, was Drogen angeht?«

»Nichts. Peggys Zimmergenossin schwört, dass das Mädchen noch nie etwas genommen und auch keinen Alkohol getrunken hat.«

»Jungs? Vielleicht eine ungewollte Schwangerschaft?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Wie Sie wissen, ist das hier ein reines Mädcheninternat. Die Schülerinnen sind während des Schuljahres ziemlich abgeschottet. Da gibt es eigentlich kaum eine Möglichkeit für eine heimliche Liebelei.«

»Hm, dann müssen wir herausfinden, was dahintersteckt. Hier?«

Die Mutter Oberin nickte und öffnete die Tür, nachdem sie kurz angeklopft hatte. Susanne Fey saß auf ihrem Bett und las. Als der Doktor den Raum betrat, stand sie auf und blickte ein wenig verschüchtert auf die Mutter Oberin.

Diese wollte wissen: »Wie geht es Peggy?«

»Sie schläft. Aber sie hat bis eben herum gejammert. Sie muss schlimme Schmerzen haben.«

»So? Dann könnte sie aber kaum so ruhig schlafen.« Max schickte das Mädchen hinaus, dann untersuchte er die Schülerin, die nun langsam zu sich kam. Der erfahrene Mediziner hatte sofort den Eindruck, dass Peggy nur Theater spielte. Sie hatte keine wirklichen Symptome, klagte nur über ein diffuses Unwohlsein, das vermutlich bloß in ihrer Fantasie existierte. Als Dr. Brinkmeier sie fragte, ob sie einen Freund habe, begann sie plötzlich haltlos zu weinen. Schwester Maria-Roberta hob leicht irritiert die Augenbrauen und versicherte: »Es gibt keinen Grund, sich zu schämen. Du weißt doch, dass der Doktor für alles Verständnis hat. Und er wird es keinem weitererzählen.«

»Aber es ist doch ganz anders!« Peggy stöhnte auf. »Es ist alles so schrecklich, ich will nicht mehr leben. Was er mir angetan hat, das kann ich nicht vergessen. Es war so gemein und widerlich…«

Die Nonne tauschte einen alarmierten Blick mit dem jungen

Landarzt, dieser bat behutsam: »Erzähl uns nur, was geschehen ist, Peggy. Wir wollen dir helfen, du kannst uns vertrauen. Und du musst dich nicht schämen, da hat die Mutter Oberin recht. Also, wer hat dir etwas angetan und was?«

»Ich…, ich kann es nicht aussprechen!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und greinte wie ein kleines Kind.

»Bist du mit einem Mann beisammen gewesen?«, fragte die Mutter Oberin nun direkt. »Jetzt rede, Peggy, es hat keinen Sinn, wennst nur heulst. Hat dir einer Gewalt angetan?«

Die Schülerin zögerte kurz, dann nickte sie.

»Und wer war es? Jemand aus dem Dorf, ein Bursch oder…«

»Es war der Neumann!«, rief sie da verzweifelt. »Er hat mich überall angefasst. Und dann hat er mich gezwungen…« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann’s nicht sagen! Es war so eklig!«

Maria-Roberta wirkte konsterniert. Sie schaute die Schülerin nun sehr ernst an und mahnte sie: »Du weißt, dass du eben eine schwere Beschuldigung erhoben hast. Wenn sie nicht der Wahrheit entspricht, wird das ernsthafte Konsequenzen für dich haben. Und du solltest dir auch im klaren darüber sein, dass du damit das Leben eines Menschen zerstören kannst. Also, stimmt das, was du gerade gesagt hast? Hat Christian Neumann dich sexuell missbraucht? Ich kann es dir nicht ersparen, dass du alles aussprichst, was er getan hat. Denn wenn es wahr ist, dann wird diese Sache ein Fall für die Polizei.«

»Ich… habe die Wahrheit gesagt«, behauptete Peggy leise.

Die Mutter Oberin atmete tief durch. »Nun gut, du wirst eine ärztliche Untersuchung über dich ergehen lassen. Und dann musst du vor der Polizei alles noch einmal genau erzählen…«

»Davor habe ich keine Angst«, bekräftigte das Mädchen. »Aber ich habe Angst vor ihm, dass er mir etwas antut, weil ich nicht geschwiegen habe, wie er es verlangt hat…«

»Du musst dich nicht fürchten, ich rede mit dem Direktor. Du wirst vom Unterricht bei Herrn Neumann bis auf weiteres befreit.« Die Mutter Oberin wandte sich an Max Brinkmeier. »Wie lange muss Peggy das Bett hüten?«

»Ein paar Tage werden genügen«, murmelte er automatisch. Die ganze Geschichte erschien ihm suspekt. Nachdem er zusammen mit Maria-Roberta das Zimmer verlassen hatte, sagte er: »Ich kann mir nicht helfen, aber ich werde den Eindruck nicht los, dass das Mädchen lügt.«

Die Nonne musterte ihn verständnislos. »Wie kommen Sie zu der Einschätzung, Herr Doktor? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Peggy sich eine so schlimme Geschichte nur ausgedacht hat. Und welchen Grund sollte es dafür geben?«

»Nun, das weiß ich nicht. Vielleicht will sie sich an dem Lehrer für eine vermeintliche Ungerechtigkeit rächen. Oder sie möchte mit dieser Geschichte einen Jungen decken, mit dem sie intim war. Es gibt viele Möglichkeiten. Krank ist Peggy jedenfalls nicht. Ihre Schmerzen sind eingebildet oder erfunden. Und ich werde den Verdacht nicht los, dass die Anschuldigungen gegen diesen Lehrer aus der Luft gegriffen sind.«

»Das wäre allerdings arg. Trotzdem muss ich der Sache nachgehen, ich kann das nicht einfach ignorieren. Wenn das Mädchen die Wahrheit gesagt hat, würde ich einem Verbrechen Vorschub leisten, und das geht nun wirklich nicht.«

»Kann ich dabei sein, wenn Sie mit dem Lehrer reden?«

Die Mutter Oberin zögerte kurz, dann nickte sie. »Kommen Sie, wir müssen zuerst den Direktor informieren.«

Dieser zeigte sich ebenso betroffen wie ungläubig. »Neumann soll eine Schülerin missbraucht haben? So ein Unsinn. Der Mann ist integer, ich verbürge mich für ihn.

Er ist glücklich verheiratet und wird bald Vater. Das ganze ist absurd!«

»Mir gefällt die Sache auch nicht, aber Peggy Andersen hat schwere Anschuldigungen gegen Herrn Neumann erhoben. Und dem muss ich nachgehen, das verstehen Sie doch, Herr Doktor Binder?«

»Ja, natürlich. Warten Sie einen Moment, ich glaube, der Kollege sollte noch im Haus sein.« Direktor Binder schaute ins Vorzimmer und bat seine Sekretärin, den Lehrer zu rufen.

Christian Neumann hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, als er das Büro des Schulleiters betrat. Dieser kam sofort zur Sache. »Sie kennen die Schülerin Peggy Andersen?«

Er nickte. »Sie ist in meiner Klasse.«

»Besteht ein Kontakt zwischen Ihnen und dem Mädchen, der über das rein Schulische hinausgeht?«

Der junge Mann zögerte. »Was wollen Sie damit andeuten?«

»Nichts. Ich habe Ihnen eine Frage gestellt und erwarte eine ehrliche Antwort. Also?«

»Ich habe nichts mit dem Mädchen zu schaffen. Wenn Peggy das behauptet, dann lügt sie.«

»Wie kommen Sie darauf, dass das Mädchen so etwas behauptet?« Der Direktor musterte sein Gegenüber streng. »Nun?«

Christian musste sich überwinden, es war ihm peinlich, darüber zu reden. Aber da Peggy offenbar vorhatte, sich an ihm zu rächen, konnte er nun keine Rücksicht mehr nehmen. »Peggy hat mir Avancen gemacht, sie ist ziemlich frühreif und hat ein richtiges Theater aufgeführt. Ich habe mehrere Male versucht, sie in ihre Schranken zu verweisen, doch ohne Erfolg.«

»Und wie haben sich diese Avancen geäußert?«

»Sie hat mir aufgelauert, sich an mich rangemacht, wie man so schön sagt. Sie hat gedroht, sich etwas anzutun, wenn ich ihre Gefühle nicht erwidere. Ich habe das Ganze für eine unausgegorene

Teenagerfantasie gehalten. Als es nicht aufhörte, habe ich ihr sehr deutlich die Meinung gesagt. Seither hat sie mich in Ruhe gelassen. Aber offenbar sinnt sie auf Rache, nicht wahr? Sonst wäre ich ja jetzt nicht hier.«

Direktor Binder wirkte erleichtert. »Damit wäre die Sache wohl aufgeklärt, nicht wahr?«

»Noch nicht ganz«, widersprach Schwester Maria-Roberta ihm allerdings. »Herr Neumann, das Mädchen, das sich angeblich an Sie herangemacht hat, wie Sie sagen, behauptet etwas ganz anderes. Peggy war heute völlig verstört, so, als habe sie etwas Schlimmes erlebt. Und sie sagt, dass Sie ihr das angetan haben.«

»Was?« Christian wurde blass. »Wie kommt sie dazu…«

»Peggy behauptet, Sie hätten sie sexuell missbraucht.«

»Aber das ist doch… Ich habe das Mädchen nicht angerührt! Wie kann sie nur solche bodenlosen Lügen verbreiten? Unglaublich! So etwas ist mir mein Lebtag noch nicht passiert!« Er sprang auf und begann unruhig hin und her zu laufen. »Dieses kleine Biest! Sie konnte ihren Willen nicht durchsetzen und nun versucht sie, mich fertig zu machen.« Er blieb stehen und schaute die drei Menschen offen an. »Sie dürfen ihr nicht glauben«, beschwor er den Direktor dann. »Sie hat das nur erfunden, um mir zu schaden. Nachdem ich sie abgewiesen hatte, hat sie mir gedroht. Ich habe das nicht ernst genommen, aber jetzt sehe ich, dass sie es so gemeint hat. Sie legt es darauf an, meine Existenz zu zerstören!«

»Nun beruhigen Sie sich mal, Herr Neumann«, bat Dr. Brinkmeier ihn. »Peggy hat keine Beweise für das, was sie sagt. Und wenn sie sich wirklich nur rächen will, dann wird sie über kurz oder lang ihre Lüge zugeben.«

»Und bis dahin? Was soll denn werden? Ich kann mich nicht reinwaschen, denn ich habe ebenso wenig Beweise. Und was soll ich meiner Frau sagen?«

»Es wird sich alles klären«, meinte der Schulleiter lapidar. »Aber bis dahin muss ich Sie leider beurlauben, daran führt kein Weg vorbei, bis der Verdacht ausgeräumt ist.«

»Bis er ausgeräumt ist?« Christian lachte bitter auf. »Falls er ausgeräumt werden kann, sollten Sie besser sagen.«

*

Die Magd Lissy war bester Dinge, als sie an diesem Morgen zur Sennhütte aufstieg. Sie winkte dem jungen Mann bereits von weitem zu, und als sie die Hütte erreicht hatte, schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. »Gut schauen Sie aus, so rasiert. Und ich bringe Ihnen auch gute Nachrichten.« Sie reichte ihm die Morgenzeitung. »Gleich auf der ersten Seite steht es: Der dritte Bankräuber ist gefasst worden. Ganz hier in der Nähe. Und sie schreiben, es gibt keine Spur von der Beute und seiner Waffe.«

Der junge Mann überflog die Zeilen, dann entspannte sich seine markante Miene ein wenig. »Das bedeutet, ich habe keine Bank überfallen. Ich dank’ dir, Lissy!« Er zog sie in seine Arme und drückte ihr ein herzhaftes Busserl auf die Wange. Das Madel errötete heftig, doch seine Augen strahlten wie zwei Sterne.

»Wir wissen jetzt, wer Sie net sind. Aber haben Sie sich denn mal ein paar Gedanken darüber gemacht, wer Sie sind?«

»Ununterbrochen. Leider ohne Ergebnis.« Er folgte Lissy in die Hütte, wo diese ihm das Frühstück richtete. »Diese Waffe, die erinnert mich an irgendetwas. Aber ich komme nimmer drauf.«

»Freilich haben Sie sie dem Bankräuber abgenommen. Wie sollen Sie denn sonst dazu gekommen sein?«

Der junge Mann lachte. »Das klingt schön. Trotzdem will es mir nicht so ganz in den Kopf. Ich bin doch kein Held.«

»Und wenn doch?« Lissy setzte sich zu ihm und schaute ihn aufmerksam an. »Die Bäuerin hat gesagt, Sie können hier heroben bleiben, bis Sie Ihr Gedächtnis wiedergefunden haben. Aber der Doktor möchte mal nach Ihnen sehen.«

»Vielleicht wäre das gar keine so schlechte Idee. Meinst, der kann mir helfen?«

»Ich weiß net. Aber der Doktor Brinkmeier, der hat schon ganz

andere Sachen geschafft. Unser Landarzt ist nämlich was Besonderes, so einen finden Sie sonst nirgends.«

»Das klingt ja richtig begeistert. Also, wenn er herkommen möchte, habe ich nix dagegen. Mittlerweile würde ich nach jedem Strohhalm greifen, um endlich mein Gedächtnis wiederzufinden.«

»Und dann werden Sie fortgehen.« Lissy schaute ihn so traurig an, dass er spontan eine Hand auf ihre legte und ihr zulächelte.

»Vielleicht bleibe ich auch. Es gefällt mir hier nämlich ausnehmend gut, weißt?«

Max Brinkmeier erschien am nächsten Morgen zusammen mit seiner Schwägerin auf der Alm. Er machte sich mit dem Logiergast bekannt, untersuchte ihn gründlich und stellte ihm eine ganze Menge Fragen. Schließlich trat er zusammen mit dem jungen Mann nach draußen, wo Tina gewartet hatte, und ließ diese wissen: »Dein Bekannter leidet tatsächlich an einer Amnesie, die durch seinen Unfall ausgelöst wurde. Er hatte eine leichte Gehirnerschütterung, aber die allein ist net schuld an seinem Zustand. Bevor er gestürzt ist, hat ihn jemand niedergeschlagen. Das Hämatom bildet sich nur langsam zurück. Ich vermute, wenn der Druck auf die Hirnrinde nachlässt, wird auch sein Erinnerungsvermögen zurückkehren. Aber das kann noch eine Weile dauern und wird vermutlich nur schrittweise geschehen.«

»Er ist niedergeschlagen worden? Das erklärt vielleicht, wie er zu der Waffe gekommen ist.«

Der junge Landarzt war der gleichen Meinung. »Ich denke, wir sollten die Waffe der Polizei geben, wenn es deinem Schützling bessergeht. Aber ich möchte mich nicht einmischen, das ist allein seine Entscheidung.«

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor«, sagte der junge Mann und drückte Max zum Abschied die Hand. »Jetzt weiß ich wenigstens, wie es zu meinem Gedächtnisverlust gekommen ist. Und dass ich Aussicht habe, mich bald wieder zu erinnern.«

»Rechnen Sie aber nicht zu schnell damit, die Heilung braucht Ihre Zeit. Sie dürfen da nicht ungeduldig werden.«

»Ich will mich bemühen. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Schon gut. Wenn Sie Schmerzen bekommen oder Ihnen schwindlig wird, sagen Sie Tina bitte Bescheid. Es ist durchaus möglich, dass sich Komplikationen einstellen. Und dann müssen Sie ins Spital.«

»Hoffen wir, dass es so abgeht«, erwiderte er mit einem schmalen Lächeln. »Trotz allem habe ich mich hier schon ein wenig eingelebt. Und ich muss sagen, es gefällt mir sehr.«

»Sie sollten zu uns auf den Hof kommen, hier hat es doch überhaupt keinen Komfort«, schlug Tina vor. »Überlegen Sie es sich. Ich werde auch mit meinem Mann reden, damit alles seine Ordnung hat.«

Lukas fiel aus allen Wolken, als er erfuhr, was sich da in der alten Sennhütte abgespielt hatte. Er machte seiner Frau zwar keine Vorwürfe, bat sie aber: »Wennst mal wieder über einen Fremden ohne Gedächtnis stolperst, sagst mir bitt’ schön Bescheid, Liebes. Was da alles hätte geschehen können…«

»Es ist ja nix passiert«, rechtfertigte Tina sich. »Außerdem hast mich die ganze Zeit mit dem Hüttel gepflanzt.«

Lukas seufzte leise. »Soll nimmer vorkommen. Man weiß schließlich nie, was einem so alles blüht…«

Einige Tage vergingen, in denen sich am Zustand des jungen Mannes in der Almhütte nichts änderte. Heimlich wartete er darauf, morgens aufzuwachen und wieder über sich und sein Leben Bescheid zu wissen. Doch er hatte auch Max Brinkmeiers Worte verinnerlicht, dass es wenig Sinn machte, ungeduldig zu sein.

Also gab der Logiergast in der Almhütte sich Mühe, die Zeit ein wenig zu genießen. Immer wenn Lissy ihn besuchte, gelang ihm das ohne Schwierigkeiten. Die Magd hatte eine nette und offene Art, die sein Herz ansprach und dafür sorgte, dass er sich einfach nur wohlfühlte. Wenn Lissy ihm zulächelte, dann empfand er ein warmes Gefühl der Zuneigung. Zugleich stand der junge Mann seinen eigenen Gefühlen eher skeptisch gegenüber. War es denn richtig, sich zu verlieben, wenn man nicht mal wußte, wer man war? Womöglich war er ja verheiratet und hatte Kinder, auch wenn er keinen Ehering trug.

So plagten den Mann ohne Gedächtnis Zweifel und Unwägbarkeiten. Des Nachts lag er oft wach und grübelte nach. Aber in Lissys Gesellschaft waren die dunklen Gedanken rasch verflogen. Fast eine Woche war vergangen, seit Tina den Fremden in ihrer Sennhütte entdeckt hatte. Wieder einmal verbrachte Lissy ein wenig Zeit mit ihm. Und sie freute sich, dass sie dies nun nicht mehr heimlich tun musste. Gemeinsam folgten sie dem schmalen Pfad, der von der Hütte weg und hinauf zu dem Geröllfeld führte, auf dem der junge Mann nach seinem Unfall zu sich gekommen war. Dabei gab er sich schweigsam, blieb immer wieder stehen und blickte sich um. Doch nichts rief in ihm eine Erinnerung wach.

»Kehren wir um«, bat er schließlich enttäuscht. »Ich weiß zwar, dass ich hier gewesen bin. Aber ich habe keine Ahnung, warum. Und woher ich gekommen bin oder wohin ich unterwegs war.«

»Machen Sie sich nix draus, es wird schon werden«, meinte Lissy optimistisch. Sie warf dem jungen Mann einen fragenden Blick zu. »Genießen Sie lieber die schöne Umgebung. Oder gefällt es Ihnen nimmer in Wildenberg?«

»Doch, schon. Aber es bedrückt mich, dass ich mich einfach an nix erinnern kann. Es ist wie verhext.«

»Sie dürfen net ständig darüber nachdenken. Der Doktor hat doch gesagt, dass es von selbst kommen muss, gelt?«

»Ja, mag sein, aber… Vorsicht!« Er hatte gesehen, dass Lissy unachtsam auf einen etwas dickeren Stein getreten war. Sie bemerkte es zu spät, knickte um und wäre gestürzt, hätte ihr Begleiter sie nicht aufgefangen. Während sie in seine Arme rutschte, hatte er plötzlich ein Bild ganz deutlich vor Augen: Er stand in einer Gruppe von Jugendlichen, unterhielt sich mit einem etwas älteren Jungen, weiter hinten wurde Ball gespielt. Lärm und Gelächter erinnerte an einen Schulhof in der Pause. Dann war das Bild fort, wie ein flüchtiger Reflex in einer nassen Fensterscheibe. Und er schaute in das verlegen wirkende Gesicht von Lissy, die bat: »Sie können mich ruhig loslassen, es ist fei nix passiert. Geht es Ihnen gut? Sie sind so blass.«

»Danke, alles in Ordnung. Hoffentlich hast dir den Fuß net verknackst. Tut was weh?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nix, Sie haben mich ja aufgefangen.« Einen Moment lang schauten sie einander noch in die Augen, waren sich ganz nah. Heimlich wünschte Lissy sich, dass der junge Mann ihr ein Busserl schenken würde. Aber er gab sie zu ihrer Enttäuschung gleich wieder frei.

Auf dem Rückweg zur Hütte schwiegen sie beide. Bevor Lissy aber ins Tal absteigen konnte, fragte er sie: »Was hältst davon, wenn ich bei euch auf dem Hof wohnen würde? Die Frau Brinkmeier hat es mir angeboten. Wäre dir das recht?«

»Mir? Aber das ist doch unwichtig. Wenn Sie es gern möchten, ziehen Sie nur um. Hier heroben kann man ja auf die Dauer net wohnen, mit dem Plumpsklo und allem…«

»Das macht mir eigentlich nix aus. Es ist nur die Stille nachts, die ist fast ein bissel unheimlich.« Er lächelte ihr jungenhaft zu. »Vielleicht nehme ich das Angebot an und ziehe ins Tal. Dann könnten wir mehr Zeit miteinander verbringen.«

Lissy erwiderte sein Lächeln scheu. »Das wäre schön…«

*

»Das ist eine schlimme Geschichte. Hast denn schon was Neues erfahren?« Anna Stadler füllte noch einmal die Tassen mit Kaffee und legte ihrem Gast ein Stück Kuchen vor. Max bedankte sich.

»Leider nein. Ich hab’ daran gedacht, mal nach der Frau Neumann zu schauen. Wenn sie erfährt, was in der Schule los ist, wird ihr das sehr schaden in ihrem Zustand.«

»Mei, was so ein dummes verliebtes Madel anrichten kann…« Die hübsche Apothekerin machte ein nachdenkliches Gesicht. »Oder denkst, es könnte doch was dran sein an ihren Anschuldigungen?«

»Ich weiß es leider net. Vom Verstand her würde ich sagen, nein. Es gibt keinerlei Beweise und es spricht eigentlich alles dagegen. Diese Peggy hat sich lange mit einem Polizeipsychologen unterhalten, und der ist der Auffassung, dass sie net missbraucht worden ist. Aber sie hat eine rege Fantasie und einen starken Willen. Das ist machmal eine gefährliche Mischung.«

Anna nickte. »Man macht sich gar keine Gedanken darüber, was alles passieren kann. Ich hoffe nur, die Frau Neumann muss net darunter leiden. Sie ist eine nette Person.«

»Vielleicht sollte man mal mit der Zimmergenossin von dieser Peggy reden. Das Madel macht einen ganz vernünftigen Eindruck. Könnte doch sein, dass sie etwas weiß…«

Während Max Brinkmeier mit Anna Stadler zusammensaß und sich Gedanken machte, wie er zur Aufklärung dieser unangenehmen Sache beitragen könnte, lag Sabine Neumann im Bett. Sie konnte sich nicht entspannen, hatte ständig Schmerzen. Seit Christian ihr erzählt hatte, was in der Schule gegen ihn im Gange war, hatte sie keine ruhige Minute mehr. Zuerst war sie nur erschrocken gewesen, hatte ihren Mann bedauert. Nun aber kamen die Zweifel. Sie fragte sich, was vorgefallen war zwischen Christian und dem Mädchen. Im Grunde traute sie ihrem Mann keine Schlechtigkeit zu. Doch es musste ja einen Grund dafür geben, dass diese Peggy sich so benahm. Sabine verspürte eine bohrende Angst. Sollte ihr kleines Paradies, ihr Lebensglück jetzt zerstört werden? Sie hatte unterschwellig immer mit so etwas gerechnet…

»Liebes, wie geht es dir?« Christian trat an ihr Bett, setzte sich. Er wirkte abgespannt und niedergeschlagen. Sabine legte eine Hand auf seinen Arm und konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen kamen. Als er sie aber in den Arm nehmen wollte, wehrte sie ihn ab.

Der junge Mann stutzte, denn das war noch nie passiert. »Was hast? Du glaubst doch net…«

»Bitte, Chris, lass uns net davon reden. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Es ist wie ein schlechter Traum«, murmelte sie mit erstickter Stimme.

»Meinst, für mich nicht? Dieses Mädchen schreckt vor nichts zurück. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, mich zu verführen. Und als ich sie abgewiesen habe, da hat sie sich eine teuflische Lüge ausgedacht. Es ist praktisch unmöglich, ihr das zu beweisen.« Er lachte hart auf. »Sie war schlau genug, nicht von einer Vergewaltigung zu reden, denn die hätte man ja nachweisen können. Statt dessen hat sie sich kleine miese Schweinereien ausgedacht, um mich in den Dreck zu ziehen.« Er vergrub das Gesicht in den Händen und murmelte matt: »Es ist nicht zu fassen, wie leicht einer daherkommen und dein Leben zerstören kann. Und es gibt nix, was man dagegen tun kann…«

Sabine legte eine Hand auf die ihres Mannes und bat: »Sei mir net bös’. Du weißt, dass ich dir vertraue. Aber wenn so ein schlimmes Gerede aufkommt, muss man doch erst mal damit fertig werden. Bitte, Chris, du darfst jetzt net aufgeben. Wie hast für diese Stelle gekämpft, wie lange hast darauf warten müssen. Du darfst nicht zulassen, dass jetzt alles zerstört wird.« Sie biss sich auf die Lippen und drehte sich auf die Seite. Ein leises Stöhnen entrang sich ihr, das den jungen Mann aufmerksam machte.

»Sabine, was hast? Schmerzen? Sag doch was!«

Sie nickte nur, ihr Gesicht war bleich und angespannt, Schweißperlen traten ihr auf die Stirn, als sie ihn mit spröder Stimme bat: »Ruf den Doktor Brinkmeier. Ich halte es nimmer aus. Bitte, Chris, beeil dich!«

»Ja, ja, sofort.« Er wurde unvermittelt von einer tiefen, schrecklichen Angst gepackt. Mühsam nahm er sich zusammen, stolperte in die Diele und griff nach dem Telefon. Max Brinkmeier war nicht daheim, aber sein Vater versprach, ihn sofort zu benachrichtigen. Und es dauerte nur wenige Minuten, bis der junge Landarzt vor dem Haus der Neumanns hielt. Er schnappte sich seinen Notfallkoffer und eilte auf den Lehrer zu, der bereits wartend an der Haustür stand.

»Beeilen Sie sich, Doktor, es geht meiner Frau sehr schlecht. Die Aufregung hat ihr so geschadet, ich wünschte, ich hätte ihr das ersparen können.«

Max verzichtete auf eine Erwiderung, er betrat das Schlafzimmer und kümmerte sich um die junge Frau, die verkrümmt und stöhnend im Bett lag. Es dauerte nicht lange, dann wandte er sich an Christian Neumann und wies diesen knapp an: »Rufen Sie im Spital an, die sollen einen Hubschrauber schicken. Sieht nach einer Fehlgeburt aus, ich kann hier aber nichts tun.«

»Mein Gott…« Christian verließ eilig die Stube. Dr. Brinkmeier stabilisierte die Patientin, die nicht ganz bei Bewusstsein war. Er tat alles, um den Abgang des Fötus zu verhindern, war sich aber nicht sicher, dass dies wirklich helfen würde.

Endlich landete der Hubschrauber auf dem freien Feld hinter dem Garten der Neumanns. In Windeseile wurde Sabine abstransportiert. Christian wollte mitfliegen, doch das war nicht möglich. Also schlug Max Brinkmeier ihm vor: »Fahren wir zusammen in die Stadt. In Ihrem Zustand werden Sie noch einen Unfall bauen. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.«

Er nickte. »Danke.« Wie ein Häuflein Elend saß der junge Mann dann neben dem Landarzt und brachte kein Wort heraus. Christian fühlte sich schuldig, obwohl er es nicht war. Und er betete im stillen, dass Sabine das Kind nicht verlieren würde.

Max ließ den leidgeprüften Mann in Ruhe. Als sie das Spital erreichten, mussten sie noch eine ganze Weile warten. Nichts war zu erfahren. Dr. Brinkmeier erkundigte sich nach seinem alten Studienfreund Peter Brosius, der hier arbeitete. Doch leider hatte er an diesem Tag dienstfrei.

Christian Neumann hielt nichts im Wartebereich. Mit langen Schritten durchmaß er den Gang, war einfach nicht in der Lage, sich zu beruhigen. Max zog zwei Becher Kaffee aus einem Automat und gab ihm einen. Für eine Weile blieb er da neben dem Landarzt stehen und bekannte leise: »Ich weiß net, wie es zu alldem hat kommen können. Ich habe mich doch richtig verhalten, habe dieses Mädchen zu nichts ermuntert. Wie schützt man sich gegen solche Menschen? Es ist nicht recht, dass sie aus einer Laune heraus alles zerstören können. Dagegen muss man doch was tun können!«

Max schaute sein Gegenüber bekümmert an. Er hätte Christian Neumann gerne ein paar tröstende Worte gesagt. Doch er musste sich selbst eingestehen, dass es nur Platitüden gewesen wären. Und die hätten Christian Neumann kaum geholfen.

In diesem Moment näherte sich ihnen ein junger Arzt. Er schaute den Lehrer an. »Herr Neumann?« Und als dieser nickte, erklärte er: »Ihre Frau ist außer Gefahr, wenn Sie möchten, können Sie nach ihr sehen. Wir behalten sie aber zur Sicherheit ein paar Tage hier, auch wenn der Eingriff nicht schwer war.«

»Eingriff? Soll das heißen…«

»Es tut mir leid, aber sie hat das Baby verloren.«

»Haben Sie eine Ausschabung vornehmen müssen?«, fragte Max.

»Nein, das war nicht nötig. Und Sie müssen sich keine Sorgen machen, Herr Neumann, Ihre Frau kann jederzeit wieder schwanger werden. Körperlich ist sie okay, es war wohl der Stress…«

Christian nickte automatisch. Er spürte Tränen in sich aufsteigen, etwas, das ihm lange nicht passiert war. Beschämt wandte er sich ab, ging ein paar Schritte und blieb vor dem Fenster stehen, ohne draußen etwas zu erkennen. In seinem Herzen klaffte eine Wunde, Schuld und Scham beherrschten ihn. Und er empfand eine unbändige Wut auf Peggy Andersen, die ihm das alles angetan hatte.

»Sie sollten jetzt nach Ihrer Frau sehen«, schlug Dr. Brinkmeier schließlich vor. »Sie wird Sie brauchen.«

»Ja, natürlich…« Der junge Mann wischte sich flüchtig über die Augen und folgte dann dem Mediziner, der ihn zu Sabine brachte. Sie war sehr schwach, wirkte benommen. Und er musste nur in ihre Augen sehen, um zu wissen, dass sie die Wahrheit kannte.

»Es tut mir schrecklich leid«, murmelte er mit flacher Stimme. »Es ist meine Schuld, ich weiß. Aber vielleicht wirst mir irgendwann verzeihen können, Sabine.«

Sie streckte eine Hand nach ihm aus, er nahm sie und hielt sie ganz fest. Und was sie dann sagte, das wirkte wie Balsam auf seiner wunden Seele. »Du kannst ganz gewiss nix dazu, Chris. Jedem Menschen kann ein Unglück zustoßen. Und uns beide hat es heut getroffen. Wir müssen halt versuchen, damit fertig zu werden. Ich weiß im Moment nur noch net wie…«

»Wenn wir zusammenhalten, schaffen wir es«, versicherte er ihr beschämt. »Es wird alles wieder gut, das verspreche ich dir.«

Sie lächelte schwach, sagte aber nichts. Er sah die Traurigkeit in ihren Augen und wünschte sich nichts mehr, als Sabine wieder glücklich zu sehen. Dafür wollte er alles tun. Und er war fest entschlossen, dem gemeinen Spiel, das zu all dem geführt hatte, ein rasches Ende zu machen.

*

Susanne Fey wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, als sie ins Büro der Mutter Oberin bestellt wurde. Das Mädchen war sich zwar keiner Verfehlung bewusst, doch es fürchtete sich trotzdem vor der strengen Ordensfrau. Mit gesenktem Blick betrat Susanne das Büro von Maria-Roberta, die bat: »Komm näher und setz dich hin. Den Doktor Brinkmeier kennst ja schon.«

Die Schülerin blickte scheu auf und nickte. »Grüß Gott.«

Max erwiderte den Gruß und wollte wissen: »Du bist doch mit Peggy Andersen befreundet, net wahr?«

»Wir wohnen auf der gleichen Stube. Aber Freundinnen…«

»Du musst uns die Wahrheit sagen, Susanne«, mahnte die Mutter Oberin. »Dass du nie lügen sollst, weißt ja. Aber in diesem Fall ist es besonders wichtig. Es geht um ein Menschenleben.«

Das Madel erschrak. »Aber was…? Die Peggy hat doch nix Schlimmes gemacht. Sie sagt, der Neumann war gemein und widerlich zu ihr. Und ich glaube ihr das.«

»Nun hör mal zu, Susanne«, bat Dr. Brinkmeier die Schülerin sachlich. »Was die Peggy da erzählt hat, das ist aller Wahrscheinlichkeit nach erfunden. Ein Mädchen in ihrem Alter, das sexuell missbraucht worden ist, reagiert anders. Der Herr Neumann sagt, Peggy hat versucht, ihn zu verführen. Sie sei ihm ständig gefolgt und habe ihn belästigt. Nachdem er ihr einmal klipp und klar die Meinung gesagt hat, war sie sehr wütend, hat ihm Rache geschworen. Und ihre Behauptungen, die schauen doch sehr nach Rache aus, meinst net?«

»Ich weiß net. Mir hat sie’s so erzählt.«

»Mag sein. Aber du weißt doch sicher auch, dass sie hinter dem Lehrer her war, sich ihm an den Hals geworfen hat, oder?«

Susanne zögerte kurz, dann murmelte sie unsicher: »Ich weiß net so genau…«

Max tauschte einen knappen Blick mit Maria-Roberta, dann ließ er das Madel wissen: »Was die Peggy tut, ist sehr schlimm. Sie hat sich eine böse Geschichte ausgedacht, um dem Lehrer zu schaden. Und es ist ihr bereits gelungen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass sie es so gewollt hat. Frau Neumann hat nämlich ihr Baby verloren.«

Susanne riss ungläubig die Augen auf, sie wurde ganz blass. »Aber das… ist ja furchtbar!« Sie biss sich auf die Lippen, konnte aber nicht verhindern, dass ihr die Tränen kamen. »Mei, wenn die Peggy das erfährt… Ich hab’ ihr doch von Anfang an gesagt, sie soll die Finger von dem Neumann lassen. Jeder schwärmt mal für einen Lehrer, das kommt schon vor. Aber doch net so… Ganz narrisch war sie auf ihn. Und als er sie abgewiesen hat, da hat sie geheult wie net gescheit. Mei, Herr Doktor, ich habe ja nicht ahnen können, dass so was Schlimmes geschehen wird. Was soll denn nun mit der Peggy werden?«

»Zunächst einmal werden wir mit ihr reden. Wenn sie ihre Lüge zugibt, muss der Direktor entscheiden, was geschehen soll. Schau, Susanne, es geht uns ja hier net darum, deiner Freundin zu schaden; im Gegenteil. Wir wollen diese schlimme Geschichte so rasch wie möglich aus der Welt schaffen. Bevor die Peggy sich noch weiter in ihre Lügen verrennt und alles noch arger macht.«

Susanne nickte. »Ich verstehe. Soll ich denn mit ihr reden?«

»Wennst magst, ja. Schick sie uns her, aber mach ihr auch klar, dass sie nur diese eine Chance hat. Wir kennen jetzt die Wahrheit. Und wenn sie bei ihrer Lüge bleibt…«

»Ich werde ihr ins Gewissen reden, Herr Doktor«, versprach das pummelige Madel und beeilte sich, aus dem Zimmer zu kommen.

Schwester Maria-Roberta zog die Stirn in nachdenkliche Falten. »Ob Sie da keinen Fehler gemacht haben? Wir hätten Peggy besser überraschend mit den Tatsachen konfrontiert. Jetzt hat sie Zeit, sich Ausreden einfallen zu lassen. Und ich bin sicher, dass sie das auch tun wird.«

Mit dieser Einschätzung lag die Mutter Oberin allerdings falsch. Es dauerte nicht lange, dann erschien die blonde Schülerin. Nie zuvor hatte die Ordensfrau das hübsche Mädchen so bescheiden gesehen. Man sah Peggy an, dass sie geweint hatte. Und sie wirkte völlig verändert. Von ihrem sonst zur Schau getragenen Selbstbewusstsein, das beinahe schon ein wenig an Überheblichkeit grenzte, war nichts mehr zu spüren.

»Es tut mir leid«, murmelte sie mit belegter Stimme und musste schon wieder weinen. »Ich… hab’ das nicht gewollt, wirklich nicht!« Sie schaute verzweifelt zu Max Brinkmeier, der sie mahnte: »Mit einer einfachen Entschuldigung ist es wohl kaum getan, Peggy. Bitte sag uns jetzt die ganze Wahrheit.«

Die Schülerin schneuzte sich, hielt dabei den Kopf gesenkt. Und als sie sprach, war ihre Stimme ganz klein. »Der Herr Neumann hat mir nie etwas angetan, ich habe alles nur erfunden, um ihm zu schaden. Ich war in ihm verliebt und wollte, dass er sich auch in mich verliebt. Deshalb habe ich alles mögliche angestellt. Aber nix hat genützt. Er hat mir die Meinung gesagt und mir gedroht, meine Eltern zu informieren, wenn ich ihn nicht in Ruhe lasse. Ich war sehr unglücklich und natürlich auch wütend auf ihn.«

»Und da hast du diese schlimme Lüge erfunden«, schloss die Mutter Oberin. »Konntest du dir denn nicht vorstellen, was daraus alles erwachsen kann? Du wirst in einem Jahr volljährig, Peggy, bist kein kleines Kind mehr. Du musst doch abschätzen können, wie eine solche Geschichte auf deine Umwelt wirkt. Und welche Auswirkungen sie auf alle Beteiligten hat.«

»Ja, ich… weiß das jetzt natürlich. Aber zuerst habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht. Es war mir, ehrlich gesagt, egal. Ich wollte nur dem Herrn Neumann schaden. Weiter habe ich nicht gedacht.«

Die Ordensschwester seufzte leise, dann entschied sie: »Wir gehen jetzt zu Direktor Binder. Er muss die weiteren Schritte einleiten.«

»Werde ich von der Schule gewiesen?«, fragte Peggy bekümmert.

»Das kann ich dir nicht sagen, es liegt am Schulleiter, wie er die Sache beurteilt. Aber du kannst einmal davon ausgehen, dass deine Eltern informiert werden. Und nun komm.«

»Ich rede mit Herrn Neumann, er ist im Spital«, ließ Max die Mutter Oberin noch wissen. »Vermutlich kann er ja nun wieder seinen Unterricht aufnehmen, nicht wahr?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass noch etwas dagegen spricht«, erwiderte sie und drückte dem jungen Landarzt zum Abschied herzlich die Hand. »Danke für Ihre Hilfe.«

»Nicht der Rede wert«, wehrte der ab. »Ich wünschte nur, wir hätten früher etwas tun können. Bevor es zu diesem Drama gekommen ist.«

*

Tina Brinkmeier bedachte die Magd Lissy mit einem strengen Blick. »Wennst noch lange aus dem Fenster starrst, ist das Gemüse völlig verkocht. Angekocht riecht’s schon.« Sie schob die Magd beiseite und kümmerte sich selbst ums Mittagessen.

Lissy wurde rot und bat: »Sei mir net bös’, Bäuerin, ich hab’ nur über was nachdenken müssen. Soll nimmer vorkommen.«

Tina konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Das wollen wir doch net hoffen, dass du in Zukunft dein Hirnkasterl nimmer benutzt. Aber im Ernst; was hast denn auf dem Herzen? Bist schon den ganzen Tag so abwesend. Ist es wegen unserem Logiergast?«

»Ja, schon.« Die Magd senkte verlegen den Blick. »Gestern hat er mir erzählt, dass er sich an verschiedene Sachen erinnern kann. Er versucht sich ein Bild zu machen, aber es passt noch net alles beisammen. Und ich hab’ ein bissel Angst davor, wenn es soweit ist. Ich mein’, wenn er wieder weiß, wer er ist, und dass er vielleicht Familie hat…«

Die Bäuerin nickte verständnisvoll. »Ich hab’ schon gespannt, dass du unseren Logiergast gern hast. Und ich verrate dir gewiss kein Geheimnis, wenn ich dir sag’, dass er dich auch mag.«

»Meinst, Bäuerin? Ja, vielleicht so ein bissel wie einen Ferienflirt. Aber bald wird er fort sein, und dann…« Sie biss sich auf die Lippen, in diesem Moment betrat der Bauer die Küche und bat: »Komm einmal mit, Tina, unser Gast hat uns was zu erzählen. Ich glaube, du wirst staunen und Augen machen.«

Sie nickte Lissy zu, zum Zeichen, dass diese sie begleiten sollte, und folgte ihrem Mann dann in die gute Stube.

»Frau Brinkmeier, sie werden es net glauben, aber ich weiß jetzt wieder Bescheid über mich!«, rief der Logiergast höchst erfreut aus. »Es ist passiert, als ich die Morgenzeitung gelesen hab’. Da steht ein Artikel über das Gymnasium in Berchtesgaden drin. Und als ich mir das Foto angeschaut hab’, da ist es mir alles eingefallen. Das sind nämlich meine Schüler!« Er deutete auf die Zeitung. »Ich bin Lehrer für Deutsch und Sport, und mein Name ist Stefan Wilsinger!«

Tina musste unwillkürlich lächeln. »Ich freu’ mich sehr für Sie, Herr Wilsinger. Und ich freu’ mich auch, dass wir Sie jetzt mit Ihrem Namen anreden können.«

»Das ist aber noch net alles«, wandte Lukas ein.

»Mir ist auch wieder eingefallen, was in den Bergen geschehen ist. Wissen Sie, ich mache an den Wochenenden im Sommer gerne Bergtouren in der Umgebung. Diesmal hatte ich Pech mit dem Wetter. Es wurde empfindlich kühl auf der Höhe und neblig. Ich habe deshalb beschlossen, eine Abkürzung zu nehmen und ins Tal abzusteigen. Auf dem schmalen Weg ist mir dieser finster aussehende Kerl begegnet. Ich konnte ihm net ausweichen, und er hat mich gleich mit einer Waffe bedroht. Dass es einer der Bankräuber war, ist mir erst jetzt aufgegangen. Er hat versucht, mich zu beseitigen. Wahrscheinlich dachte er, ich wäre ihm auf der Spur. Ich habe mich nach Kräften gewehrt, aber dann hat er mir eins über den Schädel gegeben. Die Waffe konnte ich ihm vorher abnehmen, dann bin ich abgestürzt.«

»Mei, wie furchtbar!« Lissy biss sich auf die Lippen, während der Bauer logisch entschied: »Sie müssen das alles der Polizei erzählen, Herr Wilsinger. Und der Max will Sie gewiss noch einmal untersuchen. Kommen Sie, ich bring’ Sie zum Doktorhaus.«

»Machen Sie sich nur keine Umstände, Herr Brinkmeier. Ich finde mich schon zurecht«, wehrte der aber ab.

»Die Lissy kann Sie begleiten«, schlug Tina vor, womit Stefan gleich einverstanden war. Er fühlte sich wunderbar, war sehr glücklich darüber, endlich sein Gedächtnis wiedergefunden zu haben. Doch ihm blieb nicht verborgen, dass seine Begleiterin einsilbig und bekümmerte wirkte.

»Was hast denn, Lissy? Freust dich net ein bissel darüber, dass du mich jetzt beim Namen nennen kannst?«, fragte er sie.

»Freilich, Herr Wilsinger, das ist sehr schön. Und ich freue mich natürlich für Sie. Schließlich haben Sie viel mitmachen müssen, net wahr?«

»Sag halt Stefan zu mir«, bat er sie freundlich und nahm ihre Hand. »Du hast mir so wunderbar beigestanden in den vergangenen Wochen, das werde ich dir nie vergessen. Es ist was Besonderes, wenn es einem schlecht geht und man Menschen findet, die einem so selbstlos und spontan helfen.«

»So sind die Leut’ hier halt. Sie können uns ja in guter Erinnerung behalten«, murmelte Lissy und hatte Mühe, die Tränen zu unterdrücken, die schon wieder fließen wollten. »Da vorne ist das Doktorhaus. Und der Anderl Stumpf wohnt gleich ums Eck. Ich muss jetzt zurück an meine Arbeit.« Sie wollte auf und davon, doch der junge Mann ließ sie nicht so einfach gehen.

»Warte einmal, Lissy«, bat er. »Ich möchte jetzt doch wissen, was mit dir los ist. Die ganze Zeit haben wir zwei uns so gut verstanden. Und mit einem Mal bist ganz verändert. Was hast nur auf dem Herzen? Magst es mir net verraten?«

»Ist doch ganz wurscht«, murmelte sie bedrückt. »Sie werden uns eh bald verlassen. Und dann vergessen Sie mich ganz schnell!« Damit machte sie sich von ihm los und rannte davon. Stefan Wilsinger schaute ihr verblüfft hinterher, doch es dauerte nicht lange, dann stahl sich ein wissendes Lächeln auf seine markante Miene. Fröhlich vor sich hin pfeifend betrat er das Doktorhaus…

Max Brinkmeier hielt sich noch in Berchtesgaden auf, als Stefan die Praxis betrat. Er musste eine Weile warten, doch das machte ihm nichts aus. Der junge Landarzt hatte Christian Neumann und seiner Frau die gute Neuigkeit gleich überbringen wollen. Und er konnte erleichtert feststellen, dass es Sabine Neumann nicht so schlecht ging, wie er befürchtet hatte. Nachdem er den jungen Lehrer hatte wissen lassen, dass der hässliche Verdacht gegen ihn ausgeräumt und die ganze Lügengeschichte wie eine Seifenblase geplatzt war, bat er Christian, kurz allein mit dessen Frau sprechen zu dürfen. Und der war einverstanden.

»Wie fühlen Sie sich, Frau Neumann? Was geschehen ist, war sehr schlimm. Für Ihren Mann, aber auch für Sie. Denken Sie, es wird nötig sein, wieder in Therapie zu gehen?«

»Ich glaube nicht. Es stimmt, was Sie sagen, Herr Doktor. Diese Geschichte war wie ein Alptraum für mich. Ich konnte es zuerst nicht glauben, dann hatte ich furchtbare Angst, dass doch etwas dran sein könnte. Dafür schäme ich mich jetzt, und ich würde es Christian gegenüber am liebsten niemals erwähnen…«

»Aber Sie wollen es trotzdem tun?«

Sie nickte tapfer. »Er muss wissen, dass ich unsicher geworden bin. Wir wollen immer ganz ehrlich zueinander sein, das hat mir bisher sehr geholfen.«

»Aber könnte es in diesem Fall nicht eher schaden?«

Die junge Frau wirkte unschlüssig. »Möglich ist es schon. Ich glaube aber, dass Chris es verstehen wird. Es lag an meiner Angst, ich konnte gar nicht mehr klar denken. Es war, als hätten sich all meine Befürchtungen bewahrheitet. Es war eine furchtbare Ausnahmesituation. Und dann hatte ich Gewissensbisse, auch dem Kind gegenüber. Wäre ich stabiler gewesen, vielleicht wäre es nicht zu der Fehlgeburt gekommen.«

»Sie sind durch ein Wechselbad der Gefühle gegangen.«

»Ja, das stimmt. Aber ich durfte auch erleben, dass Chris immer zu mir gestanden hat. Wir haben uns gegenseitig Kraft gegeben. Deshalb glaube ich, dass ich die Fehlgeburt auch ohne Therapie verarbeiten kann. Zusammen können Chris und ich es schaffen.«

»Ich wünsche es Ihnen von Herzen«, versicherte Max Brinkmeier ehrlich. »Aber wenn Sie wieder Probleme haben, kommen Sie zu mir. Wir überlegen dann gemeinsam, was getan werden kann.«

»Danke für alles, Herr Doktor. Ich möchte allerdings erst wieder zu Ihnen kommen, wenn ich wieder in der Hoffnung stehe. Ich hoffe, unser Leben wird sich bald normalisieren. Das hilft mir nämlich am allermeisten.«

Max lächelte ihr aufmunternd zu. »Sie werden es schaffen. Sie sind schon sehr viel stabiler geworden…«

*

Ein paar Tage später durfte Sabine Neumann das Spital in Berchtesgaden verlassen. Ihr Mann holte sie ab, er hatte sich freigenommen, wofür der Direktor durchaus Verständnis zeigte. Während sich das Leben der Neumanns ganz allmählich wieder normalisierte, machte Peggy Andersen mit den wenig angenehmen Folgen ihrer Handlungsweise Bekanntschaft.

Peggys Eltern waren von Dr. Binder informiert worden und umgehend angereist. Das Mädchen bekam eine Standpauke von seinem Vater zu hören wie noch nie zuvor im Leben. Die Andersens waren fest entschlossen, ihre Tochter auf eine andere Schule zu schicken. So sehr das Mädchen sich auch sträubte, es schien keinen anderen Ausweg zu geben. Der Direktor stellte die Entscheidung den Eltern anheim, und diese blieben unnachgiebig. Bevor Peggy das Internat verließ, bat sie, noch einmal mit Christian Neumann sprechen zu dürfen. Der junge Lehrer zögerte, erklärte sich aber schließlich doch dazu bereit. Als Peggy dann vor ihm stand, wurde Christian klar, dass sie sich wirklich verändert hatte. Was geschehen war, hatte auch sie sehr mitgenommen. Und es schien nun offensichtlich, dass sie die Folgen ihrer Handlungsweise überhaupt nicht hatte abschätzen können. Mit gesenktem Blick und leiser Stimme bat Peggy den Lehrer: »Sagen Sie Ihrer Frau, dass es mir sehr leid tut. Ich habe das nicht gewollt. Und ich bereue auch, dass ich Ihnen solche Schwierigkeiten gemacht habe. Vielleicht werden Sie mich irgendwann nicht mehr hassen, dann bin ich schon zufrieden.«

»Ich war sehr wütend auf dich, Peggy«, gab der junge Mann da offen zu. »Und ich habe dich mehr als einmal verwünscht. Aber du sollst nicht denken, dass ich dich hasse. Du hast einen schlimmen Fehler begangen und Schuld auf dich geladen. Ich wünsche dir, dass du es schaffst, damit umzugehen. Leicht wird das nicht.«

»Ich weiß.« Sie biss sich auf die Lippen, murmelte mit brüchiger Stimme: »Ich wünschte, ich könnte alles ungeschehen machen. Leider geht das nicht. Aber ich will mich nie wieder so gehen lassen, das habe ich mir fest vorgenommen.«

Nachdem Peggy mit ihren Eltern das Internat verlassen hatte, versicherte Dr. Binder dem jungen Lehrer: »Ich habe keine Sekunde an Ihnen gezweifelt, Herr Neumann. Aber man ist doch froh, dass die Dinge nun geklärt sind, net wahr?«

Christian lächelte schmal, schenkt sich aber einen Kommentar. In den vergangenen Wochen hatte er seine Mitmenschen richtig kennengelernt. Und dass er ohne allzu große Verbitterung an das denken konnte, was hinter ihm lag, verdankte er hauptsächlich Max Brinkmeier, das war Christian Neumann nur allzu klar. Wenig später fuhr er heim und fand Sabine im Garten. Sie werkelte bereits wieder in den Beeten des Nutzgartens.

»Du sollst dich doch noch schonen«, mahnte er sie.

»Mir war im Haus fad.« Sie schaute ihn forschend an. »Ist alles wieder in Ordnung, Chris? Du schaust aus, als wäre endlich eine große Last von dir genommen.«

Er legte einen Arm um ihre Schultern, gemeinsam gingen sie zurück zum Haus. »Ja, es ist alles wieder in Ordnung. Ich bin doch froh, dass diese Peggy fort ist. Was geschehen ist, was sehr schlimm. Und sie hätte mich immer daran erinnert.«

»Es ist gut, dass sie fort ist.« Sabine lehnte den Kopf an Christians Schulter. »Und wir wollen auch nimmer über sie reden. Der Sommer ist noch lang. Vielleicht verreisen wir in den Ferien? Ein Tapetenwechsel könnte uns beiden net schaden.«

»Keine schlechte Idee. Und wer soll die Kirschen ernten?«

Die junge Frau musste lachen. »Hast recht, wir müssen unser kleines Paradies in Ordnung halten.«

»Ist es das denn noch? Unser Paradies?« Er schaute sie aufmerksam an. »Kannst es tragen, Liebes? Sei ehrlich.«

»Freilich, wennst bei mir bist, Chris, dann ist alles gut. Und ich will nie wieder Angst haben, das verspreche ich dir. Wir haben soviel zusammen ausgestanden, dass uns nix mehr passieren kann. Und wenn doch, dann stehen wir auch das noch durch.«

»Mein Engerl, ich hab’ dich lieb«, verriet er ihr da innig, und dann tauschten sie ein langes Busserl, das ihnen beiden das Herz ganz leicht und weit machte vor Glück.

*

Die Magd Lissy war weniger glücklich. Als Stefan Wilsinger ein paar Tage später seine Sachen packte, um heimzufahren, hielt sie sich von ihm fern. Sie versteckte sich in der Remise, wollte dem drohenden Abschied unter allen Umständen entgehen. Und nachdem er abgefahren war, schloss sie sich in ihre Kammer ein und weinte lange. Die Bäuerin ahnte freilich, was in Lissy vorging. Sie klopfte an ihre Kammertür und bat: »Lass mich nur eini, ich hab’ hier was für dich vom Stefan.«

Gewiss ein dummes Abschiedsgeschenk, dachte sie und rief: »Ich komme gleich in die Kuchel, Bäuerin, nur noch einen kurzen Moment!«

»Lissy, jetzt sei net stur und schließ’ bitte die Tür auf.« Tina betrat die Kammer und schüttelte leicht den Kopf. »Was bist nur für ein Dickschädel. Der Stefan hat eine geschlagene Stunde auf dich gewartet, bevor er abgefahren ist. Und weil du dich net hast blicken lassen, musste er dir einen Brief schreiben. Da.« Sie legte den verschlossenen Umschlag in Lissys Schoß und mahnte: »In einer halben Stunde brauch’ ich dich drüben in der Kuchel. Bis dahin wirst ja hier fertig sein.«

Die Magd nickte nur, starrte dabei unsicher auf den Brief. Was mochte Stefan ihr geschrieben haben? Hieß das vielleicht, dass sie ihm doch etwas bedeutete? Mit zitternden Fingern schlitzte sie den Umschlag auf und nahm einen Bogen Papier heraus. Das Herz pochte ihr unruhig im Brustkasten, während sie die Zeilen überflog, dann noch einmal gründlich las.

Liebe Lissy, stand da geschrieben. Ich hoffe, Du bist mir nicht böse, dass ich jetzt abreise. Es fällt mir ja auch nicht leicht, mich von Dir zu trennen, aber ich muss heim, alles regeln. Diese ganze Geschichte, die hat mein Leben ziemlich durcheinander gebracht. Aber sie hat mir auch gezeigt, wohin ich gehöre und wo mein Herz ist. Das möchte ich Dir aber lieber von Angesicht zu Angesicht sagen. Deshalb bitte ich Dich, noch ein wenig Geduld zu haben. In einer Woche komme ich wieder nach Wildenberg. Und dann reden wir über alles, einverstanden?

Lissy ließ den Brief sinken und lächelte versonnen. Sollte sich ihre heimliche Sehnsucht am Ende doch noch erfüllen?

Die Bäuerin wunderte sich nicht, als ihre Magd wenig später summend in der Küche erschien. »Ich dank’ dir für den Brief, Bäuerin«, sagte sie leise. »Jetzt geht’s mir wieder gut!«

»Nix zu danken, ich war ja nur die Überbringerin.« Tina legte ein wenig den Kopf schief. »Kann es sein, dass mein Gefühl richtig ist, und ich bald nach einer neuen Magd Ausschau halten muss? Das wäre mir dann allerdings leid, weil ich dich schon zu schätzen weiß, Lissy.«

»Dank schön, Bäuerin. Deshalb hast mich auch als einzige eingeweiht in die Geschicht’ mit dem Stefan, gelt?« Sie musste kichern. »Und das war ja wirklich mein Glück.«

»Des einen Glück, des anderen Leid. Und den Almkäse können wir uns auch abschminken. In dieser Saison wird es kaum noch klappen«, sinnierte die Bäuerin.

Lissy nickte, dann wurde sie auf einen Schlag ernst. »Der Stefan ist doch Lehrer. Was meinst, bin ich net zu dumm für ihn? Er schreibt, dass er mich gern hat. Aber kann das funktionieren?«

»Dumm bist ganz gewiss net, Lissy. Und es ist keine Schande, wenn man im Haushalt schafft. Eine gute Wirtschafterin ist Gold wert, das weißt schon auch. Schämen musst dich bestimmt nicht.«

So ganz schien das Madel dies nicht glauben zu wollen. Und je näher das Wochenende rückte,

desto gemischter wurden Lissys Gefühle. Immer und immer wieder las sie Stefans Brief, und wenn sie ihr Herz befragte, dann sprach es nur von aufrichtiger Liebe. Aber das Leben bestand ja nun einmal nicht nur aus der ersten Verliebtheit. Und nun, da der junge Mann sich in seinem Alltag wieder zurechtgefunden hatte, würde er da noch immer das gleiche empfinden wie in den Tagen zuvor? Lissy bezweifelte es.

Endlich kam der Samstag, und mit ihm ein Besucher auf dem Brinkmeier-Hof, der freundlich aufgenommen wurde. Stefan Wilsinger wollte sich nicht lumpen lassen und sich für all die Hilfe, die ihm in Wildenberg widerfahren war, revanchieren. Er brachte einen großen Korb voller Geschenke mit und gab zu: »Ein bissel fühle ich mich wie der Weihnachtsmann persönlich. Aber wenn ich bedenke, dass diese Geschichte auch ganz anders hätte ausgehen können, dann erscheinen mir die paar Gastgeschenke doch eher als Kleinigkeiten.«

»Eine Flasche Champagner ist keine Kleinigkeit«, urteilte Lukas beeindruckt. »Wenn ich ehrlich sein soll, hab’ ich so was noch nie getrunken. Wollen wir’s versuchen, Tina?«

Die Bäuerin wehrte ab. »Schmarrn, die heben wir uns für unseren Hochzeitstag auf. So was Gutes säuft man net eben so weg. Und wenn wir das edle Tröpferl genießen, dann denken wir an unseren besonderen Logiergast.«

»Wie ist eigentlich die Geschichte mit der Waffe ausgegangen?«, wollte der Bauer noch wissen. »Haben Sie sich da recht erinnert?«

»Freilich. Es war, wie ich es euch erzählt habe. Die Polizei war froh, die Waffe sicherstellen zu können. Die ist nämlich bei dem Banküberfall benutzt worden. Und damit konnten sie auch den Kerl überführen, der mich niedergeschlagen hat. Alle drei Bankräuber sitzen jetzt hinter Schloss und Riegel.«

»Das hört man gern.« Tina atmete ein wenig auf. »Vor allem bin ich erleichtert, dass keiner dieser Kerle in unserem Hüttel gewesen ist.«

»Und was wird jetzt aus eurem Almkäse? Habt’s den Plan endlich aufgegeben?«, wollte Lukas von seiner Frau wissen, und seine Stimme klang dabei sehr zufrieden.

»Noch net ganz. Im nächsten Jahr wird es bestimmt klappen. Ich kann mir nämlich net vorstellen, dass dann wieder jemand in unserem Hüttel kampiert. Und wenn doch, schmeiß’ ich ihn aussi«, scherzte Tina gut gelaunt. Allerdings war ihr nicht entgangen, dass ihr Gast ein wenig unruhig wurde. Und sie konnte sich gut denken, warum. »Die Lissy ist übrigens in der Kuchel. Ich mein’ nur, falls Sie sie begrüßen wollen, Stefan…«

»Danke.« Er schenkte ihr ein jungenhaftes Lächeln und verließ eilig die gute Stube.

Lukas verstand überhaupt nichts mehr. »Wieso will er denn die Magd begrüßen? Was hat das wieder zu bedeuten?«

»Mei, manchmal bist schon arg schwer von Begriff, mein Lieber. Also, pass acht, damit ich dir ein Lichterl aufstecken kann…«

Der junge Lehrer betrat die Küche, musste aber feststellen, dass sich hier niemand aufhielt. Er warf einen Blick aus dem Fenster und erkannte eine schmale Gestalt, die eben den Wirtschaftshof verließ. Stefan lächelte ein wenig. Lissy machte es ihm nicht leicht. Doch er war fest entschlossen, den Brinkmeier-Hof nicht ohne sie zu verlassen. In den ungewöhnlichen Tagen, die er in Wildenberg verlebt hatte, war das Madel ihm ans Herz gewachsen. Und seit der Trennung wusste er, dass er Lissy lieb hatte. Nun hieß es nur noch, ihr das auch klar zu machen. Denn offensichtlich glaubte sie nicht so ganz auf die Aufrichtigkeit seiner Gefühle, sonst wäre sie ihm nicht so konsequent ausgewichen…

Stefan verließ ebenfalls das Haus und folgte Lissy nach. Die Dämmerung lag bereits über dem sommerlichen Land, die Grillen zirpten und eine laue Brise brachte den Duft der frisch gemähten Wiesen mit sich. Ein wundersamer Abendfriede lag über dem Tal, die Kirchenglocken verkündeten den Feierabend und irgendwo in einem Baumwipfel sang eine Amsel ihr melancholisches Lied. Die Sonne war bereits untergegangen, die ersten Sterne flimmerten matt am klaren Himmel, die schmale Mondsichel schimmerte silbern. Es war ein Abend, wie gemacht für verliebte Herzen. Und das kam Stefan Wilsinger sehr gelegen. Er sah, wie Lissy sich auf einer Bank niederließ, die an einem Wegkreuz neben einem Marterl ihren Platz gefunden hatte. Ganz in Gedanken versunken, saß das Madel da und schrak ordentlich zusammen, als plötzlich der junge Mann neben sie trat.

»Grüß dich, Lissy, ich dachte, du wartest im Hof auf mich. Aber anscheinend kommt dir mein Besuch gar net gelegen. Hast vielleicht eine andere Verabredung heut Abend?«

»Und wenn? Was geht Sie das an?«, fragte sie distanziert.

Er setzte sich zu ihr und schaute sie offen an. »Hast meinen Brief net gelesen? Oder ist es dir anders ums Herz als mir?«

Sie wich seinem Blick aus, murmelte spröde: »Ich hab’ mich über den Brief gefreut, denn er war sehr nett. Aber ich hab’ net wirklich damit gerechnet, dass Sie es ernst meinen.«

»Aber, Lissy, hältst mich denn für einen Lügner?«

»Gewiß net!« Seine Frage erschreckte sie ehrlich. »Auf so einen Gedanken wäre ich niemals gekommen.«

»Ja, natürlich. Du hast mich ja auch net für einen Bankräuber gehalten, als ich eine Waffe im Rucksackerl hatte. Und warum?«

»Weil Sie gute Augen haben. Aber das hat nix zu sagen.«

»Lissy, nun schau mich mal an und erklär’ mir, was dich quält. Ich habe nämlich alles ernst gemeint, was in meinem Brief steht. Ich hab’ dich lieb und…« Er verstummte, denn sie legte ihm erschrocken eine Hand auf den Mund.

»Sagen Sie das nicht, es kann doch zu nix führen.« Sie stand auf, ging ein paar Schritte auf und ab und sprach dann so hastig, dass Stefan sie kaum verstehen konnte. »Ich hab’ mir viele Gedanken gemacht, über uns beide. Und ich weiß, dass es nicht gut gehen könnte. Sie sind ein Lehrer, ich nur eine Magd. Sie brauchen eine Frau, die was darstellt, die was gelernt hat und gebildet ist. Ich pass doch gar net zu Ihnen!«

»Jetzt redest wirklich einen Schmarrn daher, zum ersten Mal, seit wir uns kennen. Komm einmal und setz’ dich wieder zu mir, bitte. Und dann hörst mir gut zu.«

Sie folgte seiner Bitte nur zögernd, hielt dann auch ein wenig Distanz, so, als habe sie Angst, sich ihre Gefühle einzugestehen. Stefan nahm es hin.

»Schau, Lissy, als wir uns kennengelernt haben, da wusstest du gar nix von mir. Es wäre sogar möglich gewesen, dass ich ein Krimineller bin. Trotzdem warst freundlich zu mir und hast mir vertraut. Und jetzt hast kein Vertrauen mehr zu mir?«

»Aber das sage ich doch gar net, es ist nur…«

»Wenn ich dir versichere, dass wir zwei sehr glücklich miteinander werden können, willst mir das glauben?«

Sie senkte den Blick und murmelte: »Ich möchte schon…«

»Dann solltest es auch. Gib deinem Herzen einen Stoß und sag ja. Ich will dir beweisen, dass nur eines wichtig ist, wenn man sich lieb hat: das Herz. Und net der Verstand oder irgendwelche Äußerlichkeiten. Wenn zwei Herzen sich gut sind, dann kommt alles andere von allein, weil es ganz leicht wird.«

»Das hast schön gesagt. Aber ich kann es net recht glauben.«

»Glaub es nur, weil es stimmt.« Er nahm ihre Hand und steckte ihr behutsam einen funkelnden Ring an den Finger. »Ich hab’ dich von Herzen lieb, Lissy, und bitte dich, mir dein Leben anzuvertrauen. Ich verspreche, dich glücklich zu machen.«

»Stefan, das darfst net, ich weiß nicht…« Sie verstummte, als er sie in seine Arme nahm und ihr ein Busserl auf die weichen Lippen drückte, das mehr sagte als alle Worte. Auf einer Welle purer Seligkeit wurden da die letzten Zweifel einfach weggespült, die Lissys Herz noch unsicher gemacht hatten. Und sie empfand das wunderbare Gefühl, der wahren Liebe begegnet zu sein. Selig schmiegte sie sich in Stefans Arme und wollte nur noch glücklich sein. So saßen sie lange beisammen, waren sich selbst genug und genossen ihr Glück. Und als sie dann Hand in Hand zum Brinkmeier-Hof zurückkehrten, da wussten sie beide, dass sie von nun an ihren Lebensweg gemeinsam gehen wollten.

Dr. Brinkmeier Staffel 3 – Arztroman

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