Читать книгу Fürsten & Fälscher - Sky du Mont - Страница 5
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ОглавлениеDie Gründerzeithäuser strahlten die Noblesse der vergangenen zwei Jahrhunderte aus. Die Gegend hätte die Visitenkarte des vornehmen Hamburg sein können – und sie war absolut nicht der Ort für eine lautstarke und also gänzlich unhanseatische Streiterei.
»Dein Geld kannst du dir in die Haare schmieren!«,schrie Sophie von Biel und schob mit dem letzten Rest an Atem, den sie noch in den Lungen hatte, hinterher: »Ich komm auch ohne dich klar!« Trotzig stemmte sie ihre Hände in die Hüften und starrte ihren Vater wütend an, um so ihrer Behauptung Nachdruck zu verleihen. Sophie war eine kleine, zierliche Person. Für ihre einundzwanzig Jahre wirkte sie, trotz ihrer ausgeprägt weiblichen Figur, fast noch kindlich. Das mochte an ihren großen, braunen Augen liegen, die ihr etwas Verletzliches gaben.
Otto von Biel lachte laut auf, sichtlich unbeeindruckt vom Auftritt seiner Tochter. »Du bildest dir doch nicht ein, dass du von mir auch nur noch einen einzigen Cent bekommst! Und erwarte nicht, dass deine Mutter dir hilft.« Er drängte sie zur Tür seiner Galerie in der Johnsallee, in der Leonie von Landsburg stand und erschrocken auf die Szenerie blickte. »Von mir aus studierst du, was du willst, oder du studierst gar nichts. Wahrscheinlich ist es überhaupt besser, du suchst dir einen Job und verdienst endlich dein eigenes Geld, statt meines auszugeben.«
Otto von Biel sprach ungewöhnlich ruhig. Dass ihm der Streit mit seiner Tochter nahe ging, mochte man allenfalls daran erkennen, dass er während seiner Sätze immer wieder mit dem Kopf zur Seite ruckte, als risse von dort eine unsichtbare Hand an ihm. »Und du willst Psychologie studieren! Lächerlich. Wie wenig du bisher gelernt hast, zeigt dein Auftritt hier. Ich stehe mitten in den Vorbereitungen zu einer wichtigen Vernissage, und du eröffnest mir, sie hätten dich an der Uni rausgeworfen …«
»Exmatrikuliert, ich wurde exmatrikuliert«, ging Sophie dazwischen. Doch ihr Vater ließ sie nicht zu Wort kommen. Jetzt doch seine Stimme erhebend, warf er ihr entgegen: »Das hätten sie schon viel früher tun sollen! Sie hätten mir Jahre erspart, Jahre, in denen ich dir Geld gegeben habe.«
Leonie von Landsburg befreite sich endlich aus ihrer Starre und drehte sich in Richtung Ausgang. Das Geschrei von Vater und Tochter wurde nur durch die Geräuschkulisse der Straße gedämpft. Ein wenig ärgerte sie sich, dass sie sich mit Sophie zu einem Einkaufsbummel verabredet hatte. Der Geburtstag ihrer Großmutter stand vor der Tür, und sie hatte noch so viel zu erledigen. Ein lauter Pfiff ließ sie herumfahren. Zwei Bauarbeiter grinsten ihr anerkennend zu. Der eine tat sein Interesse mit einer eindeutig obszönen Handbewegung kund. Leonie zögerte eine kurze Sekunde, entschloss sich aber dann doch, den Männern nicht den Mittelfinger zu zeigen, sondern sich damenhaft abzuwenden. Großmama wäre jetzt stolz auf mich, dachte sie und musste lächeln. Leonie war eine schöne Frau, besonders wenn sie dies tat – lächeln. Ihr schulterlanges, blondes Haar ließ sie zarter und jünger erscheinen, jünger, als sie war. Aber es waren ihre Augen, die einen fesselten. Ein helles, strahlendes Blau, das einen Blick in ihr Innerstes versprach, und dabei zugleich eine unergründliche Tiefe erahnen ließ. Christian von Landsburg, ihr Vater, meinte, dass sie die Augen ihrer verstorbenen Mutter hatte.
Von der Rothenbaumchaussee her rauschte der Verkehr, über dem Haus kreischten ein paar Möwen, stimmlich ganz nah an Sophie, die wieder Luft geholt hatte und offenbar zum finalen Trommelfeuer ansetzte, um den Frust ihrer ganzen Kindheit loszuwerden. Leonie hörte Sophies Ausbruch bis auf die Allee. Sie hatte sich vorgenommen, hier auf ihre Freundin zu warten. Sie konnte es kaum glauben – die Biels, die zu den feinsten Galeristenfamilien in Hamburg zählten, stritten sich wie die Kesselflicker. Gut, Otto von Biel war Leonie nie sehr sympathisch gewesen. Aber genau genommen galt das für die meisten Väter ihrer Freundinnen. Er wirkte auf sie wie ein grobschlächtiger Feldwebel, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen, und dabei nicht den geringsten Zweifel aufkommen ließ, dass er erwartete, dass diese auch befolgt würden. Otto von Biel war ein groß gewachsener Mann. Seine Glatze ließ ihn älter wirken, als er war. Immer elegant gekleidet, verkörperte er den erfolgreichen aristokratischen Unternehmer. Aber es waren seine Augen, die Leonie zur Vorsicht mahnten. Er hatte kalte, fast tote Augen, die, selbst wenn er lächelte, ohne Emotionen blieben.
Mit einem Klirren schaffte es Sophie, die Glastür der Galerie hinter sich zuzuschlagen, ohne dass der hydraulische Türstopper daran etwas hätte ändern können. Irgendwie erwartete Leonie, dass der Zorn ihrer Freundin jetzt sie treffen müsse. Doch stattdessen sah sie Sophie nur tief einatmen. Für einen Moment hielt sie die Augen geschlossen – schließlich breitete sich ein Grinsen auf Sophies Gesicht aus. »O Mann«, hörte Leonie sie plötzlich sagen. »Was für ein Idiot.« Und im selben Moment wendete sie sich ihrer Freundin zu: »Warum kann man sich den Stall nicht aussuchen, aus dem man kommt?«
Christian von Landsburg traf seinen Vater im alten Gärtnerhaus an. Graf Ferdinand hatte sich dort auf Wunsch seiner Frau eine Sammlung von Gewehren angelegt. Genau genommen hatte er die Sammlung bereits vorher besessen, der Wunsch der Gräfin hatte sich eher auf die Auslagerung in den etwas entlegenen Winkel des Anwesens bezogen.
»Papa. Ich suche dich überall!«
»Es genügt, wenn du mich hier suchst, Christian.« Ferdinand von Landsburg blickte bei seiner Antwort nicht von seiner Holland & Holland auf. Dieses Gewehr pflegte er mit der Hingabe eines berufsmäßigen Auftragskillers, wie ihm sein Sohn Christian bei jeder sich bietenden Gelegenheit hintergründig versicherte. Ferdinand war trotz seiner fast achtzig Jahre immer noch ein stattlicher Mann. Sein dichtes, weißes Haar hatte er glatt zurückgekämmt, und seine blauen Augen blitzten lausbubenhaft. Ferdinand hatte sich seine Jugendlichkeit bewahrt, die ihn, gepaart mit seinem umwerfenden Charme, zu einem gern gesehenen Gast auf allen Festen machte.
»In der Tat«, entgegnete Christian, »du bist hinreichend berechenbar.« Er setzte sich auf einen der abgewetzten Ledersessel, die das Gartenhaus so gemütlich machten und vor allem bei Gästen auf der Flucht vor lästigen Smalltalks sehr beliebt waren. »Darf ich dich stören?«
Ferdinand nickte nur, während er mit einem Tuch den Lauf seines Gewehres einölte. Christian beneidete ihn insgeheim, dass er noch in seinem hohen Alter keine Brille benötigte. Er selbst brauchte sie immer häufiger.
»Es geht um Mama.«
Auf dem Tisch lag eine Packung mit Schrotpatronen. Christian nahm eines der erstaunlich schweren Geschosse heraus und betrachtete es, als habe er noch nie ein solches Teufelszeug gesehen.
»Sie hat nächste Woche Geburtstag, und ich habe nicht den blassesten Schimmer, was ich ihr schenken soll.«
Nun sah Graf Ferdinand doch auf. »Wie wäre es, wenn du ihr einen Fasan schießt oder ein paar Rebhühner?«
»Im Sinne von ›Eltern haben am liebsten etwas Selbstgebasteltes‹? Dann würde ich doch eher darauf plädieren, einen Fasan oder ein paar Rebhühner zu braten. Du weißt, wie wenig Mama für die Jagd übrig hat.«
»Wenn ich nur selbst wüsste, was ich deiner Mutter schenken soll. Der Grad meiner Verzweiflung nimmt bereits ungeahnte Formen an. Es ist jedes Jahr das Gleiche. Erstaunlich, wie wichtig ihr diese Geburtstage sind«, sagte der alte Graf, »wo sie sich doch mit zunehmendem Alter weigert, die Kerzen auf ihrer Torte zu zählen … Wobei ich zugeben muss, dass ab einem gewissen Alter die Torten mit den vielen Kerzen eher einem Fackelzug ähneln.« Er legte das Gewehr liebevoll zur Seite. »Hast du wenigstens schon eine Idee?«
»Ich dachte, vielleicht führe ich euch beide in die Oper aus.«
»Christian, bitte! Es ist der Geburtstag deiner Mutter. Warum soll ich dafür herhalten? Du weißt doch, wie ich die Oper verabscheue.«
»Wilhelm Tell vielleicht?«, sagte Christian und hielt die Schrotpatrone in den Lauf eines imaginären Gewehrs, während er über den Kopf seines Vaters zielte.
»Ich sehe schon, du kennst Wilhelm Tell nicht. Dieser Rossini hätte lieber seine Kreativität aufs Kochen beschränken sollen. Aber bevor du mich in die Oper schleppst, werde ich mir was einfallen lassen.«
»Das wäre wirklich entzückend von dir, Papa.«
»Tja, wie das eben so meine Art ist. Heute scheine ich übrigens ziemlich gefragt zu sein.« Ferdinand von Landsburg nickte zum Fenster hin, wo Christian seine Mutter mit eiligen Schritten kommen sah.
»Christian, da bist du ja!«, sagte Gräfin Francesca. Sie seufzte, noch ganz außer Atem.
Beide Männer erhoben sich aus ihren Lederfauteuils. »Was kann ich für dich tun, Mama?« Christian verneigte sich ein wenig, was in seiner Mutter immer den Verdacht weckte, er habe etwas zu verheimlichen.
»Die Frage ist, was wir deiner Freundin morgen zum Abendessen servieren können. Jacques hat uns abgesagt – Magen-Darm-Virus.«
»Nicht gerade das, was man von einem Koch erwartet«, kommentierte Christian trocken. »Ich finde sowieso, du übertreibst da völlig, liebe Mama. Warum soll uns nicht Frau Resnik etwas kochen?«
»Das Problem ist: Wir haben ganz einfach nichts da! Benno liegt mit seinen Bandscheibenproblemen im Krankenhaus. Und nach Hamburg kann ich jetzt beim besten Willen nicht mehr fahren. Ich nicht«, sagte die Gräfin und wirkte so, als hätte sie keinen Zweifel daran, dass niemand es wagen würde, ihr zu widersprechen. Francesca war eine zierliche Frau, aber ihre »italienische Nase« (wie sie selbst diese Gesichtspartie bezeichnete) und ihre dunklen Augen forderten Respekt und strahlten Autorität aus. Zumeist trug sie Kleider in gedeckten Farben, was Ferdinand vor vielen Jahren einmal zu der Frage veranlasst hatte: »Wie wirst du dich eigentlich kleiden, wenn ich mal nicht mehr bin? Wirst du dann nur noch helle Blumenmuster tragen?« Francesca hatte ihrem Mann nur einen strengen Blick zugeworfen und geantwortet: »Du gehst nicht vor mir, sondern, wenn überhaupt, mit mir. Wer weiß, was du da oben sonst wieder alles ohne mich anrichten würdest!« Dabei hatte sie einen Blick zum Himmel geworfen und zärtlich seine Hand gedrückt.
Christian blickte zu seinem Vater, der mit verschmitztem Lächeln seine erneut in die Hände genommene Flinte ein wenig hob und mit den Lippen das Wort »Rebhuhn« formte. »Okay, okay«, sagte Christian und sah den gemütlichen Samstagmorgen im Bett entschwinden. »Ich fahre morgen früh in die Stadt. Aber nur, wenn Marianne mitkommt.«
»Christian, unsere Haushälterin hat hier wirklich genug zu tun. Ich sage ihr, sie soll dir einen Einkaufszettel schreiben.«
»Nein, nein, Mama. Ich kenne das. Ich besorge alles und muss mir hinterher anhören, dass ich alles falsch gemacht habe.«
»Du wirst das schon richtig machen, mein Junge.« Sichtlich zufrieden mit sich selbst, drehte sich Gräfin Francesca mit einem aufgeräumten Lächeln auf dem Absatz um.
»Und wenn ich Leonie bitte?«
»Leonie?« Die Gräfin hielt inne und wandte ihr Gesicht den beiden Männern zu. »Abgesehen davon, dass sie garantiert statt eines Bratens eine neue, modische Jeans anschleppen würde und dass sie im Augenblick sowieso nicht da ist, kannst du ja wohl kaum erwarten, dass sie für deine Freundin einkaufen geht.«
»Mama! Ich bitte dich! Constanze Wittmann ist nicht ›meine Freundin‹ Sie ist eine Kollegin, zugegebenermaßen eine sehr attraktive Kollegin, aber eben nur das.« Christian bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sein Vater verklärt nickte, was wiederum Francesca mit einem strafenden Blick bedachte. Schnell machte sich Ferdinand wieder daran, sein Gewehr einzuölen. »Also, genau genommen ist Constanze Wittmann eine gegnerische Anwältin –und wir haben in der Sache Hadeln-Oettingen einen sehr klugen und passenden Vergleich geschlossen.«
»Und dann lädst du sie gleich zum Essen nach Hause ein?«
Christian schwieg. Manchmal war es einfach besser zu schweigen. Mama konnte so dickschädelig sein wie ein Steinbock.
»Ist sie mit den Wittensteins von Hechingen verwandt?«
»Kaum. Schließlich heißt sie nicht Wittenstein, sondern Wittmann.«
»Vielleicht mit Baron Wittmann von Wittmannsfelden!«, sagte die alte Dame. Missbilligend ließ sie ihren Blick über die säuberlich in Reih und Glied stehenden Gewehre in der Vitrine hinter Graf Ferdinand gleiten.
»Du kannst sie ja fragen, wenn sie morgen Abend bei uns ist.« Christian versuchte es begütigend.
»Also, ich werde dann Marianne bitten, dir eine Liste zu machen«, sagte sie, als hätte sie die ganze Zeit an nichts anderes gedacht. Schließlich senkte sie den Blick mit einem kleinen Seufzer in Richtung ihres Mannes: »Und, Ferdinand, lass bitte dieses schreckliche Spielzeug nicht herumliegen, wenn du damit fertig bist.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Männer.« Nunmehr gesetzten Schrittes machte sie sich wieder auf den Weg hinüber zum Gut.
Christian und sein Vater blickten ihr eine Weile hinterher, ehe sich Christian lächelnd seinem Vater zuwandte.
»Ich wusste gar nicht, dass du auch Augen für die gegnerischen Anwälte … oder Anwältinnen hast?«
»Tja, mein Sohn, man soll den Gegner immer im Auge behalten … und sie hat wirklich ausgesprochen schöne Augen.«
Beide Männer sahen sich einige Sekunden an und mussten dann laut lachen.
Sophies Wagen stand in der Feldbrunnenstraße, einen Katzensprung von der Galerie entfernt. Eigentlich war es der Wagen ihres Vaters, von ihm gekauft, auf die Firma laufend, auf die Mutter versichert. Denn obwohl sie ein Kind reicher Eltern war und von aller Welt für eine verwöhnte Göre gehalten wurde, hatte ihr Vater sie immer kurz gehalten. Das formt den Charakter, war seine Devise.
Leonie fand den Beetle ziemlich lahm, hatte aber nie etwas Derartiges gesagt. Hinter Sophies Auto stand ein Minivan. Der Fahrer ließ in diesem Augenblick den Motor an und drückte kräftig auf das Gaspedal, sodass der Motor kurz aufheulte.
»Wäre noch netter, wenn meine Karre Benzin im Tank hätte. Ich muss immer aufpassen, dass ich nicht liegen bleibe.« Sophie lachte bitter und blickte sich um, ehe sie die Tür öffnete.
»Wir können gerne auch mit meinem Wagen fahren«, sagte Leonie. Doch ihre Freundin winkte ab. »Das geht schon in Ordnung. Ein bisschen ist noch drin. Steig ein und schnall dich an.« Sie wusste, dass Leonie das gerne vergaß.
»Warte mal. Der hinter dir will auch ausparken. Lass den zuerst weg.«
Doch der Fahrer des Minivans machte keine Anstalten loszufahren.
»Typisch«, schimpfte Sophie. »Männer am Steuer.«
Als sie am Georgsplatz in die Rosenstraße abbogen, nörgelte sie weiter: »Ich hasse diese Einbahnstraßen. Einmal durch die Stadt und zurück, nur damit man dreihundert Meter vorankommt. Guckst du mal auf deiner Seite?«
»Alles frei.«
»Das alles haben sich Männer ausgedacht, die sich immer mit ihrem völlig sinnlosen Orientierungssinn profilieren wollen.«
Der Minivan, der ihnen gefolgt war, bog in die Rosenstraße ein und blieb auch hinter ihnen, als sie über den Jungfernstieg und die Dammtorstraße zum Alsterufer fuhren. Sophie schien es nicht zu bemerken. Gut, sie musste sich auf den Verkehr konzentrieren. Aber Leonie fiel es schon auf, dass die Wege sich so glichen. Sie hatte den Wagen beim Wenden in die Rosenstraße wieder gesehen und konnte ihn seither im Seitenspiegel beobachten. »Schau mal in den Rückspiegel, Sophie. Uns fährt einer nach.«
»Hm?«
»Die sind hinter uns, seit wir unterwegs sind.«
»Wer?«
»Keine Ahnung. Der Van, der hinter uns geparkt hat, als wir von der Galerie weggefahren sind. Da sitzen zwei ziemlich hippe Typen drin.«
Sophie lachte. »Die haben wenigstens Geschmack! Im Ernst, Leonie, du hörst wohl zu viele Krimigeschichten von deinem Paps, oder?«
»Vielleicht.«
Möglicherweise hatte Sophie Recht.
Sophie blickte in den Rückspiegel. »Außerdem sehe ich gar keinen Van«, sagte sie. Und tatsächlich, der Lieferwagen war verschwunden.
Es war einer dieser Tage, an denen Christian hoffte, es mögen möglichst wenige Anrufe in seine Anwaltskanzlei hereinkommen, die er zusammen mit seinem Vater auf dem in der Nähe von Hamburg liegenden Gut betrieb. Die Luft flirrte leicht, ein Windhauch trieb die Vögel vor sich her, der Sommer zeigte sein schönstes Gesicht. Christian fühlte sich an die Wochen erinnert, die er als Zwanzigjähriger im Loiretal verbracht hatte, so rein war die Luft und so ungewöhnlich klar und blau der Himmel. Sogar die Arbeit machte ihm Spaß, solange er dabei am Fenster oder, besser noch, so wie jetzt, auf der Terrasse sitzen und immer wieder einmal aufblicken und die Gedanken schweifen lassen durfte. Er bearbeitete gerade einen Adoptionsfall. Wieder einmal. Man glaubte meist, in der Kanzlei Landsburg & Landsburg an der richtigen Adresse zu sein, wenn es um Angelegenheiten des Adels ging. Was bedeutete: Erbschafts- und Familiensachen. Testamentsberatungen, Nachlassverwaltungen, Vaterschaftsklagen, Eheverträge, Scheidungen, überdurchschnittlich viele Steuer- und eben Kindschaftsverfahren. Letztere waren oft von einer gewissen Pikanterie. Denn die Annahme an Kindes statt betraf in den meisten Fällen nicht kleine Mädchen und Jungen, die Eltern dringend gebraucht hätten, sondern erwachsene Menschen in der Blüte ihrer Jahre, fast ausnahmslos Männer, die in ihrem Drang nach Höherem an die Grenzen der eigenen Herkunft gestoßen waren. Ein »von«, ein »Freiherr«, ein »Graf« – das war etwas, das mit Leistung oder Talent nicht erworben werden konnte. Das ließ sich nur durch Geburt oder Heirat einrichten. Oder eben durch Adoption.
»Christian, hast du in Sachen Handelsregistereintragung Meier & Meyer bei Gericht nachgefragt?« Graf Ferdinand riss seinen Sohn aus der leicht schläfrigen Betrachtung einer goldglänzenden Buchenkrone.
»Ich bin noch nicht dazu gekommen, Papa. Mich beschäftigt momentan diese Adoptionssache ›von Peekenbrink‹.«
»Vergiss es bitte nicht. Es wäre wirklich wichtig. Du weißt, ich kann mit diesen Amtsschimmeln nicht so recht. Du bist da viel geschmeidiger. Das muss das italienische Blut deiner Mutter in deinen Adern sein.« Ferdinand von Landsburg blickte auf seine Uhr. »Allerdings müsstest du es rasch machen. Es ist Freitag. Und um Punkt zwölf Uhr mittags gilt das Telefon am Registergericht als unrein.«
»Vielleicht wäre es ja ganz gut, deine Mandanten würden sich das übers Wochenende noch einmal überlegen? Ich meine, wer nennt denn seine Firma allen Ernstes ›Meier & Meyer‹?«
»Zwei Hamburger Kaufleute. Konrad Meier und Hans-Johann Meyer. Immerhin ein ehrlicher Name. Zwei ehrliche Namen, um genau zu sein.« Ferdinand von Landsburg blickte betont auf das Vertragswerk, das sein Sohn auf dem Schoß hielt.
»Okay.« Christian gab sich geschlagen und schwang sich auf. »Ich rufe dort an. Und du bittest Marianne, für uns hier auf der Terrasse zu decken. An einem so wunderschönen Tag sollte man nicht drin speisen.«
Ferdinand von Landsburg lächelte, nickte und machte es sich auf dem Liegestuhl bequem, auf dem eben noch Christian gesessen hatte. »Danke, Christian. Ich wusste doch, dass du deinen alten Vater nicht im Stich lässt.«
Christian betrat den kleinen Salon durch die Flügeltür. Im Haus war es kühler als draußen. Auch mussten sich seine Augen erst an das gedämpfte Licht gewöhnen.
Vielleicht sollten sie morgen hier zu Abend essen, dachte er. Der kleine Salon war freundlicher eingerichtet als das ziemlich strenge Speisezimmer mit seinen Kommoden, Wappen und den etwas zu dunklen Stillleben, aus denen einen beim Essen tote Hasen- und Rehaugen anglotzten. Ja, er würde Marianne, der Haushälterin, gleich nach dem Telefonat Bescheid geben.
Wie er erwartet hatte, war am Registergericht schon wenige Minuten vor zwölf niemand mehr zu erreichen. Früher hatte man mitunter die Chance gehabt, noch den einen oder anderen Gerichtsdiener aufzuscheuchen, indem man das Telefon so lange läuten ließ, bis irgendjemand ranging, um der Sache ein Ende zu bereiten. Aber seit die moderne Technik dafür gesorgt hatte, dass durch einen einfachen Knopfdruck Klingeltöne abzuschalten waren, und überdies Displays anzeigten, ob der Anrufer ein Kegelbruder war oder doch nur ein lästiger Anwalt, konnte man selbst zu den guten Zeiten kaum noch jemanden erreichen, wenn der nicht wollte. Und an diesem schönen Freitagmittag wollte offenbar niemand mehr Dienst tun. Auch ein Versuch über die Zentrale blieb erfolglos.
Christian von Landsburg ging wieder zur Terrasse, wo er in der Tür stehen blieb. Graf Ferdinand war eingeschlafen. »Meier & Meyer« mussten ohnehin warten. Christian legte seine Akte zur Seite. Eigentlich konnten sich auch die alte Gräfin Peekenbrink und ihr zukünftiger Adoptivsohn, der achtundfünfzigjährige Honorarkonsul von Trinidad und Tobago, Johann Kappler, noch etwas gedulden, ehe sie sich in Vorfreude auf die zukünftige familiäre Liebe um den Hals zu fallen vermochten. Denn vor dem Notartermin in einer Woche und dem anschließenden Stelldichein auf dem Standesamt würden weder der Titel noch die fünfhunderttausend Euro, die Konsul Kappler dafür zu berappen bereit war, die Seiten wechseln. Christian sah auf den Vertrag hinab: 168 Seiten –; eine Adoptionsvereinbarung wie eine Firmenübernahme. Dabei ging es nur um Geld und Eitelkeiten. Kein Arbeitsverhältnis galt es zu übernehmen, keine Lieferantenverträge, keine Verbindlichkeiten und keine Betriebsrentenkasse. Immerhin, die alte Gräfin Peekenbrink konnte das Geld gut brauchen. Seit sie ihr Anwesen hatte verkaufen müssen, lebte sie in einer Stadtwohnung, die sie sich auch kaum leisten konnte. Früher hatte man sich gelegentlich auf einer Veranstaltung oder einem Treffen der weitläufigen Familie gesehen. Doch das war längst vorbei. Und diese Adoptionsgeschichte würde den Rest dazu tun, dass man die Gräfin nicht mehr in den so genannten besseren Kreisen einlud.
Christian wischte die Gedanken an die alte Dame beiseite,wies Marianne wegen der morgigen Mahlzeit an und ging nach oben, um sich umzuziehen. Es war ein Tag zum Reiten. Heute wollten nicht nur die Pferde bewegt werden, sondern auch die Stubenhocker. Und das war er zweifellos geworden, ein richtiger Stubenhocker. Ein paar Pfund abzunehmen wäre nicht das Verkehrteste. Christian wirkte durch seine stattliche Größe aber immer noch schlank und sportlich. Sein graues Haar stand im Gegensatz zu seinem Temperament, das jugendlich geblieben war. Dadurch war es schwer, sein wahres Alter einzuschätzen. Er konnte in einem Augenblick albern sein, und im nächsten Moment schien sich ein Schatten der Melancholie über sein Gemüt zu legen.
Kritisch steckte er einen Daumen zwischen Gürtel und Hosenbund. Ja, er hatte wieder zugenommen. Christian beschloss, sich einmal wieder so richtig zu quälen und die große Tour zu unternehmen, die hinter den Wäldern ein Stück weit hinein ins Herzogtum Lauenburg führte. Auf schmalen und anstrengend zu reitenden Wegen würde es dann zurückgehen. Erst am Abend wäre er wieder daheim.
Vor der Box seines Rappen Tarrass ertappte er sich dabei, wie seine Augen nach links wanderten, wo die Stute Fiammetta stand. Fiammetta war ein kräftiges Pferd von hohem und schlankem Wuchs, auf dem seine verstorbene Frau Marie-Louise stets bewundernde Blicke auf sich gezogen hatte. Leonie ritt heute gelegentlich auf der Stute – und sie sah ihrer Mutter dabei so ähnlich, dass sich sein Herz bei diesem Anblick stets zusammenzog. Seit der Stallknecht Benno nach einem unglücklichen Sturz von einem der Rappen mit schweren Bandscheibenproblemen in der Klinik lag, bemühte sich Leonie nach Kräften, die Tiere zu bewegen. Christian atmete tief durch und führte Tarrass nach draußen, wo die Sonne langsam begonnen hatte, in den Nachmittag zu kippen.
Es war alles da, was Rang und Namen hatte. Dabei war der Künstler weithin unbekannt, und kaum einer der Gäste hätte ein Bild von ihm unter anderen Umständen erkannt. Blöck war sein Name. Eigentlich BLÖK. Christian fragte sich, ob das ein Künstlername war oder ob der Mann wirklich Blök hieß. Einen Vornamen hatte er offenbar nicht.
Es war die erste Einzelausstellung von BLÖK in Hamburg, wie die Gäste anlässlich einer kleinen, launigen Rede des Galeristen Otto von Biel erfuhren. »Wir sind stolz darauf, diesen einzigartigen Meister für den hohen Norden entdeckt zu haben.« Von Biel seifte die Besucher der Vernissage ein. »Er bringt die Farbtupfer in unsere Stadt, die bisher gefehlt haben.«
Christian sah sich um und entdeckte an den Wänden hauptsächlich grau in grau gehaltene Collagen, durch die sich kaum je ein bunter Streifen zog. Er musste innerlich lachen: Was BLÖKs Bilder am meisten abging, waren wohl Farbtupfer. Dabei waren einige Exponate dabei, die jedes Museum für moderne Kunst zweifellos geschmückt hätten.
»BLÖKs existenzialistischer Zugang, seine seelische Paraphrasierung des Optischen und die aus der Quintessenz der Postmoderne geborenen Traumchiffren, eigentlich seit Jasper Johns und Willem de Kooning, treffen direkt ins Herz!« Kaum zu glauben, dass der Gastgeber solche Sätze frei sprechen konnte. Der Mann neben Christian verdrehte die Augen und schüttelte dann den Kopf, den er im Laufe der weiteren Rede gesenkt hielt.
»Vergeblich suchen wir Funktionalismen oder gar retrospektiv angelegte Konkretisierungen. Stattdessen: Klarheit, Reinheit, Purismus fast – und die Gewissheit, Kunst zu erleben, die auf den Punkt kommt.«
»Was man von der Rede nicht behaupten kann.« Christian sagte das mehr zu sich und bemerkte, dass sein Nachbar grimmig nickte. »Aber eines muss man Biel zugute halten. Er hat eine echte Entdeckung gemacht. Der Künstler ist wirklich gut.«
»Finden Sie?« Der Mann neben ihm fiel nicht in den allgemeinen Applaus am Ende der Rede ein.
»Offensichtlich meinen das auch andere«, sagte Christian. »Und ich muss Biel Recht geben. Ich habe lange nicht mehr so Gutes gesehen.«
»Das ehrt mich.«
»Ach.«
»BLÖK. Angenehm.«
»Ganz meinerseits! Und entschuldigen Sie bitte …«
»Wofür? Sie haben doch nur Gutes über mich gesagt. ›You made my day‹, wie es so schön heißt.« Sie gaben einander die Hand. BLÖK war vielleicht einen Meter sechzig groß, sehr drahtig und kaum anders gekleidet als die Mehrheit der Männer, die sich zur Kunstgemeinde der Stadt zählten: schwarzer Anzug, schwarzer Rollkragenpullover, Ring am kleinen Finger – in seinem Fall auch schwarz.
»Ich sehe, Sie haben sich schon miteinander bekannt gemacht?« Otto von Biel trat dazwischen. »Wenn Sie erlauben.« Er wandte sich knapp an Christian, der ihm sichtlich fremd war. »Dann würde ich unseren Künstler nun ein wenig herumreichen.« Das sollte wohl nonchalant erscheinen, aber es klang nur peinlich. Und BLÖK hatte es seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen auch so aufgefasst. »See you«, warf er Christian noch zu und tauchte im Kielwasser des Galeristen Otto von Biel in die dicht gedrängte Masse aus feiner Gesellschaft, Häppchen und Sektflöten ein.
»Na, amüsierst du dich gut, Paps?« Wie aus dem Nichts stand plötzlich Leonie neben Christian und hielt ihm ein Glas hin.
»Danke. Dir ist klar, dass ich nur deinetwegen hier bin?«
»Sei kein Frosch! Ich freue mich, dass du dir die Zeit genommen hast. Gefallen dir die Bilder?«
»Absolut. Die Bilder sind gut, sehr gut sogar. Aber ich würde sie mir eigentlich lieber ohne dieses Schickimicki-Theater anschauen.« Er machte eine weit ausladende Armbewegung, die die ganze Kunstgemeinschaft umfasste.
»Du hast eben nicht die richtige Einstellung«, konstatierte Leonie. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Trotzdem lieb, dass du gekommen bist.« Und damit drehte sie sich wieder von ihm weg und hakte sich bei ihrer Freundin Sophie unter, der er die Einladung vermutlich zu verdanken hatte.
Wenigstens hatte er nun etwas zu trinken bekommen, ohne sich von seinem Platz an der Balustrade entfernen zu müssen, der ihm einen guten Blick verschaffte und weit genug vom Epizentrum des Events lag. Wahrscheinlich war der halbe Kollegenkreis anwesend – niemand kaufte in der Hansestadt so konsequent Kunst wie die Anwaltschaft. Bei alldem, was hier in den Büros auf Kosten des Finanzamts herumhing, hätte man gut und gerne ein »Hamburger Museum der vereinigten Kanzleien« gründen können. Dann waren da natürlich auch noch die Ärzte und ihre plastisch optimierten Gattinnen. Und Kaufleute. Der eine oder andere Reeder. Selbstverständlich Verleger, Kuratoren, Fundraiser und Lobbyisten. Ebenso ein wenig Fernsehprominenz, die für die Presse unverzichtbar war, weil sonst keine Fotos in die Tagespresse kämen. Und: Bernice Alper!
Sie entdeckten einander gleichzeitig. Wie an unsichtbaren Fäden gezogen trafen sich ihre Blicke. Ein Lächeln flammte in Bernices Gesicht auf, vielleicht auch in Christians. Darüber konnte er aber in diesem Augenblick nicht nachdenken. Wahrscheinlich sehe ich wie ein Idiot aus, dachte Christian, als ihm klar wurde, wie überrascht er war und dass man ihm das sicher ansehen musste.
Bernice Alper machte ihm ein Zeichen, dass sie zu ihm auf die Balustrade kommen würde, und schon drängte sie sich durch die Menge. Sie trug ein schwarzes Cocktailkleid, das ihren Körper zu liebkosen schien. Christian hatte vergessen, was für eine atemberaubende Frau sie war. »Bernice!« Er strahlte sie an.
»Christian!« Sie schob eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und hielt ihm die Wange hin, die er nach einem ganz kurzen Zögern küsste. »Das macht man hier so«, erklärte sie. Christian glaubte, einen leichten Anflug von Röte in ihrem Gesicht zu erkennen. »Wie geht es Ihnen?«
»Waren wir nicht beim ›Du‹?«
»Voilà!«
»Voilà!« Christian hielt einen vorbeieilenden Kellner auf, um sein halb leeres Glas abzustellen und zwei frische Gläser Champagner vom Tablett zu nehmen. »Auf dich, Bernice. Ich freue mich, dass wir uns wieder einmal sehen. Und an so unvermutetem Ort. Kennst du den Künstler?«
»Nein.« Bernice Alper lächelte. »Mich hat die Dame des Hauses eingeladen, Margareta von Biel.«
»Dann bin ich ihr wirklich zu Dank verpflichtet.«
»Ich habe dich vorhin mit einer bildschönen jungen Dame gesehen.« Sie warf einen suchenden Blick in die Runde.
»Meine Tochter. Sie war es, die mich überredet hat, hierher zu kommen«, erwiderte Christian. »Zum Glück …«
»Da bin ich eigentlich ihr zu Dank verpflichtet.«
Beide sahen sich einen Augenblick lang stumm an.
»Ah, da kommt Leonie gerade! Bernice, darf ich dir jemanden vorstellen? Das ist Leonie, meine Tochter. Leonie, das ist Bernice Alper …«
»Sind Sie mit dem üblen Paparazzo-Fotografen verwandt, der letztes Jahr bei uns ermordet worden ist?« Seine Tochter fiel ihm ins Wort.
»Leo, bitte!«
»Entschuldige, Paps. Ist mir so rausgerutscht«, sagte Leonie. Sie wandte sich wieder Bernice Alper zu. »Ich meine den Kunstfotografen, der letztes Jahr so tragisch und grausam bei einem Wohltätigkeitsfest meiner lieben Großmutter ums Leben gekommen ist?« Die Ironie in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Ich bin seine Schwester.«
»Oh, das tut mir Leid«, stammelte Leonie. »Aber eigentlich tut es mir nicht wirklich Leid. Ich meine: Mir tut es nicht Leid, dass Sie seine Schwester sind. Sondern dass er Ihr Bruder war. Ach, Sie wissen schon, was ich meine …«
Bernice Alper nickte nur. Klar, sie wusste schon.
»Ja, also, ich muss noch eine Runde drehen«, stotterte Leonie.
»Geh nur«, sagte Christian. »Und nimm dein Fettnäpfchen gleich mit.« Anschließend entschuldigte er sich bei Bernice: »Ich fürchte, Erziehung ist nicht meine Stärke. Und nun ist es wohl zu spät dafür.«
Bernice zog die Augenbrauen hoch und blickte ihn ein wenig spöttisch an. »Ich hätte schwören können, du hattest eine hervorragende Erziehung.«
»Nein, ich meine natürlich Leonie, das heiß … Was ich sagen will …« Und es klang so sehr nach Leonies verzweifeltem Versuch der Anteilnahme, dass sie beide lachen mussten und alle Befangenheit dahin war.
Als zwei Stunden und einige Champagnergläser später die kunstinteressierte Gesellschaft sich langsam zu lichten begann, empland es auch Christian an der Zeit für das obligatorische »Tja«.
»Tja«. sagte auch Bernice Alper. Sie stellte fest, dass sie sich den ganzen Abend nicht von Christian von Landsburg fortbewegt hatte. Als gehörten sie zum Inventar, hatten sie an der Balustrade gestanden und dem Treiben zugesehen, hatten sich der Aufmerksamkeit eines besonders zuvorkommenden Obers erfreut und auch eine kleine Weile dem Künstler höchstpersönlich Asyl gewährt, als dieser sich kurzfristig der Society entziehen konnte – eine gute Gelegenheit für Christian, den Meister des Abstrakten einzuladen, seine Werke auch auf Gut Landsburg auszustellen. Für Mama würde das eine ideale Idee für eine Wöhltätigkeitsveranstaltung ergeben, wenn sie einige Bilder mit einem kleinen Gewinn für ihre Stiftung versteigern lassen konnte. Vielleicht könnte man ihn auch für die anstehende Geburtstagsfeier der Gräfin gewinnen. Für BLÖK würde sich daraus der Zugang zu einer neuen Klientel entwickeln können, einer potenziellen Käuferschaft, die weniger auf Vernissagen und in Galerien, dafür aber häufiger in Auktionshäusern anzutreffen war.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich heute Abend so gut unterhalten würde, Bernice.«
»Ich schätze, das war ein Geschäft auf Gegenseitigkeit.«
Da kam Christian etwas in den Sinn. »Sag mal, Bernice, hast du morgen Abend schon etwas vor? Falls nicht: Vielleicht hättest du Lust, zu uns zum Essen zu kommen. Ich würde mich sehr freuen.«
Bernice Alpers Pupillen wirkten seltsam groß, und ihr Lächeln schien auf reizvolle Weise nachdenklich. »Gerne«, sagte sie leise.
»Schön.« Auch Christian von Landsburg senkte seine Stimme. »Und ich verspreche dir, dass ich Leonie einen Maulkorb umhängen werde …«
Am Samstag waren Wolken aufgezogen und hatten sich zu einem düsteren Bild verdichtet. Schon beim Einkauf am Vormittag hatte Christian häufiger einen besorgten Blick in Richtung Himmel geschickt. Doch es blieb trocken. Erst als von der nahe gelegenen Bundesstraße laut hupende Fußballfans zu hören waren, zuckten hin und wieder Blitze übers Land.
Christian sah auf die Uhr: kurz vor sechs. In einer guten Stunde erwartete er Constanze Wittmann, gegen halb acht Bernice Alper, die angerufen hatte, dass sie sich etwas verspäten würde. Christian fragte sich, ob es richtig gewesen war, im kleinen Salon decken zu lassen.
»Gott, Junge, du bist ja noch gar nicht angezogen!« Die Gräfin echauffierte sich. Aus unerklärlichen Gründen pflegte sie bei derlei Anlässen stets in größte Aufregung und betriebsame Hektik zu verfallen.
»Ich finde, das englische Jackett passt ganz gut zum Anlass.«
»Papperlapapp! Du willst doch wohl nicht etwas zum Diner tragen, was dein Vater allenfalls zur Jagd anzieht. Überhaupt: Trägst du keine Krawatte?«
»Mama.« Christian von Landsburg versuchte es nun sanftmütig: »Es ist eine ganz unformelle Einladung. Da besteht kein Krawattenzwang.«
Francesca von Landsburg ordnete den Tisch neu, ohne dass Christian am Ende hätte sagen können, was sich dadurch verändert hätte. Sie schüttelte den Kopf über so viel kindliches Unverständnis. »Christian, eine Einladung ist nie unformell. Unformell sind spontane Treffen oder – noch unpassender – spontane Besuche. Einladungen bedeuten, dass man die Gegenwart des Gastes schätzt. Und das muss man ihm auch zeigen, indem man sich entsprechend kleidet.«
»Wo hast du das denn gelesen? Es klingt wie ein Kapitel aus ›Knigge für kleine Anlässe‹ von Siglinde Gräfin Sondergeld.«
»So etwas muss man nicht lesen, Junge. Es entspricht dem gesunden Menschenverstand und dem Anstand.«
»Mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass dieses Jackett hier genau das Richtige ist, liebe Mama.«
Constanze Wittmann fuhr im nachtblauen Cabrio vor. Erste dicke Regentropfen fielen auf die Armaturen, bevor sie das Verdeck schließen konnte. Weniger Glück hatte Bernice Alper, die um Viertel vor acht eintraf, als es bereits wie aus Eimern goss. Trotz ihres geschlossenen Wagens und eines mit einem überdimensionierten Regenschirm wartenden Gastgebers wurde sie nass und musste sich für eine kurze Weile in ein Badezimmer zurückziehen.
»Christian, kann es sein, dass Leonie noch unterwegs ist?« Gräfin Francesca sorgte sich.
»Da sie nicht hier ist, wird es wohl so sein. Aber keine Sorge, Mama.« Christian versuchte sie zu beruhigen. »Wahrscheinlich schläft sie bei ihrer Freundin Sophie.«
»Sagen Sie, liebe Frau Wittmann, was war das für ein Fall, in dem Sie diesen legendären Vergleich mit Christian geschlossen haben? Er erzählt ja immer nur das Wie, aber nie, worum es dabei gegangen war.« Ferdinand von Landsburg bemühte sich, dem Gespräch eine weniger private Komponente zu geben.
»Tja.« Constanze Wittmann räusperte sich. »Vielleicht liegt es daran, dass er es mit der anwaltlichen Schweigepflicht sehr ernst nimmt?«
Als das Gewitter einsetzte, waren Leonie und Sophie kurz hinter Schönningstedt unterwegs. Von einzelnen taghellen Blitzen abgesehen, war es tiefste Nacht, obwohl es kaum halb acht abends war. Und das mitten im Sommer. Es war auch deshalb dunkel, weil es hier draußen auf den Landstraßen keine Straßenbeleuchtung gab. Leonie wünschte, sie hätte Sophie überreden können, nicht nach Grande zu fahren, nur weil es dort einen »jungen wilden« Koch gab, der mit wirklich abgefahrenen Kreationen von sich reden machte. Aber Sophie war absolut begeistert gewesen von der Idee. Der Regen peitschte über die umliegenden Weiden und den nahen Sachsenwald hinweg, dass kaum der nächste Straßenpfosten zu sehen war.
»Findest du nicht, wir sollten umkehren? Ich meine, das ist doch bescheuert bei dem Wetter.«
»Hör mal! Brenners Sauerkraut-Mango-Strudel schmeckt bei jedem Wetter!« Sophie kniff die Augen zusammen, und Leonie fragte sich, ob das nur wegen der Dunkelheit und der schlechten Sicht war oder ob sie womöglich ihre Kontaktlinsen nicht eingesetzt hatte.
»Na ja, dann könnten wir auch bei schönerem Wetter fahren.«
»Aber ich hab doch einen Tisch reserviert.« Das klang nun genervt. Leonie beschloss, lieber nichts mehr zu sagen. Sie starrte in die Dunkelheit und wartete, wann das erste Reh im Scheinwerferkegel stehen würde. Aber vielleicht verkrochen sich die Tiere ja schlauerweise bei solchem Wetter im Unterholz und trieben sich nicht so blödsinnig wie sie beide auf der Straße herum.
Immerhin, sie waren nicht die einzigen Menschen, die sich bei diesem Wetter am Samstagabend auf einer Landstraße befanden. Seit einiger Zeit beobachtete Leonie die Lichter eines Wagens, der ihnen folgte. Eigentlich registrierte sie nicht die Scheinwerfer, sondern den Lichtstreifen, der vom Rückspiegel auf Sophies Augen fiel. Wahrscheinlich hätte sie gar nicht bemerkt, dass Sophie die Augen zusammenkniff, wenn sie nicht diesen Lichtfetzen über den Augen gehabt hätte. Der Typ fuhr vermutlich mit Fernlicht.
»O Gott!«, sagte Sophie plötzlich.
»Was denn?« Leonies Worte klangen heftiger als sie wollte. Das Wetter. Die Dunkelheit um diese Uhrzeit. Das setzte ihr zu.
»Ich glaube, wir haben nicht mehr genug Benzin!«
Tatsächlich ruckelte das Auto ein wenig. Leonie hätte das vielleicht für eine buckelige Straße gehalten. Aber jetzt, wo Sophie es sagte … Sie lauschte. Doch der Sturm verursachte einen Lärm, dass man kaum sein eigenes Wort verstand. Ein Motorengeräusch war da beim besten Willen nicht auszumachen. Leonie beugte sich zu ihrer Freundin. Tatsächlich: Die Tankanzeige war tief im roten Bereich. »Mensch, Sophie!« Leonie schrie fast. »Du kannst doch nicht mitten in der Nacht beim größten Sturm in die Pampa fahren – und dann bleiben wir liegen!«
»Also, erstens ist es gar nicht mitten in der Nacht …« Sophie knurrte das mehr, als dass sie es sagte. »Zweitens hab ich den Sturm nicht bestellt. Und drittens …«
»Drittens, was?«
»Drittens sind wir noch nicht liegen geblieben.«
»Wahnsinnig beruhigend.« Leonie stellte das sarkastisch fest und blickte wieder in den Seitenspiegel. »Aber sag mal, wieso hast du nicht getankt?«
»Getankt?« Sophie lachte laut auf. »Womit denn? Schon vergessen – ich bin pleite. Keine Knete.«
»Mensch, Sophie, ich glaub’s nicht. Wieso fahren wir dann zu irgend so einem piekfeinen Schnösellokal in die Prärie? Das müssen wir doch auch bezahlen. Beziehungsweise du wolltest dafür löhnen.« Schließlich saß sie hier, weil Sophie sie eingeladen hatte.
»Wenn ich das zahlen müsste, müsstest du ziemlich lange warten, bis ich dir Brenners Sauerkraut-Mango-Strudel präsentieren könnte. Das geht nur, weil es das Lieblingslokal meines alten Herrn ist. Geschäftsessen, du weißt schon.« Sophie grinste breit. »Hab den Tisch von der Galerie aus reserviert. Per Fax. Offizielles Briefpapier. Rechnung bitte an die Firma.« Sie schnalzte mit der Zunge. Auch das Auto schnalzte irgendwie, sodass Sophies Grinsen erstarrte. »Scheiße.«
Leonie spürte, wie es plötzlich nur noch ruckartig voranging. Wieder schielte sie auf die Tankanzeige: Die Nadel klebte am Anschlag. Die Scheibenwischer klappten wie verrückt hin und her. Sichtweite vielleicht zwanzig Meter. Eher zehn. Der Typ hinter ihnen hielt sich wahrscheinlich nur so eng an ihrer Stoßstange, weil er auf die Fahrkünste seines Vordermannes vertraute.
»Komm, lass uns anhalten. Das ist doch Wahnsinn. Man sieht jetzt fast nichts mehr in diesem Regen.«
Doch Sophie hörte sie nicht oder wollte sie nicht hören, sondern fuhr stur geradeaus, bis plötzlich der Motor ausging und sie den Blinker nach rechts setzte, um an den Straßenrand zu rollen. »Over«, sagte sie.
Leonie atmete auf. Das Gewitter konnte nicht ewig dauern. Besser hier eine Stunde oder zwei festsitzen, als im Straßengraben zu landen.
Der Wagen, der hinter ihnen gefahren war, glitt an ihnen vorbei, scheinbar lautlos, weil der Regen jedes andere Geräusch restlos schluckte. Leonie sah plötzlich die Bremslichter rot aufleuchten.
»Mensch, guck mal, der hält an. Vielleicht will er uns helfen!«, rief Sophie.
»Hör mal, hier ist nicht Sibirien. Die nächste Ortschaft ist vielleicht fünf Kilometer entfernt. Wieso soll uns der bei dem Wetter helfen? Außerdem: Woher will er überhaupt wissen, dass wir eine Panne haben? Vielleicht hast du ja bloß angehalten, weil es wie aus Kübeln gießt …«
Tatsächlich war das andere Auto nicht weitergefahren. Die Rückleuchten, die, vom schemenhaften Umriss des Fahrzeugs abgesehen, als Einziges zu sehen waren, hatten ihren Abstand nicht vergrößert.
»Der will uns doch helfen«, sagte Sophie und öffnete ihre Tür. »Vielleicht hat er auch ’nen Benzinkanister dabei.«
»Du wirst doch bei dem Regen nicht …«, wollte Leonie einwenden. Aber Sophie war bereits auf der Straße und mit zwei, drei großen Schritten in der Nacht verschwunden. Leonie konnte nur vage Gestalten in der Nähe des Wagens ausmachen, der vielleicht fünfzehn Meter von dem Beetle entfernt stehen mochte. Sie schienen sich hektisch zu bewegen Es sah aus, als würde sich einer von den beiden den Mantel über den Kopf ziehen. Leonie kniff die Augen zusammen und Versuchte, mehr zu erkennen. Jetzt schienen sich alle zu bücken, auch Sophie. Dann standen plötzlich nur noch zwei Personen da, ohne dass Leonie jemanden hätte im Auto verschwinden sehen. Wenn nur dieser Wolkenbruch nicht gewesen wäre! Leonie wartete.
Es dauerte weniger als eine Minute, bis sie bemerkte, dass sich etwas tat: Die Rückleuchten des fremden Fahrzeugs setzten sich erneut in Bewegung. Zu Leonies Verblüffung entfernten sie sich. Und es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis ihr klar wurde, dass daran etwas faul war. Sophie war nicht zurückgekommen! Leonie starrte in die Dunkelheit und in den Regen. Endlich, zum ersten Mal seit langem, erhellte wieder ein Blitz die viel zu frühe Nacht – und Leonie war, als würde ihr das Blut in den Adern gefrieren. So weit sie sehen konnte, war die Straße leer. Kein Auto. Kein Mensch. Nichts. Vor allem: keine Sophie.
»Sophie!« Leonie warf sich aus dem Wagen und hatte das Gefühl, als würde sie in Wasser springen. Binnen Sekunden war sie nass bis auf die Unterwäsche. Sie stolperte ein paar Schritte ins Leere, nur dürftig erhellten die Scheinwerfer von Sophies Auto die Straße. Immerhin: Während man von innen kaum etwas erkennen konnte, war hier draußen die Sicht besser. Leonie schaute die Straße rauf und runter. Sie waren in einem kleinen Waldstück liegen geblieben. Zu beiden Seiten ragten schwarze Bäume auf und verstärkten die gespenstische Szenerie. Mit viel Fantasie konnte man vielleicht in der Ferne einen winzigen Lichtstreifen erkennen, der ein Ende dieser Sintflut bedeuten mochte. Die Regentropfen, die ihr ins Gesicht peitschten, vermischten sich mit ihren Tränen. Leonie hatte Angst: Sophie Astrid Antonia von Biel war verschwunden.
Das Telefon hatte zum zweiten Mal geläutet. Doch auch diesmal konnte Christian von Landsburg kaum etwas verstehen. Vermutlich war es Leonie, die am anderen Ende der Leitung von ihrem Handy aus telefonierte. In diese wacklige Verbindung mischte sich ein undefinierbares Pfeifen und Brummen. Christian hatte kein gutes Gefühl. Was mochte so dringend sein, dass Leonie ihn trotz eines Funklochs unbedingt erreichen wollte? Die kurzen Wortfetzen, an denen er ihre Stimme zu erkennen glaubte, klangen außerdem aufgebracht oder aufgeregt – jedenfalls ließen sie nicht Leonies übliche Lässigkeit erkennen, mit der sie ihrem Vater gegenüber aufzutreten pflegte.
»Etwas Wichtiges?«, fragte Graf Ferdinand.
»Wenn ich das wüsste.« Nachdenklich nahm Christian einen Schluck von dem Portwein. »Leonie bekommt keine gescheite Verbindung her. Ich hab’s auch schon umgekehrt versucht. Aber das klappt überhaupt nicht.«
»Ich finde es ziemlich schrecklich, dass jeder Mobilfunkanbieter für einen Euro Verträge anbietet, aber das Netz nicht weiter ausgebaut wird«, bemerkte Constanze Wittmann. »Und außerdem zeugt es von keinem guten Benehmen, sein Handy in Gesellschaft dabeizuhaben. Ich meine, damit stört man doch nur! Ständig läutet das Ding. Schrecklich!«
»Schrecklich« war ihr Lieblingswort. Im Grunde fand sie alles schrecklich, und Christian fragte sich, wie er sie nur hatte einladen können. Gewiss, Constanze Wittmann war die vermutlich attraktivste Kollegin, die Hamburg zu bieten hatte, aber es fiel ihm auf, dass sie im privaten Kreis ein wenig affektiert wirkte – um es vorsichtig auszudrücken. Ständig warf sie ihre langen blonden Haare von links nach rechts und umgekehrt oder drehte die Spitzen kleinmädchenhaft über den Finger; eine Marotte, die Christian seiner Tochter schon vor zehn Jahren mit viel Geduld abgewöhnt hatte.
Bernice Alper lächelte verständnisvoll, aber, wie es Christian schien, auch ein wenig skeptisch. Sie sagte jedoch nichts dazu, wie sie überhaupt den Abend über eher schweigsam gewesen war, als hätte sie die Tischgesellschaft nur beobachtet. Wahrscheinlich hat sie uns alle heimlich analysiert, dachte Christian.
Plötzlich begann ein Handy zu läuten. Offensichtlich kam das penetrante Fiepen aus Constanze Wittmanns Handtasche. Verlegen versuchte sie das Gerät in ihrer großen Tasche zu lokalisieren, was ihr auch nach einigen peinlichen Sekunden gelang. Sie lächelte etwas gequält, nahm das Gespräch an und ging auf den Flur hinaus, um in Ruhe zu telefonieren. »Ich fürchte, dass ich mich verabschieden muss«, sagte sie, als sie nach kurzer Zeit wieder hereinkam. »So schön der Abend auch war. Ein Notfall, ein Mandant, der sofortiger Hilfe bedarf. Tja, man ist sozusagen immer im Dienst.«
Gräfin Francesca klingelte nach der Haushälterin. »Marianne, seien Sie so gut und sehen Sie doch einmal nach, ob es noch so schrecklich regnet.« Bei dem Wort »schrecklich« wanderten ihre Augen kurz zu Constanze Wittmann, die eben dabei war, sich wieder eine Strähne aus der Stirn zu streichen.
»Es hat ein wenig nachgelassen, gnädige Frau.«
»Nicht, dass wir Sie in die Sintflut entlassen wollen, meine Liebe.« Die alte Gräfin und neigte sich gnädig zu der Besucherin hin. »Sonst hätten Sie bei uns übernachten können.«
»Das können Sie auch so!«, sagte Graf Ferdinand. »Wann immer Sie wollen.«
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen. Aber ich denke, ein bisschen Regen wird mir nichts ausmachen.« Constanze Wittmann bedankte sich für die Einladung, verabschiedete sich und wurde von Christian noch zur Tür begleitet. Er war kaum wieder im kleinen Salon, als das Telefon erneut klingelte. Doch noch ehe Marianne am Apparat war, war es schon wieder verstummt. Christian, der auch von seinem Platz aufgesprungen war, fragte, ob jemand gerne noch einen Digestif hätte. »Um ehrlich zu sein«, meinte Bernice Alper, »ich würde meinen Portwein gerne gegen etwas weniger Süßes eintauschen, vielleicht etwas Trockenes?«
»Christian, warum gibst du Frau Alper nicht ein Glas von meinem Sherry? Er steht nebenan in der Bibliothek«, empfahl Graf Ferdinand.
»Wie wär’s mit einem Sherry?«
»Gute Idee.«
Christian ging nach nebenan, nicht ohne zuvor noch ein Sherryglas vom Bartisch mitgenommen zu haben.
»Aber nicht zu viel!« Bernice Alper ging ihm nach, blieb aber in der offenen Tür stehen, um nicht gegenüber Christians Eltern unhöflich zu sein.
»Das gilt natürlich auch für dich«, sagte er.
»Was?«
»Dass du herzlich eingeladen bist, bei uns zu übernachten. Es gibt mehrere Gästezimmer auf dem Gut, und Marianne wird dir gerne eines herrichten.« Er lächelte. »Und wie ich meine Mutter kenne, ist das auch schon längst erledigt. Sie ist stets die perfekte Gastgeberin.«
Bernice nahm Christian das Glas ab und roch an dem Sherry. »Vielleicht wäre es wirklich besser«, meinte sie. »Immerhin habe ich ziemlich viel Wein getrunken.«
In diesem Augenblick klingelte wieder das Telefon. Christian ging an den Apparat. Es war Leonie, diesmal klar und deutlich zu verstehen: »Papa! Du musst mich holen! Und du musst die Polizei verständigen! Ich stehe hier irgendwo in der Dunkelheit und weit und breit ist kein Schwein. Außerdem: Sophie ist weg. Und der Wagen geht nicht mehr. Und …«
»Leonie, warte mal! Wo bist du?«
»Irgendwo auf der Landstraße zwischen Schönningstedt und Grande. Warte, hier ist ein Schild. Zwei Kilometer bis zur Anschlussstelle der A24.«
»Was machst du denn da?«
»Sophie hat mich hierher gebracht.«
»Und wo ist sie jetzt?«
»Das weiß ich nicht!«, schrie Leonie. Sie klang, als sei sie am Rande der Hysterie. So hatte Christian seine Tochter noch nie erlebt.
»Bleib ganz ruhig«, sagte er. »Ich komme gleich und hole dich ab. Ich brauche zwanzig Minuten. Ist das okay?«
Sie schniefte. Er konnte hören, dass ihr seine Stimme gut tat. »Ja, mach schnell. Aber was ist mit Sophie? Du musst die Polizei rufen!«
»Wo ist sie denn?«
»Keine Ahnung! Sie ist da raus in den Sturm und dann … dann ist sie nicht mehr zurückgekommen! Und die sind weggefahren. Und …« Der Rest ging in einem großen Schluchzen unter. Schließlich brach die Verbindung ab.
»Ich muss los«, sagte Christian. »Leonie steht irgendwo in der Dunkelheit.«
»Und die Polizei?«
»Die verständige ich von unterwegs.«