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Es dauerte kaum mehr als zwanzig Minuten, bis Christian von Landsburg am Ort des Geschehens ankam. Leonie stand verstört und mit großen Augen neben Sophies Auto, die Arme fest um sich geschlungen, obwohl die feuchte Luft dieses Sommerabends nach dem Gewitter nicht wirklich frisch geworden war. »Leonie!«, rief Christian, als er aus dem Wagen sprang. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Er blickte an seiner Tochter hinab, deren Kleider durch und durch nass waren. Die Haare hingen ihr in wilden Strähnen ins Gesicht. »Alles okay?«, wiederholte er und nahm sie in den Arm.

»Alles okay, Paps.« Mit einem tiefen Schluchzer brach sie in Tränen aus.

Christian spürte den bebenden Körper seiner Tochter und fühlte mit ihr. Er wusste, dass er sich für einige Augenblicke ausschließlich um Leonie kümmern musste, ehe er nach Sophie und nach den Ereignissen fragen konnte. Sie brauchte diese Minuten, um ihren Schrecken zu bewältigen. Doch während er die weinende Leonie an sich drückte, blickte er verstohlen die Straße hinab und versuchte sich ein Bild vom Ort des Geschehens zu machen, solange noch ein Rest Licht am Horizont war. Sie befanden sich außerhalb jedweder Ortschaft, vielleicht fünf oder sieben Kilometer in beiden Richtungen vom nächsten Dorf entfernt. Die Straße führte mitten durch ein kleines Waldgebiet, weit und breit war kein Mensch zu sehen – und hier war Sophie nun liegen geblieben.

»Leonie, möchtest du dich vielleicht in mein Auto setzen?« Christian von Landsburg versuchte seine Tochter zu beruhigen. Er zog sein Jackett aus. »Häng dir das erst mal um, damit dir wieder warm wird.«

Aber Leonie fasste sich schon wieder. »Entschuldige, Papa«, sagte sie. »Ich weiß, dass wir keine Zeit verlieren dürfen. Doch ich hatte solche Angst …« Sie schluckte, war drauf und dran, erneut in Tränen auszubrechen, doch sie bekam sich in den Griff. »Sophie und ich kamen von dort«, erläuterte Leonie. »Wir waren unterwegs in irgendein Kaff, wo sie mich in ein Nobelrestaurant einladen wollte. Und dann war das Benzin alle, und die Karre blieb plötzlich stehen.« Leonie schluckte einmal, zweimal, zog die Nase hoch und straffte den Rücken. »Es hat dermaßen geschüttet, dass die Sicht gleich null war.«

»Warum habt ihr nicht früher angehalten? Bei einer Tankstelle, zum Beispiel?«

»Das habe ich Sophie auch gesagt. Aber sie wollte nicht. Warum, weiß ich auch nicht. Vielleicht hat sie gedacht, dass irgendwann noch eine Tankstelle kommt. Lange Zeit sind wir nur noch geschlichen, vielleicht zwanzig Stundenkilometer oder so. Und schließlich blieb der Wagen stehen. Ein Hintermann überholte uns, er hielt an – so zirka fünfzehn Meter vor uns. Ich dachte – nein, ich dachte eigentlich gar nichts. Sophie sagte, die würden uns vielleicht helfen wollen. Und ich hielt dagegen, die müssen ganz schön blöd sein, wenn sie bei dem Wetter Mutter Teresa spielen wollen. Außerdem, woher sollten sie wissen, dass wir eine Panne haben? Die dachten doch bestimmt, wir sind wegen dem irren Regen stehengeblieben und warten nun, bis er endlich vorbei ist. Aber Sophie ist raus und zu dem Auto vorgelaufen – sie wollte fragen, ob die einen Benzinkanister dabeihaben. Ich meine, man hat ja vielleicht gerade mal fünf Meter weit gesehen, und die Typen standen da vorne …« Leonie machte eine vage Bewegung in Richtung der Landstraße. »Als Sophie durch den Regen lief«, fuhr Leonie fort, »konnte ich sie kaum noch sehen. Wenn der Van vor uns nicht sein Licht angehabt hätte, wäre wahrscheinlich gar nix zu sehen gewesen. Schemenhaft habe ich durch die Rückleuchten Gestalten gesehen. Keine Ahnung, ob es zwei oder drei Typen waren – auf jeden Fall stand Sophie nicht allein da. Es war gespenstisch.«

Christian nickte. »Waren das Männer?«

»Glaub schon.«

»Und wie ging es weiter?«

»Die Typen sahen irgendwie aus, als würden sie sich tierisch aufregen, haben herumgefuchtelt und Sophie gepackt. Als ich gerade rausstürzen wollte, um ihr zu helfen, habe ich sie schreien gehört.« Leonie brach erneut in Tränen aus. Christian drückte seine Tochter wieder an sich und sah ihr dann fest in die Augen. »Leo, bist du sicher? Ich meine, du hast doch gesagt, dass die Sicht gleich null war und es geschüttet hat. Es kann doch auch sein, dass du nur den Wind gehört hast. Oder der Regen prasselte auf das Verdeck. Es kann doch sein, dass Sophie einfach mit den Männern mitgefahren ist, um Benzin zu besorgen. Vielleicht taucht sie in fünf Minuten hier auf.« Christian strich seiner Tochter übers Haar und lächelte ihr aufmunternd zu. »Pass auf, du setzt dich jetzt in meinen Wagen, nimmst dir die Decke vom Rücksitz und wickelst dich ein.«

»Das ist die Hundedecke, Papa!« Leonie sah ihn empört an.

»Unter die Dusche musst du sowieso. Wir fahren gleich zurück, vorher will ich nur mal schauen, wo das andere Auto gestanden hat.«

Christian beugte sich zu seinem Jaguar hinunter und schaltete das Fernlicht an, sodass die Straße sogleich in ein hartes Licht getaucht wurde. Mittlerweile war es dunkel geworden. Anschließend schritt er den Asphalt ab, der langsam wieder zu trocknen begann. Offenbar hatte der Wolkenbruch nicht ausgereicht, den Straßenbelag derart abzukühlen, dass nicht auch jetzt noch alle Feuchtigkeit rasch verdampfte.

Spuren eines Kampfes waren nicht zu entdecken, soweit das mit bloßem Auge und ohne polizeitechnische Ermittlungen festzustellen war. Die Straße lag ruhig da, in der Ferne war ein Zug zu hören, ein Nachtvogel flog vorbei, ab und zu fuhr ein Windhauch durch die Bäume. Vielleicht fünfzehn Meter von Sophies Wagen entfernt waren am Straßenrand Abdrücke eines Reifens zu erkennen. Aber was vermochten diese Spuren auszusagen? Bei diesen Wassermassen? Alle Feinheiten des Profils würden weggespült worden sein. Und dieser zertretene Zigarettenfilter. Vermutlich würde er nicht von den Tätern stammen. Wer ging bei strömendem Regen mit einer Zigarette nach draußen? Im Straßengraben lag eine halb überwucherte Bierflasche. Alles keine Hinweise, die von irgendwelchem Interesse sein könnten. Und zu allem Überfluss war gar nicht klar, ob hier überhaupt ein Anlass vorlag, Spuren zu suchen, und ob es überhaupt so etwas wie einen oder mehrere »Täter« gab. Denn das setzte schließlich eine Tat voraus. Christian schritt langsam zu seinem Wagen zurück, den Kopf gesenkt und mit einer Hand die Augen beschirmend, weil ihn das Fernlicht blendete. Beinahe wäre er darauf getreten, beinahe hätte er es für die Reflexion einer kleinen Pfütze gehalten. Ein Ohrclip lag mitten auf der Fahrbahn, deutlich und glitzernd. »Sieh mal einer an.« Christian von Landsburg ging in die Hocke, um sich das Schmuckstück näher anzusehen. Offensichtlich lag es noch nicht allzu lange hier, denn es funkelte hell und war gänzlich unbeschädigt. Kein vorbeikommendes Auto hatte es angefahren, keine Korrosion war zu sehen, keine Verschmutzung.

Christian winkte seiner Tochter. Leonie stieg aus dem Jaguar und kam, in Charlys Hundedecke gewickelt, barfuß hergelaufen. Sie bemerkte den Blick ihres Vaters. »Die Schuhe sind total durchnässt, Paps.«

»Sieh dir das an«, sagte Christian von Landsburg. Er wies auf den Ohrclip. Leonie griff danach, doch ihr Vater fasste sie schnell an der Hand und hielt sie fest. »Nein! Wenn es von Bedeutung ist, darfst du es nicht einfach so aufheben.« Christian zog sein Einstecktuch aus dem Jackett und ließ es auf das kleine Schmuckstück fallen, um es dann vorsichtig aufzuheben. »Kennst du das?« Er hielt ihr den Fund unter die Nase.

»Klar«, sagte Leonie. »Der Ohrclip gehört Sophie. Das heißt, eigentlich gehört er ihrer Mutter. Sie hat ihn sich unter den Nagel gerissen …«

»Hast du übrigens mal versucht, bei Sophie zu Hause anzurufen? Oder noch besser, sie auf dem Handy zu erreichen?«

Leonie schüttelte den Kopf. »Wir haben hier kein Netz. Sonst wären wir ja vorhin nicht ständig unterbrochen worden.«

Christian holte sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. »Kennst du ihre Handynummer?«

»Nicht auswendig. Und an mein Adressbuch komme ich ja nicht ran, weil mein Akku leer ist. Aber die Nummer von ihr zu Hause kann ich dir sagen.«

Leonie diktierte, und Christian wählte. Doch es war besetzt – und es blieb besetzt. Gegen halb elf entschied Christian: »Wir fahren bei ihren Eltern vorbei. Ziemlich ausgeschlossen, dass sie jetzt noch kommt.«

»Und die Polizei?«

»Was soll mit der sein?«

»Na, wir müssen doch die Polizei verständigen!«

»Leonie, das müssen wir, wenn Sophie wirklich verschwunden ist. Aber wir stehen hier bloß mitten in der Nacht auf einer gottverlassenen Landstraße, haben einen Ohrring gefunden, und deine Freundin ist aus dem Auto ausgestiegen und nicht wieder eingestiegen. Wir können nicht sicher sagen, ob sie freiwillig in dem anderen Wagen mitgefahren ist oder ob sie überhaupt mitgefahren ist. Wir wissen nicht einmal, was es für ein Wagen war, der euch überholt hat. Die haben euch nicht angehalten, die haben Sophie nicht aus dem Auto gezerrt, nichts. Es gibt keine Anzeichen, außer deiner etwas vagen Beobachtung, dass Sophie entführt worden sein könnte. Es kann doch sein, dass du dich irrst, dass da überhaupt kein Kampf stattgefunden hat?« Leonie wich dem Blick ihres Vaters aus und nickte leicht.

»Trotzdem. Es könnte auch sein, dass ich mich nicht irre. Ich bin doch nicht ganz blöd!«, regte sie sich auf. »Du sprichst ja so wie ein Dienst habender Polizeifuzzi am Sonntagabend auf dem Revier! ›Bleiben Sie uns bloß vom Hals mit Ihren Vermutungen. Die Olle wird schon wieder auftauchen. So, und jetzt blasen Sie mal hier ins Röhrchen. Mal sehen, ob Sie auch rosa Elefanten gesehen haben.‹«

»Leonie, bitte, versuch doch einmal sachlich zu bleiben. Ich sage ja nicht, wir fahren jetzt heim, trinken gemütlich ein Gläschen Wein, hauen uns anschließend aufs Ohr und schauen dann am Morgen, ob deine Freundin wieder aufgetaucht ist oder ob sie sonst noch von jemandem vermisst wird. Nein, wir fahren jetzt bei den von Biels vorbei und sprechen mit den Eltern. Vielleicht ist sie inzwischen längst dort, vielleicht hat sie versucht, dich auf dem Handy anzurufen.«

»Hat sie nicht!« Leonie fuhr dazwischen.

»Klar, weil der Saft alle ist! Wie sollte sie dich da erreichen? Außerdem war die Verbindung, als wir anfangs telefoniert haben, miserabel.« Er blickte auf die Uhr. Es war zwanzig nach zehn, Zeit genug, dass Sophie hätte zurückkommen können. Insgeheim befürchtete Christian von Landsburg, dass das hier mehr war als das unbedachte Verschwinden einer verwöhnten Tochter aus besserer Familie. Man lässt nicht einfach die Freundin in der Einöde stehen und setzt sich zu wildfremden Leuten ins Auto und schlägt sich die Nacht um die Ohren. »Komm, steig ein, mein Schatz«, sagte er zu Leonie und schob sie sanft zu seinem Wagen. »Wir sollten zusehen, dass wir zu den Biels kommen. Du weißt doch, wo sie wohnen?«

»Blankenese, wo sonst«, stellte Leonie trocken fest. Sie stieg ein.

»Warte, Leo, ich muss noch Sophies Wagen sichern. So kann er in der Dunkelheit nicht stehenbleiben.« Christian ging zum Beetle, öffnete die Fahrertür und sah nach, ob die Handbremse angezogen war. Das Auto musste weiter zur Fahrbahnseite geschoben werden. Anders ging es wohl nicht. Christian setzte sich in den Wagen hinein, löste die Bremse und wollte gerade aussteigen, als er im Aschenbecher etwas funkeln sah. Es war der zweite Ohrclip. Offensichtlich hatte ihn Sophie dort abgelegt. Christian überlegte kurz, entschied sich dann aber, das Schmuckstück dort zu lassen. Da der Zündschlüssel noch steckte, versuchte er, den Beetle anzulassen. Der Motor sprang ohne Zögern an. Sieh an! Ist doch noch Benzin im Tank, merkwürdig, dachte er und sah auf die Tankuhr, die tatsächlich keinen Sprit anzeigte. Nachdenklich fuhr Christian das Auto auf den Grünstreifen neben der Landstraße, zog den Zündschlüssel ab und stieg aus.

Anschließend sicherte er das liegengebliebene Fahrzeug, indem er vor dem Beetle sein eigenes Warndreieck aufstellte und dahinter das von Sophie. Christian setzte sich nun an das Steuer seines Jaguars und machte sich mit Leonie auf den Weg zurück in die Stadt.

Christian von Landsburg liebte rasantes Fahren. Seit seine Frau vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, jagte er noch schneller über die Straßen. Doch jetzt fuhr er aus Rücksicht auf seine verschreckte Tochter eher vorsichtig.

»Sag mal«, fragte er nach einiger Zeit. »Du sprichst immer von ›die‹?«

»Hm?«

»Na, ich meine, es klingt, als wärst du dir sicher, dass es mehrere Personen gewesen seien, die da in dem Van waren.«

Leonie dachte eine Weile nach. »Sicher bin ich nicht. Aber es kam mir so vor.« Sie ließ die Szene noch einmal vor ihrem inneren Auge passieren. »So richtig konnte ich es ja nicht sehen. Aber ich könnte schwören, es waren zwei Typen.«

»Sophie und zwei Männer.«

»Ja«, sie zögerte, »ich denke, es waren insgesamt drei Leute.«

Die Villa am Falkensteiner Ufer lag im Dunkeln, nur der Weg dorthin wurde notdürftig von dem gedämpften Licht zweier Laternen beleuchtet. Im Obergeschoss schien hinter schweren Vorhängen jedoch noch ein Zimmer erleuchtet zu sein, ein matter rötlicher Schimmer zeichnete sich gegen die efeuschwarze Fassade ab. Hier wohnte man nicht, hier residierte man. Christian drückte den Klingelknopf und blickte ernst, aber freundlich in das Videoauge, das ihn über dem Namensschild anvisierte. Vermutlich studierte Otto von Biel in diesem Moment Christians Züge auf dem Monitor und überlegte, mit wem er es hier zu tun hatte. Christian nahm nicht an, dass sich Biel noch an ihn erinnern würde, dafür war der Andrang auf der Vernissage in der Johnsallee zu groß gewesen. Eine Weile tat sich nichts. Statt nochmals zu klingeln, lächelte Christian weiter verbindlich in die Kamera und nickte. Und tatsächlich meldete sich nun der Hausherr: »Ja, bitte?«

»Christian von Landsburg. Entschuldigen Sie die späte Störung. Es geht um Ihre Tochter. Kann ich Sie …« Er unterbrach sich und zog Leonie zu sich heran. »Können wir Sie kurz sprechen?«

»Was hat sie jetzt wieder gemacht?«, fragte die Stimme am anderen Ende der Sprechanlage. Otto von Biel machte jedoch keine Anstalten, die Tür zu öffnen. Christian bemerkte, wie sich an einem Fenster im Obergeschoss der Vorhang verschob und dort ein blasses Gesicht auftauchte, vermutlich nicht das von Biel, denn der würde ihn weiterhin durch sein elektronisches Auge beobachten.

»Nichts«, antwortete Christian. »Aber es besteht die Befürchtung, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Dann hörte er von Biel sagen, diesmal mit deutlich genervtem Unterton: »Und wenn ich Ihnen sage, dass sie längst zu Hause ist, in ihrem Bett liegt und schläft?«

Das hatte Christian nicht erwartet. »Das würde mich …« Freuen – das hätte er sagen wollen, dann wäre ja alles in bester Ordnung, gute Nacht. Doch Leonie fiel ihm ins Wort, schubste ihn beiseite und schrie in das dunkel glänzende Auge: »Tut sie nicht! Sie ist entführt worden! Machen Sie schon auf! Oder rufen Sie die Polizei an, verdammt! Wir sind nicht mitten in der Nacht hierher gekommen, um ihnen Staubsaugertüten zu verkaufen …« Christian unterdrückte mühsam ein Grinsen. Es war dieses ungezähmte Temperament von Leonie, gepaart mit Witz, das ihn so sehr an seine verstorbene Frau Marie-Luise erinnerte.

In diesem Augenblick ging der Türöffner, und das Gitterportal zum Garten schwang automatisch auf, während sich unter dem Eingangsportal ein Licht einschaltete. Leonie und Christian hasteten zur Haustür, die kurz darauf von Otto von Biel im Hausrock geöffnet wurde. Er sieht aus wie der Bösewicht in einem russischen Film oder wie irgendein sadistischer Großgrundbesitzer, dachte Leonie und schloss kurz die Augen.

»Christian von Landsburg.« Der späte Besucher stellte sich nochmals vor und zeigte auf Leonie: »Meine Tochter.«

Otto von Biel musterte den hoch gewachsenen Mann, dessen aristokratische Züge Selbstbewusstsein ausstrahlten, aber auch einen Hauch von Melancholie. »Nun, Sie wissen ja wohl, bei wem Sie geläutet haben«, sagte er. Er selbst stellte sich nicht vor. Offensichtlich wollte es der feine Herr lieber distanziert, unter Verzicht auf alle Förmlichkeiten. »Wir befürchten, Ihre Tochter könnte entführt worden sein«, sagte Christian. Er wollte gleich zur Sache zu kommen, denn offenbar hegte von Biel nicht die Absicht, sie ins Haus zu lassen. »Meine Tochter Leonie war mit Sophie unterwegs. Sie hatten eine Panne. Sophie ist ausgestiegen und zu einem Wagen gegangen, der ebenfalls angehalten hatte. Sie ist aber nicht zurückgekommen. Das war gegen neunzehn Uhr dreißig.«

Otto von Biel blickte die späten Besucher spöttisch an. »Sophie«, sagte er nach einer kleinen Weile. Er setzte seine Worte sehr langsam und scheinbar ohne große Besorgnis. »Sophie macht immer, was sie will. Wenn man bedenkt, wie oft sie uns schon hat sitzen lasse …«

»Sophie hat ihren Wagen einfach stehengelassen. Sie ist zu irgendwelchen Personen in einen Van gestiegen, möglicherweise nicht freiwillig, und jetzt ist sie praktisch wie vom Erdboden verschwunden.« Christian griff vorsichtig in seine Jackentasche, um das Tuch mit dem Ohrclip hervorzuholen. »Und wir haben das hier auf der Straße gefunden.«

Verblüfft sah Otto von Biel auf den Inhalt des Tuches und blickte dann ungläubig von Christian zu Leonie und wieder zurück, eher er in lautes Lachen ausbrach. »Das ist doch wohl das größte Schmierentheater, das ich seit langem erlebt habe!«, brachte er unter großen Mühen hervor. »Warum präsentieren Sie mir nicht gleich einen goldenen Knopf vom Zweireiher des Täters?« Der Hausherr verschluckte sich, musste husten und sprach schließlich sehr leise und mit beinahe drohendem Unterton weiter: »Ich denke, Sie sollten jetzt gehen, bevor Sie sich noch lächerlich machen. Sophie gekidnappt – ein Witz!«

»Wollen Sie nicht die Polizei verständigen? Ihre Tochter könnte das Opfer eines Verbrechens geworden sein«, entgegnete Christian von Landsburg in ruhigem Ton. Er musterte den Galeristen mit Befremdem. »Wobei natürlich immer zu bedenken ist, dass das dem Opfer auch schaden kann.«

»Das Opfer«, sagte Biel, offenbar bemüht, die exakte Mittellage zwischen Spott und Langeweile in der Stimme zu finden, »das bin ja wohl im Augenblick ich, so wie Sie mich hier überfallen haben. Sie können sicher sein, dass ich Ihrem Hinweis nachgehen werde, morgen!« Mit diesen Worten wandte er sich um und verschwand hinter der schweren Tür, die lautlos ins Schloss fiel.

»Denkst du wirklich, dass es ein Fehler wäre, die Polizei einzuschalten?«, fragte Leonie, als sie wieder im Wagen saßen.

»Das kommt darauf an. Normalerweise gibt es ja bei Entführungen – sollte dies bei Sophie tatsächlich der Fall sein – keine unmittelbaren Zeugen. Die Angehörigen werden von den Entführern verständigt, dann schalten sie die Polizei ein. Oder auch nicht. Und manchmal ist die Polizei schon tätig, noch ehe sich die Täter melden, nämlich dann, wenn eine Person als vermisst gemeldet wird.«

»Sollen wir Sophie nicht als vermisst melden?«

Christian lächelte, während er die vorbeifliegenden Lichter der Stadt beobachtete. »Das kannst du erst nach vierundzwanzig Stunden. Und normalerweise werden Vermisstenanzeigen von Angehörigen erstattet, nicht von Freundinnen oder Bekannten.«

Leonie schwieg und starrte aus dem Fenster. »Aber der Typ ist doch wirklich komplett bescheuert! Ich meine, wie kann von Biel uns nicht ernst nehmen? Sophie ist immerhin seine Tochter! Sie verschwindet, wir fahren extra zu ihm nach Hause, und er behandelt uns wie Vollidioten! Ich finde, der Kerl hat was an der Birne. Wir sollten zur Polizei gehen.«

Christian schwieg eine Weile, und Leonie betrachtete ihn von der Seite. Sie studierte seine konzentrierten, klaren Gesichtszüge und wusste, dass am Ende dieses Schweigens eine der üblichen wohlerwogenen Überlegungen stehen würde, die sie hasste, aber gegen die sie nie etwas Schlagkräftiges einwenden konnte. Diese Eigenschaft ihres Vaters, seine vollkommen durchdachten Lösungen, konnte manchmal wirklich nerven.

»Weißt du«, sagte Christian nach einiger Zeit, »ich denke, du hast Recht. Vielleicht sollten wir wirklich zur Polizei gehen.« Leonie wollte schon innerlich jubeln, als er hinzusetzte: »Aber erst morgen Früh.«

Es war beinahe Mittemacht, als Christian von Landsburg auf dem Flur mit seinem Vater zusammentraf. »Papa, wieso bist du um diese Zeit noch unterwegs? Bist du auf der Suche nach unserem Schlossgespenst?«

»Ich fürchte, es hat mich leider gefunden, mein Junge«, antwortete Graf Ferdinand. Er verdrehte die Augen Richtung Schlafzimmer Und tatsächlich: Auch Christian konnte jetzt ein bemerkenswertes Schnarchen vom anderen Ende des Ganges hören.

»Hat Charly etwa eine schwere Bronchitis, und ihr habt ihn zu euch ins Zimmer gelassen? Hast du wenigstens den Hundekorb mitgenommen?«

»Es ist nicht die Zeit für laue Scherze, mein Lieber. Charly wäre der Erste, der Reißaus nimmt, wenn deine Mutter ihre Herkunft vergisst und derart unfürstliche Töne von sich gibt.«

Christian lauschte dem Schnarchen, das nun über den ganzen Flur deutlich zu hören war, »Kaum zu glauben«, bestätigte er.

»Und wenn man es ihr sagt, ist sie tödlich beleidigt.«

»Tja, da wirst du wohl als Gentleman schweigen müssen.«

»Na ja, solange sie Bernice nicht weckt.«

Christian richtete den Blick nach oben, wo die Gästezimmer lagen, und hoffte, dass Bernice Alpers ungestört schlief.

Ferdinand sah auf die Uhr, die am Ende des Flurs stand. »Spät geworden«, stellte er fest. »Alles in Ordnung mit Leonie?«

»Deiner Enkelin geht es bestens.« Christian beeilte sich, dies zu sagen. »Aber ihre Freundin ist verschwunden. Und es sieht sehr nach einem unfreiwilligen Ausflug aus.«

Ferdinand von Landsburg hob die buschigen weißen Augenbrauen, sagte aber nichts.

»Darf ich dich noch ein wenig begleiten auf deiner Wanderung?«, fragte Christian weiter.

»Nur zu. Sofern du nicht erwartest, dass ich mich weiter als bis zum Kaminzimmer begebe …«

Otto von Biel saß hinter seinem Art-déco-Schreibtisch und starrte die Grafiken an, die an der gegenüberliegenden Wand hingen. Fälschungen – perfekt gemachte Fälschungen. Es war sein Hobby, Fälschungen zu sammeln. Selbstverständlich nicht, um sie weiterzuverkaufen, sondern weil ihn die Kunst, Kunst zu unterwandern, faszinierte. Was Fälschungen von Duplikaten oder Repliken unterschied, war der Umstand, dass der Fälscher nicht nur den Gestus des Originals nachahmte, sondern die gesamte Wirkung erzeugen wollte: Er wollte mit seiner Kunstfertigkeit beim Betrachter die echten Gefühle, die unverfälschten Reaktionen hervorbringen.

An der Wand hingen Lithografien von Chagall, Miró und Cocteau, auch eine Radierung von Braque, der aber nie eine solche angefertigt hatte. Und dazwischen befand sich ein ihm »in Freundschaft« gewidmeter Kujau. Besucher reagierten mit großem Interesse auf dieses Werk, weil sie sich dem Schelm oftmals näher fühlten als den großen Künstlern.

Biel hatte die Fenster gekippt und lauschte dem leisen Rauschen des Windes hinter den Vorhängen. Falkenstein mit seinen hübschen Häusern, die an einen Hang an der Elbe gebaut waren, lag bereits in tiefem Schlaf. Er stand auf und schenkte sich einen Cognac ein, den er neben das Telefon stellte und augenblicklich vergaß. Der Galerist blickte auf die Uhr. Weit nach elf. Irgendwo bellte ein Hund. Eine Kirchenglocke schlug Mittemacht – zu früh. Auf dem Kujau, der ein Porträt Biels darstellte, hatte sich ein neuer Fleck gebildet. Billiges Papier, vermutlich aus alten DDR-Beständen erworben. Biel setzte sich wieder, schloss für einen Moment die müden Augen, wurde aber plötzlich von einer Welle heftigsten Zornes erfasst und griff zum Telefon. Exakt in diesem Moment klingelte es. Er hielt einen Augenblick inne, wartete, bis es ein weiteres Mal geläutet hatte, und hob ab. »Biel?«, sagte er, und es klang wie eine Frage.

»Biel?«, fragte eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung zurück.

»Ja. Wer spricht denn da?«

»Du wirst mir jetzt aufmerksam zuhören.« Es war ein scharfer Ton aus der Finsternis der Ferne.

Die Tür öffnete sich leise, und eine blasse Frauengestalt schob sich herein, den Morgenmantel eng um den fröstelnden Leib gezogen. »Otto?«, fragte die Person. Doch Otto von Biel machte nur eine unwirsche Handbewegung und lauschte in den Hörer.

»Was wollen Sie …?« Er versuchte das Wort zu ergreifen, doch augenblicklich schwieg er wieder und lauerte auf das, was der Anrufer sagte. Schließlich nahm er einen Stift zur Hand und notierte eine Zahl. Margareta von Biel kam vorsichtig näher und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Notiz, als ihr Mann mit einem harten Strich hindurchfuhr und mit schneidender Stimme, dabei aber ganz leise und bedrohlich sagte: »Kei – nen Cent.« Anschließend knallte er den Hörer hin.

»Otto!«, flüsterte Margareta von Biel. Sie spürte, wie es ihr kalt über den Rücken kroch. »Was war das?« Ihr Mann schwieg und wandte den Blick zum Fenster, als könne er durch die Vorhänge hindurchsehen.

»Ist es etwas Geschäftliches?« Margareta von Biel versuchte es noch einmal. Doch ihr Mann schwieg weiterhin. Im nächsten Moment sah sie das Taschentuch mit den fremden Initialen auf dem Schreibtisch liegen und darauf den Ohrclip. Sofort war sie sich sicher: »Es geht um Sophie.«

Otto von Biel aber krallte nur die Hände ineinander. Dabei wiederholte er: »Keinen Cent.«

Wenig später saßen Christian und sein Vater im Herrenzimmer, und der alte Graf Landsburg ließ sich den Fall schildern, so gut ihn sein Sohn darzustellen vermochte.

»Ich denke, du solltest die Polizei rufen«, stellte Ferdinand fest, nachdem er sich die Sache hatte durch den Kopf gehen lassen.

»Papa, du weißt, dass das nicht meine Aufgabe ist. Auch ist Sophie erst seit wenigen Stunden verschwunden und …«

»Sicher, wenn du das so betrachtest, stimmt das natürlich. Aber findest du nicht, dass die Polizei entscheiden sollte, ob diese Angelegenheit ein Fall für sie ist?«

»Na ja …«

»Außerdem bin ich nicht sicher, ob es klug war, bei den Biels zu Hause vorbeizufahren. Wenn alles harmlos ist, hast du die armen Leute womöglich grundlos in Panik versetzt. Wenn das Mädchen aber wirklich entführt wurde, dann musst du dich fragen lassen, weshalb du nicht zuerst die Polizei informiert hast.«

Christian räusperte sich. Tatsächlich hatte sein Vater Recht. Er hatte nicht überlegt gehandelt. »Vielleicht hätte ich wirklich zuerst die Polizei verständigen sollen, auch wenn ich Sophies Vater wohl kaum in Angst und Schrecken versetzt habe. Eher schien er mir derart abgebrüht zu sein, dass das allein ein Grund wäre, die Polizei anzurufen. Ich meine, wenn er weiterhin so reagiert wie bei meinem kurzen Besuch, dann kann mit dem Mädchen wer weiß was passiert sein, bis er endlich etwas unternimmt.«

»Nur ist es jetzt zu spät. Du kannst unmöglich die Polizei einschalten. Was willst du denen sagen? Das Mädchen ist seit drei Stunden verschwunden? Könnte sein, dass sie in einen Wagen gezerrt wurde, vielleicht aber auch nicht? Vielleicht von einem oder von zwei Männern? Oder auch von zwei Frauen? Die Eltern vermissen sie jedoch nicht und machen sich auch keine Sorgen? Bevor du zu Biel gefahren bist, hättest du noch den Besorgten spielen können, der lieber zu früh als zu spät warnt. Aber jetzt …«

Die beiden Männer lauschten dem fernen Schnarchen der Gräfin. In irgendeinem der Gästezimmer würde auch Bernice tief schlafen, dachte Christian. Die vorgestellte Nähe beunruhigte ihn angenehm. »Und dann die Spurensuche!«, hob Ferdinand wieder an. »Was hast du dir bloß dabei gedacht! Du hast einen vielleicht tatrelevanten Gegenstand an dich genommen. Und damit nicht genug! Du hast ihn auch noch einem Dritten übergeben! Ein Beweismittel, Christian, ein Beweismittel!«

Eine steife Brise wehte durch das nächtliche Hamburg, auf der Reeperbahn wetteiferten die Lichter um die Amüsierwilligen. In einer Telefonzelle stand ein junger Mann; wer ihn gesehen hätte, hätte gedacht, er würde nach einem Taxi telefonieren oder sich noch für den späteren Abend mit Freunden verabreden. Doch als er den Hörer einhängte und sich umdrehte, funkelte Wut in seinen Augen.

»Keinen Cent! Das werden wir schon noch sehen, du mieses Schwein«, murmelte er vor sich hin. »Du wirst zahlen, wenn du demnächst Post bekommst und in dem Päckchen der Finger deiner Tochter liegt.«

Mit schnellen Schritten ging der Mann die Straße hinunter, um in ein Fahrzeug zu steigen und in Richtung Hafen zu verschwinden.

Ein bedrückendes Schweigen hatte sich auf die Villa gelegt. Margareta von Biel lag wach. Viele Nächte hatte sie schon wach gelegen. Sie lauschte den Geräuschen des Hauses, den immer wiederkehrenden, die sonst durch die Dunkelheit schlichen. Doch keines wollte sich vorwagen, nicht das Knacken des Holzes, das Piepen des Faxgeräts oder ein Hüsteln aus dem Souterrain, wo das Dienstmädchen schlief. Wie auf ein unausgesprochenes Kommando schienen heute all diese winzigen Lebensäußerungen verstummt, als gäbe es eine heimliche Übereinkunft des Schweigens. Nur die Schritte ihres Mannes, der über den Flur kam, waren zu hören. Er bewegte sich ruhig und zielstrebig. Margareta von Biel kannte diesen Schritt. Und sie wusste, was er zu bedeuten hatte.

»Da bist du also«, flüsterte sie, als sich die Tür leise öffnete.

Otto von Biel antwortete nicht, sondern schloss die Tür hinter sich und legte sein Jackett ab. Er warf es über einen Stuhl und knipste das Licht an. Schützend legte seine Frau die Hände über ihr Gesicht und neigte den Kopf. Sie hatte sich im Bett auf gesetzt und wartete.

»Wir werden uns nicht erpressen lassen.«

»Du wirst dich nicht erpressen lassen!«, flüsterte Margareta.

»Ja. Ich werde mich nicht erpressen lassen.«

»Otto.« Margareta von Biel schluchzte. »Was haben sie gesagt? Was ist mit Sophie?«

Statt zu antworten, knöpfte von Biel seine Manschetten auf und löste den Krawattenknoten.

»Otto!« Margareta von Biel nahm die Hände von ihrem Gesicht und blickte zu ihm auf. »Bitte, sag, dass du dich kümmerst! Wir müssen etwas unternehmen!«

»Du weißt, dass ich immer das Richtige tue. Für dich und für uns alle.«

»Und was ist das Richtige, Otto? Was wirst du tun?«

»Ich werde mich vor allem nicht erpressen lassen.«

Die schmale Frau sprang von ihrem Bett auf und stellte sich ihrem Mann entgegen. »Wenn du nicht zur Polizei gehst, dann werde ich es tun! Ich werde nicht zulassen, dass jemand meiner Tochter wehtut.«

»Nein, meine Liebe«, von Biel sagte es leise, so leise, dass er keinen Zweifel aufkommen lassen wollte, »du wirst nicht zur Polizei gehen.« Mit eiserner Hand drückte er sie wieder aufs Bett. »Du weißt genau, dass ich nur das Beste für uns will. Für uns alle.«

»Otto, wenn du nicht …« Margareta von Biel hielt inne, weil ihr Mann sie mit einer Hand am Kinn packte und am Sprechen hinderte.

»Margareta, zum letzten Mal! Ich lasse mich nicht erpressen. Auch nicht von dir.« Ohne ihren Kopf loszulassen, löschte er mit der anderen Hand das Licht. Scharf flüsterte er: »Dass ich dir das immer und immer wieder beibringen muss …«

Fürsten & Fälscher

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