Читать книгу Die lichten Reiche - Smila Spielmann - Страница 3
Kapitel 1
Оглавление„Seit Anbeginn der Zeit kämpften das Licht und die Dunkelheit um die Herrschaft über das Nichts. Lucis erleuchtete das Nichts mit ihrem Licht und Tenebris versuchte es mit seiner Dunkelheit zu erfüllen. Im Kampf der Götter entstand die Welt und das Nichts ward in Himmel und Erde gespalten. Da schufen die Götter die Elfen um ihren Kampf auf Erden zu führen.
Lucis schuf die Lichten, Wesen voll Magie und Reinheit, Tenebris schuf die Dunklen, ausgestattet mit der Magie der Zerstörung und des Todes.
Tausend Jahre lang war Krieg, doch schließlich zerbrachen die Dunklen an ihrer größten Schwäche: der Machtgier. Sie waren uneins und so gelang den Lichten der Sieg. Als Lucis im Himmel sah, dass ihre Diener die Kreaturen der Dunkelheit besiegt hatten, fand sie die Kraft Tenebris zu töten. Der dunkle Gott starb und mit ihm verschwand auch der letzte Dunkelelf vom Antlitz der Erde. Lucis dankte ihren Geschöpfen, indem sie die Menschen schuf und sie ihnen untertan machte. Seit damals leben Elfen und Menschen in immerwährendem Frieden in ihren Reichen und das Siegeslied des Lichts wird niemals enden…“, schloss Joy ernsthaft.
Crystal klatschte in die Hände. „Das hast du sehr gut gemacht! Als ich in meinem sechsten Jahr war, konnte ich noch nicht die ganze Schöpfungsgeschichte erzählen.“
„Wenn ich groß bin, möchte ich sie singen und auf der Harfe begleiten können wie du es tust“, erklärte Joy.
Crystal lachte leise und strich dem kleinen Mädchen, das auf ihrem Schoß saß, übers dunkle Haar. Sie wusste, dass das Kind ihres Bruders sie bewunderte und in Allem ihrem Beispiel nacheiferte. „Weißt du auch, was die Worte bedeuten?“, erkundigte sie sich.
Joy nickte. „Mama hat es mir erklärt. Nur was Machtgier heißt, versteh’ ich noch nicht.“
„Das ist etwas, was kein Mensch je ganz verstehen wird. Wir Menschen sind Geschöpfe des Lichts und kennen daher die Gier nach Macht nicht“, wiederholte Crystal die Lektion, welche sie vor vielen Jahren gelernt hatte und die ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. „Ich denke es heißt, dass man mehr haben möchte als das, was einem zusteht; dass es einem nicht genügt, wie alle anderen zu sein.“
Joy schien über ihre Worte nachzudenken. „Genügt es dir so zu sein wie alle anderen?“
Crystal erschrak. Wie so oft bewies die kleine Joy eine Feinfühligkeit, die sie erstaunte. Woher konnte das Kind wissen, dass sie sich selbst diese Frage immer wieder gestellt hatte? Würde sie, die vornehme Lady Crystal Trenmain, wirklich mit einer einfachen Bäuerin tauschen wollen? Würde sie ihr rotes Haar und ihre grünen Augen wirklich gegen das einfache Gesicht und die unförmige Figur einer bescheidenen Magd tauschen? „Weißt du Joy, wir alle müssen mit dem leben, was Lucis uns zugedacht hat – und ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden“, antwortete Crystal ausweichend.
Joy kräuselte die Nase. „Aber der erste Baron von Kornthal ist nicht Baron gewesen, als er zur Welt gekommen ist, oder?“ Crystal schüttelte leicht den Kopf. Sie ahnte, worauf das hinauslief – hatte sie doch selbst ganz ähnliche Fragen gestellt, als sie in Joys Alter gewesen war. „Also wenn er nicht Baron war, als er zur Welt gekommen ist, dann ist er es erst geworden und das heißt, er war mit dem was er vorher war, nicht zufrieden, nicht wahr, Tante Crys?“, erkundigte sich Joy.
Wie konnte sie dem Kind diese Frage beantworten, wenn sie selbst keine Antwort darauf hatte? Warum die Baronien der Mittellande entstanden waren, konnte kein Gelehrter beantworten. Fest stand, dass vor rund zweihundert Jahren die ersten Baronien gegründet wurden. Die Familie Trenmain gehörte zu den ältesten Adelsgeschlechtern der Mittellande. Ihr Vorfahr, der erste Baron des Kornthals, war ein einfacher Bauer gewesen, wie fast alle Bewohner der Ebene. Irgendwann hatte er seine Strohhütte verlassen und ein großes Steinhaus erbaut, das alle Bewohner der Baronie nur als ‚die Burg’ kannten. Niemand hatte Einspruch erhoben, als er darauf bestanden hatte, dass man ihn Baron nannte. So entstand das Geschlecht der Noblen von Trenmain. Soweit Crystal wusste, wurden die übrigen zwölf Baronien ganz ähnlich gegründet. Nur in einem Fall erzählte die Geschichte, dass die Bewohner Widerstand geleistet hatten, als ein Müller sich zum Baron ausrufen ließ, und dass der Adel aus Blutvergießen geboren wurde.
Crystal schob Joy von ihrem Schoß. „Wir sollten schauen, wo deine Mutter steckt“, beendete sie das Gespräch abrupt, da sie wusste, dass ihr Bruder es nicht gutheißen würde, wenn sie seiner Tochter Flausen in den Kopf setzte.
„Mama ist bestimmt in der Halle mit dem Baron von Waldstadt. Er kommt oft zu Besuch, nicht wahr, Tante Crys?“
Crystal nickte geistesabwesend. Sie konnte sich denken, warum Thorben schon wieder zu Besuch gekommen war. Seit sie in diesem Winter siebzehn Jahre alt geworden war, hatte Thorben schon zwei Mal um ihre Hand angehalten und damit den Frieden, der sonst herrschte, empfindlich gestört. Ihr Bruder konnte einfach nicht verstehen, warum sie sich so hartnäckig weigerte seinen Freund zu heiraten. Rhys würde sie nie zu etwas zwingen was sie nicht tun wollte, dessen war Crystal sich gewiss, doch sie verspürte nicht die geringste Lust ihrem Bruder zum wiederholten Male zu erklären, dass sie Torben zwar gern mochte, ihn jedoch nicht zum Mann nehmen wollte. Die Art, wie er seinen Oberlippenbart zwischen den Fingern zwirbelte wenn er nachdachte, war ihr zuwider und die Art, wie sein Blick jeder ihrer Bewegungen folgte, war ihr unangenehm. Plötzlich hatte sie gar kein Verlangen mehr, ihre Schwägerin zu suchen.
Als Thorben die Fußschritte hörte, die sich der Halle näherten, blickte er von seinem Gespräch mit Lord Rhys und Lady Lucia auf.
Der Grund seines Besuches betrat die Halle und führte an ihrer Hand die Tochter des Hausherrn mit sich. Wie wunderschön Crystal doch war. Das rote Haar trug sie der Mode entsprechen zu einem Zopf geflochten und um den Kopf gewickelt, doch was andere Frauen streng wirken ließ, betonte nur ihren schlanken Hals und ihre feinen Züge. Thorben gab sich einen Ruck und setzte eine gleichgültige Miene auf. Sie hatte ihn schon zweimal zurückgewiesen und sein Stolz war immer noch gekränkt. Doch wenn er sein Ziel erreichen wollte – Kornthal und Waldstadt zu einen – dann durfte er nicht zulassen, dass Lady Crystal einen anderen erhörte. „Wir haben eben von Euch gesprochen, Lady Joy“, wandte er sich an das kleine Mädchen. „Dein Papa hat mir erzählt, dass du die Schöpfungsgeschichte gelernt hast.“ Joy nickte erfreut; die Aufmerksamkeit gefiel ihr sichtlich. Thorben musterte die Kleine. Sie würde einmal eine große Schönheit werden, hatte sie doch die zarten Gesichtszüge derer von Trenmain geerbt, während ihr Haar ebenso schwarz war wie das ihrer Mutter. Ihrem Alter entsprechend trug sie ihr Haar offen, so dass es ihr über die zarten Schultern bis auf die Hüften fiel. Thorben lächelte, als er merkte, dass sie die Hand ihrer Tante noch immer nicht losgelassen hatte. Es war nur zu offensichtlich, dass das Mädchen Crystal bewunderte. Unwillkürlich strich seine rechte Hand über den sauber gestutzten Bart. Crystal würde eine hervorragende Mutter werden, daran konnte kein Zweifel bestehen. Er kannte sie schließlich schon ihr ganzes Leben lang und daher wusste er, dass es nur eines gab, das sie mit ebensolcher Innigkeit liebte wie ihre Musik – Kinder. Thorben hob seinen Blick zu ihr empor und lächelte sie an. „Welch’ Freude Euch wiederzusehen, Lady Crystal.“
„Es freut mich ebenfalls, dass Ihr uns so kurz nach Eurem letzten Besuch schon wieder mit Eurer Anwesenheit beehrt“, antwortete Crystal mit einem liebenswürdigen Lächeln. Die Ironie in ihren Worten war niemandem in der Halle entgangen. Rhys hob tadelnd eine Augenbraue, doch Thorbens Lächeln vertiefte sich noch eine Spur. Er kannte Crystals scharfe Zunge. „Ich hatte geschäftliche Dinge mit Eurem Bruder zu besprechen“, erklärte er. „Und außerdem hat mich der Klang Eurer Harfe hergelockt. Wärt Ihr so freundlich etwas für uns zu spielen?“
„Oh ja, bitte Tante Crys!“, rief Joy begeistert aus. Sie hatte ihre Hand bereits aus der ihrer Tante gelöst und lief mit wirbelnden Röcken auf die Harfe zu, die am anderen Ende der Halle nur darauf zu warten schien, dass Crystals Finger sie zum Leben erweckten.
„Meister Martim war erst vor kurzem zu Besuch“, schaltete sich Rhys ein; sein Ärger über die unfreundliche Bemerkung seine Schwester schien vergessen. „Er hat gemeint, dass Crys von all seinen Schülerinnen die Talentierteste wäre.“ Thorben sah wie sich ein Lächeln auf Crystals volle Lippen stahl und dass ihre Augen anfingen zu strahlen, als sie die Harfe aufnahm und ihre Finger schließlich die Saiten berührten. In der Halle wurde es still, obwohl immer mehr Menschen hereindrängten. Die Köchin und ihre Gehilfinnen wurden rasch herbeigewunken und auch die Mägde und Knechte wurden gerufen. Es gab auf der Burg keine Arbeit, die so wichtig gewesen wäre, als dass man darüber Crystals Spiel versäumen wollte.
Der erste Ton der Harfe fiel in die Stille wie ein Stein, der auf einen ruhigen See fällt. Selbst der kleinste Stein zieht im Wasser seine Kreise, doch um seine Wirkung voll entfalten zu können, muss man ihm Zeit geben. Diese Lektion war eine der Ersten, die Crystal von Meister Martim gelernt hatte. Die Bilder aus der Zeit der Lieder waren einfach, doch von einer tiefen Sehnsucht und einem stillen Schmerz erfüllt. Crystals klare Stimme erhob sich über die Melodie, die die Harfe spann und entführte ihre Zuhörer in eine Zeit, in der das Leben einfach und bescheiden gewesen war; eine Zeit, in der das einfache Glück – die Felder zu bebauen, Tiere zu züchten oder Korn zu mahlen – genügt hatte. Eine Zeit, in der die Mittellande noch nicht in Baronien aufgeteilt waren, in der es keine Städte gegeben hatte und jeder Mensch dem Anderen ebenbürtig war. Eine Zeit, in der man die Bedeutung des Wortes Dieb nicht gekannt hatte, da die Menschen ohnehin teilten, was sie hatten.
Crystal hatte ihre Augen geschlossen. Ihre Stimme wurde eindringlicher als sie von ihrem Schmerz sang – dem Schmerz darüber, dass diese Zeit verloren war. Thorben sah sich um. In Lady Lucias Augen schwammen Tränen und die Köchin wischte sich mit einem Zipfel ihrer Schürze über die Wangen. Die Botschaft des Liedes wurde offenbar gehört. Auch er konnte fühlen wie sein Herz schwer wurde und die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die er nicht erlebt hatte, Wurzeln schlug. Crystals Gesang näherte sich seinem Ende. Ihre Stimme wurde ernster, menschlicher, als sie daran erinnerte, dass diese Zeit noch nicht lange her war und dass sie zurückgewinnen mussten, was ihre Vorväter verloren hatten. Schließlich erstarb ihre Stimme und nur der Klang der Harfe blieb wie ein Leitfaden, der den Weg zurück in die Wirklichkeit wies. Schlanke Finger dämpften dann auch diesen Klang und Crystal hob den Kopf zu ihrem Publikum. Sie blinzelte leicht, als wäre sie eben aus einem Traum erwacht. Thorben fühlte wie sein Herz einen Satz machte. Sie konnte wahrhaftig die Menschen verzaubern!
Die Lehre des Liedsangs war eine strenge Wissenschaft und die Form der Lieder immer die Gleiche – Bild, Klage, Mahnung. Doch er kannte niemand, der es so meisterhaft verstand die Vergangenheit lebendig werden zu lassen wie Crystal. Das Bild war das Kernstück jedes Liedes. Es gab unzählige Bilder – Texte und Melodien, die aus der Zeit der Lieder stammten; sie wurden von den Barden gesammelt und gelehrt. Klage und Mahnung wurden von dem jeweils Vortragenden selbst ersonnen.
Thorben beobachtete wie Crystals weiße Finger zum Abschied zart über die Saiten der Harfe strichen. Er würde bekommen, was er wollte. War das nicht immer schon so gewesen?
Crystal hatte sich leise zurückgezogen. Sie wusste, dass man ihr nun eine Weile Ruhe gönnen würde und so war sie auf einen der Balkone geflüchtet, um die Aussicht auf das Land zu genießen. Die Felder rund um die Burg standen in sattem Gold und wogten, so weit das Auge reichte, in der Abendsonne. Crystal atmete die kühle Luft in gierigen Zügen ein und wartete darauf, dass sich das gewohnte Gefühl der Niedergeschlagenheit legte, das sie jedes Mal erfasste, wenn sie eines der Lieder spielte, um derentwillen die Liedmeister so hoch geachtet waren. Die steinerne Brüstung unter ihren Fingern fühlte sich glatt und fest an, als Crystal gedankenverloren darüber strich. Hier war sie zu Hause und auch wenn die Burg nicht mehr war als ein Haufen Steine – ihr bedeutete sie alles. Crystal war hier aufgewachsen und die Steine waren voller Erinnerungen. Auf diesem Balkon hatte sie mit ihrer Mutter gesessen und ihr auf der Harfe vorgespielt, bis sie schließlich müde wurde und auf deren Schoß kroch. Im Innenhof hatte sie der Köchin geholfen Bohnen auszulösen und mitangesehen wie man ein Schwein schlachtete. Sie erinnerte sich noch an ihr eigenes Weinen, weil ihr das Tier so leid getan hatte. Gemeinsam mit Rhys hatte sie hier gespielt. Lächelnd erinnerte sie sich, dass er sie stets hatte gewinnen lassen, obwohl ihr um ein paar Jahre älterer Bruder sie leicht hätte besiegen können. Ob sie ein einfaches Bauernhaus genauso lieben würde, wenn sie als Bauerntochter auf die Welt gekommen wäre? Entschlossen verdrängte sie solche Gedanken. Sie erinnerte sich an etwas, was Meister Martim vor langer Zeit zu ihr gesagt hatte:
„Du hast zweifelsohne Talent, Crystal, doch merke dir eins – einen wirklichen Meister erkennt man nicht an seiner Fingerfertigkeit oder seiner klaren Stimme. All das ist wichtig, doch es kann durch Übung errungen werden. Wäre es so einfach, dann wäre das Singen der alten Lieder keine Kunst, sondern nur ein Handwerk. Nein, einen wirklich guten Barden erkennst du an seiner Fähigkeit zur Sehnsucht. Nur wer sich aus ganzem Herzen nach dem Licht sehnt, schafft es Bilder von wunderbarer Eindringlichkeit zu singen, Klagen zu ersinnen, die einem das Herz brechen und Mahnungen zu schaffen, die so deutlich sind, dass keiner sie je vergisst.“
Crystal hatte den Weg, den sie eingeschlagen hatte, nie bereut. Ohne ihre Harfe fühlte sie sich kaum wie ein ganzer Mensch, doch die Verantwortung, die sie als Liedsängerin trug, lastete manchmal schwer auf ihr. Wie sollte sie den Menschen die Veränderungen erklären, die sie selbst kaum verstand?
Ein leises Geräusch hinter ihr ließ sie herumfahren. Unwillkürlich versteifte sie sich, als sie Lord Thorben erkannte. Wut stieg in ihr hoch. Er kannte ihren Wunsch nach Einsamkeit, der sie jedes Mal überkam, nachdem sie vorgespielt hatte – warum also respektierte er ihn nicht? Unwillkürlich straffte sie die Schultern. Sie war ziemlich groß für eine Frau und daran gewohnt Andere zu überragen, doch dass sie größer als Thorben war, bereitete ihr stille Freude.
„Euer Spiel war wie immer bezaubernd“, meinte er und trat näher an sie heran als es schicklich gewesen wäre.
Crystal versuchte zurückzuweichen, doch das steinerne Balkongeländer verhinderte es. „Ich danke Euch. Ich merke gerade, dass es schon spät geworden ist und dass ich mich zurückziehen sollte.“
Thorben nickte und Crystal wollte schon befreit aufatmen, als er plötzlich nach ihren Händen griff. „Was ich Euch sagen möchte wird nicht lange dauern.“ Crystal hatte Mühe die Augen nicht gequält zu verdrehen. Nicht schon wieder! Thorben strich mit seinen Daumen über ihre Handflächen, in einer Geste, die – wie Crystal vermutete – zärtlich sein sollte. Die Wirkung wurde allerdings verdorben, da sie spürte, dass seine Hände vor Aufregung feucht waren. Sie versuchte ihm ihre Hände zu entziehen, doch er hielt sie fest und zog sie nur näher zu sich. „Lady Crystal, Ihr müsst mich anhören. Ihr wisst, was mein Herz begehrt.“ Er stand jetzt so nahe bei ihr, dass sein Atem ihre Wange streifte.
Panik erfasste sie. „Lasst mich gehen, Lord Thorben.“ Zu ihrer Schande merkte sie, dass ihre sonst so sichere Stimme zitterte.
„Crystal“, raunte er in ihr Ohr. „Deine Musik spricht direkt zu meinem Herzen. Ich weiß, dass du noch sehr jung bist, doch du musst keine Angst haben.“
Crystal zuckte erschrocken zusammen, als sie seinen Mund an ihrem Ohr spürte. „Ihr missversteht mich!“, rief sie aufgebracht. Sie hatte sich seine Unverfrorenheit jetzt lange genug bieten lassen. Erbost stieß sie ihn von sich und eilte mit schwingenden Röcken in Richtung ihres Gemaches davon.
Über den Feldern Kornthals versank die Sonne und tauchte den Weizen in sanftes, rotes Licht, doch Thorben hatte keinen Blick für die Schönheit der Natur, als er – wie von den Dunklen gehetzt – in den Stall lief und dort einen der Stalljungen anfuhr, dass er ihm sein Pferd satteln sollte. Er konnte sehen, wie ihn der Junge einen Moment lang erstaunt und verschreckt ansah, bevor er sich davonmachte um den Befehl auszuführen. Thorben bebte vor unterdrückter Wut. Er hatte sich zum Narren gemacht. Was hatte sie nur an sich, das ihn wieder und wieder seinen Stolz vergessen ließ? Als der Junge zurückkehrte, riss er ihm ungeduldig die Zügel aus der Hand und schwang sich in den Sattel seines Wallachs. Das Tier spürte die Aufregung seines Herrn und begann nervös zu tänzeln. Thorben zog unsanft an den Zügeln und brachte sein Pferd mühsam unter Kontrolle. Er ließ den ratlosen Stalljungen zurück, als er seinem Pferd die Sporen gab und in Richtung Feldstadt davon ritt. Thorben ließ die Zügel schießen und erlaubte seinem Pferd in einen schnellen Galopp zu fallen. Er würde Rhys erklären müssen, warum er so überstürzt abgereist war, dachte er ärgerlich. Andererseits konnte sich sein Freund den Grund vermutlich denken. Immerhin kannte er Crystals unbändiges Wesen besser als irgendjemand sonst. Thorben war so in seine Gedanken versunken, dass er die drei Gestalten, die den Weg verstellten, erst bemerkte als es beinahe schon zu spät war. Er riss scharf an den Zügeln und brachte sein Tier zu einem abrupten Halt. Die Hufe seines Pferdes wirbelten Staub auf, so dass die Gestalten für einen Moment seinem Blickfeld entzogen waren. Wer waren sie und warum um alles in der Welt standen sie mitten auf dem Feldweg? Thorben schnaubte wütend, doch als sich der Staub etwas lichtete und er die drei Menschen, die vor ihm standen, genauer in Augenschein nehmen konnte, verflog seine Wut und machte maßlosem Erstaunen Platz. Er hatte noch nie so eigenartig gekleidete Frauen gesehen, denn dass sie Frauen waren nahm er an, obwohl er eigentlich wenige Anhaltspunkte dafür hatte. Alle drei trugen Hosen, die jedoch mit nichts zu vergleichen gewesen wären, was er in den Mittellanden je gesehen hatte. Und dass obwohl er weit gereist war! Er hatte sechs der dreizehn Baronien besucht – dessen konnten sich nur wenige rühmen. Die meisten Menschen kamen in ihrem Leben nie über die Grenze der eigenen Baronie hinaus. Wer also waren diese Frauen, die schweigend vor seinem Pferd standen und keine Anstalten machten den Weg freizumachen. Thorben schien, als würden auch sie ihn mustern. Er kniff die Augen zusammen. Ja, jetzt war er sich ganz sicher, dass es sich um Frauen handelte, denn unter den Oberteilen zeichneten sich ihre Brüste deutlich ab. Sie trugen Tücher über dem Mund und eigenartige Stoffgebilde um den Kopf geschlungen. Das Schweigen zog sich in die Länge und Thorben merkte, wie seine Hände anfingen zu schwitzen und er die Zügel fester fassen musste um sie nicht zu verlieren.
„Wir wollen Euch helfen, Lord Thorben“, hörte er schließlich. Er fand es schwierig festzustellen, welche der Frauen gesprochen hatte, da er nicht sehen konnte, welche von ihnen den Mund bewegte. „Wir wissen, was heute passiert ist. Kein Mann sollte je von einer Frau so gedemütigt werden.“ Die Stimme klang einschmeichelnd und Thorben fühlte, wie ihm vor Scham das Blut in die Wangen schoss.
„Eure Lady ist zu hochmütig“, fuhr die Stimme fort. Er war sich fast sicher, dass jetzt die Frau sprach, die auf der linken Seite stand, doch konnte er es nicht mit Sicherheit sagen, weshalb er gehetzt zwischen den Dreien hin und her sah. „Was sie brauchen würde ist eine Lektion, die sie lehrt, einen Mann zu respektieren.“
„Einen Mann wie Euch…“ Thorbens Blick flog nach rechts. Hatte sie eben gesprochen? „Wir können Euch dabei helfen. Wir könnten Ihr eine Lektion erteilen.“
Thorbens Verstand arbeitete hektisch. Diese drei Frauen waren ihm nicht geheuer, doch was sie sagten klang verlockend. „Wer seid ihr überhaupt und was wollt ihr hier?“, fuhr er sie an.
„Wir sind Reisende auf dem Weg nach Süden; wir sind nur zufällig in der Gegend.“
Misstrauisch kniff Thorben die Augen zusammen. Irgendwie glaubte er ihnen nicht, doch er beschloss die Erklärung vorerst einmal hinzunehmen. „An was für eine Lektion habt ihr gedacht?“
„Wir könnten ihr einen Schrecken einjagen, sodass sie erkennt, dass das Leben an der Seite eines Mannes durchaus seine Vorteile hat.“
Unwillkürlich hob Thorben seine Hand und begann hektisch seinen Bart zwischen den Fingern zu zwirbeln. Instinktiv wusste er, dass es klüger wäre sein Pferd zu wenden und auf dem schnellsten Weg zur Burg zurückzureiten, doch seine Hand weigerte sich den Befehl zum Wenden zu geben und er starrte die Frauen stumm an. Schließlich gab er sich einen Ruck. „Was wollt ihr dann von mir?“, stieß er hervor.
„Um den Plan zu verwirklichen, bräuchten wir Informationen über die Burg. Schließlich wollen wir nicht aus Versehen in das falsche Schlafgemach stolpern.“
Thorben runzelte unwillig die Augenbrauen; das Ganze gefiel ihm nicht. Doch was war schon dabei, wenn er ihnen verriet, in welchem Gemach Crystal schlief? Immerhin waren es nur Frauen. „Und ihr wollt ihr wirklich nur einen Schrecken einjagen, sonst nichts?“, erkundigte er sich betont gelassen. Im Geiste sah er die völlig verängstigte Crystal schon in seine Arme fliehen. „Ich meine, ihr wollt ihr doch nichts antun, oder?“
Ein leises Lachen ertönte und Thorben war sich ziemlich sicher, dass es aus allen drei Kehlen stammte. „Aber Lord Thorben, was würde Euch eine tote Braut nutzen?“
Es war schon ziemlich spät geworden, als Crystal endlich ihr Gemach betrat, die Wildlederschuhe achtlos beiseite schleuderte und mit den Zehen in dem weichen Teppich versank, der vor der Feuerstelle lag. Sie hatte gemeinsam mit Lucia für Joy eine Gutenachtgeschichte erfunden und da sich Lucia und sie selbst mit immer tolleren Einfällen überboten hatten, war Joy nicht müder geworden, sondern im Gegenteil immer aufgeregter. Crystal lächelte ihrem Spiegelbild zu, als sie vor ihrem Schminktisch Platz nahm. Der Schrecken des Nachmittags war vergessen und als sie jetzt die schweren Locken löste und geduldig begann ihr Haar auszubürsten, fühlte sie ein fast unerträgliches Glücksgefühl in ihrer Brust. Sie zweifelte nicht daran, dass ihr Bruder ihre Entscheidung billigen würde, dafür würde Lucia schon sorgen. Rhys’ Frau war ihre beste Freundin und Hüterin ihrer geheimsten Gedanken. Lucia wusste, dass Crystal davon träumte zu den Liedsängern des Nordens zu reisen, um dort neue Lieder zu lernen – und Crystal wusste, dass sich Lucia nichts sehnlicher wünschte als ein zweites Kind.
Ein leises Klopfen schreckte Crystal aus ihren Gedanken. Ruckartig hob sie den Kopf und als sich die Bürste in ihren Locken verfing, schrie sie vor plötzlichem Schmerz wütend auf. Anstatt einer Antwort auf sein Klopfen erhielt Rhys also einen wütenden Aufschrei, was ihn aber nicht daran hinderte das Gemach zu betreten. „Alles in Ordnung?“
„Komm herein, Rhys“, seufzte Crystal resigniert und legte den Kamm beiseite. Ihr Bruder durchmaß mit raschen Schritten den Raum und nahm ganz in ihrer Nähe auf der Bettkante Platz. „Ich nehme an, dass du der Grund für Thorbens überstürzten Aufbruch bist“, begann er ohne Einleitung.
Crystal musterte ihren Bruder. Er wirkte eigentlich nicht wütend, nur neugierig. Vermutlich hatte Lucia schon mit ihm gesprochen. „Er hat versucht mich zu küssen“, entfuhr es ihr entrüstet.
Rhys lachte leise. „Ich muss gestehen, ich kann deine Empörung nicht ganz nachvollziehen. Ich für meinen Teil küsse ganz gern und du bist wahrlich alt genug. Ein bisschen Übung würde dir nicht schaden.“
„Rhys!“, rief Crystal empört aus. Es dauerte einen Moment bis sie begriff, dass ihr Bruder sie nur aufzog. Dann lachte sie gutmütig und drohte ihm mit dem Kamm. „Ich weiß doch, dass du Thorben gut leiden kannst und ich habe ja auch nichts gegen ihn. Eigentlich. Doch ich bin nun mal nicht in ihn verliebt und du schlägst doch wohl nicht vor, dass ich ihn trotzdem heiraten soll, oder?“ Crystal konnte sehen, dass Rhys die Brauen gerunzelt hatte. Sie spielte ihre Trumpfkarte aus. „Gerade du solltest doch verstehen, dass ich nur aus Liebe heiraten möchte!“ Rhys’ Gesichtsausdruck wurde merklich sanfter. Es war kein Geheimnis, dass sich die schöne Lady Lucia und der Lord des Kornthals vor Jahren Hals-über-Kopf ineinander verliebt hatten.
„Du weißt, dass ich dich nie zu einer Entscheidung drängen würde, die dich unglücklich macht“, meinte Rhys schließlich. Crystal nickte dankbar und lächelte ihren Bruder an.
Plötzlich wurde die Tür so ungestüm aufgerissen, dass die Geschwister erschrocken herumfuhren. Lady Lucia stürmte im Nachtgewand und mit gelöstem Haar in Crystals Gemach. Crystal kannte ihre Schwägerin zu gut, um den gehetzten Ausdruck auf ihrem Gesicht zu missdeuten: irgendetwas war passiert.
Rhys sprang beim Anblick seiner Frau auf und machte unwillkürlich ein paar Schritte auf sie zu. „Um der Weisheit Talos’ Willen, was ist denn passiert?“, rief er erschrocken aus. Crystal war nicht fähig irgendetwas zu sagen – vor lauter Schreck war ihr der Hals wie zugeschnürt.
„Es sind Fremde in der Burg, Rhys“, stieß Lucia hervor, als sie in die Arme ihres Mannes sank. „Ich wollte nach Joy sehen und da waren diese dunkle Gestalt – Rhys, ich glaube, sie hatte ein Messer!“
Rhys warf Crystal einen beunruhigten Blick zu und streichelte seiner Frau über den Rücken. „Bist du dir sicher? Ich meine, kann es nicht sein, dass du dich getäu…“
Noch bevor Rhys den Satz vollenden konnte, barsten die beiden Fenster des Gemaches mit einem lauten Klirren. Zwei schlanke Gestalten schwangen sich durch die Öffnungen und zogen noch im Fallen seltsam gebogene Schwerter, die sie an den Hüften getragen hatten. Crystals Augen wurden groß. Nicht einmal bei den geschicktesten Gauklern hatte sie je so eine Körperbeherrschung gesehen. Es dauerte nur einen Augenblick und die beiden seltsam gewandeten Gestalten standen vor ihnen, die beiden Klingen vor der Brust gekreuzt. Crystal hatte sich unwillkürlich näher an ihren Bruder und Lucia heran geschoben. Die Panik, die sie selbst empfand, spiegelte sich in den Gesichtern ihrer Verwandten wieder. Ein Schrei stieg in ihrer Kehle hoch, doch noch bevor sie den Mund öffnen konnte, flog die Tür ein zweites Mal mit lautem Krachen gegen die Wand und eine weitere Gestalt betrat Crystals Schlafraum. Ihre dunklen Augen überflogen rasch das Gemach. „Welche der Beiden?“ Die Gestalten vor den Fenstern zuckten leicht mit den Schultern. Rhys packte den Stuhl, der vor Crystals Schminktisch stand und versuchte mit der anderen Hand Lucia und seine Schwester hinter sich zu schieben. Ein Stuhl gegen sechs Klingen! Panik stieg in Crystal hoch. Dieser Kampf war nicht zu gewinnen. Vielleicht konnte man mit ihnen reden... Crystal setzte zum Sprechen an, doch die Gestalt an der Tür kam ihr zuvor. „Dann eben Beide.“ Das Knirschen von Glas unter leisen Fußsohlen ließ Crystal herumfahren. Die beiden Gestalten vor den Fenstern bewegten sich langsam auf sie zu, die Schwerter gegen Rhys gerichtet, der instinktiv den Stuhl in die Höhe riss. Ein Splittern ertönte, als sich die erste Klinge tief in das Holz grub und sich dort verhakte. Der zweite Angreifer wandte sich ebenfalls Rhys zu, die Waffen zum Schlag erhoben.
Crystal sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln; gleich darauf drängte sich Lucia an ihr vorbei um ihrem Mann zu helfen, den Schürhaken, den sie aus der Halterung neben dem Kamin gelöst hatte, mit beiden Händen fest umklammernd. Keinen Augenblick zu früh, denn der zweite Angreifer hatte Lucia als neue Bedrohung erkannt und wandte sich gegen sie.
Ein triumphierender Aufschrei von Rhys zog Crystals Aufmerksamkeit erneut auf ihren Bruder. Er hatte den Stuhl mit solcher Kraft nach oben geschwungen, dass seinem Gegner das im Holz verhakte Schwert aus der Hand gerissen worden war. Crystal wollte schon erleichtert aufatmen – bis sie sah, dass das zweite Schwert von Rhys’ Angreifer direkt auf die ungeschützte Brust ihres Bruders zielte. Sie musste ihm helfen! Blindlings griff sie nach dem ersten Gegenstand, der auf dem Schminktisch neben ihr lag – es war die Specksteindose, die sie von ihrer Mutter zum elften Geburtstag geschenkt bekommen hatte! „Lucis, hilf’!“, flehte sie im Stillen, als sie Rhys’ Gegner mit aller Kraft die Dose entgegenschleuderte. Die Göttin schien ihr gewogen. Das schwere Gefäß traf die Gestalt mit solcher Wucht an der Stirn, dass sie mit einem leisen Stöhnen zu Boden ging. Im Fallen rutschte das Tuch über ihrem Mund beiseite – und eine plötzliche Erkenntnis durchzuckte Crystal. Frauen! Es waren Frauen! Unwillkürlich flog ihr Blick zu dem Angreifer, der zuletzt ihr Gemach betreten hatte. Immer noch stand die Frau – wie hatte sie nicht erkennen können, dass es sich um Frauen handelte! – scheinbar unbewegt bei der Tür, doch als sich nun ihre Blicke kreuzten, sah Crystal eine solch mörderische Wut in den dunklen Augen aufblitzen, dass sie begriff, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
Das Scharren von Metall auf Metall und ein erschrockenes Keuchen ließen Crystal herumfahren. Der Schürhaken entglitt Lucias Händen und fiel zu Boden. Ein Schmerzensschrei drang an Crystals Ohren. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen wandte sie ihren Blick Lucia zu, obwohl sie fürchtete, was sie dort sehen würde. Lucias Angreiferin machte einen Sprung zurück und kreuzte ihre Schwerter wieder. Beide Klingen waren voll Blut. Lucia ging zu Boden. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Blick suchte ihren Mann. „Rhys… Rhys…“, keuchte sie. Jedes Wort wurde von einem Schwall Blut begleitet, der ihr aus dem Mund drang und Crystal begriff dumpf, dass dies der Tod war. Sie hörte den verzweifelten Schrei ihres Bruders, sah wie er sich zu seiner Frau beugte, die Gefahr, die ihm immer noch drohte, ignorierend.
Lucias Mörderin zögerte nicht, Rhys’ Schwäche auszunutzen und war schon vorgesprungen. Einen Augenblick später steckten beide Schwerter in seinem Rücken.
Crystal fühlte ein Brechen in sich, wie von Glas, als sie begriff, dass die Frau ihren Bruder ermordet hatte. In fassungslosem Schmerz schrie Crystal ihr Leid in die Welt hinaus. Sie schrie die Liebe zu ihrem Bruder, zu ihrer Freundin – das Entsetzen über das, was sie mit ansehen musste und nicht verhindern konnte. Sie vergaß völlig, dass zwei Angreiferinnen noch unverletzt waren und dass sie selbst in höchster Gefahr schwebte. Sie hatte die Hände wütend zu Fäusten geballt und die Augen fest geschlossen. Unter der Wucht ihrer Stimme brach das Glas des Spiegels mit einem leisen Knacken und die Angreiferin, die in ihrer unmittelbaren Nähe stand, ging mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Knie und presste ihre Hände gegen die Ohren.
„Crystal! Crystal!“ Wie von weit her hörte sie die Stimme und langsam begriff sie, dass jemand nach ihr rief. Nur widerwillig öffnete sie die Augen um die Welt zu verlassen, in die ihre Stimme sie getragen hatte. Sie blickte in Lord Thorben fassungsloses Gesicht und blinzelte. Was tat er hier? Er stand nahe der Tür und hielt ein Holzbrett in der Hand, mit welchem er eine der Angreiferinnen gerade bewusstlos geschlagen hatte. „Wir müssen hier weg, bevor sie zu sich kommen!“ Crystal stand noch immer regungslos da und schaute auf ihren Bruder, der blutüberströmt über seiner Frau zusammengebrochen war. Doch dann war Thorben bei ihr, nahm ihre Hand und zerrte sie unsanft aus ihrem Gemach. Benommen stolperte Crystal hinter ihm her. „Rhys…“, schluchzte sie.
„Ich... ich wollte doch nur...“, stammelte Thorben leise; dann sah er sie fest an. „Sie sind tot, Crystal. Wir können ihnen nicht mehr helfen und wenn wir nicht wollen, dass es uns ebenso ergeht, dann müssen wir schleunigst von hier verschwinden.“
Dumpf begriff sie, dass er Recht hatte und wehrte sich nicht länger, als er sie den Gang entlang zog. Erst als sie Joys Zimmer erreichten, blieb Crystal ruckartig stehen und entzog ihm ihre Hand. „Wir müssen sie mitnehmen.“
Thorben nickte. „Mach schnell“, stieß er hervor.
Crystal öffnete die Tür. Joy saß auf ihrem Bett, die Arme um ihre Beine geschlungen. Tränen strömten über ihre Wangen. „Tante Crys!“, rief sie aus. „Ich hab Schreie gehört. Wo ist meine Mama?“
Crystals Herz brach. Wie um alles in der Welt sollte sie dem Kind erklären, was heute Nacht geschehen war?
Das letzte Licht des Tages fiel in das Turmzimmer der Akademie. Lucthen entzündete eine Kerze. Er war entschlossen die wenigen freien Stunden des Tages so gut wie möglich zu nutzen. Außerdem genoss er die Ruhe, die in der Bibliothek einkehrte, wenn es Abend wurde. Momentan hatte er den Raum ganz für sich allein. Lucthen ließ seinen Blick über die Wände wandern, genauer gesagt über die Buchrücken, die die Wände verdeckten. In der blauen Akademie gab es zwei runde Türme und dementsprechend zwei Bibliotheken. Von außen konnte man denken, dass eine Wendeltreppe bis nach oben führen mochte, doch Lucthen wusste, dass die Treppe auf halber Höhe endete. Der Raum unterhalb des Daches war mehr als zehn Mann hoch. Bücherregale, in ihrer Form der Rundung des Turmes angepasst, standen so dicht, dass die dahinter liegenden Wände nicht zu erkennen waren. Oberhalb der Regale hatte man Platz gelassen für einen Kranz aus Fenstern, der jedoch nur wenig Licht ins Innere der Bibliothek dringen ließ.
Die Exemplare, die für die Lehrlinge zugänglich waren, standen in Griffhöhe. Danach kamen ein paar Reihen an Büchern, die über lange, bewegliche Leitern zu erreichen waren und sich mit fortgeschrittener Magie beschäftigten. Die wirklich interessanten Werke allerdings befanden sich darüber. Lucthen konzentrierte sich auf einen Buchtitel, führte die Geste des Holens aus und wartete geduldig bis das Buch in seine Hand schwebte. Als einer der wenigen, vollausgebildeten Magi der Mittellande wusste er, dass die sichtbare Welt nur ein kleiner Teil der Wirklichkeit war und dass es eine größere, allumfassendere Wirklichkeit gab, die die meisten Menschen nicht begreifen konnten. Mit den Elfen war das selbstverständlich etwas anderes. Sie waren ihrem Wesen nach Magie – so sehr, dass man sagte, dass sie die feinen Linien des magischen Netzes, welches belebte und unbelebte Dinge miteinander verband, sehen konnten. Lucthens Begabung hatte sich sehr früh gezeigt und er hatte einigen Schaden angerichtet, bevor er in die Akademie gekommen war und dort gelernt hatte das Gewebe zu verstehen und gezielt zu manipulieren. Davor hatte er, ohne zu wissen was er tat, mit den feinen Fäden der Magie gespielt und einmal beinahe das Haus seines Vaters zum Einsturz gebracht. Der Körper eines Begabten war eine Waffe und er wusste nur zu gut wie gefährlich ungeschliffene Waffen waren. Jahrelange Übung hatte ihn eine eiserne Körperbeherrschung erlangen lassen und seine Waffe gut geschliffen. Dass sein Geist immer noch unbändig war, sein Wesen aufbrausend – nun das war seine Sache, solange es ihm gelang seinen Körper zu beherrschen.
Lucthen wandte sich seinem Buch zu. Er bemühte sich seit Jahren herauszufinden, warum die Menschen die Magie jahrtausendelang vergessen hatten und sie erst langsam wieder zu entdecken begannen. Die erste Akademie in den Mittellanden war vor dreihundert Jahren gegründet worden. Man nannte sie Akademie des grauen Zweiges. Sie war an der Grenze zu Feyas Reich errichtet worden und heute noch die größte Ausbildungsstätte für Magi in den Mittellanden. Danach war die Akademie gegründet worden, in der er selbst studiert hatte, jene des blauen Zweiges. Die letzte der drei mittelländischen Akademien, die des grünen Zweiges, konnte erst auf eine zweihundertjährige Tradition zurückblicken. Dort unterrichteten nur sieben Magi, denn obwohl es mehr als genug begabte Kinder im Osten des Reiches gab, weigerten sich viele Eltern ihre Kinder in die Akademien zu schicken. Der Beruf des Magi war nicht überall in den Mittellanden hoch angesehen und viele Eltern sahen nicht ein, warum ihr Kind eine Ausbildung zum Magi absolvieren sollte, wenn es genauso gut Bauer werden konnte oder Schuster. Lucthen war ziemlich erfolgreich, wenn es darum ging, Eltern zu überzeugen ihre Kinder in die Akademie zu schicken – und dazu musste er nicht einmal Magie anwenden. Es genügte meist ihnen zu erklären, wie gefährlich ihre Kinder werden konnten, wenn sie nicht lernten sich zu beherrschen, dass sie mit einer falschen Handbewegung das Haus anzünden konnten oder dass eine Berührung dazu führen konnte, dass die Kühe keine Milch mehr gaben. In den zwei Jahren, die Lucthen nun schon an der Akademie unterrichtete, konnte sich der blaue Zweig nicht über einen Mangel an Schülern beklagen und das war hauptsächlich sein Verdienst. Zugegeben, meist übertrieb er ein wenig, was das mögliche Gefahrenpotential anging – doch nur, wenn er sich davor überzeugt hatte, dass es dem Wunsch des Kindes entsprach, ausgebildet zu werden.
Plötzlich durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz, schoss die Wirbelsäule nach oben und explodierte schließlich in seinem Kopf. Unwillkürlich presste er seine Fäuste gegen die Schläfen und biss die Zähne so fest aufeinander, dass sein Kiefer knackte.
Dann sah er sie: Das offene Haar wurde ihr ins Gesicht geweht, doch sie schien es gar nicht zu bemerken. Ihre hellen, blinden Augen starrten wie gebannt in die Ferne. Was sie sah schien ihr unerträgliche Qualen zu bereiten, denn in dem zarten Gesicht stand solch tiefer Schmerz, dass Lucthen leise aufstöhnte und unwillkürlich die Hand nach ihr ausstreckte um sie zu trösten. Seine Qualen bedeuteten ihm nichts und er wollte alles, alles ertragen, wenn dadurch nur ihr Schmerz gelindert würde. Er sah wie sie leise seufzte und ihre Augen sich mit Tränen füllten. Ihre Hand hob sich langsam, wie in Trance, um eine der silberblonden Strähnen aus dem Gesicht zu streichen, als sich ihr Ausdruck plötzlich veränderte. Der Schmerz wurde greifbarer, realer. Lucthen konnte ihr Entsetzen und ihren Unglauben sehen. Einen Moment lang verstand er nicht, was geschehen war. Dann kippte sie langsam nach hinten. Ein Pfeilschaft ragte aus ihrer Brust. Er sah noch wie sich ihre Augen schlossen, wie sich der Blutfleck auf ihrem hellen Kleid langsam ausbreitete – dann verblasste das Bild.
Minutenlang saß Lucthen völlig reglos. Nur sein Herz raste ihm in der Brust als wolle es zerspringen. Schließlich zwang er sich dazu seinen Geist zu leeren und sich in Meditation gleiten zu lassen. Einem Lehrling im zweiten Jahr sollte diese einfache Übung keinerlei Probleme verursachen, doch Lucthen brauchte mehrere Anläufe, bis es ihm gelang seinen Geist zu beruhigen.
Stunden später fühlte er sich ruhig genug um die Meditation zu beenden. Er legte zitternd die Fingerspitzen aneinander und versuchte nachzudenken. Er glaubte nicht, dass sie tot war. Wenn dem so wäre würde er es wissen, sagte er sich. Ihr Gesicht, ihre Gestalt, ja ihr ganzes Wesen waren ihm so vertraut wie sein eigenes. Er kannte sie und kannte sie nicht. Vielleicht war er verrückt. Früher hatte er das tatsächlich gedacht, als er herausgefunden hatte, dass keiner der anderen Begabten Visionen von wunderschönen Frauen hatte. Mit den Jahren hatte er gelernt, dieses Geheimnis für sich zu behalten, da die Anderen darauf mit Ablehnung oder Angst reagierten. Doch für ihn war es so natürlich wie atmen, so selbstverständlich wie die Tatsache, dass jeden Morgen im Osten die Sonne aufgeht, dass er sie sehen konnte. Er hatte sie aufwachsen sehen. Als er noch ein Kind war, war auch sie ein Kind gewesen und als junger Lehrling an der Akademie war sie ihm als junges Mädchen mit spitzem Gesicht erschienen. Jetzt war sie zu der schönsten Frau herangewachsen, die er je gesehen hatte – oder eben nicht gesehen hatte, denn in Wirklichkeit hatte er das nicht. Mit einer Geste der Verzweiflung fuhr sich Lucthen durchs dunkle Haar. Er kannte nicht einmal ihren Namen. Um ehrlich zu sein, er war sich nicht einmal sicher, ob sie ein Mensch war…
Es war mitten in der Nacht als Lucthen das Tor durchschritt, das in den ersten Ring führte. Zielstrebig ging er auf die kleine Hütte zu, die seit seiner Geburt sein Zuhause gewesen war. Nach Stunden des Nachdenkens war Lucthen zu einem Schluss gekommen: es gab nur eine Person, die ihm vielleicht weiterhelfen konnte. Als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, merkte er verwundert, dass in der Wohnstube noch Licht brannte. Er fand seinen Vater in dessen Lieblingssessel vor dem Kamin vor, eine warme Decke um die Beine gewickelt. Einst war Lucthens Vater ein Talosreiter gewesen, doch mittlerweile war er zu alt um seinem König zu dienen. In den letzten Jahren hatte ihn zusehends seine Kraft verlassen; sein Haar war ergraut und beim Gehen musste er sich auf einen Stock stützen. „Warum bist du noch wach, Vater?“, erkundigte sich Lucthen neugierig, als er zu ihm trat und ihm grüßend die Hand auf die Schulter legte.
„Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du nicht heim gekommen bist“, erklärte der alte Mann mürrisch.
Lucthen unterdrückte ein Grinsen. Er war achtundzwanzig Jahre alt, ausgebildeter Magus und sein Vater sorgte sich, weil er sich ein paar Stunden verspätete… „Ich bin jedenfalls froh, dass du noch wach bist. Ich möchte mit dir reden“, meinte er, als er sich in den Sessel, der neben dem seines Vaters stand, fallen ließ.
„Ist es wichtig?“, erkundigte sich der alte Mann. „Ich meine, können wir nicht morgen Früh…“
„Es ist sehr wichtig und ich habe ohnehin schon zu lange gewartet.“
Lucthens barscher Tonfall ließ seinen Vater aufhorchen. „Was hat dich so aufgebracht, mein Sohn?“
Lucthen starrte in die Flammen. Er wusste nicht genau wie er beginnen sollte. So viel stand auf dem Spiel, denn wenn sein Vater ihm nicht weiterhelfen konnte, musste er seine Hoffnung, sie je zu finden, begraben. „Erinnerst du dich, dass ich früher manchmal von einem Mädchen geträumt habe?“, begann er. Seine Augen ruhten aufmerksam auf dem Gesicht seines Vaters und so entging ihm nicht, dass dieser sich anspannte, obwohl er sich bemühte möglichst unbeteiligt zu wirken.
„Das ist schon Jahre her.“
Langsam schüttelte Lucthen den Kopf. „Nein, ich habe nur aufgehört von ihr zu erzählen, weil niemand mir geglaubt hat.“
Eine tiefe Stille senkte sich über das Zimmer. Interessiert beobachtete Lucthen die Reaktion seines Vaters. Konnte er tatsächlich Schuldgefühle in dessen Miene lesen?
„Warum erzählst du mir das, Lucthen?“, fragte der alte Mann schließlich.
„Weil ich sie heute gesehen habe. Sie ist in Gefahr. Vater, wenn du irgendetwas weißt, dann musst du mir das sagen. Wenn ihr etwas zustößt…“, brach es aus Lucthen heraus.
„Aber wie kommst du darauf, dass ich irgendetwas…“
„Weil ich nachgedacht habe. Ich kenne dich, Vater – deine Reaktionen, immer wenn ich von ihr erzählt habe, waren … eigenartig.“
Der alte Mann starrte in die Flammen, als hätte er die Anwesenheit seines Sohnes vergessen und lange Zeit war nur das Knacken der Holzscheite und sein schweres Atmen zu hören. „Ich wollte es dir sagen, beim Licht, das wollte ich“, murmelte er irgendwann leise, wie zu sich selbst, „..aber ich habe einen Eid geschworen.“
Lucthen konnte sehen wie sein Vater mit sich rang. Es kostete ihm seine ganze Beherrschung ruhig zu bleiben und ihn nicht zu bedrängen. Schließlich schüttelte der alte Mann langsam den Kopf. „Lass uns ein anderes Mal darüber reden, mein Sohn.“
„Heute noch. Ich muss es wissen.“ Lucthens Stimme war fest und entschlossen.
Der alte Talosreiter schaute seinen Sohn traurig an. Er schien zu begreifen, dass die Zeit der Ausflüchte nun vorüber war. „Du warst noch sehr jung, vielleicht drei oder vier Jahre alt und deine Mutter war noch nicht lange tot, als ich einen Auftrag bekam. Ich sollte in die östlichen Wälder reiten und dort etwas abgeben. Damals war ich ziemlich lange fort, erinnerst du dich?“
Lucthen nickte bang. Er sagte nichts um seinen Vater nicht aus den Erinnerungen zu reißen, die ihn offensichtlich eingeholt hatten. Er schien im Feuer Dinge zu sehen, die Lucthen verborgen blieben.
„Doch als ich sah, was ich in die östlichen Wälder bringen sollte, da war mein erster Gedanke, dass ich mich weigern würde“, fuhr er schließlich fort. „Tagelang konnte ich mich zu keiner Entscheidung durchringen. Ich brachte sie her. Das kleine, süße Mädchen. Sie war noch ein Säugling und sie war blind.“
Lucthen ballte die Hände zu Fäusten um nicht unwillkürlich nach dem Netz zu greifen. Bei Lucis, das konnte nicht wahr sein!
„Du hast sie vom ersten Moment an geliebt – und sie hat dich geliebt. Wenn sie nicht in deinen Armen liegen durfte, hat sie nur geschrieen und gebrüllt, doch sobald du sie gehalten hast, sind ihre Tränen versiegt und sie hat dich mit ihren hellen Augen angesehen, als würde sie dich ganz genau erkennen.“ Dem alten Mann fiel es sichtlich schwer weiterzusprechen, doch er zwang sich dazu. „Lucthen, wenn du nicht alles gewesen wärst, das mir geblieben war, ich hätte dich in die Auen mitgenommen und dich bei ihr gelassen. Denn beim Licht, ich wusste, dass ihr ohne einander nicht glücklich werden würdet. Doch ich konnte es nicht. Ich konnte mich dem Befehl meines Königs nicht widersetzen und ich konnte dich nicht gehen lassen. Ich hatte doch gar keine Wahl.“
Lucthen war wie vor den Kopf gestoßen. All die Jahre hatte ihm sein Vater nichts gesagt, all die Jahre… „Warum?“, fragte er schließlich. Er konnte die Bitterkeit in seiner Stimme hören, doch er hatte nicht die Kraft sie zu unterdrücken. „Warum sollte Talos wollen, dass du einen Säugling in die Auen bringst?“
Lucthens Vater schwieg lange Zeit. „Er hatte seine Gründe, doch ich kann sie dir nicht nennen.“ Die Stimme des alten Mannes hatte einen stählernen Klang angenommen und Lucthen begriff dumpf, dass er von seinem Vater auf diese Frage keine Antwort erhalten würde.
„Ihren Namen, sag mir wenigstens ihren Namen.“
Wieder schwieg sein Vater lange Zeit und Lucthen dachte schon, er würde auch auf diese Frage keine Antwort erhalten. Doch dann hörte er ihn, den einen Namen, den zu hören er sein ganzes Leben gehofft hatte.
„Liisatiina.“
Die neue Baronin von Kornthal betrat Hand in Hand mit ihrer Nichte die große Halle der Burg. In den langen Tagen ihrer Abwesenheit hatte sich nichts verändert und doch spürte Crystal, dass alles anders war. Die Dienerschaft hatte sich in der Halle versammelt um sie zu begrüßen und Crystal blickte in die vertrauten Gesichter. Marthe, die Köchin, die sie kannte seit sie das Licht der Welt erblickt hatte, der Magus Horten, der Joys Lehrer war und der damals schon sie und Rhys unterrichtet hatte, die beiden Stalljungen, die sich so ähnlich sahen, dass Crystal sie ständig zu verwechseln pflegte und schließlich Prudence, das Mädchen, das als Amme für Joy angestellt worden war – sie alle schauten ihre Herrin erwartungsvoll an und obwohl Crystal gewusst hatte, dass dieser Moment kommen würde, hatte sie das Gefühl jetzt kein Wort über die Lippen zu bringen. Thorben stand nur ein paar Schritte hinter ihr. Er war in den letzten Tagen eine große Stütze gewesen; er hatte sich um ein Zimmer in einer Taverne für Joy und sie bemüht und veranlasst, dass die Leichen von Joys Eltern der Tradition gemäß den Flammen übergeben wurden, damit sie eingehen konnten in das Licht Lucis’. Crystal hatte sich beharrlich geweigert zur Burg zurückzukehren und ihre Stellung als Baronin anzutreten. Nur Thorbens Überredungskunst war es zu verdanken, dass sie schließlich begriff, dass die Angreifer dieser furchtbaren Nacht geflohen waren und nicht wiederkommen würden. Der Gedanke, an den Ort zurückzukehren, an dem ihre Liebsten gestorben waren, war Crystal unerträglich erschienen.
Es hatte Tage gedauert Joy zu erklären, was passiert war; dass ihre Mutter und ihr Vater nicht wiederkommen würden, dass sie jetzt bei Lucis waren – bei Sonne, Mond und Sternen und allem was licht und gut war. Joy weinte bis sie keine Tränen mehr hatte und verkündete, dass sie ihre Eltern viel dringender brauchte als Lucis. Crystal konnte ihr die Blasphemie nicht verdenken. Der Tod war für sie nicht zu verstehen, wie konnte sie da erwarten, dass ihn ein Kind verstand. Crystal spürte den sanften Druck von Joys Hand und erinnerte sich daran, dass alle versammelt standen und darauf warteten, dass sie sprach. „Ihr habt euch während meiner Abwesenheit gut um die Burg gekümmert und dafür danke ich euch. Wir alle haben einen schweren Verlust erlitten, doch wir müssen weitermachen so gut wir eben können.“ Crystal merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und sie verfluchte sich im Stillen. Es war wirklich ihre Aufgabe, mit gutem Beispiel voranzugehen. Also nahm sie sich zusammen und richtete ihren Blick auf die Versammelten. „Ich würde mir wünschen, dass das Lachen und das Glück bald wieder auf der Burg Einzug halten und bin mir sicher, dass ich mit eurer Unterstützung rechnen kann.“ Marthe nickte entschlossen und die Übrigen stimmten ihr zu. Das erste echte Lächeln seit dem Tod ihres Bruders und dessen Frau stahl sich auf Crystals Lippen. Sie war wieder zu Hause.
Thorben führte sie zum Kopfende der Tafel und nahm neben ihr Platz. Wie üblich kletterte Joy auf ihren Schoß und versteckte ihren Kopf an Crystals Hals. Seit jener Nacht war sie furchtbar schüchtern geworden. An Crystals rechter Seite nahm Prudence Platz. Sie war nur ein paar Jahre älter als Crystal und war in die Dienste der Trenmains getreten, nachdem ihr eigenes Kind tot zu Welt gekommen war und Lady Lucias Milch nicht fließen wollte. Joy war inzwischen eigentlich zu alt für eine Amme, doch Prudence gehörte mittlerweile zur Familie und es wäre niemandem eingefallen sie wegzuschicken.
„Joy“, flüsterte die junge Frau ihrem Zögling leise zu und Crystal konnte sehen, wie sich ihr Gesicht schmerzlich verzog, als diese sich weigerte eine Reaktion zu zeigen. Kurz fühlte sie sich versucht das Kind einfach zu nehmen und in die Arme ihrer Amme zu setzen, doch die Kleine brauchte wohl Zeit. „Ich habe gut auf deine Puppen Acht gegeben, während du weg warst“, erklärte sie dem Hinterkopf des Mädchens.
Schließlich hob sich der dunkle Schopf und Joy sah ihre Amme interessiert an. „Ist Annabell noch krank?“, erkundigte sie sich so ernsthaft, als würde sie sich nach dem Wohlergehen eines echten Menschen erkundigen.
„Es geht ihr bereits viel besser“, versicherte Prudence ebenso ernsthaft.
Joy nickte, dann rutschte sie von Crystals Schoß. „Ich würde sie gerne sehen. Kommst du mit?“, fragte sie an ihre Amme gewandt. Prudence nickte glücklich und Hand in Hand verließen die Beiden die Halle. Crystal sah ihnen nachdenklich hinterher. In den letzten Tagen waren das Mädchen und sie keinen Augenblick getrennt gewesen und Crystal ahnte, dass sie die Schrecken jener Nacht ohne die kleine Joy nicht so gut überstanden hätte. Dadurch dass sie für jemanden verantwortlich war, der sich ganz und gar auf sie verließ, hatte sie ihren eigenen Schmerz unterdrücken müssen und hatte weitergemacht.
„Es tut mir so leid, Crystal.“ Thorben sah sie ernsthaft an. Tiefer Kummer sprach aus seiner Stimme. Crystal nickte. Es war ja nicht seine Schuld, dass er zu spät gekommen war, doch er konnte sich einfach nicht verzeihen. Seit jener Nacht schienen ihn Schuldgefühle zu plagen. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie leicht; dann wandte sie sich ab und ihre Blicke suchten den Magus Horten.
Sie winkte ihn zu sich und wartete bis er Platz genommen hatte. „Wie geht es Euch, Magus?“
Horten seufzte und strich sich mit müden Fingern über die graue Robe, die ihm bis auf die Knöchel fiel. „Die Knochen machen mir wieder zu schaffen. Nun ja, wir werden alle nicht jünger, mein Kind.“ Crystal unterdrückte ein Schmunzeln. Magus Horten hatte sich schon über seine Knochen beschwert, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und er würde wohl nie damit aufhören, sie als Kind zu bezeichnen. Vielleicht fühlt er sich dadurch jünger. „Ich wollte nicht gleich bei deiner Ankunft damit herausplatzen, doch vor ein paar Tagen ist ein Talosreiter zur Burg gekommen. Wir haben ihm ein Zimmer gerichtet, denn er wollte auf dich warten“, erzählte der alte Mann.
Crystal war nicht sonderlich überrascht. Vermutlich hatte der König gehört, was hier passiert war und der Talosreiter sollte ihr, der neuen Herrin Kornthals, nun die Wünsche seines Herrn übermitteln. „Schickt ihn zu mir“, nickte sie. Einen Talosreiter ließ man besser nicht warten.
Kurze Zeit später betrat ein Mann die Halle, dessen wehender roter Umhang ihn für jedermann deutlich als den auswies, der er war: ein Bote seines Herrn. Er verneigte sich knapp vor Crystal, die ihrerseits aufgestanden war um den Mann zu begrüßen. „Möge das Licht Eure Wege erleuchten“, richtete sie den gebräuchlichen mittelländischen Gruß an ihn.
„Mögen die Lichten ihre schützende Hand über Euch halten. Ich möchte Euch mein Beileid aussprechen, Lady Crystal.“
Crystal nickte kurz. „Ich danke Euch.“
„Es tut mir leid, wenn ich für neue Unruhe sorgen muss, doch mein Herr befiehlt Euch in den Palast.“ Trotz der höflichen Worte klang der Tonfall des Reiters nicht gerade freundlich, sondern eher streng, fand Crystal; als würden sie eine stumme Warnung enthalten, dass es nicht ratsam wäre gegen den Willen des Königs zu handeln.
Crystal nickte und ignorierte Thorben, der hinter ihr nach Luft schnappte. Seine Reaktion bestätigte ihr, was sie selbst geahnt hatte: dass es ganz und gar ungewöhnlich war, dass irgendjemand in den Palast gebeten wurde. „Wann…“, begann sie und stockte dann. Der Gedanke die Burg schon wieder zu verlassen, war tatsächlich unangenehm, vor allem da sie dieses Mal Joy nicht würde mitnehmen können.
„So bald als möglich“, erwiderte der Talosreiter, der ihre Zweifel nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte.
„Dann werde ich packen und mich von meiner Nichte verabschieden“, seufzte Crystal. Es hatte keinen Sinn das Unvermeidliche hinauszuzögern.