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Kapitel 2

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Der Schankraum war voller Menschen und dem Jungen, der gerade dabei war seine Zauberkunststücke zu zeigen, wurde eifrig Beifall gespendet. Dawn stand am hinteren Rand der Bühne und grinste. Wenn man sich hier von Corus’ Kunststücken beeindrucken ließ, dann bedeutete das wohl, dass hier nicht allzu viele Gaukler vorbeikamen – sie würden hier gutes Geld verdienen. Vielleicht konnte sie ihren Vater sogar dazu überreden ihr einen neuen Satz Messer zu kaufen. Das wäre wunderbar…

„He Dawn, hast du deinen Kopf mal wieder zwischen den Wolken?“, riss die strenge Stimme ihres Vaters sie aus ihren Tagträumen. „Du bist dran.“

Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Warum musste sie sich auch erwischen lassen, wenn sie sich wieder mal aus der Wirklichkeit fortträumte. Sie nahm sich zusammen, sprang auf die Bühne und verbeugte sich leicht. Ihre Nummer begann damit, dass sie Bälle jonglierte; eine Übung, die sie in ihrem vierten Jahr bereits bis zur Perfektion beherrscht hatte. Erst drei, dann vier und letztendlich fünf Bälle wirbelten durch die Luft. Sie machte ein angestrengtes Gesicht und tat zweimal so, als würden ihr die Bälle beinahe aus der Hand fallen. Das brachte die Menschen dazu genauer hinzusehen, hatte ihr Vater ihr erklärt. Anfangs hatte sie das nicht verstanden. Warum sollten die Menschen Missgeschicke sehen wollen? Doch mit der Zeit hatte sie begriffen, dass ihr Vater Recht hatte. Dawn beendete den ersten Teil ihres Auftrittes, indem sie die Bälle zu Boden fallen ließ und verbeugte sich hastig. Corus reichte ihr grinsend drei brennende Fackeln und Dawn konnte hören, wie es im Schankraum plötzlich still wurde. Langsam ließ sie ihren Blick über ihr Publikum wandern. Das junge Schankmädchen hatte erschrocken eine Hand auf den Mund gelegt. Dawn konnte Furcht in ihren Augen lesen. Die meisten Männer hingegen wirkten interessiert, der Wirt besorgt. „Wenn das Mädel nicht mal mit Bällen jonglieren kann, wie soll sie dann die brennenden Fackeln unter Kontrolle halten?“, schienen ihre Gesichter zu fragen.

Dawn unterdrückte ein Grinsen. Sie würde die Taverne nicht in Brand stecken, dessen war sie sich gewiss. Drei Fackeln sausten durch die Luft und Dawn fing sie mit leichten Drehungen ihres Handgelenks mühelos auf und schickte sie gleich wieder in die Luft. „He“, rief ihr Corus vom Bühnenrand aus zu. Er hielt eine weitere Fackel in der Hand und sobald ihm Dawn den Kopf zugewandt hatte, warf er sie ihr zu. Dawn tat, als wäre sie davon völlig überrascht und als würde sie Gefahr laufen, alle vier Fackeln fallen zu lassen. Der Wirt keuchte erschrocken auf. Doch noch war die Feuershow nicht zu Ende. Dawn brachte die vier Fackeln unter Kontrolle. Höher und immer höher ließ sie sie in die Luft fliegen, bis sie schließlich, als sie sich sicher war, dass alle, aber auch wirklich alle Augen im Raum auf sie gerichtet waren, eine fallen ließ. Dawn hörte die Menschen erschrocken aufschreien, doch sie wusste, dass nichts passieren würde. Corus stand mit einem Eimer bereit und hatte die Fackel gelöscht, noch bevor sie wirklich am Boden aufschlug. Achtlos fing Dawn die restlichen Fackeln in einer Hand auf und steckte sie in den bereitstehenden Wassereimer, so dass sie zischend verloschen. Jetzt kam Dawns liebster Teil ihres allabendlichen Auftrittes. Corus reichte ihr fünf Messer, deren Klingen so lang waren wie ihre Hand. Die Messer waren perfekt ausbalanciert und scharf. Dies war der einzige Teil, der wirklich Dawns gesamte Konzentration erforderte, ihre Handflächen vor Aufregung feucht werden ließ und ihr Herz dazu brachte schneller zu schlagen. Sie warf die Messer der Reihe nach in die Luft, bis sie sicher war, einen Rhythmus gefunden zu haben, den sie halten konnte. Geduldig wartete sie auf den richtigen Moment, fing mit ihrer rechten Hand ein Messer auf und schickte mit ihrer linken eines in die Luft. Schneller als irgendjemand schauen konnte, schlug sie unter den wirbelnden Klingen einen Salto, kam wieder zum Stehen und fing das nächste Messer. Tosender Applaus brandete auf und Dawn gestattete sich ein befreites Grinsen. Wieder ließ sie die Messer tanzen bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte, dann fing sie in ihrer Linken zwei Messer und in ihrer Rechten drei. Noch bevor jemand merkte, dass sich die Klingen nicht mehr in der Luft befanden, warf sie die fünf Messer fast gleichzeitig in die Höhe. Im selben Moment sprang Dawn nach hinten ab, bog ihren Rücken, so dass sie mit den Händen auf dem Boden landete, stieß sich mit aller Kraft ab und kam schließlich auf beiden Beinen zum Stehen. Einen Augenblick später schlug das erste Messer ein und blieb knapp neben Dawns rechtem Bein im Boden stecken. Dawn hielt die Augen geschlossen, bis sie auch das letzte Messer einschlagen hörte. Dann war die Gefahr vorbei. Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass die fünf Klingen einen perfekten Kreis um sie herum bildeten. Dawn grinste glücklich. Dieser Teil ihres Auftrittes gelang ihr nicht immer fehlerfrei, wie eine lange Narbe an ihrem linken Oberarm bewies. Doch heute war alles gut gegangen. Dawn verbeugte sich so schwungvoll, dass ihr dunkler Zopf in hohem Bogen nach vorne und wieder zurück geschleudert wurde und die Leute klatschten begeistert. Das war ihr Leben und für diesen Moment liebte sie es. Ihr Vater, Corin, war der Anführer der kleinen Gauklertruppe und ein talentierter Messerwerfer. Die Leidenschaft für scharfe Klingen hatte sie wohl von ihm geerbt und obwohl er ein strenger Lehrmeister war, der nur selten ein Lob aussprach, wusste Dawn, dass er stolz auf sie war. Ihre Mutter Maija war ebenfalls Mitglied der kleinen Gruppe und so war Dawn bei den Gauklern aufgewachsen und kannte kein anderes Leben als das Umherziehen von Ort zu Ort. Die Truppe war ihre Familie. Madame Fate, die die Zukunft vorhersagen konnte; Nadia, die als Tänzerin die Männer verführte und Corus, der Zauberkünstler. Corus reiste erst seit zwei Jahren mit ihnen. Er war davor bei einer anderen Truppe gewesen, hatte jedoch von dort verschwinden müssen. Soweit Dawn wusste wegen eines Mädchens. Doch seit er bei ihnen war hatte es diesbezüglich nie Probleme gegeben und Dawn war froh, dass er mit ihnen reiste. Die anderen waren alle erwachsen; nur Corus war in ihrem Alter und so waren die Beiden gut befreundet.

„Ich wünschte wirklich, ich könnte dich davon überzeugen, dass du den Schlussteil deiner Nummer änderst“, meinte Maija seufzend, als Dawn von der Bühne gesprungen war und sich alle in einem Hinterzimmer versammelt hatten.

Dawn entwand sich ärgerlich der mütterlichen Umarmung. „Mama, du weißt genau, dass das der einzige Teil ist, der mir wirklich Spaß macht!“

„Ja ja, schon gut. Ich meine ja nur, wenn du dich bemühen würdest, könntest du vielleicht etwas weniger Gefährliches finden, das auch Spaß macht.“

Dawn schüttelte den Kopf. Dieses Gespräch hatten sie schon oft geführt. Ihre Mutter würde nie den Reiz verstehen, den die Gefahr auf sie ausübte. Doch Dawn liebte ihre sanfte, zarte Mutter. Sie wollte nicht streiten und so verließ sie das Zimmer, das ihnen der Wirt zur Verfügung gestellt hatte, nachdem seine Gäste – angeheizt von den Darbietungen – mehr Bier tranken als sonst und ihm die Gaukler so zu einem guten Geschäft verhalfen.

Dawn hatte vor, draußen ein wenig frische Luft zu schnappen. Die Sonne war schon vor einiger Zeit untergegangen, der Schankraum war jedoch immer noch gut gefüllt. Dawn schlüpfte unbemerkt zwischen den Tischen und Bänken hindurch. Auf den ersten Blick sah sie aus wie ein zu schmal gebauter Junge und so schenkte man ihr nicht besonders viel Aufmerksamkeit. Als sie an einem der Tische vorbeikam, blieb sie jedoch unwillkürlich stehen. Irgendjemand hatte seinen Geldbeutel liegen lassen. Sie zögerte einen Moment lang, dann ging sie weiter. Ihre Finger zuckten unauffällig in Richtung des Beutels und dieser verschwand zwischen den Falten ihrer weiten Leinenbluse. Dawns Herz hatte zu rasen begonnen, doch sie ging unauffällig und scheinbar ruhig zur Tür. Erst als sie draußen war stieß sie den Atem aus, den sie unwillkürlich angehalten hatte und holte ein paar mal tief Luft. Sie entfernte sich von der Taverne und untersuchte den Inhalt des Beutels. Ihre Lippen verzogen sich zu einem glücklichen Lächeln. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich schon wunderbare Dinge kaufen. Entschlossen verdrängte sie das schlechte Gewissen, das sie jedes Mal überkam, wenn sie etwas gestohlen hatte und steckte den Beutel wieder weg. Seit sie vor einiger Zeit herausgefunden hatte, dass sie ihre Geschicklichkeit nicht nur zum Jonglieren von Messern einsetzen konnte, lebte sie wesentlich angenehmer als zuvor – und noch hatte niemand etwas bemerkt…

Später an diesem Abend schlichen sich Dawn und Corus nach draußen. Gemeinsam erkundeten sie die Gegend. Dawn hatte Corus in Richtung der Felder geführt. Heute Abend hatte sie keine Lust in einem beengten Dorf zu bleiben und als sie schließlich einen Feldweg entlang spazierten, schlug Dawn ein Rad nach dem anderen um mit Corus, der gemütlich den Weg entlang spazierte, auf gleicher Höhe zu bleiben. Nach ein paar Minuten ließ sie sich erschöpft auf den Boden fallen. „Ich kann nicht mehr“, lachte sie.

Corus setzte sich neben sie mitten auf die schmale Straße. Um diese Tageszeit war es mehr als unwahrscheinlich, dass sie jemandem im Weg sein würden. „Du hast ohnehin länger durchgehalten, als ich dachte.“

Lachend boxte Dawn ihm in die Seite. „Du solltest mich nicht unterschätzen, Zauberlehrling.“

Corus nickte lächelnd. Sie hatte Recht. Obwohl Dawn klein und zierlich war, besaß sie eine nicht zu unterschätzende Kraft. Er war um einen ganzen Kopf größer als sie und doch zweifelte er nicht daran, dass sie ihn im Armdrücken jederzeit besiegen würde. Corus war weit davon entfernt Dawns Fähigkeiten zu verkennen. Irgendwie wusste er, dass sie etwas Besonderes war und diese Erkenntnis hatte nichts damit zu tun, dass sie von Tag zu Tag hübscher wurde, nun da ihre Brüste langsam anfingen die richtigen Formen anzunehmen und ihr Gesicht weiblicher wurde. Nein, da steckte mehr in ihr – ihre seltsamen Augen verrieten es. Dawn hatte es sich im weichen Gras gemütlich gemacht und ihren Kopf auf ihre Unterarme gebettet. Gedankenverloren starrte sie in den Nachthimmel. Corus tat es ihr gleich. Eine Weile schwiegen sie Beide, dann begann er ihr verschiedene Sternbilder zu erklären. Dawn lauschte geduldig, lachte nur manchmal, wenn sie nicht erkennen konnte, warum eine bestimmte Formation Bauer hieß oder Hütte. Schließlich stützte sich Corus auf einen Ellenbogen. „Denkst du, dass Madame Fate tatsächlich das Schicksal vorhersagen kann?“, erkundigte er sich gespannt.

„Genauso gut wie du echte Magie wirken kannst.“

Corus verzog gekränkt das Gesicht, doch Dawn lachte nur gutgelaunt. Er lauschte dem angenehmen Klang und konnte ihr nicht böse sein. „Ich meine es ernst, Dawn.“

Sie setzte sich auf, zog die Knie an den Körper und schwieg eine Zeit lang. Das war das Angenehme an ihr – sie trieb den ganzen Tag Schabernack und hatte nur Unfug im Kopf, doch wenn es einem gelang sie zur Ordnung zu rufen, war sie eine ernste und gute Gesprächspartnerin. „Meistens sagt sie den Leuten was sie hören wollen“, meinte Dawn schließlich. „Den jungen Mädchen, dass sie bald heiraten und entzückende Kinder zur Welt bringen werden und einem Schweinebauern, dass seine Schweine die größten und fettesten der ganzen Baronie werden.“

„Ich weiß“, entgegnete Corus, „aber manchmal scheint es mir, als würde sie tatsächlich in Trance sinken und… und wirklich etwas sehen.“

Dawn nickte langsam. „Einmal hat sie eine Vorhersage für mich gemacht.“

Corus setzte sich mit einem Ruck auf. „Was hat sie gesagt?“

„Ich weiß nicht genau…“

Ärgerlich runzelte Corus die Brauen. Er kannte Dawn gut genug um zu wissen, wann sie log. Anscheinend bereute sie es, überhaupt etwas erwähnt zu haben. „Was hat sie gesagt?“, wiederholte er.

„Ach, es war ganz eigenartig“, versuchte sie abzulenken.

„Komm’ schon…“

„Also schön, wenn du es unbedingt wissen willst. Es ist schon ziemlich lange her. Angefangen hat sie mit dem üblichen Unsinn. Ewiges Glück und die große Liebe. Na, das kennst du ja. Dann plötzlich ist ihre Stimme tiefer geworden und eigenartig dumpf. Du wirst dem Klang der Harfe nach Osten folgen und dein Schicksal finden, hat sie gesagt. Ich hab keine Ahnung was das heißen soll und wenn du mich fragst, klingt es unsinnig.“

Corus grinste. Typisch Dawn, alles als Schwachsinn abzutun, was nicht in ihr Weltbild passte. „Irgendetwas verschweigst du immer noch.“

Zu Corus’ Erstaunen nickte sie. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er noch mehr von ihr erfahren würde. „Plötzlich hat sie meine Hand los gelassen, als hätte sie sich verbrannt. Sie hat entsetzt gewirkt, Corus. Als hätte sie etwas gesehen, das ihr Angst gemacht hat.“

„Und damit hat sie dir Angst gemacht, nicht wahr?“

Dawn nickte benommen und ließ es zu, dass Corus sie in die Arme nahm. „Mach’ dir keine Sorgen, kleine Dawn. Ich lass nicht zu, dass dir etwas zustößt.“

Dawn grinste, obwohl ihr Tränen die Wangen entlangliefen. Gut zu wissen, dass es jemand gab, der auf sie achtete.

Mittstadt, die Stadt, die sich dicht an den Palast des Elfenkönigs drängte, erschien Crystal riesig. Sie hatte sogar eine Stadtmauer und Wachen, die jeden kontrollierten, der in die Stadt ein- oder ausfuhr. Crystal war selbstverständlich nicht kontrolliert worden; immerhin war sie in Begleitung eines Talosreiters unterwegs. Der Elfenbote hatte sich als schweigsamer Reisegefährte erwiesen, was Crystal jedoch nicht unangenehm war. So hatte sie genügend Zeit gefunden, ihren Gedanken nachzuhängen. Immer wieder wanderten diese zu Joy und sie erinnerte sich daran, wie ihre Nichte geweint hatte, als sie begriff, dass auch ihre Tante fortgehen würde. Crystal hatte sich bemüht, dem Kind zu erklären, dass sie gehen musste und nicht gehen wollte. Sie hoffte wirklich, dass Joy das verstand. Wenigstens hatte sie sie in guten Händen zurückgelassen. Magus Horten und Prudence würden auf die Kleine gut Acht geben. Und auch Thorben war in den Tagen der Reise immer wieder in ihren Gedanken aufgetaucht. Sie hatten ein letztes Gespräch geführt, als Crystal gerade dabei war, ihr Gepäck in Sturmmähnes Satteltaschen zu verstauen. „Willst du deine Harfe wirklich mitnehmen?“

„Ich werde sie ganz sicher nicht noch einmal zurücklassen“, hatte sie wütend erklärt und sich einen Moment später über sich selbst geärgert; diesmal war wirklich nicht er der Grund für ihre schlechte Laune. „Tut mir leid, es ist nur…“

„Schon gut. Ich verstehe dich ja. Ich wünschte, du müsstest nicht gehen.“ Crystal hatte ihm schweigend beigepflichtet. „Du weißt, dass ich alles für dich tun würde, nicht wahr? Ich… ich will dich jetzt nicht belasten, doch versprich’ mir, dass du über mein Angebot nachdenkst, während du weg bist, ja? Mehr will ich gar nicht.“

Crystal trieb Sturmmähne ein wenig an, um nicht zu weit hinter dem Rappen ihres Begleiters zurückzubleiben. Alleine würde sie sich hier niemals zurechtfinden. All die vielen Häuser und Gassen – und so viele Häuser, die über zwei Stockwerke reichten. In Kornthal war ihres Wissens nach die Burg das einzige Bauwerk, das über einen zweiten Stock verfügte und die größte Stadt, Feldstadt, sicher nicht einmal halb so groß wie diese. Crystal rümpfte die Nase als sie in eine Gasse einbogen, in der sich das Geschäft des Färbers, eine Gerberei und am Ende eine Metzgerei befanden. Der Gestank nahm ihr fast den Atem und sie beeilte sich fortzukommen. Die Stadt war rund um den Palast angelegt und Crystal erhaschte immer wieder einen Blick auf das alles überragende Gebäude. Unwillkürlich fragte sie sich, ob es mit der Magie der Elfen erbaut worden war. Die hochaufragenden Türme mit all ihren Fenstern und Balkonen erschienen ihr zu unwirklich, als dass sie von Menschenhand erbaut sein konnten. Sie fragte sich, wie viele Elfen hier wohl wohnten. Der Palast hatte gigantische Ausmaße – er war so groß wie eine ganze Stadt. Eine Stadt in der Stadt, dachte Crystal. Je näher sie dem Palast kamen, desto aufgeregter wurde sie. Ob sie wohl einen Elfen zu Gesicht bekommen würde? Crystal wusste, dass die Chance wohl eher gering war, aber man durfte ja wohl noch träumen. Der Talosreiter hielt sein Pferd schließlich vor einem der riesigen Tore an und wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte. Auf sein Zeichen hin wurden sie eingelassen und ritten gemeinsam weiter. Crystal fühlte sich wie in eine andere Welt versetzt. Die Geräusche der Stadt drangen nur gedämpft durch das Tor, das hinter ihnen wieder geschlossen wurde. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, doch bestimmt nicht den Anblick, der sich ihr nun bot. Bäume wuchsen hier und der Boden unter den Hufen ihrer Stute war mit Gras bedeckt. Hätte sie nicht gewusst, dass sie sich mitten in einer Stadt befanden, sie hätte es nicht geglaubt. In der Ferne sah sie ein weiteres Tor und dahinter die Türme des Palastes. In dem Bereich, in dem sie sich jetzt befanden, standen schöne, weißgetünchte Häuser, die jedoch zu einfach wirkten um zum Palast zu gehören. Vor den Häusern standen Frauen, die miteinander tratschten, Wäsche auf Leinen spannten oder sich um ihre Kinder kümmerten. Vereinzelt sah Crystal auch Talosreiter, die in ihren wehenden Umhängen geschäftig ihrer Arbeit nachgingen. Nur langsam begriff sie, dass das Gelände des Palastes noch um ein Vielfaches größer war, als es von draußen den Anschein hatte.

Ihr Begleiter musste ihren staunenden Blick bemerkt haben, denn er meinte: „Wir befinden uns jetzt im äußeren Ring der Menschen; unser Ziel ist der zweite Ring.“ Damit trieb er sein Pferd weiter und überließ es Crystal, ihm – nicht weniger verwirrt als zuvor – zu folgen. Er ritt auf das Tor zu, das Crystal vorhin schon bemerkt hatte. Diesmal ließen ihn die Wachen nicht so einfach passieren. Er hielt sein Pferd an und legte die Hand an die Stirn. Crystal erkannte den Gruß der Talosreiter und sah, wie ihn der Wachmann erwiderte. Auch er trug den Umhang der Botenreiter des Elfenkönigs, doch war sein Umhang mit einer prächtigen goldenen Borte eingefasst.

„Ich habe den Befehl Lady Crystal Trenmain, Baronin von Kornthal, in den zweiten Ring zu bringen.“

Der Mann mit dem prächtigen Umhang nickte bestätigend. „Wir haben Euch bereits erwartet, Lady Crystal.“

Abermals passierten sie eines der mächtigen Palasttore und wieder fand sich Crystal einer wundersamen Täuschung unterlegen. Sobald sie durch das Tor geritten war, schienen die Türme des Palastes in noch weitere Ferne gerückt zu sein und das Gelände des zweiten Ringes schien riesig. Crystal sah, dass es hier keine Frauen und Kinder mehr gab. Das ganze Gelände lag seltsam ruhig vor ihren Augen. „Nur wenige Menschen, die nicht im Dienst des Königs stehen, bekommen den zweiten Ring zu Gesicht“, meinte ihr sonst so schweigsamer Begleiter plötzlich und musterte sie interessiert. Mit einem Mal begriff Crystal, dass er genauso wenig wusste, warum man sie herbestellt hatte, wie sie selbst. Aus irgendeinem Grund gefiel ihr diese Erkenntnis und sie fühlte sich nicht mehr ganz wie ein ahnungsloser Dummkopf. Crystal beschloss, das Beste aus der Gelegenheit zu machen und sich, wenn sie schon mal hier war, alles ganz genau einzuprägen. Wenigstens hätte sie Joy eine Menge zu erzählen, wenn sie in ein paar Tagen wieder zuhause wäre. Ihr Führer ritt zielstrebig auf das größte Gebäude dieses Ringes zu. Ein einstöckiges Haus mit runden Fenstern, vor dessen Tür mehrere Männer warteten. Sobald sie angehalten hatte, wurden ihr schon die Zügel abgenommen und ihr wurde aus dem Sattel geholfen.

Ein fremder Mann führte sie ins Haus. „Wenn Ihr Euch noch schnell frisch machen wollt, dann habt Ihr hier die Möglichkeit.“ Crystal nickte dankbar und verschwand in den Raum, auf den der Mann gezeigt hatte. Jemand hatte Speisen und einen Krug Wasser bereitgestellt, doch Crystal war zu nervös um an Essen zu denken. Für das Waschbecken und das Tuch, das man bereitgelegt hatte, war sie jedoch dankbar. Sie spritzte sich kühles Wasser ins Gesicht und wischte den Schmutz und Staub der Reise von ihrem Gesicht. Mit bebenden Fingern versuchte sie die schlimmsten Falten aus ihrem dunkelgrünen Überkleid zu streifen. Sie hatte ein besonders hübsches Kleid gewählt, da sie gewusst hatte, dass sie heute das Ziel ihrer Reise erreichen würden, doch leider hatte das Gewand den Ritt hierher nicht schadlos überstanden. Die feine Goldstickerei war zerdrückt und das Unterkleid, das in einem helleren Grünton gefärbt war, war nass von Schweiß. Seufzend kniff sie sich in die Wangen und sagte sich, dass sie nicht so eitel sein sollte. Sie gönnte sich eine kurze Verschnaufpause, dann öffnete sie die Tür. Offensichtlich hatte man bereits auf sie gewartet, denn ein Mann stand neben der Tür, der ihr schweigend bedeutete ihm zu folgen. Crystal fragte sich, ob alle Männer, die für die Elfenkönige arbeiteten, so schweigsame Gesellen waren wie die, die sie bisher kennen gelernt hatte. Vor ihr wurde eine Doppelflügeltür geöffnet und Crystal fand sich in der größten Halle wieder, die sie je gesehen hatte. Sie zog sich anscheinend über zwei Stockwerke, denn die Decke war ungewöhnlich hoch und zwei übereinander liegende Reihen der runden Fenster tauchten die Halle in angenehmes Licht. Drei Männer erwarteten sie bereits und als die Türen hinter Crystal geschlossen wurden, hatte sie plötzlich das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein. Sie war jedoch fest entschlossen, sich nicht lächerlich zu machen und so trat sie ein paar Schritte auf die Herren zu. Beim Näherkommen sah sie, dass alle Drei schon älter waren und dass ihre Umhänge über und über mit Goldfäden bestickt waren. Als sie schließlich vor ihnen stand, war sie unsicher, wie sie die Männer angemessen zu begrüßen hatte und so ließ sie sich kurz auf ein Knie sinken.

„Wir sind froh, dass Ihr hier seid, Lady Crystal“, begann der größte der Männer zu sprechen. Sein dunkles Haar war von grauen Strähnen durchzogen, seine Miene wirkte streng. „Ihr habt Euch bestimmt gefragt, was der Zweck Eures Besuches ist. Nun, das ist leicht zu erklären; erstens, um Euch außer Gefahr zu wissen und zweitens, weil wir eine Bitte an Euch richten möchten.“

„Welche Gefahr?“, fragte Crystal. Die Frauen, die ihren Bruder und ihre Schwägerin ermordet hatten, waren doch verschwunden, oder? Und wenn nicht... Beim Licht, dann konnten sie die Burg jederzeit wieder angreifen!

„Der Anschlag, der Euren Verwandten das Leben kostete – habt Ihr eine Ahnung, wem er galt?“, fragte der kleinste der Männer.

Crystal schüttelte den Kopf, obwohl das nicht ganz stimmte. Die Worte, die eine der Angreiferinnen gesprochen hatte, gellte ihr immer noch in den Ohren. „Welche der Beiden?“ Crystal hatte wieder und wieder darüber nachgedacht, was das zu bedeuten hatte, doch sie konnte sich darauf keinen Reim machen. Sollte das heißen, dass die Frauen hinter Lucia oder gar hinter ihr her waren?

„Nun, wir haben eine Vermutung“, mischte sich jetzt der Mann ein, der bisher geschwiegen hatte. „Euer Ruf als Liedmeisterin ist weit über die Grenzen Kornthals bekannt, wie Ihr bestimmt wisst.“

Crystal war versucht einfach mit den Schultern zu zucken. Was hatte das damit zu tun und außerdem, woher sollte sie das wissen? Sie hatte bis vor wenigen Tagen die Baronie, in der sie geboren worden war, nie verlassen. Crystal nahm sich zusammen und blieb ruhig stehen; Respektlosigkeit war den obersten Talosreitern gegenüber – und Crystal vermutete, dass es sich bei den drei Männern um ‚die Drei’, die obersten Boten des Elfenkönigs, handelte – wohl nicht angebracht. „Ich weiß davon nichts, meine Herren. Mein Lehrer, der Meister Martim, ist zweifelsohne einer der bekanntesten und besten Liedmeister des Mittellandes.“

Der Grauhaarige nickte. „Er spricht nur in den höchsten Tönen von Euch.“ Er seufzte. „Meister Martim konnte ja nicht wissen wie sehr er Euch dadurch schaden würde.“

„Ich verstehe nicht…“, begann Crystal, doch der kleinste der Männer fiel ihr ins Wort. „Im letzten halben Jahr wurden in den Mittellanden bereits drei Liedmeister ermordet.“

Crystal keuchte erschrocken auf; sie konnte sich bei allem Licht der Welt keinen Grund denken, warum jemand so etwas tun sollte – und dann verstand sie plötzlich, was diese drei Herren ihr zu sagen versuchten. Tränen stiegen in ihre Augen und Crystal hatte nicht die Kraft sie wegzublinzeln. Lucia, die dunkelhaarige Schönheit, und ihr geliebter Bruder waren ihretwegen gestorben! Sie und sie allein war das Ziel dieses Angriffs gewesen. Crystal schlug die Hand vor den Mund. Wirre Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Wenn Rhys an jenem Abend nicht in ihrem Gemach gewesen wäre, wenn sie Thorbens Antrag angenommen hätte... dann wäre ihr Bruder nicht bei ihr gewesen, dann hätte Lucia in seinen Armen geschlafen und Beide wären noch am Leben.

„Euch trifft keine Schuld, Lady Crystal“, riss eine strenge Stimme sie aus dem Strudel der Verzweiflung, in dem sie zu versinken drohte.

„Wie könnt Ihr das sagen!“, rief sie außer sich. Der Gedanke an Höflichkeit war längst vergessen. „Diese Frauen waren meinetwegen in der Burg. Wenn ich nicht wäre, dann würden Rhys und Lucia noch leben!“

„Frauen?“

Das Wort wurde so scharf hervorgestoßen, dass Crystal blinzelnd zu dem Sprecher aufschaute. Sie begriff, dass bisher noch kein Opfer Gelegenheit gehabt hatte, seine Angreifer zu beschreiben. Crystal nickte hastig. „Drei Frauen mit Tüchern vor dem Mund. Sie hatten eigenartig gekrümmte Schwerter und alle drei trugen Hosen.“

„Lady Crystal, bis wir wissen um wen es sich bei den Angreifern handelt, seid Ihr und alle die bei Euch sind, in Gefahr.“ Der Blick des kleinen Mannes ruhte mitleidig auf ihr als Crystal langsam begriff, dass sie nicht zur Burg zurückkehren konnte. Sie dachte an die kleine Joy und nickte entschlossen. Egal was es sie selbst kostete, sie würde das Mädchen nicht in Gefahr bringen. Doch wo sollte sie hingehen?

Der Mann, der sich bisher zurückgehalten hatte, trat nun näher an sie heran. „Deshalb haben wir eine Bitte an Euch. In den östlichen Wäldern, tief in den Auen, lebt ein Magus, der uns vielleicht helfen kann. Lucthen Amortis, ein Lehrer der hiesigen Akademie, wird sich in den nächsten Tagen auf eine Reise in die östlichen Wälder machen und wir halten es für eine gute Idee, wenn Ihr ihn begleiten würdet.“

Crystal sah von einem zum anderen. Sie schienen diesen Vorschlag tatsächlich ernst zu meinen. In ein anderes Reich reisen! Ihr Bruder hätte sie ausgelacht, wenn sie ihm einen solchen Vorschlag unterbreitet hätte. Nicht einmal Meister Martim hatte die Grenzen des Mittellandes hinter sich gelassen und der hatte sein gesamtes Leben auf Wanderschaft verbracht. Sie wusste nichts über die Auen, außer dass ihre Königin Eidos hieß und dass das gesamte Gebiet von Wald bedeckt war. Ob sie dort überhaupt die Tradition des Liedsangs kannten? Crystal sah aus den Augenwinkeln, wie die drei Männer sich vielsagende Blicke zuwarfen. Schweigend gaben sie ihr Zeit für ihre Entscheidung. Crystal senkte den Blick, nur um die Männer unauffälliger beobachten zu können. Der Graumelierte hielt doch tatsächlich den Atem an! Die anderen Beiden tauschten bange Blicke, die von Hoffnung und Angst sprachen. Crystals Verstand arbeitete fieberhaft. Warum konnte es für diese Herren von solcher Bedeutung sein, ob sie ihren Vorschlag annahm oder ablehnte? Da musste mehr dahinter stecken als sie zugaben. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie wollten sie aus dem Reich haben, weil sie überall eine Gefahr darstellen würde! Crystal schluckte hart. Sie konnte nur hoffen, dass die Attentäter sie nicht bis in die Auen verfolgen würden.

Mit langen Schritten durchmaß Lucthen wohl zum hundertsten Mal das Zimmer. Ihm schien es, als würde er schon seit einer Ewigkeit warten. Dabei könnte er schon seit Tagen unterwegs sein! Er schnaubte ärgerlich. Diese Verzögerung gefiel ihm ganz und gar nicht; vor allem, da er sie nicht verstand. Als ihm sein Vater in jener Nacht erzählt hatte, wo er Liisatiina finden könne, war sein erster Impuls gewesen sich auf ein Pferd zu schwingen und Richtung Osten zu reisen. Sein Vater hatte ihn unter Aufbietung all seiner Überredungskünste davon überzeugt, dass es klüger wäre mit der Genehmigung des Königs zu reisen. Als Lehrer an der Akademie des blauen Zweiges stand er indirekter Weise in den Diensten des Königs und so hatte er ihn um Erlaubnis zu fragen, wenn er ein anderes Reich bereisen wollte. Also hatte er seine Ungeduld gezügelt und um eine Audienz bei den drei obersten Talosreitern gebeten. Zu seiner Überraschung war er bereits für den nächsten Tag in den zweiten Ring bestellt worden und hatte seine Bitte vortragen können. Seine wahren Beweggründe hatte er wohlweislich verschwiegen; er hatte den Reitern erklärt, dass er auf Bildungsreise gehen wollte um die Magie der Druiden zu studieren, die tief in den Wäldern von Eidos’ Reich lebten. Man hatte seine Bitte angehört und entschieden, dass er gehen durfte – unter einer Voraussetzung: dass er eine junge Baronin bis zu einem Magus begleitete, der in den östlichen Wäldern lebte. Lucthen hatte zwar keine Ahnung welche Geschäfte eine Baronin mit einem Magus aus den Auen haben konnte, doch solange er nur gehen durfte, wollte er gerne ein paar Wochen lang das Kindermädchen für eine junge und mit Bestimmtheit schrecklich verwöhnte Adelige spielen.

Doch sie hatte sich Zeit gelassen. Den dritten Tag wartete er nun darauf, dass sie endlich kam und mittlerweile hatte er einen ziemlichen Groll gegen die unbekannte Dame entwickelt. Vor einer Stunde hatte ihn die Nachricht erreicht, dass sie gerade bei den Dreien sei und dass er sich bereithalten solle; seitdem saß er wie auf Nadeln. Endlich öffnete sich die Tür und ein Talosreiter bat ihn in die Halle, die er vor wenigen Tagen zum ersten Mal gesehen hatte. Die Drei erwarteten ihn. Vor ihnen stand eine schlanke, ziemlich hochgewachsene Frau, die das rote Haar ordentlich aufgesteckt hatte und in ihrem grünen Kleid ganz ansehnlich war. Sie wandte sich ihm zu und ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Lucthen korrigierte seine Einschätzung. Sie war nicht ganz ansehnlich, sie sah gut aus. Ein zartgeschnittenes Gesicht mit großen Katzenaugen und weißer Haut. Der Ausdruck in ihren Augen war schwer zu deuten. Lucthen schienen sie dumpf zu sein. Hübsch, aber nicht besonders klug, mutmaßte er. „Lady Crystal wie ich vermute“, meinte er, als er sie schließlich erreicht hatte. „Es freut mich Euch kennen zu lernen.“

Die Frau nickte nur stumm und reichte ihm ihre Hand. Hatte eine Nachricht, die sie gerade erhalten hatte, sie so schockiert oder war sie immer so geistesabwesend?

„Wann könnt Ihr reisefertig sein, Lady Crystal?“, erkundigte sich einer der Drei.

„Ich… eigentlich sofort“, gestand sie.

„Wenn Ihr wollt, wird der Magus Lucthen Euch sicher auch nach Kornthal begleiten um Eure Sachen zu holen.“

„Das wird nicht nötig sein. Ich habe alles Nötige bei mir.“

Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und ihr Gesicht verzog sich bei diesen Worten schmerzhaft. Interessant. Lucthen fragte sich, was geschehen war, dass sie in solche Aufregung versetzt hatte. Nun, er würde während der Reise genügend Zeit haben, es herauszufinden.

Es schien niemand in der Nähe zu sein. Vorsichtshalber wartete Dawn bis die Sonne ganz untergegangen war, dann näherte sie sich ihrer Entdeckung. Vor zwei Tagen hatte sie zufällig den Hügel entdeckt. Er hatte sie wie magisch angezogen und Dawn neigte dazu, ihren Impulsen nachzugeben. Also war sie ihrem Instinkt gefolgt und auf den Hügel geklettert. Er hatte eine eigenartige Form – wie eine Halbkugel, die im Boden steckte. Irgendwie perfekt; zu perfekt für einen Hügel. An der höchsten Stelle hatte sie eine Steinplatte gefunden, die in den Boden eingelassen war. Vorsichtig hatte sie den Stein untersucht. Jemand hatte sich die Mühe gemacht Zeichen in ihn einzuritzen, die Dawn jedoch nicht entziffern konnte und als sie mit den Fingern die Kante entlanggefahren war, hatte sie es entdeckt: der Stein war eine Tür! Wenn man sich dagegenstemmte, konnte man ihn so verschieben, dass ein Loch im Boden sichtbar wurde! Sie hatte einen Kieselstein hineingeworfen, um abschätzen zu können wie tief es nach unten ging. Obwohl sie nicht glaubte, dass das Loch besonders tief war, hatte sie seufzend den Stein wieder über die Öffnung gezogen und sich auf den Rückweg in die Taverne gemacht. Es hätte nicht viel Sinn gehabt ohne Laterne und Seil in die Tiefe hinabzusteigen. Jetzt hatte sie endlich die Zeit gefunden um zurückzukehren.

Dawn entzündete die Laterne und legte das Seil bereit, dann schob sie den Stein beiseite. Ächzend fragte sie sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, niemandem zu sagen was sie vorhatte. Sie hatte überlegt, ob sie ihr Geheimnis Corus anvertrauen sollte, sich jedoch dagegen entschieden. Diesen Fund wollte sie mit niemandem teilen. Außerdem, es konnte ja sein, dass sie nichts fand als eine Grube und in dem Fall wollte sie sich nicht von Corus auslachen lassen, dass sie so viel Aufsehen um ein einfaches Loch gemacht hatte. Endlich gab der Stein nach und glitt zur Seite. Dawn suchte eine Zeit lang herum bis sie eine Möglichkeit gefunden hatte das Seil festzumachen, dann ließ sie das eine Ende in die Tiefe fallen. Sollte sie wirklich so verrückt sein und da nach unten klettern? Vorsichtig hielt sie die Laterne so weit wie möglich hinunter und versuchte den Boden auszuleuchten, doch sie konnte nichts erkennen. Der Drang umzukehren und mit Corus wiederzukommen, oder besser noch ganz fortzubleiben, wurde immer stärker. „Du bist ein Feigling Dawn!“, schalt sie sich. Der Klang ihrer Stimme gab ihr Mut und bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte, packte sie mit der einen Hand das Seil und mit der anderen die Laterne und machte sich an den Abstieg. Das Loch war tiefer als sie angenommen hatte und als ihre Füße endlich den Boden berührten, atmete sie erleichtert auf. Zitternd ließ sie das Seil los und schwenkte die Laterne so, dass sie einen Blick auf die Wände werfen konnte. Staunend stellte sie fest, dass diese mit Schriftzeichen und Reliefs verziert waren. Im selben Moment sah sie etwas, was sie kurz auflachen ließ – eine der Wände hatte einen Durchgang. Darauf hatte sie gehofft! Kurz entschlossen trat sie in die Öffnung und erkundete den dahinterliegenden Gang. Modrige, feuchte Luft schlug ihr entgegen. Dawn schluckte krampfhaft. Beim Licht! Das war ekelhaft. Doch sie dachte gar nicht daran jetzt aufzugeben! Dawn schloss kurz die Augen und zwang sich langsam einzuatmen und wieder auszuatmen. Einatmen, ausatmen. Endlich ging sie weiter. Nach ein paar Schritten teilte sich der Gang. Kurz überlegte sie welchen Weg sie nehmen sollte, dann entschied sie sich für den linken. Wenn man den rechten Weg nicht kannte, war eine Entscheidung so gut wie die andere. Als sie wieder zu einer Gabelung kam, ging sie wieder nach links und entschied sich, immer den linken Gang zu nehmen. Auf diese Weise würde sie sich nicht verirren. Je länger sie ging, desto kälter wurde ihr und bald hatte sie zu zählen aufgehört an wie vielen Abzweigungen sie vorüber gekommen war. Sie begriff, dass nicht nur der gesamte Hügel von diesen unterirdischen Gängen durchzogen sein musste, sondern auch das umliegende Land. Immer weiter in die Tiefe führten die Gänge und Dawn wurde immer banger zumute. Was, wenn sie eine Abzweigung übersah und dann den richtigen Weg zurück nicht mehr fand? Was, wenn ihre Lampe ausging und sie in völliger Finsternis zurückblieb? Sie hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, als würde die Erde sie erdrücken und ihre Atemzüge wurden flach und schnell. Sie musste all ihre Willenskraft einsetzen um nicht panisch davonzulaufen. Was tat sie hier eigentlich? Sie musste zurück, zurück ins Licht, sie musste…

Doch ihre Füße trugen sie weiter hinab und Dawn stellte fest, dass sie gar keine Wahl hatte als immer tiefer und tiefer hinabzusteigen. Ein Teil von ihr hatte Angst; der andere Teil von ihr wollte jedoch verzweifelt herausfinden, warum man diese Gänge angelegt hatte. Also ging sie, langsamer als zuvor, weiter. Je tiefer sie stieg, desto schwerer fiel ihr das Atmen, als würde die Luft immer dicker. Auch die Flamme der Laterne wurde immer unruhiger und Dawns Schatten wurde zitternd an die Wände geworfen, so dass sie herumfuhr, weil sie glaubte aus den Augenwinkeln eine Bewegung gesehen zu haben, nur um dann festzustellen, dass sie sich vor ihrem eigenen Schatten gefürchtet hatte. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen ging sie weiter, bis der Gang schließlich breiter wurde und in einem großen Raum endete. Der Schein der Laterne reichte nicht aus um ihn ganz zu erleuchten. Vorsichtig ging sie weiter in den Raum hinein. Er war leer bis auf einen Altar am hinteren Ende, die Wände waren aus Erde, so dass der Raum wie eine Höhle aussah. Als der Schein der Lampe auf den Altar fiel, reflektierte irgendetwas, das sich dort befand, das Licht, so dass Dawn einen Moment lang geblendet wurde. Sie hob ihre freie Hand schützend vor die Augen und trat näher heran.

Ihr stockte der Atem, als sie schließlich sah, was auf dem Altar lag – ein Schwert! Das Heft war wunderbar verziert und die Klinge blitzte im Lampenlicht, als wäre sie erst gestern poliert worden.

„Lauf… lauf so schnell du kannst und komm nie, niemals wieder hierher!“ Erschrocken fuhr Dawn herum. Wer hatte das gesagt? Zitternd sah sie sich im Raum um. Es war niemand hier. Warum also hatte sie das Gefühl als würde sie in tödlicher Gefahr schweben? Sie wollte umkehren, diesen Raum, die Gänge, den Hügel verlassen... trotzdem machte sie einen Schritt nach vorne. Dawn konnte nicht anders, sie musste, MUSSTE dieses Schwert berühren, auch wenn sie das Gefühl hatte, dass es ihr Ende wäre. Einmal nur... Schon streckte sie die Hand aus und legte sie zitternd um das Heft. Dawn hatte nicht vorgehabt die Waffe zu nehmen, doch plötzlich lag sie in ihrer Hand. Wie in Trance vollführte sie ein paar Schläge. Perfekt! Obwohl die Waffe groß und wuchtig war, konnte Dawn sie so mühelos führen wie eines der Messer, die sie zum Jonglieren benutzte. Sie lachte. Wer hätte gedacht, dass sich tief unter der Erde solch’ ein Schatz verbarg!

Als die Bilder kamen, ging sie unwillkürlich in die Knie. Sie sah ein Gesicht, das so schön wie kalt, so makellos wie grausam war. Augen wie flüssiges Gold starrten sie an, schienen ihr bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken. Beim Licht, wer war er? Sein Haar glänzte in der Farbe von frisch gebrautem Bier, sein perfekt geschwungener Mund war zu einem grausamen Lächeln verzogen. Er hielt ein Schwert in der Hand. Ihr Schwert! Es dauerte eine Weile bis Dawn begriff, dass er sie gar nicht sah, dass er durch sie hindurch blickte, auf einen Mann, der ihm gegenüber stand. Schneller als dieser reagieren konnte, wirbelte der Fremde plötzlich herum und stieß sein – ihr Schwert! – Schwert tief in die Brust seines Gegners. Blut spritzte; Dawn schrie auf. Sie versuchte das Schwert, das sie in der Hand hielt, fallen zu lassen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Unbewegt zog der Fremde sein Schwert aus der Brust des Toten, wischte es ab und steckte es zurück in die Scheide, die an seinem Gürtel hing. Seine Miene verriet nicht eine Spur von Bedauern.

Das Schwert entglitt Dawns tauben Fingern und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden.

Sie waren seit fünf Tagen unterwegs und Crystal, der die lange Zeit, die sie im Sattel verbringen musste, zu schaffen machte, fühlte sich von den Eröffnungen der Drei noch immer ganz benommen. Sie sehnte sich nach Joy und hatte gleichzeitig Angst sie wiederzusehen – nun da sie wusste, dass sie für den Tod ihrer Eltern verantwortlich war. Seit sie denken konnte hatte Crystal immer davon geträumt Kornthal zu verlassen und zu erforschen was jenseits der Grenzen auf sie wartete, doch nun da das Unglück in Gestalt dreier vermummter Frauen über sie hereingebrochen war, hatte sie kaum einen Blick für die Landschaft und die Dörfer, durch die sie ritten. Sie überließ dem Magus die Auswahl der Tavernen und auch das Reisetempo bestimmte er. Sie saß einfach auf ihrem Pferd und starrte den Rücken ihres Begleiters an. Normalerweise hätte sie ihm Fragen gestellt; Fragen über die Magie, denn Magus Horten hatte sich immer hartnäckig geweigert darüber zu reden. „Die Magi des grauen Zweiges sind ja mehr Gelehrte als wirkliche Magi. Ich kann nur ein paar Gesten und um die größeren Zusammenhänge zu erklären bin ich wirklich nicht der Richtige“, pflegte er zu sagen.

Ihre Schuldgefühle drückten ihr so schwer aufs Herz, dass jeder Atemzug schmerzte und dass sie sich ständig konzentrieren musste um nicht zu weinen. Sie hatte keine Kraft für Fragen. Manchmal merkte sie, dass Lucthens stechend blaue Augen interessiert auf ihr ruhten, als wäre sie ein Rätsel, das es zu lösen galt, doch er respektierte ihr Schweigen und dafür war Crystal ihm dankbar. Abends vor dem Einschlafen, wenn sie in einem fremden Bett lag und eine fremde Decke anstarrte, fragte sie sich, ob sie sich von jetzt an immer so fühlen würde. Als wäre sie für sich selbst eine Fremde. Als wäre der Teil von ihr, der lachen konnte und der fröhlich war, in ihrem Körper gefangen. Ihr linker Oberschenkel streifte flüchtig ihre Harfe und sie zuckte zurück. Sie hatte seit jener Nacht nicht mehr gespielt. Dabei sehnte sie sich so sehr danach spielen zu können, vergessen zu können – wenigstens einen Moment lang. Doch ein Teil von ihr fürchtete sich auch davor. Sie dachte darüber nach, dass sie nicht einmal wusste durch welche Baronie sie gerade ritten und schämte sich. Durfte sie wirklich so gleichgültig sein? Als Lucthen schließlich vor einer Taverne sein Pferd anhielt und abstieg, ließ sich auch Crystal aufseufzend aus Sturmmähnes Sattel gleiten. Es war gut, dass sie heute früher Rast machten. Sie brauchte dringend eine Pause. Gemeinsam führten sie die Pferde in den Stall. Ein Stallbursche, der ihnen geschäftig entgegenrannte und der sich – nachdem er gesehen hatte um welch prachtvolle Tiere es sich handelte – vor Hilfsbereitschaft fast überschlug, nahm ihnen die Zügel ab und bat sie nach drinnen. Sie folgten seinem Rat, dankbar sich nicht um die Pferde kümmern zu müssen. Die Schankstube war ziemlich voll, wie Crystal überrascht bemerkte, sah jedoch ganz einladend aus. Lucthen hatte eine gute Wahl getroffen, wie stets bisher. Irgendwann sollte sie ihm für seine Umsicht danken.

„Wollen wir nach Zimmern fragen oder essen wir erst einmal?“, fragte er sie. Crystal war nicht hungrig, bemerkte jedoch seinen gierigen Blick, als er den Eintopf förmlich mit Blicken verschlang, den ein Bauer in sich hineinschaufelte.

„Lass uns gleich etwas essen“, meinte sie deshalb und zeigte auf einen der freien Tische. Lucthen nickte dankbar und sie setzten sich. Sie tranken leichten Wein und aßen den Eintopf, der nicht einmal schlecht war und zum ersten Mal seit Tagen entspannte sich Crystal etwas. In der Schankstube war es wohlig warm und die vielen Stimmen bildeten einen angenehmen Geräuschteppich. Sie musste vom Reiten doch müder sein als sie gedacht hatte, denn sie wäre beinahe eingenickt; doch dann riss sie eine Stimme aus ihrer Benommenheit. Crystal blinzelte und blickte den großen, dunkelhaarigen Mann – ein Bauer wie sie vermutete, denn seine Kleidung war einfach – verwirrt an.

„Ob Ihr auf der Harfe auch spielen könnt, meine ich?“, wiederholte er und deutete mit dem Kinn zu der Harfe, die neben Crystals sonstigem Gepäck bei ihren Knien stand. „Ich meine, ob Ihr eine Liedmeisterin seid oder einfach nur ein bisschen musiziert?“

Crystals erster Impuls war zu leugnen. Schließlich gab es in den Mittellanden Menschen die Barden Böses wollten und es wäre vermutlich klug, wenn sie dem Mann erklärte, dass sie die Harfe kaum beherrschte. Doch Crystal brachte die Worte nicht über die Lippen. Sie konnte Meister Martims Ausbildung nicht so herabwürdigen – sie konnte nicht alles verleugnen was sie war! Mit einem Mal bildete sich ein Klumpen Wut in ihrem Bauch. „Ich bin eine Liedmeisterin“, sagte sie selbstsicher. Sie sah wie Lucthen erstaunt die Brauen hob. Ein seltsamer Anblick, fand Crystal. Bisher hatte er stets eine stoische Selbstbeherrschung an den Tag gelegt. Dass er jetzt zum ersten Mal eine Regung zeigte, erboste sie nur noch mehr. Was hatte er gedacht wer sie war?

Crystal konnte nicht wissen, wie schön sie in diesem Moment wirkte. Ihre Augen sprühten grüne Funken und ihre Wangen hatten sich vor Eifer leicht gerötet. Lucthen sah zum ersten Mal ihr wahres Wesen, nicht nur die leere Hülle, die er bisher kennen gelernt hatte.

Auch der Bauer war ziemlich eingeschüchtert. Echte Liedmeister waren selten und hoch angesehen. Es dauerte einen Moment bis er sich gesammelt hatte, dann meinte er, „Bitte spielt uns doch etwas…“ Sein Tonfall hatte sich völlig verändert und Crystal begriff, dass seine Frage ursprünglich als Scherz gedacht gewesen war – er hatte sie nicht für eine Liedmeisterin gehalten. Nun, sie würde es ihnen schon zeigen! Sie nickte hoheitsvoll und machte sich daran ihr Instrument auszupacken. Verärgert bemerkte sie, dass ihre Finger zitterten. Sie würde doch jetzt nicht Angst haben zu spielen? Entschlossen schluckte sie. Oh nein, die Angreifer würden sie nicht zum Schweigen bringen, sie nicht. Als sie sich schließlich mit der Harfe in der Hand setzte, hatte sich im Schankraum Stille breit gemacht. Einer Liedmeisterin hörte man zu. Crystal warf Lucthen einen kurzen Blick zu und lächelte, als sie seinen besorgten Gesichtsausdruck bemerkte. Er würde schon sehen… Sie hatte nicht darüber nachgedacht, welches Bild sie spielen würde und wie von selbst stimmten ihre Finger eines der Berühmtesten überhaupt an. Ein Bild, das von der Liebe erzählte. Von einer Frau und einem Mann, die sich trafen und verliebten, davon wie sie Kinder bekamen, alt wurden und schließlich friedlich starben. Crystal hatte den Kopf gesenkt und spielte voller Hingabe. Als das Bild zu Ende war, stimmte sie leise die Klage an und plötzlich brach in ihrem Inneren ein Damm. Crystal sah Rhys vor sich – wie er ihr strahlend erzählt hatte, dass er um Lady Lucia angehalten hatte und erhört worden war. Sie sah Lucia, die voller Stolz verkündete, dass sie guter Hoffnung sei. Ihr ganzer Schmerz ob des Verlustes dieser beiden Menschen floss in ihre Klage mit ein, ihre Wut und ihr Zorn über die Ungerechtigkeit, dass sie sterben mussten und ihre Sehnsucht, sie wiederzusehen. Wie von selbst glitt sie schließlich in die Mahnung die Liebe zu ehren, wo man sie auch fand. Als sie geendet hatte, merkte sie benommen, dass ihre Wangen nass waren von ihren Tränen und dass sie nicht aufhören konnte zu weinen. Sie wehrte sich nicht, als ihr jemand die Harfe aus den Händen zog. Als sie aufsah blickte sie in Lucthens betroffenes Gesicht. Er legte schweigend die Arme um sie und zog sie hoch. Erst wollte sie protestieren, doch sie fühlte sich zu schwach um mit ihm zu diskutieren und so ließ sie zu, dass er sie aus dem Schankraum führte, um das Haus herum und sich schließlich mit ihr auf einer Bank niedersetzte. Er strich ihr sanft übers Haar und ließ sie weinen bis sie keine Tränen mehr hatte. Crystal wusste nicht, wie lange es dauerte, bis sie schließlich wieder anfing die Gegenwart wahr zu nehmen. Dumpf begriff sie, dass es sie nicht störte, dass Lucthen bei ihr war, obwohl sie sonst immer allein sein wollte, nachdem sie gespielt hatte. Es störte sie auch nicht, dass er sie in den Armen hielt wie ein Kind.

„Es tut mir so leid, Crystal“, hörte sie ihn murmeln. „Ich weiß nicht was passiert ist, doch es tut mir leid.“

Crystal nickte. Mit einem Mal hatte sie das Bedürfnis ihm alles zu erzählen. Sie wollte, dass er sie verstand, also richtete sie sich auf und löste sich aus seinen Armen. „Du warst sehr freundlich und ich möchte deine Geduld nicht noch weiter strapazieren.“

Lucthen hörte das unausgesprochene Aber und so meinte er: „Wenn du je darüber reden möchtest was passiert ist, dann werde ich da sein.“

Crystal musterte ihn schweigend, wie um zu prüfen ob er sein Angebot ernst meinte, dann begann sie mit leiser Stimme zu erzählen.

Als sie geendet hatte schwieg Lucthen lange Zeit. Sein Gesicht hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen. Crystal fühlte sich vom Erzählen müde und lehnte den Kopf an die getäfelte Hauswand hinter ihr. „Das ergibt keinen Sinn“, meinte Lucthen schließlich. „Warum sollte ein Magus in den Auen etwas über ermordete Barden in den Mittellanden wissen?“

Crystal hatte sich das auch schon gefragt. „Ich denke…“, begann sie zaghaft und versuchte dabei jedes Selbstmitleid aus ihrer Stimme zu verbannen, „...ich denke es geht nicht darum, dass sie wirklich glauben, dass dieser Magus uns helfen kann. Ich glaube sie wollten mich loswerden, weil ich eine potentielle Gefahr darstelle.“

Lucthen schüttelte den Kopf. „Nein, hinter dieser Sache muss mehr stecken. Vielleicht sollten wir uns nicht so viele Gedanken darüber machen. Wir werden es schon sehen, wenn wir da sind. Haben sie dir gesagt, wo genau dieser Magus zu finden ist und wie er heißt?“

Crystal schüttelte den Kopf. „Sie meinten, dass er in den östlichen Wäldern wohnt, wo genau wissen sie – denke ich – selbst nicht. Aber sie meinten, dass es dort ohnehin nur einen Magus gibt und dass er leicht zu finden sein sollte.“ Lucthen nickte gedankenverloren. „Ich dachte eigentlich, dass du ausgeschickt worden bist um mit ihm zu reden und dass ich dich nur begleite“, erklärte Crystal.

Lucthen blickte sie überrascht an. „Ich wusste gar nichts von den ermordeten Barden. Ich bin nur zufällig in die gleiche Richtung unterwegs.“ Aber irgendwie klang diese Erklärung selbst in seinen eigenen Ohren nicht sehr glaubwürdig.

„Das heißt, die Lehrlinge aller Akademien tragen anfangs Weiß?“

„Ganz genau. Das soll verdeutlichen, dass anfangs alle den gleichen Wissensstand haben. Danach werden für bestandene Prüfungen die Farben verliehen“, setzte Lucthen seine Erklärungen fort. Crystal und er waren an diesem Tag schon seit ein paar Stunden unterwegs und seit sie auf einen breiten Feldweg eingebogen waren, hatten sie die Pferde nebeneinander gelenkt und unterhielten sich, während sie immer weiter Richtung Osten ritten.

„Und wie viele Farbschattierungen gibt es?“, fragte Crystal interessiert.

„Acht. Rein theoretisch. Das beginnt in unserer Akademie mit einem ganz hellen Blau und wird immer dunkler. Nach der sechsten Stufe darf man sich als Magi bezeichnen. Die Meisten verlassen danach die Akademie.“

Crystal warf einen Blick auf Lucthens Robe. Beim Reiten pflegte er sie bis zur Taille aufzuknöpfen, so dass die Hosen darunter zum Vorschein kamen und sie ihn nicht störte, wenn er auf dem Pferderücken saß. Seine Robe war von einem so dunklen Blau, dass sie Crystal anfangs Schwarz erschienen war. „Und ist das die Farbe, die die Magi des blauen Zweiges tragen?“, erkundigte sich Crystal, indem sie mit dem Kinn auf Lucthens Roben wies.

„Ich trage die Farben der siebenten Stufe“, erklärte Lucthen schlicht.

„Weil du Lehrer bist?“

„Nein, man darf ab der sechsten Stufe Lehrlinge ausbilden, das hat damit nichts zu tun“, antwortete Lucthen wahrheitsgemäß und hoffte, dass sie aufhörte weiter nachzubohren. Er wollte vor ihr nicht wie ein Angeber dastehen. Doch Crystal hatte den Kopf schief gelegt und wartete offenbar darauf, dass er weitersprach. Auf ihre stille Art war sie ziemlich beharrlich. In den letzten Tagen, seit er sie zum ersten Mal spielen gehört hatte, hatte er seine Meinung über sie geändert.

Lucthen grinste, als er daran dachte, dass der Wirt sich geweigert hatte für die Übernachtung Gold von ihnen anzunehmen. „Lady Crystal, es war mir eine Ehre“, hatte er beteuert und dabei Crystals schmale Finger mit beiden Händen festgehalten. „Ihr wart meine lieben Gäste, da werd ich doch kein Gold dafür nehmen, dass ihr uns beehrt habt.“ Lucthen musste gestehen, dass er sie unterschätzt hatte. Nicht nur war ihr Harfenspiel wunderschön und ihre Stimme glockenrein, sondern sie verfügte, wie jeder Liedmeister, auch über ein fundiertes Geschichtswissen. Seit sie ihm anvertraut hatte, was geschehen war, konnte er zudem besser verstehen warum sie meist so schweigsam und in sich gekehrt war. Manchmal allerdings, wenn es ihm gelang sie abzulenken, lebte sie regelrecht auf – so wie gerade eben. Dann gelang es ihm sogar, ihr ein seltenes Lächeln zu entlocken.

Lucthen gab sich geschlagen. „Die siebte und achte Stufe werden nur für besondere Leistungen verliehen. Die Farbe der achten und höchsten Stufe ist für alle Akademien Schwarz.“

„Wie viele Magi der achten Stufe gibt es?“

„Keinen. Es hat noch nie einen gegeben. Acht würde bedeuten, dass du zum Meister der Magie geworden bist, was Theorie und Anwendung betrifft. Wenn du mich fragst, ich glaube nicht, dass es je einen Magi der achten Stufe geben wird.“

„Das heißt ja, du gehört zu den mächtigsten Magi der Mittellande!“, rief Crystal aus. Lucthen unterdrückte ein amüsiertes Schmunzeln, als er den Stolz in ihren Katzenaugen entdeckte. Der Gedanke, dass sie auf ihn stolz war, berührte ihn angenehm und zum ersten Mal betrachtete er sie nicht nur als Reisegefährtin, sondern als Freundin. „Ich habe die Robe für meine Forschungsarbeit erhalten“, erklärte er. „Ich trage seit Jahren alles zusammen, was wir Menschen über die elfische Sprache wissen und versuche daraus die alte Sprache zu rekonstruieren.“

„Wie bist du darauf gekommen, ich meine, warum ausgerechnet dieses Thema?“, fragte Crystal neugierig.

Lucthen zuckte leicht mit den Schultern. „Von den Elfen wissen wir, dass sie mächtige magische Wesen sind, da ist mein Interesse an ihnen doch naheliegend, oder nicht?“

Einen Moment lang trafen sich ihre Augen und er hatte den Eindruck, dass sich Crystals einen Augenblick lang verengten. Er erwartete schon, dass sie nachfragen würde, doch dann wandte sie sich ab. Lucthen atmete erleichtert aus, es hätte ihm nicht gefallen, sie anlügen zu müssen, doch woher sein lebhaftes Interesse an allem, was mit Elfen zu tun hatte, rührte, wusste er selbst erst seit kurzem – und er war nicht bereit dieses Wissen mit irgendjemandem zu teilen.

Eine Weile ritten sie schweigend, dann fragte Lucthen: „Und dein Interesse an den alten Liedern, woher rührt das?“

Crystal schaute ihn lange an, wie um zu prüfen, ob er die Frage nur gestellt hatte um das Schweigen zu brechen oder ob ihn die Antwort wirklich interessierte. „Ich weiß nicht was zuerst da war, meine Liebe zur Musik oder meine Sehnsucht nach der Vergangenheit“, begann sie schließlich, „aber ich wusste immer, dass ich nie etwas anderes sein wollte als eine Liedmeisterin. Ich spüre die Veränderungen, ich mache mir Gedanken, aber ich komme keinen Schritt weiter. Manchmal denke ich, die Anderen spüren die Veränderungen nicht auf die gleiche Weise wie ich es tue – nur wenn sie eines der alten Lieder hören, werden sie für einige Zeit darauf aufmerksam gemacht. Mein Lehrmeister meinte, dass das den Kern der Lehre ausmacht, dass man die Veränderungen merkt und sie nicht gutheißt. Aber ich begreife sie nicht. Habt ihr Magi Theorien darüber?“

Lucthen schüttelte den Kopf. „Keine Vernünftigen.“ Ihm gefiel die Traurigkeit nicht, die sich in ihre Augen geschlichen hatte. Es war an der Zeit sie abzulenken. Er begann von seinem Vater zu erzählen, um sie abzulenken. Sie war eine gute Zuhörerin und erst als er wieder von dem Mann redete, der sein ganzes Leben beherrscht hatte – zuerst weil er sonst niemanden hatte der ihm zuhörte und ihn liebte, dann durch die Entscheidungen, die er getroffen hatte – merkte er, dass er den alten Mann vermisste und zum ersten Mal verstand er, warum sein Vater so lange geschwiegen hatte. Dass es nicht Bosheit und nicht einmal die Ergebenheit seinem König gegenüber gewesen war, was ihm die Zunge gebunden hatte, sondern die Angst eines Vaters sein einziges Kind zu verlieren.

Das Zimmer war sauber. Ein schmales Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Crystal hatte aufgehört zu zählen die wievielte Taverne das war, in der sie nächtigten. Irgendwie sahen sie alle gleich aus. Überall dasselbe einförmige Essen, überall dieselben Menschen. Bauern, die sich nach der Arbeit bei einem Bier zusammensetzten um ihre Geschichten zu erzählen und die für zwei Fremde nur fragende Blicke und Unverständnis hatten, sonst nichts. Müde löste sie ihr Haar und versuchte es mit den Fingern zu entwirren. Wenigstens konnte sie heute Nacht allein in einem Zimmer schlafen. Nicht immer fanden sie eine Taverne, in der zwei Zimmer frei waren und sie hatte schon mehr als einmal mit Lucthen in einem Raum geschlafen. Anfangs war ihr das schrecklich unangenehm gewesen – immerhin war er ein fremder Mann. Doch der Magus hatte sie stets mit kühler Höflichkeit, wenn nicht gar mit Desinteresse betrachtet, so dass sie ihre Scheu bald verloren hatte. Erst in den letzten Tagen fingen sie langsam an sich besser zu verstehen, schien ihr. Crystal setze sich auf den Stuhl und zog aus ihrer Tasche Papier und Feder hervor. Alle paar Tage schrieb sie an Joy. Sie vermisste das Kind ganz furchtbar und wenn sie ihr erzählte, was sie alles erlebt hatte, fühlte sie sich meist besser.

Dass sie ein Lied vorgetragen hatte und daraufhin für die Nächtigung nicht zu zahlen brauchten, schrieb sie. Nicht, dass sie in Geldnöten gewesen wären, denn die Talosreiter hatten darauf bestanden, dass sie Gold von ihnen nahm; ziemlich viel sogar. Crystal ging sparsam damit um, denn sie hatte vor den Rest, den sie nicht brauchen würde, wieder zurückzuzahlen. Lucthen hatte scherzhalber gemeint, dass sie öfter für Kost und Logis singen sollte, doch Crystal hatte seinen Vorschlag abgelehnt. Es war vermutlich klüger, wenn sie nicht allzu viel Aufmerksamkeit darauf lenkte, dass sie eine Liedmeisterin war. Sie wollte sich und Lucthen nicht unnötig in Gefahr bringen.

Auch von Lucthen erzählte sie. Leise nagte das schlechte Gewissen an ihr, als sie daran dachte, dass sie ihn in einem ihrer letzten Briefe als großen, hageren Mann mit Hakennase beschrieben hatte, der ziemlich unnahbar war. Dabei musste sie gestehen, dass ihr anfangs sehr distanziertes Verhältnis vermutlich ihrem eigenen Verhalten zuzuschreiben war. Nach ihrer Audienz bei den Dreien war sie ein paar Tage lang vor Schmerz wie betäubt gewesen. Immer noch dachte sie jeden Tag an Rhys und Lucia, doch ihre eigenen Worte spendeten ihr Trost: die Beiden waren in das Licht Lucis’ eingegangen, es ging ihnen gut – wo auch immer sie jetzt waren. Crystal fühlte, dass die Wunde langsam zu heilen begann, auch wenn sie wohl immer Narben zurückbehalten würde. Sie merkte wie sehr sie sich durch die erlebten Schrecken verändert hatte, wie ruhig und in sich gekehrt sie geworden war. War sie wirklich dieselbe Frau, die Rhys einst lachend als Wildkatze bezeichnet hatte? Manchmal träumte sie von den eigenartig gekleideten Frauen und ihren Waffen, dann wachte sie schweißgebadet auf und hatte Mühe wieder einzuschlafen. Doch je mehr Zeit verstrich, desto schwächer wurde der Schmerz und umso stärker ihre Wut. Diese Frauen hatten sie nicht getötet! Es war Zeit, dass sie wieder anfing zu leben.


Die lichten Reiche

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