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Prolog

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Der Morgen des 15. Januar 1986 ist ebenso gewöhnlich wie der junge Mann, der an diesem Tag den Felsen nahe seines Geburtsortes Odek im Norden Ugandas hinaufzuklettern versucht, dabei fast scheitert, aber von einer inneren Kraft und Überzeugung getrieben, sein Ziel schließlich doch erreicht. Oftmals will er aufgeben, der gewöhnliche junge Mann, doch etwas Größeres, glaubt er, hat von ihm Besitz ergriffen, was ihmdie Überzeugung gibt, dass er der Auserwählte ist. Er hat keine Zweifel mehr an seiner Berufung.

Der junge Mann ist barfuß, seine Füße und Beine sind von den Dornen der Büsche, die am Rande des Felsens wachsen, zerkratzt und bluten. Schweiß sickert in seine zerfetzte Kleidung. Sein Atemist schwer. Er ist keine Strapazen gewöhnt.

Über eine Stunde braucht der junge Mann, umdas Massiv zu erklimmen. Immer wieder rutscht er auf der glatten Oberfläche ab. Aber er gibt nicht auf. Er ignoriert die Schmerzen und die stechende Sonne, die in seine Augen brennt.

Als er schließlich oben angekommen ist, steht ihm der Atemstill. Er fühlt sich schwach, die Beine sacken ihm weg, reglos liegt er keuchend auf demheißen Gestein und blickt auf das Tal, das sich sanft wie ein frisch gemachtes Bett unter ihmausbreitet.

Ich kann nicht mehr, denkt er, ich kann nicht mehr, aber ich will, ich muss.

Der junge Mann, schätzungsweise Mitte zwanzig, ist dünn, klein und unscheinbar. Die Schule hat er erfolglos abgebrochen, mit seinen Händen ist er ungeschickt, Freunde hat er keine. Mädchen gehen ihmaus dem Weg. Der junge Mann ist ein Einzelgänger. Seine Eltern haben die Hoffnung in ihren Sohn längst aufgegeben. Nie ist er zu etwas zu gebrauchen. Außer als Ministrant in der Kirche, was er mit Freude macht. Ansonsten ist mit dem jungen Mann nicht viel los. Nie hilft er seinem Vater auf den Feldern oder zeigt sich sonst irgendwie nützlich, sondern sitzt nur gelangweilt unter demgroßen Mangobaumder Familie und grübelt vor sich hin. Über was, darüber spricht er nie. Manchmal geht er auch nur stundenlang spazieren. Die Straße nach links oder über eine Brücke die Straße nach rechts. Staubige Pfade entlang. Ziellos. Für seine Gemeinde ist der junge Mann so wertvoll und vielversprechend wie ein Kropf.

Das Einzige, woran sich das Dorf noch heute erinnert, ist der eigentümliche Sinn für Humor, den der junge Mann einst hatte. So wickelte er sich beispielsweise in Bananenblätter ein und versteckte sich in den Büschen. Wenn eine Gruppe von jungen Mädchen vom Markt zurück nach Odek ging, sprang er ihnen in den Weg, fuchtelte wild mit den Armen vor ihren Augen herum und schrie. Die Mädchen blieben verdutzt stehen und blickten den armen Irren mitleidig an. Vermutlich, weil er regelmäßig vergaß, seinen Unterleib zu umwickeln, und seine recht ausgeprägten Genitalien frei zwischen seinen Beinen baumelten, was die Frauen mit einem Grinsen kommentierten. Seinem Vater war all dies natürlich äußerst peinlich.

Als der junge Mann an diesem Mittwoch nicht wieder nach Hause zurückkehrt, zerschlägt sein Vater in guter Tradition aus Freude nicht zwei, sondern gleich acht Eier, um den Geistern deutlich zu machen, dass er seinen Sohn auch wirklich nicht wiederhaben möchte und gut auf ihn verzichten kann. Die Mutter des jungen Mannes singt ein Freudenlied. Der Dorfälteste lässt eine Kuh schlachten.

"Er war ein Nichtsnutz, ein Versager", wird später ein ehemaliger Klassenkamerad über ihn sagen, aber nur hinter vorgehaltener Hand, weil auch er ihn, den gewöhnlichen Nichtsnutz und Versager, inzwischen zu fürchten gelernt hat, zwanzig Jahre, nachdemder junge Mann auf den Felsen bei Odek geklettert ist.

Nachdem der junge Mann seine Kräfte gesammelt hat, zieht er sich seine zerschundenen Kleider aus und geht zu einemkleinen Tümpel mit Regenwasser, der sich auf dem Felsen gebildet hat. Er kniet sich über das Wasser, greift mit seinen Händen in das Nass und besprenkelt erst sein Gesicht und reibt dann seinen ganzen Körper damit ein.

"Ab heute bin ich rein. Ab heute werde ich ein anderer Mensch sein. Ab heute werde ich mein Volk aus der Unterdrückung in die Freiheit führen. Kein anderer Mensch wird diesen Kampf führen können. Es wird keine anderen Führer geben neben mir. Gott wird mir helfen, das Licht der Erkenntnis zu finden. Ich werde mein Volk in dieses Licht führen, damit wir wieder zu einem starken Volk werden. Ich werde keine Menschen töten. Ich werde nur böse Menschen töten. Das schwöre ich. Hier und heute", sagt der junge Mann, während er sich immer wieder mit dem Wasser auf der nackten Haut, durch die sich seine Knochen drücken, bekreuzigt.

Er sagt: "Ihr Kinder Afrikas. Gott hat mich geschickt, um euch zu fragen: Wer ist für das Blutvergießen unter euch verantwortlich? Wie lautet eure Antwort? Ihr seid nicht verantwortlich. Wer denn? Die Teufel? Welche Teufel? Ich komme, um euch von ihnen zu befreien. Von euren Sünden, denn auch ihr seid Sünder. Ich komme, um euch, das Volk der Acholi, von euren Sünden reinzuwaschen."

Gut eine Stunde später verlässt der junge Mann den Felsen. Er fühlt sich stark und außergewöhnlich, als ob eine göttliche Kraft in ihn gedrungen ist und von ihm Besitz ergriffen hat. Der junge Mann, der noch vor einer Stunde keuchend den Felsen erklommen hat, kommt sich nun erhaben und übermenschlich vor. Unverwundbar und siegessicher. Wie ein Prophet, dessen Aufgabe es nun ist, andere Menschen umsich zu scharen und ihnen den richtigen, den einzigen Weg zu weisen. Der junge Mann weiß, er wird es schaffen.

Ob er einfach nur Glück hat oder nur zur richtigen Zeit amrichtigen Ort ist, sei dahingestellt. Es spielt keine Rolle. Wichtig ist lediglich, dass der junge Mann wenige Tage nach seiner Rückkehr vom Felsen die Führung einer sich auflösenden Partisanengruppe übernimmt. Sie nennt sich die Bewegung des Heiligen Geistes und hat gerade eine bittere Niederlage gegen die Regierungstruppen Ugandas erlitten. Ihre Führerin, Alice Lakwena, ist ins Exil nach Kenia geflohen. Ihr Feldzug gegen die Regierung des Südens ist gescheitert.

Der junge Mann nutzt die Gunst der Stunde. Er gibt den Soldaten neuen Mut. Er gibt ihnen Kraft. Er gibt ihnen den verlorenen Glauben an sich und ihre Sache zurück. Er verspricht den Acholi des Nordens den Sieg über die Unterdrücker des Südens. Die Partisanen folgen demjungen Mann aus Odek. Seine Armee tauft er die Widerstandsarmee des Herrn. Der junge Mann wird ihr Führer und Verführer, er wird sein Volk aber nicht wie versprochen ins Licht führen, sondern dahinter. In eine immerwährende Dunkelheit.

In den kommenden Monaten wird er Uganda in einen über zwanzigjährigen Bürgerkrieg verstricken, wie ihn das neuzeitliche Afrika selten, wenn überhaupt, je gesehen hat. Seine Armee wird fast ausschließlich aus Kindern bestehen, die er zu Werkzeugen des Tötens macht. Er wird sie zu unbeschreiblichen Gräueltaten zwingen, die einen ganzen Landstrich über Generationen traumatisieren werden. Im Namen des Herrn, den er für seine Zwecke missbraucht.

Immer wieder wird der junge Mann, der sich zu einem der brutalsten Rebellenführer Afrikas entwickeln wird, zu dem Felsen bei Odek zurückkehren. Immer wieder wird er ihn allein erklimmen. Immer wieder wird er sich mit Regenwasser, das für ihn heilige Kräfte hat, reinwaschen und diese Worte wiederholen: "Ich bin rein. Alle anderen sind unrein. Ich werde keine Menschen töten. Ich werde nur böse Menschen töten."

Sein Name ist Joseph Kony.

Das Mädchen und der Krieg

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