Читать книгу Kinderwunsch-Tage - Sonia Rossi - Страница 4
1. Kapitel
Оглавление„Ich weiß aber nicht, ob ich jetzt ein Kind will. Das Thema hatten wir schon.“
Malte führte den Bierkrug an die Lippen, nahm einen Schluck von seinem Gambrinus und drehte den Kopf weg. Vor uns entfaltete sich eine Straße der Prager Neustadt mit ihren schmalen Bürgersteigen, den Jugendstilbauten und den Cafés, die mich an Wien erinnerten.
Wie jedes Jahr im Juli besuchte mich meine Mutter in Berlin. Wir hatten ihre Anwesenheit genutzt, um ein Wochenende zu zweit zu verbringen, in der Gewissheit, dass mein Sohn bei ihr in guten Händen sein würde. Nachdem wir angekommen waren und unser Gepäck im Hotel in der Altstadt gelassen hatten, waren wir zu einer ausgedehnten Sightseeingtour aufgebrochen, bis der Hunger uns zu einem Stopp in einem Restaurant gezwungen hatte, das traditionelle tschechische Küche anbot.
Am Nebentisch versuchte ein italienisches Paar um die dreißig mit Dolce-&-Gabbana-Sonnenbrillen, dem jungen Kellner mit Händen und Füßen klarzumachen, dass sie auf keinen Fall etwas mit Knoblauch bestellen wollten. Sie brüllten dabei so laut, als könnten ihre Stimmen die Tatsache kompensieren, dass der Mann anscheinend kein Italienisch verstand. Er schaute sie verwirrt an, versuchte zu raten und zeigte dabei auf verschiedene Gerichte der Speisekarte, erntete aber nur noch mehr Kopfschütteln und Geschrei.
Malte lachte.
„Deine lauten Landsleute. Du könntest doch übersetzen.“
Ich hob die Schultern und stocherte mit der Gabel in meinem Gulasch herum.
„Sollen die doch Englisch lernen.“
Malte schaute mich ratlos an.
„Hast du schlechte Laune?“
„Nein. Warum?“
„Du klingst so verbissen.“
Ich schüttelte mehrmals den Kopf, um zu bekräftigen, dass alles gut sei. Aber das war es nicht. Ich hatte einen wunderschönen Sohn, ich hatte mein Mathestudium abgeschlossen und einen Job in dem Ingenieurbüro bekommen, für das ich schon als Studentin gearbeitet hatte. Ich liebte meinen Freund und er mich, zumindest glaubte ich das. Ich schrieb Bücher, während er ein talentierter Musiker und Schauspieler war. Wir passten zusammen wie die Faust aufs Auge. Er konnte mich zum Lachen bringen oder mich zu Tränen rühren und war der beste Lover, den ich je gehabt hatte. Wir waren seit über einem Jahr zusammen. Er wusste aber noch nicht, ob er Kinder wollte. Als wir uns kennenlernten, erzählte er mir mehrmals, dass er auf jeden Fall vor seinem vierzigsten Geburtstag Vater werden wolle. Er war damals fünfunddreißigeinhalb. Wenn ich gelegentlich Andeutungen machte, wurde er aber immer vager und versuchte, das Thema zu vermeiden.
Ich selbst hatte mich nie gefragt, ob ich Kinder wollte. Ich war mit dreiundzwanzig ungeplant Mutter geworden, und ich genoss alles daran. Trotz der Tatsache, dass ich damals mittellos, mitten im Studium und mit dem falschen Mann liiert war, hatte ich es geliebt, schwanger zu sein, die Tritte zu spüren, auf dem Flohmarkt Strampler auszusuchen, und hatte mich auf das kleine Wunder in meinem Bauch gefreut. Später liebte ich es, mit meinem Sohn in der Wanne U-Boot zu spielen, unten im Hof zu kicken oder zum zwanzigsten Mal dasselbe Piratenbuch vorzulesen. Ich liebte es, für ihn zu kochen, ihn abends zuzudecken, mich um ihn zu kümmern. Ich war verrückt nach der kleinen Hand, die mich jeden Morgen streichelte, und nach seinen Gute-Nacht-Küssen. Ein Leben lang kinderlos zu bleiben war in meiner Vorstellung so absurd wie Scientology beizutreten. Als ich Fynns winzige Füßchen zum ersten Mal küsste, wurde mir sofort klar, dass er nicht mein einziges Kind bleiben sollte.
Als kleines Mädchen hatte ich der Geburt meiner fünf Jahre jüngeren Schwester entgegengefiebert wie sonst nur Heiligabend. Stolz lief ich mit meiner Mutter neben dem Kinderwagen und nahm in den folgenden Jahren meine Vorbildfunktion als große Schwester sehr ernst. Den ersehnten Bruder hatte ich nie bekommen, denn die Ehe meiner Eltern war bei der Geburt meiner Schwester schon lange am Ende. Aus dem Grund hatte ich mir geschworen, wenn es so weit wäre, mindestens drei Kinder zu haben. Ich wünschte Fynn, auch diese Vertrautheit, diese Kameradschaft unter Geschwistern zu erleben. Ich wollte ihn nicht allein groß werden lassen. Eine von hellem Kinderlachen erfüllte Wohnung war für mich die Vorstellung von einem glücklichen Leben.
Doch der Traum von einem zweiten Kind hatte sich lange nicht verwirklichen lassen. Mit fünfundzwanzig hatte ich unter meiner unglücklichen Ehe einen Schlussstrich gezogen. Ich hatte versucht, Fynn so viel Zeit wie möglich zu widmen und gleichzeitig mein Studium zu beenden, um unsere Zukunft zu sichern. Außerdem hatte ich keinen Partner. Erst als Malte in meinem Leben auftauchte, wagte ich überhaupt, wieder an meinen Kinderwunsch zu denken.
Ich hatte Angst, dass mein Sohn meinen neuen Freund nicht akzeptieren würde und umgekehrt. Umso euphorischer war ich, als Fynn und Malte sich zuerst vorsichtig annäherten und dann immer mehr zusammengewachsen sind. Wenn wir zu dritt unterwegs waren, nahmen viele an, dass Malte der Vater sei. Manchmal stand ich nachmittags am Fenster und konnte aus der Ferne Fynns helles Lachen hören, während er auf Maltes Schultern, nachdem der ihn vom Kindergarten abgeholt hatte, herumgeschaukelt wurde. Malte beschwerte sich nie, egal wie lang der Weg und wie taub seine Halsmuskulatur schon war. Er war auch ein toller Märchenvorleser. Mühelos verwandelte er sich dabei in eine Hexe oder in einen Ritter, in einen Drachen oder in eine Prinzessin. Ich stellte mir vor, unser gemeinsames Kind würde sein musikalisches Gespür, seine geschmeidige Stimme und seine vollen Locken bekommen. Ich phantasierte schon, wie wir alle zusammen am Esstisch sitzen und die Kinder sich lachend Brotkrümel zuwerfen würden. Fynn würde seinem Geschwisterchen Fahrradfahren und Fußballspielen beibringen. Er war schon immer ein beliebter, aufgeschlossener Junge gewesen, und ich war mir sicher, er würde in der Rolle des großen Bruders aufgehen. Wir würden zusammen in einer geräumigen Altbauwohnung in der Nähe vom Helmholtzplatz oder im Winsviertel wohnen, mit Stuck, Dielen und Flügeltüren. Am Sonntagmorgen würden Malte und ich auf dem Balkon Kaffee trinken und den Trubel auf der Straße beobachten, während die Kinder Autorennen in der Küche spielten.
Dass das Leben mit zwei Kindern anstrengend werden würde, darüber dachte ich nicht nach. Ich hatte mich schließlich allein mit Fynn durchgeschlagen. Mit einem verantwortungsvollen Freund und einem Job wäre der Familienzuwachs problemlos zu schaffen. Ich war sechsundzwanzig, ich hätte mit einem zweiten Kind auch zehn Jahre warten können. Aber mit einem pubertierenden Jungen im Haus noch mal mit Windeln und Brei anzufangen, stellte ich mir nicht optimal vor. Außerdem würde sich Fynns Begeisterung, wenn er kurz vor dem Abitur ein Geschwisterchen bekäme, wahrscheinlich in Grenzen halten. Ich wollte schon immer jung Kinder haben. Meine innere Stimme sagte ja zu einer zweiten Schwangerschaft. Malte dagegen zweifelte. Er zweifelte - wie viele Adoptivkinder - grundsätzlich an allem, was mit engen menschlichen Bindungen zu tun hatte. Eine Vaterschaft verband er mit der Pflicht, sesshaft zu werden, was ihn wiederum erschreckte. Er war als Schauspieler daran gewöhnt, den Koffer zu packen und irgendwo hinzufahren, wenn es ihm zu langweilig wurde. Er hatte überall in der Bundesrepublik Freunde, von Kiel bis Freiburg, und war bei ihnen stets willkommen. Was die meisten Menschen mit ihrer Studienzeit verbanden und mit deren Ende als geschlossenes Kapitel betrachteten - auf WG-Sofas schlafen, nachts durch Kneipen tingeln und am nächsten Tag am Flussufer mit Augenringen frühstücken, um später in der Sonne ein Nickerchen einzulegen -, machte ihm mit sechsunddreißig Jahren noch zu viel Spaß, als dass er darauf verzichten wollte. Sein Ehrgeiz und die Liebe zu seinem Beruf trieben ihn oft dazu, Engagements zu akzeptieren, egal, an welchem Ort. Die Jobs seien hart umkämpft, da könne man sich nicht den Luxus leisten, nein zu sagen, meinte er immer.
„Willst du wirklich mit ihm eine Familie gründen? Dann bist du de facto doch wieder alleinerziehend“, sagten meine Freunde besorgt. Die meisten teilten über Malte die gleiche Meinung: ein liebenswerter, charmanter, intelligenter Streuner, der aus seinem Junggesellendasein noch den letzten Tropfen heraussaugte.
Für mich war er dennoch der Hafen meiner Sehnsüchte und ein Traumvater für meine Kinder. Wenn er auf der Bühne stand, brannte in ihm ein Feuer, das bei vielen erwachsenen Menschen durch den Alltagstrott erloschen war. Ich stellte mir vor, wie viel er unseren Kindern geben könnte: seine Liebe zur Kunst, seine kindliche Seele, seinen Humor. Das Pflichtgefühl, dessen war ich mir sicher, hätte sich spätestens eingestellt, wenn er sein Baby in den Händen hält. Er war kein Mann, der jeden Abend mit seiner Familie auf der Couch fernsieht, aber damit konnte ich leben. Meine Oma pflegte seit eh und je zu sagen, dass man nie die Henne im Topf und am nächsten Tag ein frisches Ei haben konnte. Aber ich wollte irgendwie beides.
„Das Jüdische Museum müssen wir uns unbedingt anschauen“, sagte Malte und tippte auf einen Punkt in der Mitte unseres Stadtplans.
Ich schaute nach oben. Es war kühl geworden. Die Wolken umzingelten mittlerweile die Prager Burg, die in der Ferne zu sehen war, wie eine feindliche Armee.
„Vielleicht sollten wir erst mal schnell da hochklettern“, sagte ich und zeigte dabei auf die Turmspitzen, die von unten wie zwei Storchenschnäbel aussahen, die an der Himmeldecke kratzten.
Malte nickte. Wir beglichen die Rechnung, stiegen in eine altmodische Straßenbahn, überquerten die Karlsbrücke und trabten auf der Neruda-Straße, die sich an einer Flanke des Hügels hochschlängelte, zur Burg. Die anmutigen Barockfassaden standen im Kontrast zur Aufdringlichkeit der schrillen Läden, die den Touristen Tassen, T-Shirts und Taschen mit Prager Motiven anboten.
Plötzlich verschwand Malte in einem der Geschäfte, noch bevor ich es merkte. Ich fand ihn, wie er Bilder von Sehenswürdigkeiten betrachtete, und schmunzelte. Er kaufte selten etwas, was er nicht zum Überleben brauchte, und schon gar keine Dekoration für die Wohnung. Seine zwei Zimmer, in die er erst vor kurzem eingezogen war, waren so karg eingerichtet, dass man hätte meinen können, ein buddhistischer Mönch wohne dort. Oder jemand, der sich höchstens ein paar Tage im Jahr dort aufhielt. „Was hältst du davon? Könnte ich über dem Bett aufhängen. Ich will es bei mir ein bisschen gemütlicher gestalten. Diesmal habe ich nicht vor, so schnell wieder auszuziehen“, sagte er lächelnd und zeigte auf ein Poster, auf dem die Karlsbrücke bei Sonnenuntergang abgebildet war. Es war kein Bild, das ich mir gekauft hätte, aber sein letzter Satz störte mich viel mehr. In seinen zwei Zimmern würden Fynn und ich niemals Platz finden. Und er hatte anscheinend nicht vor, sich was anderes zu suchen. Die Altbauwohnung mit Stuck und Dielen würde es nicht geben, zumindest nicht mit ihm.
Ich hob die Schultern. „Ja, ist okay. Schön“, flüsterte ich. Seine Miene versteinerte sich.
„Magst du also nicht. Ist es kitschig?“
„Nein, nein. Kauf es ruhig, wenn's dir gefällt. Ich muss ja nicht bei dir wohnen.“
Ich bemühte mich, meine Enttäuschung zu verbergen, aber er hatte mich verstanden.
„Ach, darum geht es also. Ich habe dir das schon erklärt“, seufzte er.
„Ich habe noch nie mit einer Frau zusammengewohnt. Dafür bin ich nicht geschaffen.“
Sein Ton war höflich, aber bestimmt. Ich merkte, wie mein Magen sich verkrampfte. Am liebsten hätte ich mit den Füßen gestampft, wie mein Sohn, wenn ein Legoturm umfiel. Ich wollte mit ihm zusammenleben. Mit wüsten Haaren neben ihm aufwachen, mit ihm essen und mich abends mit ihm über den Tag unterhalten. Mich meinetwegen auch mit ihm kabbeln, weil er nach dem Duschen die Fliesen nicht getrocknet und weil er die Zahnpastatube offen gelassen hat. Zusammensein, ohne alles zu teilen, fand ich so sinnlos wie fliegen, ohne vom Boden abzuheben, oder im Regen zu tanzen, ohne nass zu werden. In Italien wohnen die meisten Menschen von der Geburt bis zum Tod mit ihrer Familie zusammen. Auf der Suche nach Abenteuern hatte ich mit achtzehn Italien verlassen und in Berlin meine zweite Heimat gefunden. Aber nie hätte mich auch nur der Gedanke gestreift, dauerhaft allein zu bleiben, ohne Mann und Kinder. Meine Augen wurden feucht. Um Malte abzulenken, tat ich so, als ob ich mich für eine Tasse mit der tschechischen Fahne interessieren würde, und kaufte sie tatsächlich.
„Ich schicke sie nach Italien zur Oma, die steht auf so was“, sagte ich lächelnd und wedelte mit meinem soeben erworbenen Souvenir. Das Letzte, was ich wollte, war, einen Streit in einem Kiosk anzufangen, dessen Personal womöglich noch Deutsch verstand.
„Zahl dein Poster und lass uns gehen, ich will nicht den ganzen Nachmittag hier verbringen“, flüsterte ich Malte zu. Im Hof des Königlichen Palasts knipste er ein Bild von mir. Ich presste die Lippen zusammen und zog meine Sonnenbrille auf, obwohl es bewölkt war. Ich trug das lange Kleid mit Leopardenmuster und V-Ausschnitt, das er so liebte.
„Lasziv“ sagte er immer dazu. Er liebte laszive Frauen und hatte viele davon gehabt, die er dann verließ, sobald es ernst wurde. Spätestens wenn sie zusammenziehen und Kinder bekommen wollten. Er beobachtete mich, während ich mit dem Reiseführer in der Hand über das gepflasterte Gelände lief, der Saum meines Kleides im Wind flatternd, die herumwirbelnden Haaren, und schoss noch mehr Fotos mit meiner Digitalkamera.
„Aus dem Fenster wurde der habsburgische König geworfen. Damit begann der Dreißigjährige Krieg“, sagte ich, als er sich mir wieder näherte, und zeigte auf den linken Seitenflügel.
Wir schauten beide nach oben. „Das war bestimmt eine eifersüchtige Frau. Von wegen Politik“, lachte Malte. Ich lachte auch. Wenige Sekunden später fiel der erste Regentropfen auf meine Nase, weitere folgten im Sekundentakt. Ich sah auf meine nackten Füße. In Berlin war es sehr heiß gewesen, als wir losgefahren waren. Einen Schirm hatten wir nicht dabei. Malte nahm auf Reisen grundsätzlich so wenig wie möglich mit, alles musste in einen Rucksack passen, und ich hatte es ihm nachgetan. „Scheiße“, sagte ich nun und breitete die Arme aus. Der dünne Stoff meines Kleides sog sich binnen weniger Sekunden mit Wasser voll.
Malte schaute mich an. „Ich würde sagen, wir türmen.“ Keuchend und klatschnass rannten wir durch die Gassen, bis wir uns verirrt hatten. Irgendwann, es hörte nicht auf zu gießen, suchten wir unter einem Balkon Schutz. Ich schaute auf das Straßenschild, fand die winzige Gasse aber nur mit Mühe auf dem Stadtplan.
Wir standen mindestens zwei Kilometer weit weg von der Moldau, die wir hätten überqueren müssen, um zum Jüdischen Museum zu gelangen. Ohne lange zu überlegen, betraten wir das erstbeste Lokal. Wir waren die einzigen Gäste. Die holzgetäfelten Wände und die Hirschgeweihe erinnerten mich an eine Tiroler Hütte. Im Fernsehen lief stumm ein Fußballspiel vor sich hin, aus dem Lautsprecher ertönte der letzte Hit von Rihanna. Wir wärmten unsere vor Kälte zitternden Körper mit Kaffee und ließen uns mit Blaubeerknödel verwöhnen. Malte erzählte von seinem nächsten Stück, einem Märchen, in dem er die Rolle eines lebendig gewordenen Kekses spielen würde.
„Und du?“, fragte er. „Du solltest weiter schreiben, unbedingt.“
„Ja, mit Sicherheit. Und weiter in dem Büro arbeiten werde ich auch. Und wer weiß, vielleicht werde ich auch noch schwanger.“
Ich biss mir auf die Zunge, doch es war zu spät. „Weiß ich nicht …“, sagte er und kniff seine Augenbrauen zusammen.
„Schon gut. Wir müssen jetzt nicht darüber reden. Es tut mir leid.“
„Wir haben schon alles zu dem Thema gesagt. Ich bin mir einfach nicht sicher.“
„Ja, sorry. Kommt nicht mehr vor.“
Ich strich ihm eine Locke aus der Stirn. Er lächelte gequält. Als wir mit dem Nachtisch fertig waren, drängte sich ein Sonnenstrahl durch die dunkle Wolkendecke und tauchte den düsteren Raum in goldenes Licht.
„Verdauungsspaziergang?“, schlug Malte vor. Obwohl mein nasses Kleid mich vor Kälte zittern ließ, nickte ich.
Auf einer Anhöhe entdeckten wir eine Parkanlage, es roch nach feuchtem Gras und Harz. Das rege Treiben hatten wir hinter uns gelassen, die hohen Backsteinmauern, die den Park umgaben, waren die Grenzen zu einer Parallelwelt. Eine Amsel sang in den Wipfeln einer Eiche, Insekten summten über den Rosenbeeten. Wir liefen lange Hand in Hand, ohne ein Wort zu sagen, jeder in Gedanken versunken. Es erfüllte mein Herz mit Freude, einfach mit ihm zusammen zu sein. Es kam allmählich ein Gedanke hoch, von dem ich wusste, dass er richtig war: Ich würde Malte nicht mehr mit dem Thema Familiengründung oder Zusammenziehen bedrängen. Ich würde ihm noch Zeit lassen. Biologisch gesehen musste ich mich nicht beeilen. Irgendwann, da war ich mir sicher, würde ein gemeinsames Kind unser Glück krönen, aber bis dahin konnte ich mich gedulden. Es war heutzutage nichts Ungewöhnliches, mit Mitte oder gar Ende dreißig ein Kind zu bekommen. Abends im Hotel liebten wir uns, während Blitze den Nachthimmel aufrissen. Erst als ich mich im Bad abschminkte und mir die Zähne putzte, merkte ich, dass ich meine Pillenpackung in Berlin vergessen hatte. Ich zuckte zusammen.
Mein erster Gedanke war, dass ich so schnell wie möglich die „Pille danach“ schlucken musste. Nur war der kommende Tag ein Samstag, ich hatte keine Ahnung, wo in Prag ein Arzt zu finden war, der mir das Rezept hätte ausstellen können, und den zweiten Tag unseres romantischen Wochenendes in einer Notsprechstunde zu verbringen war das Letzte, was ich wollte. Ich verfluchte meine Angewohnheit, die Reisetasche auf den letzten Drücker zu packen, und versuchte, tief ein- und auszuatmen. Bis Montag, wenn wir zurückkämen, wäre es zu spät. Und wenn ich den Unfall vergessen und einfach darauf hoffen würde, meine Regel zu bekommen? Die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, nur weil man einmal die Pille vergessen hat, war nicht so wahnsinnig hoch. Und hörte man nicht immer, dass der Körper, selbst wenn man die Verhütung freiwillig absetzte, manchmal Monate brauchte, um sich von den zusätzlichen Hormonen zu erholen?
Unter der heißen Dusche sammelte ich meine Gedanken. War es Betrug, wenn ich ihm nichts von dem Unfall erzählte und dann doch der unwahrscheinliche Fall eintrat, dass ich schwanger wurde? Er war der erste Mann, der mich wirklich liebte und mit Respekt behandelte, und ich war dabei, ihn zu belügen.
Ich trocknete mich ab, schlüpfte unter die Decke und knipste das Licht aus. Neben mir lag Malte. In der Dunkelheit konnte ich nur die Umrisse seines Körpers erahnen. Er drehte sich um und legte einen Arm um meine Taille. Ich harrte mindestens zehn Minuten mit offenen Augen aus. Erst dann löste ich mich vorsichtig aus seiner Umarmung, tapste ans Fenster und betrachtete die Lichter der Stadt, die wie Glühwürmchen die Nacht erhellten. Meine Gedanken rasten. Wenn ich Malte von dem Unfall erzählte, würde er mir, so viel, wie ich in letzter Zeit von Nachwuchs geredet hatte, mit Sicherheit nicht glauben. Er würde mir unterstellen, ihm ein Kind unterjubeln zu wollen, oder mich zumindest verdächtigen. Wenn ich ihm dagegen nichts sagte und nicht schwanger wurde, was am wahrscheinlichsten war, würde ich weder meine Beziehung belasten, noch irgendwelche Konsequenzen fürchten müssen. Also beschloss ich zu schweigen. An das Worst-Case-Szenario wollte ich nicht denken.
Meine Regel bekam ich pünktlich an einem Freitagmorgen, zwei Wochen nach unserem Trip. Erleichtert seufzte ich auf und holte mir einen Tampon aus dem Schrank. Erst auf dem Weg ins Büro überfiel mich eine leichte Melancholie. Ich war nach dem Studium von einem Ingenieurbüro übernommen worden, in dem ich als Studentin gearbeitet hatte, das Projekte im Bereich der alternativen Energien betreute, aber mein Vertrag war vorerst auf anderthalb Jahre befristet worden. Als ich ihn unterzeichnete, hatte ich mir ausgemalt, dass ich nach einem Jahr sowieso schwanger sein und nach Ablauf des Vertrags direkt in den Mutterschutz rutschen würde. Malte machte aber keine Anstalten, eine Entscheidung zu treffen, obwohl er anfangs immer betont hatte, Kinder haben zu wollen. Bis August kommenden Jahres war ich angestellt. Dass seine Meinung sich bis dahin ändern würde, hielt ich mittlerweile für unwahrscheinlich. Einmal die Woche fand in der Firma eine Gruppenrunde statt, in der man die Kollegen über die eigenen Projekte informierte. Stephan, der Programmierer, hatte an jenem Tag Sekt und Kuchen mitgebracht, um seinen Geburtstag zu feiern. Da ich aber seit Wochen versuchte, meinen Winterspeck loszuwerden, lehnte ich dankend ab.
„Ist ein Geschwisterchen für Fynn unterwegs?“, witzelte Marcus, unser Praktikant. Ich verzog den Mund und schüttelte den Kopf. Regelmäßig fielen in meinem Umfeld Andeutungen darauf, dass ich sicherlich bald wieder schwanger wäre. Schließlich war Fynn alt genug, mein Studium hatte ich beendet, und Fynn, Malte und ich gaben eine Traumfamilie ab.
Nach einer zweistündigen Gruppenrunde brach ich auf der Damentoilette in Tränen aus. Zum Glück war meine einzige weibliche Kollegin krank, und die Sekretärin hatte Urlaub. Ich hätte erleichtert sein müssen, weil ich meine Regel bekommen hatte, aber alles, was ich spürte, war Traurigkeit. Ich war mir sicher, dass Malte und ich auch für unser gemeinsames Baby tolle Eltern wären. Meine damalige Armut und die Trennung von meinem Ex-Mann hatten meine erste Mutterschaft überschattet. Wie schön es gewesen wäre, dieses Glück jetzt, unter anderen Voraussetzungen, mit einem verantwortungsvollen Mann an meiner Seite, noch einmal zu erleben!
Obwohl das ganze Team, wie fast jeden Freitag, beim Griechen um die Ecke essen ging, verbrachte ich die Mittagspause auf einem einsamen Grasfleck hinter dem Büro. Offiziell war es ein Spielplatz, aber nie hatte ich ein Kind dort klettern oder rutschen sehen. Was auch kein Wunder war, denn in der Nähe gab es außer Bürokomplexen und Forschungseinrichtungen nicht viel. Ich stieg eine kleine Holzleiter hoch, saß eine halbe Stunde auf einer Spielhütte und ließ die Beine baumeln. Der Blick auf die Spree ließ mich aufatmen. Es herrschte Windstille, das Wasser sah so glatt aus wie auf einer Postkarte, das Sonnenlicht brach sich auf der Oberfläche in tausend kleine Glitzerschuppen. Nur ein paar vorbeidösende Motorboote und Hundebesitzer, die mit ihren Vierbeinern an der Uferpromenade Gassi gingen, durchschnitten ab und an die Ruhe.
Ich dachte, dass es keinen Ausweg gab. Verzichtete ich für ihn auf eine zweite Schwangerschaft, würde ich mit der Zeit unsere Beziehung vergiften. Ich hatte Zeit. Ich war noch jung. Wir waren erst seit einem Jahr zusammen. Doch er war zehn Jahre älter als ich und konnte sich trotzdem nicht entscheiden. Was, wenn er es nie tun würde? Nicht mit vierzig, nicht mit fünfundvierzig? Bis es zu spät wäre? Als ich meine Kollegen in der Ferne auf mich zukommen sah, stieg ich wieder die Leiter hinunter, atmete tief durch und trat zurück in mein Leben. Die anderen waren schon in Wochenendlaune und schauten sich im Büro YouTube-Videos an. „Was hast du? Du siehst traurig aus. Alles in Ordnung?“, fragte mich Hannes, mein Lieblingskollege. Ich nickte und schlurfte zurück zu meinem Schreibtisch. Was hätte ich sagen sollen? Hannes hatte mit Ende zwanzig seine langjährige Freundin geheiratet und mit ihr zwei Kinder bekommen, ein Mädchen und einen Jungen. Zu ihrem Jahrestag nahm er jedes Jahr Urlaub. Er baute gerade ein Haus und plante ein drittes Kind. Jeden Sommer fuhren sie drei Wochen mit dem Wohnwagen durch Europa. Er hätte mich nicht verstanden.
Im folgenden Monat veränderte eine Begegnung meine Perspektive. Auf einem Spielplatz am Mauerpark traf ich Miriam, eine Mutter, die ich von Fynns ehemaliger Krabbelgruppe kannte und in den letzten Monaten aus den Augen verloren hatte. Sie hatte mich zuletzt gesehen, als ich frisch verliebt war. Stundenlang redete ich damals über Malte. Sie war aber keineswegs überrascht, als ich ihr von unseren Konflikten erzählte und davon, dass er mich in den Wahnsinn trieb, weil er in puncto Kinder keine Entscheidung treffen konnte. Ich weiß auch nicht, warum ich mich ihr anvertraute, denn sie zählte nicht zum Kreis meiner engen Freundinnen, sondern zu den Sandkastenbekanntschaften. Womöglich erhoffte ich mir einen Ratschlag, doch sie hatte - wie alle anderen - auch keinen. „Mein Mann hätte sich freiwillig auch nie für Kinder entschieden“, erzählte sie nachdenklich. Ich verdrehte die Augen. Ich hatte ihn nur zweimal gesehen, doch er hatte auf mich wie der Musterfamilienvater aus der Nutella-Werbung gewirkt. Ein stämmiger, sanfter Bär, der nie nein sagen konnte, auch wenn er schon seit einer Stunde Fangen gespielt hatte und langsam aus der Puste kam. „Nein, nein, Sven war ganz schön wild früher“, lächelte Miriam.
„Wäre ich nicht aus Versehen schwanger geworden, hätten wir immer noch keine Kinder.“
„Aus Versehen?“
„Ich hatte damals eine Pillenpause verordnet bekommen, weil ich dauernd Migräne hatte. Wir haben dann mit der Methode der natürlichen Familienplanung verhütet. Ich habe auf Eisprunganzeichen geachtet und meine Temperatur gemessen. Hat auch gut funktioniert - eigentlich. Nur muss sich einmal der Eisprung verschoben haben. Und so ist Jakob entstanden.“
„Und dann?“
Sie schaute in die Ferne, als ob sie von einer weit entfernte Vergangenheit erzählen würde.
„Sven war schockiert, als er von der Schwangerschaft erfuhr. Er hat auch gesagt, dass er nicht wisse, ob er dazu bereit wäre. Ich hätte aber niemals abgetrieben. Spätestens nach dem ersten Ultraschall, als er das kleine Wesen winken sah, waren dann alle Zweifel wie weggefegt.“
Ich lächelte, überlegte jedoch insgeheim, ob die Pillenpause tatsächlich notwendig oder eine willkommene Ausrede gewesen war, nicht mehr zu verhüten und es dem Zufall zu überlassen. Ich fragte mich, wie viele Kinder, die trotz natürlicher Familienplanung entstanden waren, durch die Welt liefen. Ich wollte meinen Freund nach wie vor nicht hintergehen. Ich hatte nicht mal Angst, dass er sich aus dem Staub machen würde, sondern eher davor, ihm nicht mehr in die Augen schauen zu können. Betrügen hat mit Liebe wenig zu tun. Aber vielleicht konnte ich Malte vorschlagen, ebenfalls natürlich zu verhüten. Sollte ich doch schwanger werden, konnte er mir nicht vorwerfen, es darauf angelegt zu haben. Wie verzwickt und verzweifelt diese Idee war, hätte mir klar sein sollen. Aber einen Plan B gab es nicht. Es blieb zwar immer noch der Funke Hoffnung, dass er mir irgendwann verkünden würde, er sei bereit für Kinder, aber darauf vertraute ich nicht mehr.
Am gleichen Abend schmiss ich die Pillenpackung weg. Als ich meinem Freund mitteilte, dass ich keine Hormone mehr schlucken wollte, zuckte er zusammen.
„Hauptsache, du wirst nicht schwanger“, sagte er perplex. Ich konnte ihn davon überzeugen, dass das nicht so schnell passierte. Eine Frau war nur an wenigen Tagen im Monat fruchtbar, und nur in dieser Zeit galt es, ein Kondom zu benutzen oder auf Sex zu verzichten.
Fortan achtete ich tatsächlich darauf, nur an den unfruchtbaren Tagen Sex zu haben. Wie ich mich noch aus dem Biologieunterricht in der Schule erinnerte, fand der Eisprung meist um die vierzehn Tage nach dem ersten Tag der Periode statt. Da Spermien höchstens fünf Tage und eine reife Eizelle nur einen Tag überleben konnten, waren die Tage neun bis fünfzehn die gefährlichen, danach konnte so gut wie nichts mehr passieren.
In den kommenden Monaten befand ich mich, zumindest oberflächlich gesehen, in einer wohligen Ruhe. Beruflich konnte ich bei meinem Chef durch zwei gelungene Projekte punkten, mein Sohn kam zu den großen Kindergartenkindern, und ich fing sogar an, an einem Abend in der Woche Salsa-Unterricht zu nehmen. Malte brach seinen bisherigen Bühnenrekord, indem er fast permanent Auftritte hatte, und ich fieberte dem Erscheinen meines zweiten Buchs entgegen. Das Verhüten funktionierte auch ohne Pille wunderbar, ich bekam jeden Monat pünktlich meine Regel – wie ich verwundert feststellte, glich mein Körper einer Schweizer Uhr. Nur wenn ich die ersten Bluttropfen sah, verkrampfte sich jedes Mal für einen Augenblick mein Herz. Ich wusste, wie unwahrscheinlich es war, schwanger zu werden, wenn man gerade die fruchtbaren Tage ausließ. Das war ja auch der Sinn der ganzen Sache. Und rational betrachtet war es albern, sich an die Möglichkeit eines Unfalls zu klammern. Außerdem hatte ich noch genug Zeit für ein zweites Kind. Das sagte ich mir Monat für Monat, goss mir dabei ein Glas Rotwein ein und paffte eine Zigarette auf dem Balkon, obwohl ich offiziell nicht mehr rauchte. Ich nannte sie meine Regelfrustzigarette.
Manchmal konnte ich es nicht lassen, Malte nach einem eventuellen Vaterwunsch zu fragen. Er wunderte sich nicht mehr über meine Frage, war aber auch nicht genervt. Es sei ganz nett, einmal Kinder zu haben, irgendwann bestimmt. Sicherlich vor seinem vierzigsten Geburtstag. Er war mittlerweile fast siebenunddreißig.
Erst Ende des Jahres kam die gleichzeitig ersehnte und gefürchtete Überraschung: Meine Regel blieb aus. Die Länge meines Zyklus betrug immer dreißig bis einunddreißig Tage, eine Ausnahme hatte es nie gegeben. Als ich am Tag zweiunddreißig keine roten Tropfen sah und auch nicht die üblichen Anzeichen wie Unterleibsziehen und Unruhe verspürte, war ich mir sicher: Es hatte geklappt. Im Büro konnte ich mich den ganzen Vormittag über nicht konzentrieren, die Zahlen tanzten auf dem Bildschirm und ergaben keinen Sinn, mein Kopf drehte sich wie ein Kreisel. Schließlich stand ich eine halbe Stunde vor der Mittagspause mit der Ausrede auf, mich nicht wohl zu fühlen und frische Luft schnappen zu müssen, verließ das Gebäude und rannte zur nächsten Drogerie, um mir einen Schwangerschaftstest zu holen.
Mein Herz hämmerte wie ein Presslufthammer, und ich bekam kaum Luft. Ich hatte mir immer vorgestellt, wie es wäre, von Malte schwanger zu sein, und in meinen Träumen war der Augenblick, in dem ich ihm die Nachricht verkündete, von Magie umgeben. Er würde mich umarmen und feuchte Augen bekommen, wir würden Pläne schmieden und eine Liste mit unseren Lieblingsvornamen anlegen. Der Gedanke an das wahre Leben war ernüchternd. Ich konnte mir seine Enttäuschung bildlich vorstellen. Er rechnete für das kommende Jahr mit einem Engagement in Stuttgart. Er würde mir die Schuld geben, dass ich nicht aufgepasst hatte. Mein Herz schrumpfte auf die Größe einer Erdnuss.
Mit zitternden Händen bezahlte ich zwei Frühtests, kehrte ins Büro zurück und schloss mich in der Toilette ein. In Lichtgeschwindigkeit riss ich die Packung auf, zog meinen Slip herunter, pinkelte auf den Test und legte ihn behutsam auf den Klodeckel. Ich schloss die Augen und sah mich einen Kinderwagen durch den Park schieben, Malte lief stolz neben mir her. Als ich die Augen wieder aufmachte, war mir schwindelig. Langsam drehte ich den Kopf Richtung Test und atmete auf - es war nur ein Balken zu sehen. Ich nahm den Teststreifen in die Hände und hielt ihn in verschiedenen Winkeln gegen das Licht. Kein zweiter Balken, nicht mal ein Schatten, ausgeschlossen. Nicht schwanger. Ich seufzte, kehrte zurück zu meinem Rechner und starrte ein paar Minuten den Bildschirm an. Besser so, dachte ich mir. Ich nahm mir vor, ab dem nächsten Monat wieder die Pille zu nehmen. Ich wusste, dass es die richtige Lösung war. Und dennoch fühlte ich mich wie jemand, der geglaubt hatte, im Lotto gewonnen zu haben, um beim zweiten Blick auf den Schein festzustellen, dass die letzte Ziffer doch nicht mit der Gewinnzahl übereinstimmte.
Als ich am nächsten Tag mit Morgenurin und dem zweiten Streifen ebenfalls negativ testete und immer noch keine Spur von meiner Regel sah, vereinbarte ich einen Termin beim Frauenarzt. Ich hasste es, wenn mein Körper nicht so funktionierte, wie ich es erwartete, und bekam dazu panische Angst. Ich hatte ein Kind. Unfruchtbar konnte ich also nicht sein. Und doch schlich sich in jenem Augenblick die Angst ein, die mich während der kommenden zwei Jahre begleiten sollte. Was, wenn mein Körper das Einfachste von der Welt verweigern würde? Man konnte sich noch so sehr eine Großfamilie mit dem Traummann wünschen. Eine Schwangerschaft ließ sich nicht erzwingen. Zwar wusste ich, dass es mittlerweile Praxen gab, in denen man sich helfen lassen konnte, wenn es mit dem Kinderwunsch nicht klappte, aber ich stellte mir diese Kliniken wie sterile, fensterlose Gebäude vor, in denen Mitarbeiter in Kittel Menschen züchteten wie Laborratten. Von dem Geheimnis, aus der Liebe eines Mannes und einer Frau einen neuen Menschen zu schaffen, keine Spur. Aber vielleicht, dachte ich an jenem Novembertag, vielleicht musste es nicht zu solch extremen Maßnahmen kommen. Vielleicht musste ich nur ein bisschen Optimismus und Geduld haben.
Der Frauenarzt hatte eine Haut, so runzlig wie Krepppapier, und himmelblaue Augen, die mich durch die Gläser seiner randlosen Brille musterten. Er strahlte Erfahrung und Gelassenheit aus. Ich dagegen zappelte auf dem Holzstuhl und erzählte ohne Punkt und Komma. Danach war mein T-Shirt unter den Achseln nass geschwitzt und mein Gesicht so rot wie eine reife Paprika.
Er räusperte sich, neigte seinen Kopf nach rechts und lächelte. „Also, habe ich richtig verstanden: Sie möchten ein Kind?“
Die Worte blieben mir im Halse stecken. Ich starrte ihn an und überlegte. Klar wollte ich ein Kind. Aber offiziell nicht. „Nein, ich meine ja, aber nicht unbedingt jetzt. Ich mache mir vielmehr Sorgen, eine hormonelle Störung zu haben. Ich dachte, ich wäre schwanger, weil meine Regel ausgeblieben ist, aber alle Urintests waren negativ“, stotterte ich.
Er guckte mich perplex an, tippte etwas in die Tastatur und wandte sich mir wieder zu.
„Das wäre aber selten. Sie sind doch …“
„Fast siebenundzwanzig“, schnitt ich ihm das Wort ab.
Er stellte mir einige Fragen und bat mich dann, mich für die Untersuchung auszuziehen. Sie war kurz und schmerzlos, und keine zwei Minuten später saß ich wieder vor ihm, mit dem Gefühl, komplett verrückt geworden zu sein. „Ich habe nichts Beunruhigendes gesehen. Keine Zysten, keine Anzeichen für eine Infektion. Sie werden Ihre Regel wahrscheinlich in ein paar Tagen bekommen. Ich kann bei Ihnen kein Problem erkennen. Es gibt zwar Frauen, die in Ihrem Alter Hormonstörungen haben, aber das ist selten. Messen Sie Ihre Basaltemperatur?“
Als ich seine Frage verneinte, holte er aus einer Schublade ein paar DIN-A4-Blätter mit einem vorgedruckten Gitter darauf. Auf der x-Achse befanden sich die Zahlen eins bis einunddreißig, auf der y-Achse gingen sie von sechsunddreißig bis achtunddreißig in 0,1-Schritten. Er legte sie mir vor die Nase. „Jeden Morgen nach dem Aufstehen die Körpertemperatur messen, immer um die gleiche Uhrzeit, drei Monate lang. Und zusätzlich kommen Sie einmal zwischen dem dritten und dem siebten Zyklustag und einmal zwischen dem sechzehnten und dem zweiundzwanzigsten zu uns in die Praxis. Wir nehmen Blut ab und schauen nach Ihren Hormonwerten.“
Ich nickte, nahm die Bögen und verabschiedete mich. Am gleichen Abend meldete ich mich im Internet in einem Forum für Natürliche Familienplanung an. Dort konnte man online die Messwerte eintragen und bekam am Ende des Monats eine hübsche Grafik ausgespuckt. Darüber hinaus konnte man sich mit anderen Frauen austauschen, sich Ernährungsratschläge einholen, um die Fruchtbarkeit zu steigern, und fand Links zu Yogakursen, Fruchtbarkeitsmassagen und Produkten rund um die glückliche Frau mit ausgeglichenem Hormonhaushalt. Ich lernte, dass sich die Körpertemperatur einer Frau nach dem Eisprung durchschnittlich um 0,3 Grad Celsius erhöht und kurz vor der Regel wieder auf das ursprüngliche Niveau sinkt. Bleibt die Temperatur länger als drei Tage über dem Mittelwert der ersten Zyklushälfte, so ist dies der Beweis einer erfolgten Ovulation.
Die Methode ist aber nur aussagekräftig, wenn man nach dem Aufstehen immer um die gleiche Uhrzeit misst. Ich stellte auch am Wochenende den Wecker auf Viertel vor sieben, schlief aber mehr als einmal weiter. Nach einem Monat hatte ich auf dem Bildschirm meines Rechners eine zackige Linie, die mich an die kindliche Darstellung einer Gebirgskette erinnerte. Kein Vergleich zu den Musterkurven, die als Beispiel auf der Webseite aufgeführt waren, die in der Mitte lediglich einen Knick nach oben aufwiesen, eben den Temperatursprung nach dem Eisprung. Dafür, dass ich beruflich ständig mit Diagrammen und Zahlen arbeitete, konnte ich mit den Daten nur wenig anfangen.
Ich erzählte weder Malte noch meinen Freundinnen etwas von meinem Frauenarztbesuch und den Messungen. Zum einen hatte ich Angst, dass sie mich für verrückt erklären würden, zum anderen schämte ich mich, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, irgendetwas wäre nicht in Ordnung. Nach außen gab ich mich so fröhlich und entspannt wie immer, damit niemand Verdacht schöpfen konnte. Nur die Vorstellung, noch ein Kind zu bekommen, erschien mir auf einmal ganz fern. Ich hatte mir monatelang den Kopf zerbrochen, wie ich meinen Freund davon überzeugen soll, mit mir eine Familie zu gründen. Und plötzlich überwältigte mich das Gefühl, dass es so oder so nicht einfach werden würde. Den Silvesterabend verbrachte ich mit Malte in einer Kneipe, die seinem Cousin gehört. Wir beobachteten, wie die Menschen auf der Straße Raketen zündeten und sich umarmten, während die Sirenen der Feuerwehr im Hintergrund heulten und alles in Rauch unterging. Als die Böllerorgie vorbei war, tranken wir vor der Tür Sekt und küssten uns.
„Ich weiß, dass ich Kinder haben werde“, sagte Malte plötzlich. Ich schaute ihn perplex an. Ich hatte seit Wochen das Thema Nachwuchs vermieden, und am Neujahrstag wäre es mir erst recht nicht eingefallen, über Familienplanung zu reden. „Wenn du meinst“, antwortete ich, ging wieder rein und schloss mich einer Gruppe betrunkener Australier an, die zu „Walking on Sunshine“ tanzten. Als wir um vier Uhr morgens mit der Straßenbahn nach Hause fuhren, konnte ich es nicht unterlassen, Malte nach der Bedeutung seiner Worte zu fragen. Mit müden Augen schaute er mich an und gähnte.
„Ach, nichts. Ich meinte nur, irgendwann. So einen süßen Jungen wie Fynn zu haben. Es wäre schön. Bevor ich …“
„Ich weiß, bevor du vierzig wirst. Aber was, wenn es nicht klappt? Ich meine, wenn wir nicht in der Lage wären, ein Kind zu zeugen?“
„Ach, quatsch. Wir sind jung und gesund. Warum sollten wir nicht in der Lage sein?“
„Aber du meinst … Vielleicht können wir es probieren?“
„Ja, meinetwegen. Vielleicht. Mal schauen.“
Ich schaute aus dem Fenster und schwieg. Ich wollte nur noch Fynn umarmen und mich mit ihm unter der Decke verkriechen. Es gab keinen Grund zu glauben, dass wir unfruchtbar wären. Und dennoch konnte ich nicht aufhören zu denken, dass irgendetwas nicht stimmte.