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Ein Geschenk des Himmels

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Am Anfang des 23. Sonnenzyklus wurde Russland von einem ungewöhnlich schneereichen und kalten Winter heimgesucht. Von Brest bis Wladiwostok erstreckte sich eine leblose Wüste, ohne erkennbare Zufahrtswege zu den erstarrten Städten, die in einen weißen Schleier gehüllt waren. Die Straßenreinigung brach zusammen. Menschen bewegten sich in den Schneewehen wie Maulwürfe, und die Anzahl der von Eiszapfen Erschlagenen belief sich auf mehrere Hunderte. In der Talkshow „Schlagabtausch“ stritten Meteorologen und orthodoxe Priester darüber, ob die anbrechende Eiszeit natürlichen Ursprungs oder eine Strafe Gottes sei. Die anschließende Zuschauerumfrage brachte den Geistlichen drei Mal so viel Zustimmung wie den Wissenschaftlern.

Das Patriarchat wies seine Diener an, Predigten zu halten, in denen das Naturereignis mit dem Stolz, mit dem Aufbegehren des lasterhaften Menschen gegen die göttliche Ordnung in Verbindung gebracht werden sollte, hatten doch die Behörden im vorigen Sommer – nach über Jahre anhaltender Dürre – die widerspenstigen Wolken mit Silberjodid besprühen lassen. Damit sollten diese endlich zum Abregnen gezwungen werden. Doch der Regen war lediglich über der Ostsee niedergegangen, über den hochmütigen Balten, während der Dürre eine Kälte folgte, wie man sie seit der Zeit nicht mehr gekannt hatte, als Boris Godunow glückloser Zar gewesen war.

Der Frühling kam erst Mitte Mai in Gang, dann aber mit vulkanartiger Wucht. Der anderthalb Meter dicke Schneeteppich taute in drei Tagen auf, und das Boris-und-Gleb-Kloster fand sich auf einmal inmitten eines Sees wieder. Nur der Golgatha-Hügel mit dem großen Holzkreuz ragte noch aus dem Wasser. Bald darauf setzte Hitze ein, und der See trocknete binnen einer Woche aus. Nun fanden Mönche am Fuß von Golgatha einen Bach, der weiter Wasser spendete. Später entdeckten auch Rucksacktouristen die Quelle, und der Hügel wurde vom „Klub des Studentenlieds“ in Beschlag genommen. Sie schlugen ihre Zelte am Feldrand auf, zündeten Lagerfeuer an und sangen obszöne Lieder, die bis hinter die Klostermauern drangen und den Gottesdienst störten. Der Hügel wurde zur Latrine, und Plastikmüll verpestete kilometerweit die Umgebung.

In der Nacht zu Mariä Himmelfahrt saß Aristarch, der Abt des Klosters, auf der Außentreppe und schaute in die Tiefe des Himmelsgewölbes, das vom Flor der Milchstrasse überzogen war. Von Zeit zu Zeit lösten sich Sternschnuppen, zeichneten helle Spuren und verlöschten, ohne die Erde zu erreichen. Der Sternenregen schien in diesem Jahr besonders stark zu sein, doch vielleicht hatte er früher einfach nur besser schlafen können und es sich noch nicht lange genug zur Gewohnheit werden lassen, nachts das Firmament zu betrachten.

Von Golgatha her war das Gegröle betrunkener Touristen zu hören. Ein Mädchen lachte hysterisch, als ob man es an den Fußsohlen kitzelte. Auf einmal befiel den Abt eine Leere, und ihm wurde schwer ums Herz.

Seit er eine Klosteranlage nicht weit von Sadonsk übernommen hatte, in der sich früher eine Kinderstrafkolonie befunden hatte, wollte es ihm trotz aller Beharrlichkeit nicht gelingen, die Ruine mit Leben zu erfüllen. Nach fünf Jahren schlafloser Mühe hatte er so gut wie resigniert. Es mangelte an allen Ecken und Enden, und die Unterstützung durch das Patriarchat ließ zu wünschen übrig. Die hiesigen Geschäftsleute waren allesamt Gangster mit Händen voller Blut. Sie bekreuzigten sich zwar stets eifrig vor der Ikonenwand, spendeten jedoch in mehreren Jahren lediglich eine Kircheglocke, dazu noch mit der unverschämten Widmung: “Von der Sadonsker Gang für die unschuldig ermordeten Jungens, die Heiligen Boris und Gleb. Betet für uns.“ Nun schmückte sie den wiedererrichteten Kirchenturm, zum Glück war die Aufschrift von unten nicht zu erkennen.

Am schlimmsten waren jedoch die Perestroika-Mönche: verwirrte, einfältige Männer, die vor dem Krieg in Transnistrien geflohen waren und im Kloster Unterschlupf gefunden hatten. Sie verstanden nicht zu beten, und selbst von den Zehn Geboten kannten sie auswendig nur „Du sollst nicht töten“. Ausgerechnet diesen unchristlichen Wunsch verspürte Aristarch manchmal, wenn er die Männer herumhängen und trinken sah, während eine Unmenge Arbeit auf sie wartete.

Gerade schwang sich vom Hügel ein Knallkörper in den Himmel hinauf und zerfiel über dem Kirchturm in rote Funken. Der Abt seufzte. Plötzlich durchzuckte ihn ein Geistesblitz: Er hatte verstanden, was mit Golgatha und den Touristen zu tun war. Der Bach war ein Geschenk des Himmels.

Die Zeit, die General Dawydow zur Begleichung seiner Schulden geblieben war, schmolz dahin, aber er fand immer noch keine Lösung. Nach Jahren in Untersuchungshaft und einem zermürbenden Strafverfahren war er auf Bewährung freigekommen. Doch von seinem millionenschweren Vermögen war kaum etwas übrig geblieben, einstige Gönner und Untergebene hatten ihm den Rücken zugekehrt. Sascha Zapok, ein Provinzbursche mit schrecklichen Manieren aus einem Banditennest im Ural, den er selbst zu seinem Stellvertreter erhoben, ihm eine Villa in Nizza, ein Chalet in der Schweiz und ein dickes Tarnkonto auf Zypern verschafft hatte, dieser Sascha hatte einfach geduldig auf seine Stunde gewartet, darauf, dass der Boss das Gefühl für die Gefahr verlieren und zu stolpern beginnen würde.

„Das passiert uns allen mit der Zeit und insbesondere im Zenit unserer Macht“, wälzte Dawydow düstere Gedanken in seinem abgewetzten Hirn. „Da kannst du noch so scharfsinnig sein und wirst trotzdem Gefangener deiner Handlanger. Sie filtern für dich die Wirklichkeit, sie täuschen dich über die Lage, nutzen deine Schwächen aus. Als ob du nicht gewusst hättest, dass du von Arschkriechern umgeben bist, dass keinem zu trauen ist und dass das gierige Rudel schon lange geifernd die Raubtierzähne fletscht.“

So sah die Bilanz seines Aufstiegs und Absturzes aus.

„Na, Alter, hast du nicht genug gelebt, nicht genug gehabt, nicht alle Weiber flachgelegt, nicht alle Weine gekostet, nicht alle Feinde zur Strecke gebracht?“ grinste ihn der sonnengebräunte Sascha aus der dunklen Zimmerecke an.

„Jetzt bist du ein Wrack, und was dir noch gehört, gehört dir bald auch nicht mehr. Wie viele Seelen hast du auslöschen lassen – aus Rache und einfach aus Spaß, mit dem Leben anderer zu spielen? Nein, die tun dir nicht leid. Mir auch nicht. Nur ist jetzt meine Zeit gekommen, jetzt sitze ich am Ruder, Alter. Aber ich bin nicht wie du, ich mache deine Fehler nicht, die Du im Hochmut begangen hast. Ich werde nicht abwarten, bis Hungrige und Potentere, die ganz und gar ergeben tun, mich schließlich um meinen Besitz bringen, mich zum Verbrecher erklären und einsperren lassen. Ich habe für den Fall des Falles einen Flugplatz in Reserve, auf dem ich sicher landen werde, bevor mein Stellvertreter mein Dossier an die Konkurrenz verkauft.“

Dawydow ächzte, erhob sich vom Sessel und trat ans Fenster, das auf eine ruhige Sackgasse inmitten des Moskauer Zentrums hinausging. Im Volksmund war diese Gegend als „Goldene Meile“ verschrien, weil die Immobilien dort inzwischen horrende Preise erzielten und eine entsprechende Klientel anzogen. Insbesondere bei korrupten Staatsbeamten waren die Luxusapartments in diesem Viertel gefragt, um Bestechungsgelder sicher und legal anzulegen. Dawydow war es im letzten Augenblick gelungen, seine herrschaftliche Wohnung, die er Anfang der 90er Jahre für lächerliche 10.000 Dollar erworben hatte, vor der Beschlagnahmung zu retten. Sie fiel nun unter den Verjährungsparagrafen.

Abends wirkte das ganze Viertel wie ausgestorben: kein Licht in den Fenstern, keine Menschenseele auf der Straße. Lediglich riesige Limousinen mit getönten Fensterscheiben rauschten durch die toten Gassen.

Auf der anderen Straßenseite sah Dawydow eine Frau auf dem Bürgersteig liegen. Sie reckte ihren Arm in die Höhe und jammerte, aber die wenigen Passanten machten einen Bogen um sie wie um ein Häuflein Hundekot. Wie viele in diesen Tagen, an denen die Temperatur auf +40°C im Schatten stieg, war sie Opfer eines Hitzschlags geworden. Solche Halbtoten lagen immer wieder auf den Straßen herum. Sie krochen aus den Häusern in der Hoffnung, in ein Krankenhaus eingeliefert zu werden. Doch die Notambulanz anzurufen war sinnlos. Deren Telefone waren dauernd besetzt oder abgeschaltet. Was sich erst in den Wohnsilos abspielte, die von der gnadenlosen Sonne aufgeheizt wurden, wollte man sich gar nicht ausmalen.

Seit zwei Wochen nun wurden die Torfmoore und Wälder des Moskauer Gebiets von schweren Feuern heimgesucht. In Dawydows Wohnung staute sich der Brandgeruch, der von der Klimaanlage angesaugt wurde. Der General schwitzte, ihm schmerzten die Augen, und in den Schläfen hämmerte es wie bei einer Migräne. Ausgerechnet an diesem extremen Wetterereignis zu krepieren, dachte er grimmig, wäre vollkommen absurd. Es war höchste Zeit, diesem Glutofen den Rücken zu zukehren. Doch zunächst musste er eine Entscheidung treffen, eine Lösung finden. Dawydow war alt, übergewichtig, und das zermürbende Strafverfahren war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Tatsächlich fiel es bei seinem Anblick schwer, sich vorzustellen, dass einst ein Wink von ihm, der eine Zeit lang einer der mächtigsten Männer im Staat gewesen war, über Leben und Tod entscheiden konnte.

Seine Karriere hatte in der Moskauer Zentrale für Auslandsaufklärung in den 70er Jahren begonnen. Dort war der junge Geheimdienstler auf einen verschworenen Männerbund gestoßen, dessen Mitglieder sich als neuer sowjetischer Adel verstanden. Sie nahmen ihn in ihren inneren Kreis auf. „Wir sind ein Rätsel, in einem Geheimnis versteckt“, witzelte sein erster Chef, ein alter Aufklärungshase. Hätte damals jemand deren Zusammenkünfte abhören können, hätte er sich nicht schlecht gewundert, wie sehr ihre Gespräche dem Geplänkel der Regimegegner in den Moskauer Küchen ähnelten, mit dem Unterschied freilich, dass die Küchenphilosophen das System nur zu interpretieren versuchten, während der Geheimdienstadel nichts Geringeres vorhatte, als es zu verändern.

Der auf einem Geheimtreffen ausgearbeitete Zehnpunkteplan war ein Wagnis: Absetzung des senilen Politbüros, Beförderung einer Kreatur aus den eigenen Reihen auf den Posten des Generalssekretärs, Privatisierung von Grund und Boden bis 50 Hektar, Gründung von Privatunternehmen, Übergabe der Rohstoffkonzessionen an die Vertreter aus Spezialdiensten und Militär, Geheimverträge mit dem Westen zur Beilegung der Konfrontation. Der Preis für die Aufgabe des Wettrüstens wurde auf 200 Milliarden Dollar veranschlagt: Die Amis sollten bitteschön einen Abstand zahlen. Geplant war weiterhin die Aufrechterhaltung der Medienkontrolle durch den KGB und die Wiedergeburt der Orthodoxen Kirche.

Wie naiv es einmal mehr gewesen war, das unermessliche Weltreich nach einem Plan umgestalten zu wollen, musste Dawydow sich später eingestehen. Stattdessen wurden sie von den Ereignissen überrumpelt, an den Rand des Zusammenbruchs gedrängt, von Oligarchen erniedrigt und abhängig gemacht.

An seinen Boss, einen Neuen Russen, für dessen Sicherheit der General anfangs zuständig gewesen war, hatte er sich in der Haft fast wehmütig erinnert. Der Kleinkriminelle hatte mit Schutzgelderpressungen ein Vermögen gemacht und die Kontrolle über die Moskauer Baumärkte an sich gerissen. Vielleicht hätte der General es ihm später nicht so grob heimgezahlt, wäre diesem Ganoven das Geld nicht dermaßen zu Kopf gestiegen. Er, der Aufklärer, der Adlige, hatte ihm Mädchen zu besorgen und auf seinen Orgien wie der letzte Eunuch Wache zu schieben. Diese Erniedrigung, die der General von solch einem Lumpen über sich hatte ergehen lassen müssen, schrie nach Rache. Und als endlich die Zeit gekommen war, alte Rechnungen zu begleichen, da stürmte eine schwer bewaffnete Sondereinheit das Anwesen des Emporkömmlings. Er wurde nackt und zitternd in seinen Gemächern auf den Marmorboden geworfen, getreten, Handschellen knackten an seinen verdrehten Handgelenken. Konkubinen huschten kreischend auseinander, nach deren runden Hintern Dawydows Männer lachend und gierig ihre Hände ausstreckten.

Das Vermögen, das der General sich dabei unter den Nagel gerissen hatte, betrachtete er als Schmerzensgeld. Das arme Schwein, dessen Harem er eben noch bewachen musste, hatte nun nicht einmal mehr Mittel, um sich anständige Haft-Bedingungen zu leisten. Kein Wunder, dass er im Straflager schon am ersten Tag von den Mitgefangenen zum Pico degradiert wurde und fortan seinen Schlafplatz an der Latrine hatte.

In den darauffolgenden Jahren hatte Dawydow etliche Unternehmer, die sich in den 90ern „Volksvermögen“ angeeignet hatten, an ihre Sünden erinnert und sein eigenes Geschäftsimperium aufgebaut. Nun war der General selbst Oligarch geworden und hatte alle Mühe, nicht auf der Forbes-Liste der reichsten Männer Russlands aufzutauchen. Denn das Geld vermehrt sich am schnellsten in der Stille, und schmutziges Geld ist in sauberen Händen am besten aufgehoben. Naturgemäß zog es sein Bares ins Ausland.

Die Idee eines Investitionsprojekts in Deutschland kam ihm spontan bei einem festlichen Gottesdienst in der gerade frisch wiederaufgebauten Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Er stand in der Nähe des Staatspräsidenten und fühlte sich exponiert: Mit seiner Bärengestalt überragte er die ganze Gefolgschaft um einen Kopf. Die Fernsehkameras, welche die feierliche Liturgie auf allen Kanälen übertrugen, schienen es auf ihn abgesehen zu haben. Ihm war heiß. Hinter seinem Rücken beschwerten sich zwei Deutsche, dass sie seinetwegen den Patriarchen nicht sehen könnten. Er starrte auf die Goldstickereien auf dem Gewand des Kirchenoberhaupts, und durch eine unerfindliche Assoziationskette durchzuckte ihn plötzlich ein Geistesblitz: Es müsste doch eigentlich ein Leichtes sein, in Deutschland ein orthodoxes Kloster zu gründen. Die Vorzüge lagen auf der Hand: blühende Landschaften, geografische Nähe zu Russland, Steuerprivilegien für gemeinnützige Einrichtungen, – kurzum Narrenfreiheit.

Ginge sein Plan auf, würde – als Wallfahrtsort getarnt – eine der größten Geldwäscheanlagen für seine sprudelnden Einkünfte entstehen. Für die Umsetzung des Projekts brauchte er einen ortskundigen Manager, und ihm war sofort sein alter Agent Nikolaj Platonow eingefallen. Der Mann war der beste Absolvent der KGB-Nachrichtenschule aus dem Jahrgang 1984 – die Zeit lag tatsächlich ein halbes Leben zurück – und stand mit einem Bein bereits in der Bundesrepublik, wo der angehende Aufklärer unter diplomatischer Deckung als Resident tätig werden sollte. Doch stattdessen wurde er prompt in eine Militärgarnison im Osten eingewiesen. Die DDR galt bei Geheimdienstlern als ein Abschiebeplatz für Minderbemittelte, und Platonow war brüskiert. „Hab Geduld, schon sehr bald könnte sich vieles ändern“, suchte Dawydow seinen enttäuschten Untergebenen zu beschwichtigen. „Ein neues Big Game ist im Kommen, in dem du unentbehrlich sein wirst!“ Von wegen Big Game. Platonow hatte Pech und wurde arbeitsloser Agent. Kein Wunder, dass er nach dem Fall der Mauer in den Waffenhandel geriet und sich schließlich mit dem Geld auf und davon machte. Anscheinend bildete er sich ein, man würde ihn im Chaos vergessen.

Darin hatte er sich jedoch gewaltig verrechnet. Dem Geheimdienst beitreten und von ihm dann wieder frei sein wollen – so etwas gab es bei Dawydow nicht. Es vergingen aber viele ereignisreiche Jahre, bis der Pate höchstpersönlich seinem missratenen Agenten einen unangekündigten Besuch abstattete. „Erinnerst du dich noch an unseren Eid?“ überraschte er Platonow an seiner Garage und klopfte ihn väterlich an der Schulter: „Einer für alle, alle für einen – bis dass der Tod uns scheidet.“ Platonows Gesicht blieb reglos, nur an seinen erweiterten Pupillen war der Schock des Wiedersehens zu erkennen. Der Mann hatte offensichtlich verstanden, was für ihn auf dem Spiel stand, wenn er auf die Idee käme, das Angebot abzulehnen.

Ein orthodoxes Kloster war in dieser Gegend ein kurioses Novum. Es ging das Gerücht um, dass hier eine Residentur für russische Spione im Entstehen war und die Mönche und all das Glaubenszeug lediglich als Tarnung fungierten. Bald fingen Journalisten an, um die Baustelle herum zu schnüffeln, und als Geschäftsführer musste Platonow ihre penetranten Fragen beantworten. Eine operative Aufnahme hielt eine kleine zierliche Frau mittleren Alters fest, die eines Tages das Tor des Klostergeländes betrat. Das mitgeschnittene Gespräch der beiden versetzte Dawydow in Alarm: Sein Untergebener schien bereit zu sein, dieser Journalistin alles über das Kloster auszuplaudern, sicher, um sie auf diese Weise ins Bett zu kriegen.

Es war ein unverzeihlicher Fehler, gab der General später selbstkritisch zu, diesem Nichtsnutz ein derart wichtiges Projekt anzuvertrauen. Nun war das arme Schwein lange tot, in Istanbul von Kugeln durchlöchert. Der Killer hatte ihm ein Foto als Beleg für den ausgeführten Auftrag geschickt. Platonow lag regungslos mit dem Gesicht zum Boden in einer Blutlache. Auch sah man eine Frau, die vor seinem Leichnam niedergekniet war.

Im Geheimdienstrudel wurde die Pleite mit dem Kloster in Deutschland jedoch als Zeichen für Dawydows Führungsschwäche gedeutet. Man beschloss, ihn loszuwerden und sein Vermögen unter sich aufzuteilen. In einer Zeitung erschien nun ein reißerischer Artikel mit dem Titel „Werwolf mit Epauletten“. Dawydow kam in Haft. Doch all die besten Verteidiger konnten nicht verhindern, dass seine ausländischen Konten auf Geheiß der Generalstaatsanwaltschaft eingefroren wurden. Die Kosten für seine Verteidigung, Richter und Gefängniswärter beliefen sich auf mehrere Millionen. Nach über zwei Jahren Untersuchungsgefängnis hatte er zwar lediglich eine Strafe auf Bewährung bekommen, musste sich aber einfallen lassen, wie er seine Schulden wieder loswurde. Bekam er die Summe nicht irgendwie zusammen – die Frist war im Grunde genommen noch gnädig – würde er wie ein gewöhnlicher Krimineller auf offener Straße niedergestreckt oder in seiner Wohnung aufgehängt gefunden werden: Selbstmord ohne äußere Einwirkungen.

„Wenn es bloß nicht so heiß und stickig wäre.“ Einen solchen Sommer hatte er bisher erst einmal erlebt. Im Juli 1972, als Moskau genau wie jetzt in Rauchschwaden gehüllt war, hatte seine zweite, unsichtbare Karriere begonnen. Er erinnerte sich sehr gut daran, wie sich das Leben damals angefühlt hatte. Aber er erkannte sich in diesem jungen Mann mit Goethes „Faust“ unter dem Kissen, mit dem Konzert-Abonnement, mit dem Glauben an seine Berufung und seinem Tatendrang nicht wieder. Ihm war seine eigene Vergangenheit fremd geworden.

Natürlich ändert man sich mit dem Alter, man verliert Illusionen, man wird abgeklärt, grübelte er. Aber er war damals weder gierig noch nachtragend, er hatte Gefühle und konnte verzeihen. Wo und wann war ihm das alles abhanden gekommen? Wie kam er dazu, diese unzähligen Frauenschöße zu begehren, diese Raubkatzen zu begatten, die ihn schamlos rupften, sinnlos Villen anzuhäufen, um nun in der stickigen Hölle von Moskau zu hocken: ohne Stütze im Alter, ohne eine Menschenseele?

Seine Gespielin, eine vierzigjährige Boutiquebesitzerin, hatte sich kurz vor seiner Festnahme mit einigen millionenschweren Antiquitäten aus dem Staub gemacht. Freilich hatte er auch nichts anderes erwartet, zu lange war er im Geschäft, zu gut kannte er die Spielregeln, um auf Loyalität oder gar Treue zu hoffen. Käme er jetzt auf wundersame Weise an Geld, er hätte ihr gerne eine unvergessliche Lektion erteilt.

Nun brannten also die Wälder um Moskau herum, er musste hier so schnell wie nur möglich weg. Und der einzige Ort, zu dem zu fahren noch einen Sinn hatte, war das Boris-und-Gleb-Kloster. Aus dem ganzen Rudel hatte lediglich Aristarch, sein Altersgenosse und Vorsteher des Klosters, zu ihm gehalten, als er in U-Haft saß.

Sie hatten einander von Anfang an gemocht. Der Abt hatte einen kräftigen Bariton, der General beherrschte die höheren Register, und bei ihren seltenen Begegnungen verzichteten sie selten auf das Vergnügen, zweistimmig alte russischen Romanzen und Opernarien zu singen.

Seine geistliche Karriere hatte Aristarch im KGB-Referat für Konfessionsangelegenheiten angefangen und sich dabei als fähiger Mitarbeiter erwiesen. Nicht dass auf den Geheimdienstler in der Kutte eine göttliche Offenbarung niedergegangen wäre. Dennoch hatte Aristarch den Großteil seines Lebens mit der Kirche zu tun gehabt, und mit der Zeit lernte er, den erbaulichen Zustand zu schätzen, in den ihn das tagtägliche Ritual, der Gottesdienst und insbesondere der geistliche Gesang versetzten. Tatsächlich bezog er auch noch im Alter daraus Energie, die er in rege Geschäftigkeit zu verwandeln wusste.

Eine Zeitlang war der Abt gar als ein aussichtsreicher Kandidat für das Metropolitenamt in Moskau gehandelt worden, letztendlich blieb er aber in seinem Kloster. Aristarch war vorsichtig und zurückhaltend. Früher gab es bei ihm stets Frauengeschichten. Dawydow hatte ihm immer wieder aus der Patsche helfen und gewisse Damen mit Schweigegeld zufrieden stellen müssen. Nun waren sie alte gestandene Freunde. Aristarch hatte ihn in der Haft als Beichtvater besucht – und ihn nach der Freilassung immer wieder angerufen. Dawydow sah die einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen, in dem Klostervorsteher. Das hieß aber, dass er sich sofort zu diesem heiligen Ort auf den Weg machen musste, ohne Auto, ohne Begleitung.

Wäre Dawydow imstande gewesen, nüchtern zu urteilen, hätte er die Idee, Aristarch aufzusuchen, fallen gelassen. Der Abt, das musste der General eigentlich wissen, konnte ihm keine Dollarmillionen aus dem Ärmel schütteln, selbst wenn er das Geld, welches das Kloster mit den Pilgern verdiente, lange nicht mehr angerührt hatte. Als Dawydow ihn – noch vor der Verhaftung – gefragt hatte, warum er sich eigentlich nicht bediene, antwortete der Geistliche ausweichend: Er hätte nicht genug Fantasie, wofür er es in seinem Alter ausgeben solle. Früher waren es wenigstens Frauen, schmunzelte er, nun sei er aber ein Single. „Wie witzig“, dachte sich der General irritiert, „wenn ein Geistlicher sich als Single bezeichnet.“ Im Rudel war es ungeschriebenes Gesetz, sich an den Ämtern zu bereichern. Andernfalls hätte die gegenseitige Deckung in Frage gestellt werden können, oder einem zu kurz Gekommenen wäre eingefallen, andere damit zu erpressen und die Führung an sich zu reißen. Allerdings zeigte Dawydow Nachsicht mit dem alten Freund. Der Vorsteher hatte ohnehin nicht vor, das Kloster jemals zu verlassen. Und gerade aus diesem Grund, glaubte nun der General, war es gerechtfertigt, Aristarch ein wenig bluten lassen.

Da schien er die Rechnung ohne den Wirt gemacht zu haben. Vor allem war es unbegreiflich, wie Dawydow seine Aussage gegen den Abt im Strafverfahren hatte verdrängen können, die den Geistlichen stark belastete. Dem Ertrinkenden war damals alles recht, um seine Haut zu retten. Er hatte zu Protokoll gegeben, den zollfrei importierten Tabak ans Kloster unentgeltlich geliefert zu haben, als Spende. Tatsächlich wurde Aristarch vorgeladen und musste unangenehme Fragen beantworten. Er bestritt, von der Lieferung gewusst zu haben. Hätte Dawydow also nüchtern geurteilt, hätte er eingesehen, dass ihre alte Freundschaft nicht so ungetrübt war, wie er sich einbildete, und dass seine Hoffnung, das Geld bei Aristarch aufzutreiben – und das noch bei diesem höllischen Wetter –, kaum begründet war. Aber klar denken, das konnte er nicht mehr. Eine andere Lösung kam dem alten, aus schwindelerregenden Sphären der Macht gestürzten und vom System ausgestoßenen Paten auch gar nicht erst in den Sinn. Und einfach die Hände in den Schoß legen und dem Schlagen der Wanduhr zu lauschen, die ihn unbarmherzig an seine Galgenfrist erinnerte, konnte er ohnehin nicht. Aristarch war sein Strohhalm, an den er sich klammerte, und die fixe Idee, den einstigen Freund im Kloster aufzusuchen, war stärker als sein rationales Urteilsvermögen.

Dawydow erhob sich und blickte noch einmal aus dem Fenster. Die Frau lag nicht mehr da. Würde er es bei diesem mörderischen Wetter mit dem Zug bis zu Aristarchs Schlupfwinkel schaffen? Er suchte sich im Internet einen Zug heraus und rief ein Taxi. Dann zog er sich ein einfaches Hemd an, packte eine Wasserflasche in den Rucksack, nahm seinen Strohhut und trat mit einem Gehstock ausgerüstet auf die glühende Strasse. Das Taxi stand bereits vor dem Eingang. Als er die Tür öffnete, krähte der bärtige Fahrer anstelle den Fahrgast zu begrüßen: „Bist du getauft?“

„Wie meinen Sie das?“

„Das ist ein orthodoxes Taxi“, rief der Fahrer, „wir bedienen nur getaufte Gäste.“

„Fahr nur“, befahl Dawydow und wedelte drohend mit dem Stock vor seiner Nase.

„Reg dich ab, Alter!“ schrie ihn der Fahrer an, „sonst wirst du hier auf dem Asphalt braten.“ Dawydow gab klein bei. Er hatte es gerade noch geschafft, in den Zug zu steigen, und fiel schweißgebadet und entkräftet auf einen Sitz. Im Waggon gab es nur eine Handvoll Fahrgäste. Als der Zug losfuhr, heulte die Klimaanlage auf. Dawydow schöpfte Atem.

Der Zug kroch langsam durch Moskau. Im Fenster zeigten sich in gelben Smog gehüllte Hochhäuser. Der Anblick des glühenden Molochs drückte Dawydow auf die Brust. Langsam ließ der Zug die Stadt hinter sich und ratterte durch den abgebrannten Wald. Bald zischte er und hielt an. Die Klimaanlage fiel aus. Nach wenigen Minuten verwandelte sich der Waggon in einen glühenden Ofen. Das Thermometer an der Tür zeigte +50°C. Der Schweiß strömte an ihm hinab auf den Sitz.

Dawydow stand auf und taumelte zur Tür. Im selben Augenblick öffnete sich diese, und ein Schaffner mit klebrigem Haarschopf schrie wie betrunken in den Raum:

„Der Zug fährt nicht mehr weiter, alles aussteigen.“

Eine Frau schluchzte. Männer fluchten.

„Was heißt hier aussteigen?“ rief ihm Dawydow aufgebracht zu. „Wir sind praktisch im Niemandsland, es gibt nicht einmal einen Bahnsteig.“

„Der Zug fährt nicht, das Hochspannungsnetz ist zusammengebrochen. Vorne brennt es.“

Dabei riss er die Tür auf: „Raus mit euch.“ Dawydow sprang ungelenk auf den Bahndamm und landete auf seinem Hinterteil. „Wo sind wir überhaupt?“ wandte er sich an den Schaffner.

„Eichenhain!“

Die Fahrgäste wanderten nun durch einen bereits ausgebrannten Wald. Verkohlte Äste und Tierkadaver zeugten von der Heftigkeit des Feuersturms, aber auch davon, dass der Brand nicht mehr wiederkehren würde. Dawydow atmete erleichtert auf, als sie sich nach einiger Zeit auf einer asphaltierten Landstraße wiederfanden. Ihm blieb nun nichts anderes übrig, als Aristarch anzurufen, damit er ihn hier herausholte. Auf eigene Faust würde er es nicht einmal bis in die nächste Siedlung schaffen. Er erreichte den Abt sofort und erklärte ihm, wo er ungefähr gestrandet war.

Die Gruppe der Reisenden belebte sich, als sie eine Stunde später ein Fahrzeug näher kommen sah. Doch dann erkannten sie in dem Auto einen Bonzenwagen, wichen apathisch zurück und ließen sich ratlos am Straßenrand nieder. Dawydow stieg erleichtert in Aristarchs Maybach ein.

Die goldenen Kuppeln des Boris-und-Gleb-Klosters strahlten wie in einem Werbeprospekt. Das Gelände war nicht wieder zu erkennen. Aus der einstigen notdürftig renovierten Ruine war eine florierende Pilgerstätte geworden. Die Zahl der Mönche hatte sich verdreifacht, im Dormitorium war ein Luxus-Hotel für VIP-Pilger eingerichtet worden. Jahr für Jahr suchten Abertausende die heilige Quelle auf, deren Wasser Wunder tat. Reisebusse säumten die Einfahrtstraße. Eine Kilometer lange Schlange von Mühseligen und Beladenen bildete sich vor der Kapelle, die über dem Bach errichtet worden war. Die einen brachten leere Plastikflaschen und Kanister mit, um sich Wasser mitzunehmen, die anderen wollten ein Reinigungsritual vollziehen.

Auf dem Klostergelände und in den umliegenden Dörfern hielten sich im Sommer zeitgleich bis zu dreitausend Pilger auf. Die Infrastruktur stand vor dem Kollaps. Pilger prügelten sich um einen Platz in der Schlange zum Heilwasser. Dem Abt blieb nichts anderes übrig, als der zu Neige gehenden Quelle diskret Leitungswasser zuzuführen. Doch in diesem bestialisch heißen Sommer gab es Pannen bei der Stromversorgung, und der Bach trocknete immer wieder aus. Dann bestrafte Gott diese gebeutelte, dürstende Erde mit dem Brand. In der Stadtverwaltung hatte man ihm versichert, das Feuer würde vor dem Kloster Halt machen, denn die Böden in der Gegend seien schwer, und es gebe keinen Torf mehr in unmittelbarer Nähe. Aber Aristarch hatte zur Genüge Erfahrungen mit Behörden gesammelt und misstraute deren Beschwichtigungen.

Der Himmel war von Rauchwolken überzogen. Rauch drang in die Lungen. Der Siebzigjährige fand wie so oft in letzter Zeit keine innere Ruhe. Bislang war ausgerechnet der General der einzige Mensch, mit dem er offen über sich selbst, über ihre Vergangenheit, über ihre Frauengeschichten reden konnte. Der Abt, der im bürgerlichen Leben Anton Filonow hieß, hatte drei uneheliche Kinder von zwei Frauen. Zwei Töchter, die er mit einer Schauspielerin gezeugt hatte, waren längst ins Ausland gezogen. Der letzte Sprössling aber, der von seiner reumütigen Mutter im festen Glauben erzogen worden war und ein Priesterseminar besuchte, hatte sich das Leben genommen, nachdem er das Geheimnis seiner Herkunft erfuhr. So zündete er an seinem Namenstag eine Kerze vor der Ikone der Gottesmutter von Wladimir an, die er im Stadtmuseum hatte konfiszieren lassen, kniete nieder und murmelte: „Vater unser im Himmel, verzeih Deinem sündigen Knecht.“

Als Dawydow im Kloster eingetroffen war, sah er, wie Aristarch seine Mönche herumkommandierte. Auf dem Gelände rund um die Anlage hielten sich erschöpfte Pilger im Freien auf, die nicht fort konnten. An ihren aufgesprungenen Lippen konnte er ablesen, dass es kein Wasser mehr gab.

„Geh ins Büro“, winkte ihm der Abt zu, „ich habe keine Zeit zu verlieren. Die Wasserpumpe hat den Geist aufgegeben, hier sind Hunderte von Menschen, die nichts zu trinken haben.“ Dawydow machte eine Geste „kümmere dich nicht um mich“ und trat vor das Tor.

Hinter den Mauern des Klosters lag ein Weizenfeld. Er sah die Ähren trocken und schwarz hinabhängen. Der Wind wirbelte Staub auf. Pilger und Opfer der Feuerkatastrophe lagen entkräftet auf dem Boden. Am gegenüberliegenden Feldrand bewegte sich eine Kreuzprozession mit Kirchenfahnen und Ikonen. Der Abt hatte Anweisung erteilt, Bittgebete um Regen zu organisieren.

Ein Volontär aus der Stadt in durchschwitztem T-Shirt und Shorts, dem Aussehen nach ein Student, stand am Golgathahügel und hielt eine flammende Rede.

„Wonach schreien verrückt gewordene Kühe, Wild, Vögel, Insekten? Sie rufen nach Gerechtigkeit! Erhebt euch gegen die Partei der Diebe und Ganoven!“ schrie der Student mit einer dünnen brechenden Stimme, „Nieder mit der Polizei, die unsere Brüder foltert! Jagt die fetten Kater aus den Ämtern! Jagt die Speichellecker und Arschkriecher, die die Wolken auseinander treiben und das Klima vernichten! Nieder mit der Geheimdienstmafia! Alle Macht den Nerds!“

Dawydow hörte nur einzelne Phrasenfetzen, die der Junge sich von der Seele schrie. Der Student schien den Mob aufzuwiegeln. Doch die Menge lauschte ihm apathisch, ohne zu verstehen, was er von ihr wollte. Einzelne Stimmen stöhnten: „Wasser, gib uns Wasser!“

Doch Wasser gab es nicht. Der Wind wurde stärker, der Staub drang in Augen und Nase. Es war später Nachmittag, aber es herrschte Dunkelheit wie bei einer Sonnenfinsternis.

„Wo bin ich? Was tue ich hier eigentlich?“ erschauderte Dawydow. „Das ist doch Mittelalter: Die Pest, die Brandopfer, der Kreuzumzug... was hat das alles mit mir zu tun?“

Auch die Nacht brachte keine Erleichterung. Die beiden Alten saßen erschöpft im Büro und tranken Wasser. Ein Gespräch wollte sich nicht richtig einstellen. Der Abt ahnte, dass der Besuch seines niedergeschlagenen Freundes zur Unzeit nicht einer plötzlich erwachten Sentimentalität zu verdanken war. Der General bildete sich anscheinend ein, mit dem geliehenen Geld würde er es schaffen, sich auf und davon zu machen, denn den Betrag hätte er niemals zurück zahlen können. Also spielte er auf Zeit. Aristarch nahm ihm das nicht einmal übel. In der Tiefe seiner Seele übte er sogar Nachsicht mit dem gestürzten Paten. Immerhin gehörten beide derselben Generation an und zogen früher gemeinsam an einem Strang. Aber von dieser Generation – musste er nun einsehen – war nichts Gutes mehr zu erwarten. An ihr war etwas faul. Und nachdem sie das Ruder an sich gerissen hatten, ging es mit dem Land immer weiter bergab.

Als das Feuer ausgebrochen war, fehlte es am Nötigsten: an Feuerlöschgeräten, Baggern, Transportfahrzeugen und vor allem an Behörden, die gewillt waren, Verantwortung zu übernehmen. Da sollte ihm jemand erzählen, der Brand sei Folge der Erderwärmung. „Früher sagte man, es bräche eine Eiszeit an, darum bringe es sowieso nichts, den Schnee wegzuräumen. Man hat den Staat bis auf den letzten Tropfen Blut ausgesaugt, und plötzlich ist der Klimawandel an allem schuld“, empörte sich Aristarch.

Nun saß Dawydow schwer atmend ihm gegenüber und zögerte. Aristarch durchbohrte ihn mit finsterem Blick.

„Wahrscheinlich muss ich das Kloster evakuieren“, seufzte er, „die Stadtverwaltung hat den Verstand verloren, sie wissen nicht einmal, wo es brennt, können keinerlei Hilfe leisten. Vielleicht sind sie bereits über alle Berge. Und wir bekommen immer noch kein Wasser.“

„Was wird mit den Pilgern geschehen?“

„Das ist es ja. Sie sollen zu Fuß zur Eisenbahn laufen. Das ist nicht weit, um die 15 Kilometer, aber ohne Wasser – und mit Behinderten...? Und was wird, wenn die Züge überhaupt nicht mehr fahren? Deshalb zögere ich. Aber je länger ich mit der Entscheidung zögere, umso schlimmer können dann die Konsequenzen sein. Hast Du schon einmal ans Ende gedacht?“ fragte der Abt plötzlich.

Dawydow schmunzelte.

„An alles Mögliche habe ich in der Zelle gedacht.“

„Ich wollte dich schon immer fragen: Hast du Alexander Men`* beseitigen lassen?“

„Men`?“ reagierte Dawydow verwundert. „Ach, Men`... Hm, das war gerechtfertigt. Wir befürchteten damals, er könnte zu einem charismatischen Glaubensführer heranwachsen. Als Jude und christlicher Hirte in einer Person hätte er die nationale Identität der Russen schwächen können. Findest du nicht?“

„Ein schöner Mann war er, schön wie König Salomon.“

„Seit wann bist du scharf auf Männer?“

„Ich bin nicht scharf auf Männer, ich liebe Schönheit. Weißt du, was traurig ist? Seit Jahrzehnten halte ich Liturgien ab. Und jedes Mal bin ich von der Schönheit des Gesangs überwältigt, bis zu Tränen gerührt. Aber Glaube, Spiritualität, an die müsste man andersherum herangehen. Ohne Frömmigkeit gibt es kein Christentum. Ohne Spiritualität bleibt davon nur ein hohles Ritual übrig. Und woher sollte sie auch kommen? Ich habe das Fleisch geliebt. Das mit den Frauen war am schlimmsten. Es gab Zeiten, da konnte ich Ikonen nicht küssen...wie ein hysterisches Weib. Mein Wort. Dann wurde ich abgebrüht, habe ein dickes Fell gekriegt.“

„Ich hatte von meinen Ausschweifungen am Ende auch nichts“, gestand Dawydow. „Nicht einmal Kinder. Ich schätze, ein paar habe ich schon gezeugt, aber ihre Mütter fürchteten, dass ich sie ihnen wegnehmen würde. Ich war ihnen zu mächtig, zu unheimlich. Damals habe ich diese Wirkung genossen.“

Beide wussten, dass der Austausch von Erinnerungen nur dazu diente, das schmerzhafte Geld-Thema aufzuschieben. Anders als früher verlief das Gespräch nicht entspannt, und angesichts dessen, was sich da draußen abspielte, waren die Bekenntnisse der beiden Wüstlinge irgendwie peinlich. Aristarch spürte das.

„Glaubst du also, dass es falsch gewesen ist, auf die orthodoxe Kirche zu setzen? “ fragte der General verdutzt. „Wie hätten wir sonst ein nationales Selbstbewusstsein fördern sollen?“

„Was heißt hier falsch? Wäre die Kirche das, was sie dem Volk predigt, müssten wir kein Wort weiter darüber verlieren. So aber siehst du ja selbst.“ Der Abt zeigte auf den Kühlschrank, in dem Flaschen mit kostbarem Wasser standen. „Christus hat fünf Brote unter das Volk ausgeteilt, wir werden aber zu zweit diesen Sprudel austrinken, während die da vor Durst durchdrehen... Das Allerschlimmste in der Kirche – das sind wir, das bin ich: Jene, die zur Kirche kamen, weil sie schlecht waren.“ Seine Stimme stockte. „Und das Schönste, dem ich in der Kirche begegnet bin, war Christus. Ich begegnete ihm, und Er hätte mich sich selbst ähnlich machen können. Aber ich suchte in der Kirche nach anderen Dingen und Er hat mir den Rücken zugekehrt.“ Er schmunzelte bitter. Dawydow schaute ihn perplex an. „Daran ist nichts mehr zu ändern“, fuhr der Abt fort. „Das einzige, was mir weh tut, das ist, dass meine Kinder an mir zerbrochen sind. Manchmal, wenn ich Neugeborene ins Taufbecken tauche, kommt es mir vor, als seien sie meine Enkel.

Als der Geheimdienst mich mit den Kirchenangelegenheiten beauftragte, war ich noch ein grüner Bursche. Da lernte ich einen älteren Offizier kennen, der für die Synagogen zuständig war. Er fragte, ob ich schon Kinder hätte.

`Wozu Kinder? Ich bin noch jung, ich denke gar nicht daran.` `Um sich auf die Enkel vorzubereiten. Dafür braucht man mindestens vierzig Jahre, du solltest dich beeilen`. Und er schaute mich so an, allwissend. Die Familie ist die natürlichste Sache der Welt. Das verstehen eben die Juden schon von alters her.“

Aristarch starrte nachdenklich in die Leere.

„Selbst dein Geschäftsführer hat das verstanden.“

Dawydow horchte auf: „Meinst du etwa Nikolaj Platonow?“

„Wen sonst? Was bist du denn so aufgeschreckt?“

„Nein, bin ich nicht. Ich habe mich nur gewundert. Von wem weißt du das denn?“

Aristarch zuckte die Schulter. Platonow hat also den Anschlag überlebt, schoss es Dawydow durch den Kopf. Der Killer hatte ihn, den Auftraggeber, schlicht hinters Licht geführt. Mehr noch, sein einstiger Untergebener führte ein gesittetes Leben – und ihm war das alles entgangen. Dawydow kostete es einige Anstrengung, dem Abt nicht zu gestehen, dass Platonow eigentlich mausetot sein müsste.

„Gleich beginnt die Mitternachtsmesse. Hoffentlich kommt es nicht zu einem Tumult. Die Menschen verlieren den Verstand.“

„Ich muss es endlich aussprechen. Es wurde genug um den heißen Brei geredet.“

„Du bist wegen deiner Schulden da“, kam Aristarch ihm zuvor.

Dawydow nickte: „Du sagst es. Ich habe diese Ungewissheit nicht mehr ausgehalten. Ich weiß, dass du mir meine Aussage gegen dich im Prozess übel nimmst. Würde ich auch an deiner Stelle.“

Im selben Augenblick setzte auf dem Glockenturm ein panisches Sturmläuten ein. Der Abt wechselte die Farbe und rannte hinaus. Dawydow folgte ihm. Der Himmel brannte lichterloh. Ein orkanartiger Wind blies einen riesigen Feuerball über das Weizenfeld auf das Kloster zu.

KALTZEIT

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