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Atempause

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Gerade hatte sich Robert beim Googlen vertippt und war in einen Blog geraten, in dem die Kunst des Rauchringemachens besprochen wurde. „mach dir erstmal ne ordentliche shisha an, wo der rauch schön dicht wird, suche dir dazu ein windstilles plätzchen. inhaliere den rauch so, dass du genügend in deine lunge hast um zuerst was auszublasen. und dann hörst du kurz auf mit pusten, lässt dein mund ein "O" formen und mit dem rauch, den du im mund hast, machst du ein ring – indem du entweder dein kifer nach oben bewegst, oder du machst einen ganz leichten luftstoß aus der lunge bzw. dem rachen, ähnlich wie beim husten, aber ganz ganz leicht.“

Er schmunzelte über die ausführliche Gebrauchsanweisung und versuchte doch, ihr zu folgen. Und siehe da, es klappte sofort. Robert stützte sich auf das Balkongeländer und ließ genüsslich einen Rauchring in die Luft steigen.

Nebenan stand ein Jugendstilhaus mit einer von Efeu dicht bewachsenen Fassade. Robert hörte ein weibliches Lachen, schaute hinab und sah einen männlichen Rücken in der Loggia. Der Mann drückte eine vor ihm stehende Frau an sich. Sie versuchte, seiner Umklammerung zu entschlüpfen, er jedoch ließ das nicht zu. Der Scheinkampf schien ihr Vergnügen zu bereiten, und sie umschlang seinen Hals. Eigentlich geschah gar nichts Besonderes, und doch kostete es ihn einige Mühe, seinen Blick von dem Pärchen abzuwenden.

Im letzten Jahr hatte Robert überhaupt nicht mehr gewusst, wie ihm geschah, und er kam sich wie ein abgehetztes Tier vor. Erst vor zwei Wochen hatte er endlich eine Stelle am Institut für Klimawandel bekommen und war in eine Dreizimmerwohnung im obersten Stock eines Neubaus aus den 50er Jahren ohne Aufzug, dafür aber in Schöneberg gezogen.

Anfangs hatte Robert ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, seiner aus Afrika stammenden Frau das Sorgerecht für ihre gemeinsame Tochter Marlene zu entziehen. In diesem Fall, erläuterte sein Anwalt, bestünde die Möglichkeit, dass Claire des Landes verwiesen werde. Andernfalls jedoch lief er selbst Gefahr, von ihr finanziell ausgenutzt zu werden und dazu noch den Kontakt zu seinem Kind zu verlieren. Robert stimmte einem Verfahren dennoch nicht zu. Er sei zu naiv, versuchten ihm seine Freunde klar zu machen. Claire werde seine Großzügigkeit nicht zu schätzen wissen, im Gegenteil, sie würde ihm das Leben zur Hölle machen. Doch wollte er keine Rache, sondern dass sein Kind normal aufwachsen konnte. Das Kind brauchte die Mutter, entschied Robert. Deshalb war er schweren Herzens bereit, das Sorgerecht für Marlene mit Claire zu teilen. So durfte sie in Deutschland bleiben.

Das änderte nichts daran, dass sie flugs zu ihrem Galan nach Belgien verschwand und Robert – ohne Arbeit und zur Untermiete bei einem Freund wohnend – das Kind allein versorgen musste. Bald ging ihre neue Beziehung in die Brüche, sie trudelte wieder in Berlin ein und fand einen Job in einem Nachtklub. Er hatte aufgehört, die Männerstimmen an ihrem Telefon zu zählen. Nun war Marlene jede zweite Woche bei ihrer Mutter, und wenn sie in der Potsdamer Straße übernachtete, suchten ihn böse Gedanken heim.

Robert hatte überhaupt keine Lust, sein Versagen zu analysieren. Er hasste diesen typisch deutschen Psycho-Quatsch: Familiengeschichten mit schweigenden Nazi-Vätern, Suchen nach jüdischen Vorfahren, Bohren in den eigenen Traumata. Er war nicht am schlechtesten Fleck der Erde zur Welt gekommen und hatte eine halbwegs gewöhnliche Kindheit verlebt.

Ilma und ihre jüngere Schwester – seine Mutter Gudrun hatte es aus Ostpreußen nach Schwaben verschlagen. Ilma war damals 17 und Gudrun erst 12. Ihre ganze restliche Familie war auf der Flucht umgekommen – das wusste Robert schon als kleines Kind. Gudrun schaffte es nicht, die Schule zu beenden und arbeitete an einer Tankstelle. Wer sie geschwängert hatte, konnte Ilma nicht aus ihr herausbekommen. Ein Jahr nach seiner Geburt musste sie in die Psychiatrie, die sie nur selten verlassen durfte. Dass den Geschwistern noch andere üble Dinge angetan wurden, hatte Ilma ihm aber erst nach dem Abitur verraten. Im Nachhinein fand er es absurd, dass sie ihn schonen wollte.

Ilma erkannte früh, dass Robert eine schnelle Auffassungsgabe hatte und schickte ihn auf ein Gymnasium der Benediktiner. Der Lehrer für Physik und Biologie – ein Kriegsversehrter aus Breslau – gab Robert zu verstehen, dass er ihn schätzte. Er ließ ihn die schwierigsten Aufgaben lösen. Lange vor der Pause war Robert damit fertig, blickte von seinem Heft auf und wartete, dass der Lehrer ihn anschaute. Seine Augen wurden dann sanft, er trat an Roberts Tisch, warf einen kurzen Blick auf den Lösungsweg und strich ihm über die Haare: „Einwandfrei, mein Junge.“

In der Pause half er dem Lehrer, der eine Handprothese trug, sich eine Zigarette zu drehen. Sein Traum war, gemeinsam mit ihm auf die Zugspitze zu fahren und die Gestirne durch ein Fernrohr zu beobachten. Am liebsten aber hätte Robert seinen Lehrer zum Vater gehabt. So aber durfte er lediglich bei Demonstrationsexperimenten helfen. Tagelang bastelte er an farbigen Protonen und Neutronen, die er aneinander klebte. Nur die Elektronen fielen ihm immer wieder vom Draht der Umlaufbahn ab.

Nach dem Abitur schrieb sich Robert für ein Studium der Nuklearphysik ein. Doch gleich am Anfang fiel ihm auf, dass seine Begeisterung für dieses Fach nicht von allen Kommilitonen an der Universität geteilt wurde. Die meisten nahmen an Antiatomdemos teil, und als er sich für ein Zimmer in einer WG bewarb, wurde ihm als „Atomschwein“ sogar eine harsche Abfuhr erteilt. Er musste auf einem Bauernhof unterkommen.

Bereits in der ersten Semesterwoche stürmten protestierende Studenten der Philosophischen Fakultät in die Vorlesung, die vom Leiter des Lehrstuhls für Festkörperphysik, Professor Siegfried von Castorp gehalten wurde. Sie wedelten mit Transparenten „Atomkraft? Nein, danke!“ und schrieen „Atom ist Krieg!“ An der Uni brodelte es.

„Die Jugend versteht einfach nicht“, beklagte Castorp sich bei seinen Kollegen, „wie ungeheuer wichtig kontrollierte Kernspaltung für den Fortschritt der Menschheit ist. Zukunftsforscher schlagen wegen der Bevölkerungsexplosion und der Überbelastung der gesamten Biosphäre Alarm. Man kann doch nicht in einem Atemzug vor einer Erschöpfung der natürlichen Ressourcen warnen und die Kernenergie verdammen.“

Der engagierte Professor regte deshalb eine öffentliche Vorlesungsreihe zum Thema „Energie und Fortschritt“ an. Der erste Vortrag war betitelt „Zukunft der Energie“ und wurde von ihm selbst gehalten. Neben bürgerlichem Publikum aus der Stadt waren im überfüllten Audimax die vielen Studenten mit ihren Anti-AKW-Buttons nicht zu übersehen. Nicht einmal vor seiner Antrittsvorlesung hatte Castorp eine solche Aufregung verspürt. Er nahm sich zusammen.

„Es sei daran erinnert, meine Damen und Herren, dass der Großteil der Welt bis in das 19. Jahrhundert hinein von Naturalwirtschaft lebte. Anders ausgedrückt, Menschen waren in hohem Maße auf regenerative Ressourcen angewiesen. Biomasse diente als Nahrung sowie als Futtermittel für Tiere. Reisen war ohne die Muskelkraft von Mensch und Tier, Heizung und Kochen ohne Holz schlecht möglich. Aber die Energiedichte von Holz ist gering, und so führte die industrielle Revolution zu wachsendem Holzbedarf. Dieser wiederum hatte eine dramatische Dezimierung der europäischen Wälder zur Folge.

Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts wurde in Europa wegen einer drohenden Holznot Alarm geschlagen. Das Verschwinden des Waldes schien unmittelbar bevorzustehen. Kaum zu glauben, aber bei der Einberufung der französischen Generalstände 1789 hatte die Frage der Holznot oberste Priorität. Der sich abzeichnende Mangel an verfügbarer Energie setzte, so schien es, dem Höhenflug des aufstrebenden Kapitalismus enge Grenzen. Wegen der Holznot, so fürchtete Karl Marx, liefe der Kapitalismus Gefahr, in eine tiefe Krise zu stürzen, noch ehe das Proletariat seine Ketten verlöre.“

Aus dem Publikum ertönten aufmunternder Applaus und Gekicher.

„Leider war der Prophet des Kommunismus nicht auf dem neuesten Stand der Entwicklung seiner Zeit. Er übersah schlicht den sich damals vollziehenden Paradigmenwechsel: Kohle war im Begriff, Holz als Treibstoff des Fortschritts zu ersetzen, bereits im Jahr 1885 übertraf der Kohleverbrauch denjenigen des nachwachsenden Rohstoffs, während Erdöl im Jahr 1950 zur wichtigsten Ressource wurde.

Die Welt ging von den regenerativen, aber knapp gewordenen Rohstoffen zu Kohle, Öl und Erdgas über, und das aus guten physikalischen und mathematischen Gründen.

Wind besitzt nur ein Zehntel der Energiedichte von Holz, Holz die Hälfte der Energiedichte von Kohle und Kohle die Hälfte der Energiedichte von Kohlewasserstoff. Alle zusammen unterscheiden sie sich voneinander um einen Faktor von etwa 50. Anders ausgedruckt: Die gleiche Masse Kohle kann in deutlich mehr Energie und Arbeit umgewandelt werden als die von Holz, während Öl noch energiereicher ist als Kohle.

Fossile Brennstoffe haben der industriellen Revolution einen ungeahnten Auftrieb gegeben. Der Übergang von Holz zu Kohle, Öl und Gas als Energiequelle war auch der Grund, warum uns der Wald erhalten blieb und in einigen Ländern seinen Raum sogar zurückerobern konnte. Und doch stieß diese Form der Energiegewinnung an ihre Grenzen. Stellen wir uns vor: Um die Stromversorgung von London oder Los Angeles zu gewährleisten, werden tagtäglich Tausende von Zügen mit Kohle in die Heizkraftwerke geschickt. Ein 1000-Megawatt-Kohlekraftwerk benötigt bei vollem Betrieb alle 30 Stunden einen Güterzug mit 110 Waggons voll Kohle – 300 mal im Jahr. Tausende mit Rohöl beladene Tanker durchpflügen die Ozeane, um unsere Mobilität und unseren Wohlstand zu sichern.

Wir wähnen uns modern, glauben auf der Höhe des Fortschritts zu sein. Doch zugleich ist unsere Form der extensiven Energiewirtschaft immer noch eigentümlich archaisch. Dabei gibt es bereits eine neue Form von Technologie, die fast unbegrenzt Energie mit einem verschwindend geringen Einfluss auf die Umwelt produzieren kann. Es besteht kaum ein Zweifel, dass sie mit der Zeit fossile Brennstoffe ersetzen wird.

Natürlich ist die Rede von der verfemten Kernkraft. Sie besitzt etwa 2 Millionen Mal die Energiedichte von Benzin. Unsere Energiezukunft hängt großenteils davon ab, die Bedeutung dieser Differenz zu erfassen. Ein Kernreaktor wird versorgt, indem eine Flotte von sechs Sattelschleppern mit einer Ladung von Brennstäben einmal alle 18 Monate in diesem Kraftwerk eintrifft. Die Brennstäbe sind nur schwach radioaktiv und können mit Handschuhen angefasst werden. Sie verbleiben dann fünf Jahre in dem Reaktor. Nach diesen fünf Jahren werden sich etwa 170 g Materie vollständig in Energie verwandelt haben. Diese Menge reicht aus, um eine Stadt mit 2 Millionen Einwohnern fünf Jahre lang mit Strom zu versorgen. Das ist es, was uns Sterblichen so schwer fällt zu verstehen.“

Castorp hörte die Stühle klappern und schaute verwundert in den Saal. In den hinteren Reihen rumorte es, die Zuhörer reckten ihre Hälse in die Höhe. Vorne war ein unterdrücktes Gekicher zu hören. Er verlor den Faden und drehte sich um. Hinter dem Vorhang versuchte jemand, ein Transparent auf die Bühne zu schieben.

„Kommen Sie, junger Mann“, rief Castorp ihm zu, „genieren Sie sich nicht! Ich habe nichts dagegen, dass Sie Ihr Anti-Atom-Zelt auf der Bühne aufschlagen.“

Der Unsichtbare ließ das Transparent fallen und ergriff die Flucht. Der Professor hob es auf und lehnte es lächelnd an das Pult. Ein grob karikierter Castorp thronte auf einem Atompilz wie Herrgott auf einer Wolke. Die Unterschrift lautete: „Sofortige Abschaltung!“ Er schmunzelte, nahm einen Schluck Wasser und fuhr fort.

„Wie kann man eine ganze Großstadt fünf Jahre lang mit 170 g Materie fast ohne jeden Umwelteinfluss mit Strom versorgen? Das liegt fast jenseits unserer Vorstellungskraft. Es scheint so unbegreiflich zu sein, dass wir nur auf die Probleme starren oder diese sogar erfinden, um alles wieder normal aussehen zu lassen: Ein Reaktor sei eine Bombe, die darauf wartet zu explodieren. Der Abfall lagere ewig, was werden wir je damit tun können?

Ja, es mag etwas Unheimliches darin liegen, Energie aus dem Atomkern zu erzeugen. Aber die Technologie liegt nicht jenseits der menschlichen Beherrschbarkeit, gerade wenn man die jüngste Forschung mit in Betracht zieht. Dann ist auch nichts Furchterregendes mehr an der Kernkraft. Probleme, die wir jetzt noch sehen, werden von der Wissenschaft bald gelöst werden. Der Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit wird ohne das friedliche Atom eine Utopie bleiben.“

Beim letzten Satz spürte Castorp einen kräftigen Schlag an der linken Schulter. Irgend jemand hatte einen Apfel nach ihm geworfen. Er hörte Gepfeife und Geschrei: „Reaktionäres Atomschwein! Atomausstieg sofort!“ Studenten strömten auf die Bühne. Robert und einige seiner Kommilitonen stellten sich vor dem Pult auf, um die Atom-Gegner von ihm fernzuhalten.

Castorp, der hinter der aufgebrachten Menge kaum zu sehen war, ließ sich von dem Tumult nicht einschüchtern und streckte seine Hand in den Saal hinaus. Für einen Augenblick schien der kleine Professor sich in einen Volkstribun verwandelt zu haben.

„Unsere Universität hat eine gediegene aufklärerische Tradition. Und doch wurden auch auf dem Platz vor diesen Fenstern Bücher verbrannt, unter anderem die „Allgemeine Relativitätstheorie“ von Albert Einstein. Die Täter waren angehende Ärzte, Physiker, Biologen – sie haben Fächer studiert, in denen es auf Kritik und experimentelle Bestätigung für allerlei Hypothesen ankommt. Dennoch haben sich viele von ihnen durch pseudowissenschaftliche Theorien blenden lassen: Rassenlehre, Eugenik, Anthroposophie – was da alles an Geistern in wissenschaftlichem Gewand herum spukte. Manch ein Naturfreund, der von Nachhaltigkeit und Naturverbundenheit träumte, hat sich als Menschenhasser entpuppt und sich des Massenverbrechens schuldig gemacht.“

Er hörte Buh-Rufe und Geklatsche aus dem Publikum, manche sprangen von ihren Plätzen auf und riefen wütend „Lüge!“ Doch Castorp fuhr unbeirrt fort.

„Ihnen gefällt der Vergleich nicht? Ich frage Sie: Was hätten die Rebellen von heute damals getan? Hätten unsere wütenden AKW-Gegner“, – er zeigte auf das Plakat mit dem Atompilz – „den Mut gehabt, gegen den Strom zu schwimmen, oder hätten sie brav mitgemacht? Der junge Mann, der mich als Kriegstreiber verunglimpfen wollte, darf seine Meinung weiter frei und öffentlich zum Ausdruck bringen. Die Frage ist, ob er fundiertes Wissen besitzt, um sich ein eigenes Urteil überhaupt bilden zu können oder ob er lediglich ein Mitläufer ist?

Ich sehe hier im Saal unseren Nachwuchs, künftige Wissenschaftler, die sich der Wahrheit verschrieben haben. Ich warne Sie vor einer Dämonisierung der Kernenergie. Das friedliche Atom ist eine verlässliche Lösung für die Energie- und Umweltprobleme der Zukunft!“ Castorps Stimme wurde heiser. „Was hat es mit dem radioaktiven Abfall auf sich, dessen Lagerung die ganze Nation um den Verstand bringt? Forscher sehen bereits die Zeit kommen, in der Atommüll als Brennstoff für Kernreaktoren der nächsten Generation verwendet wird. Das Problem der Endlager ist obsolet!“

Die Studenten trampelten mit den Füßen auf dem Boden und johlten. Castorp verstummte erschöpft. Die Zuhörer beeilten sich zum Ausgang.

Nach diesem Eklat kam die Universität nicht mehr zu Ruhe. Der Rektor sagte die Vorlesungsreihe wegen Gefahr für die öffentliche Ordnung ab. Castorp war über solchen Kleinmut frustriert. Eine moderne Gesellschaft, davon war er fest überzeugt, war auf dem Holzweg, wenn sie sich der Kernenergie verweigerte. Ohne sie würde der Westen in eine bedenkliche Abhängigkeit von üblen Diktaturen geraten. Gerade die sowjetische Gaspipeline führte das Dilemma plastisch vor Augen.

Noch schlimmer war, dass die Kollegen am Lehrstuhl ihm die Unterstützung verweigerten. Man wollte keine Konfrontationen mit den Studenten. Nach all den politischen Fehlern der Vergangenheit, argumentierten sie, sollte man sich über den Widerstand gegen die Kernkraft nicht wundern. Auf die Ölkrise mit dem Bau von 55 Leichtwasserreaktoren zu reagieren, und das in einem dicht besiedelten Land wie der Bundesrepublik, sei gelinde gesagt übertrieben gewesen. Wer wollte auch schon einen so furchterregenden AKW-Bunker vor seinem Gartenzaun haben? Rechts Marschflugkörper, links Biblis – da müssen ja bei manchen die Sicherungen durchbrennen. Die Nachrüstung hätte den Protesten erst recht Auftrieb gegeben. Castorp bestritt das nicht. Vor allem sei es politisch unklug gewesen, sich für einen einzigen Reaktortyp zu entscheiden und die Entwicklung kerntechnischer Alternativen dadurch behindert zu haben, gab er bereitwillig zu. Fehler gehörten auf den Prüfstand. Aber anstatt die Fehlentwicklungen zu korrigieren, werde Kernenergie als solche in Frage gestellt. Am Lehrstuhl herrschte gedrückte Stimmung.

Die Wanduhr schlug 10.00 Uhr. Seit einer halben Stunde saß Castorp in der Lotos-Pose in seinem Wohnzimmer, aber sein Geist machte nicht mit. Anstatt sich auf den Atem zu konzentrieren, musste er wieder an seinen Doktorvater denken: einen ausgewiesenen Forscher und Gelehrten, der sich ganz und gar der Suche nach Wahrheit verschrieben hatte. Manche behaupteten, einen Heiligenschein um seinen Kopf gesehen zu haben, als ob er höhere Weihen erhalten hätte. Aus Entsetzen über seine Kollegen, die sich den schrillen Straßenprotesten wider besseres Wissen zu beugen schienen, hatte er die Enquete-Kommission verlassen und sich aus der Forschung zurückgezogen. Bald darauf war er völlig vereinsamt in seinem Haus gestorben, und zu seiner Bestattung waren nur eine Handvoll Verwandter und ein Schulfreund erschienen. Wissenschaftler dieses Schlages sind heute rar geworden. Nun ja. Einst war man für seine Überzeugungen auf den Scheiterhaufen gestiegen. Auch Verbrechen werden aus Überzeugung begangen. Das ist die verfluchte Dialektik der Wahrheit. In der Sache hatte der Lehrer mit seiner erhabenen Geste nichts bewegen können. Für seine Gegner war es ohne ihn nur noch leichter geworden. So gesehen war der Rücktritt des Unbestechlichen nichts anderes als Kapitulation.

In einer Stunde würde das Fachseminar in der Uni anfangen. Castorp zog sich um und trat vor die Tür. Junge Menschen, arbeitete es in seinem Hirn weiter, vergeudeten ihre Energie in dogmatischen Debatten oder legten sich auf die Gleise vor Gorleben. Sie bekämpften vermeintliche Feinde und glaubten dabei, die einzig richtige Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft parat zu haben.

An einem Zeitungskiosk blieb sein Blick auf der Schlagzeile „Tod im Treibhaus“ hängen. Der Artikel warnte vor den Gefahren, die von wachsenden Emissionen von Treibhausgasen für das Klima ausgehen sollten. Das fehlte gerade noch, grinste er. Rund herum nichts als tödliche Gefahren und unkalkulierbare Risiken. Gestern wurde über den Albtraum einer nahenden Eiszeit berichtet. Nun wittern die Medien die nächste Sensation. Und morgen schon würde ein neuer Schadstoff Schlagzeilen machen. Der Mensch ist ein ängstliches Wesen. Das ist in seinem Erbgut angelegt. Einst lauerten hinter jedem Baum Gefahren. Heute lebt er so gesund und sicher wie noch nie zuvor. Aber die Angstgefühle sind geblieben, sie finden immer neue Nahrung.

Vor den aufmüpfigen Studenten war ihm keineswegs Bange. Es war die Angst selbst, die ihm ein Unbehagen bereitete, eine deprimierendes Risikoscheu mit großen Augen, aber einem kleinen Hirn. Nein, er würde nicht klein beigeben. Er würde in die Offensive gehen.

In Gedanken versunken steckte er die Zeitung in die Tasche und machte sich auf den Weg in die Fakultät. Similia similibus curentur, las Castorp in der silbernen Vignette, die im Schaufenster einer Apotheke hing: Möge Ähnliches mit Ähnlichem geheilt werden.

„Die Treibhausgase, vor allem Kohlendioxid, heizen die Erdatmosphäre auf. Habt ihr das schon mitbekommen?“ Castorp hielt den verblüfften Studenten die Zeitung vor die Nase. „Wächst der Verbrauch fossiler Brennstoffe mit der gegenwärtigen Beschleunigung weiter, wird dies in wenigen Jahrzehnten eine bislang nie da gewesene Erderwärmung zur Folge haben. In der Folge sollen die Gletscher abschmelzen und der Meeresspiegel um mehrere Meter ansteigen Was sagt ihr dazu?“

„Na ja“, erwiderte Robert etwas unsicher. „Physikalisch betrachtet wären eigentlich Zweifel angebracht, ob Kohlendioxid wirklich einen derart verheerenden Einfluss auf das Klima entfalten kann. Treibhausgase haben das Leben auf dem Planeten erst möglich gemacht. Sonst würde die Temperatur der Atmosphäre von +15°C auf – 18°C sinken. Das ist Schulwissen. Das wichtigste Treibhausgas ist bekanntlich Wasserdampf. Auch CO2 absorbiert die Wärmestrahlung, die von der Erde abgestrahlt wird. In vorindustrieller Zeit betrug der Gehalt des Kohlendioxids in der Luft zirka 0,025-0,030 %, im letzten Jahrhundert stieg er auf 0,04 %. Das sind 400 Moleküle auf eine Million Luftteilchen. Dass ausgerechnet ein paar Hundert Moleküle für eine nie da gewesene Klimaerwärmung verantwortlich sein sollen, dafür fehlt mir die Fantasie. Dazu ist die Vorstellung vom Planeten als einem Gewächshaus physikalisch falsch. Die Atmosphäre ist keine Glaskuppel, und die Erde ist kein geschlossenes System. Sie gibt einen Teil ihrer Energie an das Weltall ab.“

Danach meldete sich ein Kommilitone zum Wort.

„Die Hypothese, dass der Anstieg von CO2 die Atmosphäre aufheizen könnte, ist bereits vor mehr als hundert Jahren geäußert worden. Unter Ausblendung aller anderen Faktoren, die das Klima beeinflussen, könnte sich die Temperatur mit der wachsenden CO2-Konzentration in der Tat erhöhen, aber nicht linear, sondern nur regressiv logarithmisch. Bei der Verdopplung des CO2 - Gehalts in der Luft würde die globale Temperatur dann um 1°C ansteigen. Doch das ist eine rein theoretische Annahme. In Wirklichkeit müssen auch andere Antriebe und Rückkopplungen in den Berechnungen berücksichtigt werden. Das Klima ist ein Chaossystem und...“

„Nun gut“, unterbrach ihn Castorp. „Ihr beide habt unterschiedliche Unsicherheiten angesprochen. Tatsächlich wissen wir vom Klima noch zu wenig. Mir geht es jetzt vor allem darum, welche Bedeutung der vermeintliche Einfluss des CO2 auf die Erderwärmung für uns als Nuklearforscher haben könnte?“

Robert kratzte sich am Nacken. „Keine, weil wir uns mit der Kernspaltung beschäftigen, bei den Treibhausgasen wie Kohlendioxid oder Methan geht es aber um die Absorption der Infrarotstrahlung durch Moleküle.“

„Das ist nicht falsch, aber das meinte ich nicht“, entgegnete Castorp. „Wer hat einen Vorschlag?“

Ein anderer Kommilitone hob seine Hand. „Ich denke, es geht im Wesentlichen, na ja, um den sol perpetuus.“ Das Seminar brach in Gelächter aus. Auch Castorp war sichtlich erheitert, sagte dann aber ernsthaft: „Und wie wäre das zu verstehen? Dass die Sonne uns nicht ausgehen wird, ist eine Binsenwahrheit.“

Der Student fuhr munter fort. „Sie haben das Problem bereits in Ihrer Vorlesung angesprochen. Laut den Prognosen des Club of Rome sollen die fossilen Brennstoffe spätestens in fünfzig Jahren erschöpft sein. Bereits die schiere Geschwindigkeit, mit der die Kohlenwasserstoffe verbraucht werden, mutet unheimlich an. Da fällt es einem nicht schwer, an gravierende Folgen wie den Treibhauseffekt zu glauben. Darum ist die Kernenergie ein Ausweg aus der Sackgasse der Energiearmut und eine ökologische Alternative. Auf den Begriff des sol perpetuus bringe ich das, was in der Sonne oder im Erdinneren geschieht: eine zeitlose Erzeugung von Energie mit Hilfe der Kernfusion. Würde die kontrollierte Kernfusion jemals gelingen, bekämen wir so eine gezähmte Sonne auf der Erde.“

„Sehr gut!“ nickte Castorp. „Tatsächlich fürchten manche Forscher die gravierenden Folgen der wachsenden Emissionen von Treibhausgasen, die zu einer Erderwärmung beitragen. Wie kann man aber unser Wissen über die Kernreaktionen mit der Wirkung des CO2 auf das Klima in Verbindung bringen?“

„Weiß ich nicht“, erwiderte der Student verdutzt. „Kernreaktionen haben, wie gesagt, mit dem CO2 nichts zu tun. Dabei entstehen keine Treibhausgase. Von daher ist die Atomenergie sauber.“

„Endlich“, seufzte Castorp erleichtert. „Das Schlüsselwort lautet `sauber`. Uns wird stets vorgeworfen, wir arbeiteten an einer gefährlichen Technologie. Aber im Unterschied zu Kohle und Öl ist die Kernspaltung klimaneutral.“

„Und was folgt daraus?“ fragte Robert befremdet.

“Wer einer Dekarbonisierung der Wirtschaft das Wort redet, darf die Atomenergie nicht verteufeln.“

Zu Hause erzählte Robert seiner Freundin, die Umwelttechnik studierte, von dem neuen Einfall seines Professors. Castorp schien vom menschengemachten Treibhauseffekt nicht wirklich überzeugt zu sein, aber die Angst vor der drohenden Klimakatastrophe könne die Sache der Kernenergie voranbringen.

„Was heißt hier `nicht überzeugt`?" fauchte sofort seine Freundin.„Verstehst du denn nicht? Der Raubtierkapitalismus ist dabei, die ganze Erde zu verwüsten. Die fossilen Bodenschätze haben sich in Hundertmillionen von Jahren herausgebildet, und jetzt werden sie für den Scheißkonsum in ein paar Jahrzehnten verfeuert. Klar doch, wenn der ganze Kohlenstoff, der in der Kohle und im Erdöl gespeichert war, auf einmal freigesetzt wird, wird es mit dem Klimagleichgewicht bald vorüber sein.“

„Das CO2 kehrt doch aber in den Kohlenstoffkreislauf, in Pflanzen und Ozeane wieder zurück.“

„Gar nicht! Die schaffen das nicht mehr. Die Erde ist Gaia, ein lebendiger Organismus. Sie reguliert sich selbst, aber wenn der Kapitalismus ihre Selbstregulierung außer Kraft setzt, wird Gaia krank und stirbt. Das hat James Lovelock gesagt, und der ist cool“, schloss sie im Brustton der Überzeugung.

„Wenn du meinst, dass ausgerechnet das CO2 für den Treibhauseffekt verantwortlich ist, sollten wir erst recht die Kohlekraftwerke durch Atomkraftwerke ersetzen. Genau das schlägt Castorp vor. Nur bei der Gewinnung von Kernenergie entsteht kein CO2“, erwiderte er nicht ohne Genugtuung. Sie schaute ihn verärgert an.

„Wir werden Sonnenkollektoren für die ganze Welt bauen.“

„Die Photovoltaik“, entgegnete er, „ist nicht effizient und kann keinen stabilen Strom produzieren.“

Als sie sich schlafen legten, kehrte sie ihm trotzig den Rücken zu.

Castorp brauchte nicht viel Zeit, um seinen Fachkollegen nahe zu legen, wie sie aus der Defensive herauskommen könnten. Kohlendioxid war ein Geschenk des Himmels.

Der Arbeitskreis Energie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft verfasste ein Memorandum „Warnung vor einer drohenden Klimakatastrophe“.

“Um die drohende Klimakatastrophe zu vermeiden, muss bereits jetzt wirkungsvoll damit begonnen werden, eine weitere Emission der genannten Spurengase drastisch einzuschränken.“ Klimaverträglich sei lediglich Kernkraft, und ohne einen langfristigen Ausbau der Atomenergie könne eine globale Katastrophe nicht abgewendet werden. Diese Stellungnahme schlug wie eine Bombe in der Öffentlichkeit ein. Die mittlere globale Temperatur, las Castorp bald im Interview eines CDU-Politikers, würde in 50 Jahren um bis zu 4,5°C steigen. Unwetter, Hunger, Elend und Ströme von Umweltflüchtlingen wären die Folgen. Er fühlte sich wie in einer Geisterbahn.

Als Wissenschaftler war Castorp gewohnt, an den Verstand und die Logik zu appellieren, und es war bislang nicht seine Art, Katastrophen heraufzubeschwören. Immer wieder war er über die Panikwogen, die die Gesellschaft heimsuchten, entrüstet. Das Kriegstrauma schien tiefer in der deutschen Gesellschaft zu sitzen, als man wahr haben wollte. Es hatte eine erstaunlich lange Halbwertzeit und wirkte in der jungen Generation weiter. Aber wie konnten Physiker, musste er sich fragen, die Öffentlichkeit von der Zukunft der Kernkraft überzeugen, wenn die Anti-Atom-Bewegung Ängste schürte, die Medien Panik schoben und die Politik vor sich hertrieben? Ihm war klar bewusst, dass Klimaforschung noch in den Kinderschuhen steckte. Man bräuchte Jahrzehnte, um die Auswirkungen anthropogener Emissionen vor dem Hintergrund natürlicher Faktoren zu verstehen. Vielleicht hatten sie in dem „Memorandum“ doch zu dick aufgetragen. Man sollte lieber nicht vor einer Klimakatastrophe, sondern von den drohenden weltweiten Klimaänderungen durch die Menschen warnen.

Aus diesen verworrenen Gedanken wurde er durch schrilles Telefonklingeln herausgerissen.

„Wie viel Röntgen?“ Castorp sank in den Lehnstuhl und schloss die Augen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was jetzt kommen würde: Demos, nieder mit dem Atomstaat, Castorp ist ein Atomschwein! Die Stimme der Vernunft würde endgültig untergehen. Es würde nichts nutzen, der Öffentlichkeit zu versichern, dass der Unglücksreaktor von anderer Bauart war und in der Bundesrepublik so etwas undenkbar sei. Kaum witterte er eine Chance, war er schon dabei, den Kampf zu verlieren.

Die Monate nach dem GAU von Tschernobyl waren die schlimmsten in seinem Leben. „Beruhige dich, Schatz. Wir haben hier keine erhöhten Werte“, er zeigte seiner Frau den Geigerzähler. “Man muss nur bei Lebensmitteln aufpassen. Du darfst dich nicht verrückt machen lassen.“ „Deine Messungen kannst du dir sparen“, brach sie in Tränen aus, „ich bin ganz zufällig von dir schwanger. Willst du ein behindertes Kind haben?“ „Das Semester hat gerade begonnen, ich habe Pflichten.“ „Willst du damit beweisen, dass du gegen die Strahlung immun bist? Dann verschwinde ich allein nach Portugal. Nichts wird mich davon abbringen.“

Sein Assistent, der eine Internationale Sommerschule für junge Physiker vorbereiten sollte, hatte gekündigt und floh Hals über Kopf nach Teneriffa. Castorp musste seine Aufgaben übernehmen und war den ganzen Sommer mit der Organisation beschäftigt.

„Stimmt das mit der Klimakatastrophe?“ Beinahe verschlug es ihm die Sprache, als sich die Stimme am Telefon als Rudolf Augstein zu erkennen gab. Castorp musste blitzschnell einschätzen, worauf der Herausgeber des Spiegel nun hinaus wollte.

„Jedenfalls muss der Ausstoß des CO2 drastisch reduziert werden, wenn wir nicht eine neue Sintflut bekommen wollen. Sauberer Strom“, rutschte es ihm beinahe unfreiwillig aus, „ist nur über Kernspaltung zu haben. Aus Sicht des Klimaschutzes gibt es keine bessere Technologie. Ungeachtet des Super-GAUs in Tschernobyl wage ich das zu behaupten. Allerdings steckt das wissenschaftliche Verständnis des Klimageschehens noch in seinen Anfängen“, ergänzte er selbstvergessen. „Ich meine, man sollte viel mehr für die Klimaforschung tun.“

„Für die Forschung? Können Sie aber bestätigen, dass die steigende Verbrennung fossiler Treibstoffe zu einer dramatischen Erderwärmung führen wird?“

„Wenn nichts geschieht, wird viel passieren.“

„Wunderbar! Wenn wir keine Katastrophe ankündigen, wird uns niemand glauben. Wir werden damit die Gesellschaft aufrütteln.“

Auf der Titelseite des neuen Spiegel sah Castorp am nächsten Montag den Kölner Dom in den Fluten der Nordsee versinken. Die Überschrift lautete: „Klimakatastrophe!“.

„Das Desaster...“, las er im Artikel, „der weltweite Klima-GAU... verheerende Klimakatastrophe“. Er wurde als Experte ausführlich zitiert und seine Einschätzung von einer drohenden Gefahr für die Menschheit als Aufruf zu globalem Klimaschutz gefeiert. Ihm hämmerte es an den Schläfen.

Nach seinem Diplom hatte sich Robert erfolgreich für ein Doktorandenstipendium beworben. Wenn alles gut ginge, würde er in zwei-drei Jahren eine Promotion über den Thorium-Reaktor abschließen. Robert befand sich scheinbar auf einem sicheren Weg, als plötzlich alles ins Wanken geriet. Seine Freundin verließ ihn. Das sogenannte friedliche Atom sei eine Ausgeburt des militärisch-industriellen Komplexes. Außerdem würde er früher oder später verstrahlt und werde keine normalen Kinder zeugen können. Dann flog der Reaktor in Tschernobyl in die Luft.

Er sah die Grafitstäbe offen auf dem Dach des explodierten Reaktors liegen, Männer, die ohne Schutz und mit bloßen Händen hochverstrahltes Material einsammelten, Kinder, die auf einer 1. Mai-Demonstration in Kiew an festlich geschmückten Tribünen vor Parteibonzen vorbei marschierten. Fast physisch spürte er eine unsichtbare radioaktive Wolke, durch welche die ahnungslosen Menschen getrieben wurden.

Es hatte keinen Sinn, dämmerte es Robert, die Menschheit mit einer unerschöpflichen Energiequelle beglücken zu wollen, wenn sie dadurch ausgelöscht wurde. Solche Gedanken ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er bat seinen Professor um ein Gespräch. Castorp ahnte, worum es Robert ging. Er war nicht sein einziger Student, der sich von der Kernforschung abwandte.

„Ich glaube nicht mehr daran, dass die Atomkraft beherrschbar ist. Ich habe ein schlechtes Gewissen.“ So fingen sie alle an.

„Unsere Reaktoren sind die sichersten in der Welt,“ entgegnete ihm Castorp.

„Und sie werden mit der Zeit noch sicherer.“

“Nach Tschernobyl hört sich das alles wie Gesundbeterei an, entschuldigen Sie, Herr Professor.“

„In Tschernobyl hat das System versagt. Ich sage dir, der Russe ist am Ende. Dem ist das Dach weggerissen worden.“

Robert schüttelte den Kopf.

„Ist dir überhaupt bewusst, was du da machst?“, Castorp schaute ihn eindringlich an.. „Du stiehlst dich aus der Verantwortung gerade in einem Augenblick, in dem wir dich brauchen. Du desertierst aus der Forschung. Bei den `schnellen` Reaktortypen der neuen Generation wird sich das Problem der radioaktiven Verseuchung gar nicht mehr stellen. Sie hinterlassen keinen Abfall, der lange strahlt. Man darf das Kind doch nicht mit dem Bade ausschütten. Ausgerechnet Tschernobyl könnte solchen Alternativen weltweit Auftrieb geben. Reaktoren, die den Atommüll als Brennstoff benutzen, ihn wiederverwenden, werden in vielleicht schon absehbarer Zeit entwickelt. Überleg es dir noch einmal. Es wäre schade, wenn du die Forschung aufgeben würdest.“

Das Grab von Roberts Schullehrer auf dem Klosterfriedhof war aufgeräumt, in einer Vase stand ein frischer Blumenstrauß.

„Lehrer, weißt du noch, wie du mich an die Uni verabschiedet hast? `Du bist mein ganzer Stolz, Robert,` hast du gesagt. `Ich wollte auch Forscher werden. Du hast ein Wahnsinnsglück. Lerne für mich, bring die Wissenschaft weiter.`“

„Lehrer, nun bin ich Wissenschaftler geworden. Aber ich will Schluss damit machen. Es gibt kein friedliches Atom, es kann den Menschen sogar viel Leid bringen.“

„Das Leid kommt von der Politik, nicht von der Wissenschaft.“

„Nein, die Hölle von Tschernobyl, du kannst dir das nicht vorstellen.“

„Mit der Hölle kenne ich mich aus, mein Junge. Wo willst du denn jetzt hin?“

“Ist doch egal. Ich gehe vorerst zum Strahlenschutz, zu einer Behörde.“

„Das ist doch nichts für dich. Da braucht man nur Messgeräte. Du wirst dich noch fangen, Junge, ich glaube an dich. Hauptsache, du lässt dich nicht verbiegen, egal von wem.“ Robert sprengte Weihwasser auf das Grab und stieg vom Kloster zum Krebsbach hinab. Er verweilte an der Stelle, wo seine Klasse immer Lagerfeuer gemacht hatte. Vom Feld hörte er das Geläut von Kuhglocken. Im seichten Wasser kämpften Forellen gegen die Strömung.

Beim Amt für Strahlenschutz hatte Robert sich schell bis zum Abteilungsleiter hochgearbeitet und konnte sogar Ilma unterstützen, die mit ihrer Rente kaum über die Runden kam. Er hatte einen Bausparvertrag abgeschlossen. Alles schien in geordneten Bahnen zu laufen, bis er ganz zufällig seiner einstigen Freundin an der Sicherheitsschleuse des Münchener Flughafens begegnete.

„Ich hatte doch recht, die Atomindustrie ist am Ende“, küsste sie ihn auf die Lippen.

Robert erzählte ihr von seinem Wechsel zum Strahlenschutz und vom Bausparvertrag.

„Das ist doch total öde!“ rief sie. „Willst du als Spießbürger in Schwabing auf die Rente warten?“ Robert zuckte mit den Schultern. „Komm lieber mit mir nach Afrika. Dort sitzen sie auf dem Land komplett im Dunklen. Wir wollen Solaranlagen im Delta installieren. Briten, Spanier – alle sind dabei. Aber uns fehlt ein Fachmann für Logistik.“

„Ich bin aber keiner“, entgegnete Robert defensiv.

„Physiker seien die besten Logistiker, hat man uns an der Uni immer gesagt, wir Ingenieure seien zweite Wahl. Ich meine das ernst. Wenn du etwas Sinnvolles tun willst, komm zu uns. Reiche Länder, die über ihre Verhältnisse leben und andere ausbeuten, sind verpflichtet, den Afrikanern Entwicklungschancen zu bieten. Dort mangelt es an allem: an Strom, sauberem Wasser, Nahrung. Wir werden erneuerbare Energien in die Dritte Welt bringen.“

Sie hatte ihm ihre Visitenkarte in die Hand gedrückt. „Ich halte von dir wirklich viel“, sagte sie beim Abschied. „Du siehst ja selbst, worauf das alles hinausläuft.“

Robert öffnete die Augen und sah ihr verzerrtes Gesicht. Er erholte sich gerade von einem Malariaanfall und wollte nur schlafen.

„Die Solarmodule!“ schrie sie. „Wo?“ stütze er sich auf den Ellenbogen. „In Saloum.“

Sie hatte gerade eine schreckliche Nachricht erhalten: Das erst vor kurzem in Betrieb genommene Sonnenkraftwerk, das Tausende Bewohner des Deltas mit Strom versorgen sollte, sei zerstört worden. Eine Regierungsbeauftragte sei bereits angereist. Sie mussten los. Robert rappelte sich auf.

„Haben wir denn Personenschutz?“

„Sie hat jemanden mit einer Kalaschnikow mitgebracht.“

Es war ein Pilotprojekt. Photovoltaik, der keine Strommasten und Übertragungsleitungen brauchte, war die einzige Chance, die ländlichen Gebiete mit Strom zu versorgen. Die Bauern weinten vor Glück, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben bei sich zu Hause eine Glühbirne leuchten sahen.

Das Bild, das sich ihnen vor Ort anbot, spottete jeder Beschreibung. Ein Großteil der Solarmodule war zertrümmert. Eine Befragung ergab, dass sich der Stammeshäuptling die Solaranlage unter den Nagel gerissen hatte. Er hatte zuvor verlangt, die Stromgebühren nicht an den Betreiber, sondern an ihn zu entrichten. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Offensichtlich konnte sich ein anderer Stamm, der nicht in den Genuss eines solchen Vorzeigeprojekts gekommen war, mit dem Glück seines Nachbarn nicht abfinden. Dessen Hintermänner hatten versucht, dem Häuptling einen Anteil abzupressen. Nachdem dieser sich geweigert hatte, seine Einnahmen mit den Rivalen zu teilen, schickten jene ein Rollkommando.

Der Stammesführer, der erst seine eigenen Leute ausgenommen, nun aber seine Einkünfte verloren hatte, hetzte jetzt das Dorf gegen die Entwicklungshelfer auf. Die Regierungsbeamtin Omoya wurde als Hure der Weißen beschimpft und körperlich attackiert. Der Leibwächter musste zur Waffe greifen, um den aufgebrachten Mob in Schach zu halten. Als sie zurück fuhren, genauer gesagt, flohen, bekam sie einen Weinkrampf. Sie schrie:

“Ich hasse euch Europäer. Ich hasse eure Entwicklungshilfe, eure verlogene Humanität, ihr macht uns ein zweites Mal kaputt mit euren blöden Almosen. Und ich hasse mich, weil ich an diesem verlogenen Zirkus auch noch teilnehme.“

„Wenn du das für unvereinbar mit deinem Gewissen hältst“, erwiderte Robert, „hör damit auf. Mach etwas anderes.“

„Etwas anderes?“ schluchzte die Frau. „Weißt du, was für eine Arbeitslosigkeit hier unter Akademikern herrscht? Schon Absolventen haben nicht die geringste Chance. Sie sehen nur, wie sie sich auf und davon machen können. Ich gehe hier auch weg, egal wie. Ich heirate einen alten dicken Blödmann mit britischem Pass“, lachte sie unter Tränen.

„Entschuldige, das war ein Unsinn, was ich gerade gesagt habe. Anfangs habe ich mir vieles auch anders vorgestellt.“

Sie erklärte den beiden, warum die Photovoltaik eine derart verheerende Wirkung entfalten konnte. Vor allem seien die Folgen leicht vorauszusehen.

„Wir haben hier im Delta Hunderte von Projekten. Holländer bauen Polder, Amerikaner bauen Straßen auf den Poldern, Japaner schenken uns Solaranlagen – all das aber geschieht unkoordiniert und verschlingt auf diese Weise Unsummen. Das Schlimmste ist aber, dass dies alles nur ein Spiel ist, das ihr spielt und mit den Menschen hier nicht das Geringste zu tun hat. Ihr Europäer wollt die Realität nicht akzeptieren. Die Realität nennt ihr Rassismus.“

Sie konnte sich lange nicht beruhigen.

Roberts Freundin saß mit zusammengepressten Lippen im Jeep, ohne ein Wort zu verlieren. Omoyas Art, diese Dinge zu bedenken behagte ihr überhaupt nicht. Eine halbe Milliarde Menschen südlich der Sahara hatte keinen Strom. Das Scheitern eines solchen Vorzeigeprojekts konnte die Bereitschaft der Industriestaaten, Projekte mit erneuerbaren Energien in Afrika zu fördern, sinken lassen. „Du bist doch eine Regierungsexpertin“, wandte sich Robert an Omoya. „Wie kann man der Bevölkerung wirklich helfen, sich auf eigene Füße zu stellen?“

„Jedenfalls nicht, indem man an ihrer Stelle geht.“

Der Jeep wirbelte roten Staub auf. Ein Aasgeier, der über einem Zebrakadaver thronte, beobachtete die Eindringlinge mit seinem blutroten Auge.

„Die ganze Hilfe lässt vor allem eure Bürokratie gedeihen und korrumpiert unsere Regierungen, sonst nichts. Die Entwicklungsagenturen geben 3500$ aus, damit das Einkommen eines armen Afrikaners um ganze $3.65 steigt.

„Das gibt es doch nicht.“

Omoya lächelte bitter. „Jahr für Jahr werden Tausende von Missionen zu uns geschickt. Als Regierungsbeamte beschäftigt man sich mit nichts anderem, als Anträge zu schreiben und Projektgelder zu beantragen. Dabei verrosten Fahrzeuge und Ausrüstung ungenutzt, weil Ersatzteile, Sprit und Reparaturmöglichkeiten fehlen. Man hat Schulgebäude für uns gebaut, vielen dank, aber es fehlen Mittel für Schulbücher und Lehrergehälter. Krankenhäuser gibt es, aber keine Medikamente. Während ihr von Menschenrechten schwafelt und mit Diktatoren schmust, eine Armee von Entwicklungshelfern – eure überflüssigen Arbeitskräfte – zu uns schickt, werden mit eurem Geld Kriege geführt und Paläste gebaut. Ihr wollt nur davon nichts wissen. Diese Heuchelei ist eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand. Wie viele Anträge hast du schon gestellt, wie viele Instanzen bist du durchlaufen, damit du weiter helfen durftest und deine Hilfe in den Taschen der Beamten versickert?“

Robert grunzte zustimmend. Er hasste Anträge.

„Wie könnte man dann die Lage in Afrika ändern?“

„Gebt uns kein Geld. Eure Hilfe erstickt die Entwicklung, anstatt sie zu fördern. Schafft die Zölle endlich ab, investiert in die Industrie.“

„Und dann kommen Hintermänner“, entgegnete Robert sarkastisch, „und wollen beteiligt werden.“

„Wir brauchen billigen Strom, wir brauchen Absatzmärkte. Aber nicht soooo!“ Sie zeigte zurück, in Richtung des Dorfes mit der ruinierten Solartechnik. Robert spürte, dass Omoya im Grunde Recht hatte und hier seit Jahrzehnten vieles schief gelaufen war.

Am nächsten Tag gab es ein Einweihungsfest in einem Millenniumsdorf. Jeffrey Sachs, der Vater des chilenischen Wirtschaftswunders, machte seine Dollarmillionen locker, um mit einer neuen Methode, der so genannten integrierten Entwicklung, Afrika aus der Armut zu führen. Hilfe sollte nicht für einzelne Projekte, sondern in allen Bereichen gleichzeitig – von Bildung, Geburtshilfe bis zur Landwirtschaft – geboten werden.

Robert war schwindelig, sein Hemd klebte am Rücken. Er musste sich auf den Stehtisch stützen, um sich auf den Beinen zu halten. Ein heruntergekommener Brite gesellte sich zu ihm mit einer Whiskyflasche:

„Schön hier?“

Robert nickte. Der Brite beobachtete, wie eine Fliege in seinem Glas zappelte.

„Du, Entwicklungshunne, weißt du überhaupt, warum Entwicklungsland Ent-wicklungs-land heißt?“

„Wie meinst du das?“

„Ein Entwicklungsland“, räusperte er sich, „ist ein Land, das sich nicht entwickelt. Und wir sind da, um es sich nicht entwickeln zu lassen, prosit.“ Er goss Roberts Weinglas mit Whisky voll.

„Ist dein Projekt gerade ins Stocken geraten?“

„Straßenbau läuft immer gut. Die Frage ist, ob die Verbindungen dadurch besser werden. Die Straßen verfallen schneller als neue gebaut werden.“

„Warum, zum Teufel, bist du dann hier?“

„Das ist eine andere Geschichte.“ Er rettete die Fliege aus dem Glas und nahm einen Schluck. „Ich muss hier von der Umverteilung des Weltvermögens leben. Weil meine Ex mein Vermögen perfekt zu ihren Gunsten umverteilt hat. Entwicklungshilfe ist die Umverteilung des Vermögens der armen Menschen aus reichen Ländern“ – er zeigte mit der Flasche auf Robert und dann auf sich selbst – „an die reichen Menschen in den armen Ländern“ – er drehte sich um und nickte einem gepflegten Afrikaner in einem Armani-Anzug zu. Der Afrikaner winkte freundlich. Der Brite schien richtig glücklich zu sein, einen so komplizierten Gedanken auf die Reihe gebracht zu haben. Er stürzte den Rest des Whiskys herunter. Robert verspürte plötzlich einen Brechreiz. „Entschuldige, ich muss mal raus.“

Am Abend hatten sie sich gestritten.

„Du wirst hier nicht heimisch und bist von der Entwicklungszusammenarbeit nicht überzeugt. Auf Dauer kann das nicht gut gehen.“ Seine Freundin weinte. „Nun bin ich an allem schuld“, konterte Robert. „Nein, ich habe dich doch hierher geholt. Es war blöd von mir.“ „Du redest so, als ob ich wegen meiner Unzuverlässigkeit nach Deutschland strafversetzt werden muss“, erwiderte er. „Nein, das meine ich nicht, aber so geht es mit uns nicht weiter.“ Sie trennten sich.

Claire war Lehrerin im Millenniumsdorf. Er lernte sie an einer Bar kennen. Sie sprach akzentfreies Französisch und hatte eine Wespentaille. Die späte Gewissheit, dass er von ihr einfach nur benutzt wurde, damit sie sich nach Europa absetzen konnte, hatte ihn ins Mark getroffen. Nun machte Robert Rauchringe auf seinem Balkon. Das Schicksal schuldete ihm eine Atempause.

KALTZEIT

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