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Das Lied der Sonne

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„Nichts Süßeres gibt es, als der Sonne Licht zu schauen.“

Euripides

Vorsichtig spähte der kleine Spirit in den runden Raum. Ein sanftes Licht schimmerte im Inneren des runden Raumes und brachte seinen Wagemut kurz ins Wanken. Unschlüssig blieb er stehen und wanderte in Gedanken den langen Gang entlang. Dort, irgendwo zwischen den Welten, saß Großvater Sonne und träumte. Eigentlich hatte der Spirit sich nie etwas anderes gewünscht, als Großvater Sonne zu dienen. Unzählige Mühen hatte er auf sich genommen und trotzdem jedes Mal, wenn er vor Großvater Sonne stand, hielt dieser ihn mit den Worten „Hab Geduld, deine Zeit wird kommen“ hin.

Unmengen solcher Ausflüchte hatte der junge Spirit hingenommen, bis zu jenem Tag, als Großvater Sonne seinen Bruder zu sich gerufen hatte. Ausgerechnet ihn hatte er damit beauftragt, sich gemeinsam mit einigen anderen um die Lieder des Lebens zu kümmern. Es gab leise und laute, junge und alte Lieder, manche von ihnen veränderten sich beständig, andere blieben bestehen wie seit Beginn. Für jedes einzelne Wesen hatte die Urmutter ein Lied komponiert.

Kurzum es war eine Ehre, über die Lebenslieder zu wachen – und nur allzu gerne hätte der kleine Spirit diese Aufgabe übernommen. So empfand er es als eine Schmach, dass der Großvater ihn ausgeschlossen hatte. Das konnte er nicht einfach auf sich sitzen lassen – und so beschloss er, den großen Sonnenvater dafür zur Rechenschaft zu ziehen.

Eine Idee nach der anderen formte sich in der Vorstellung des Spirits, nur um dann wieder verworfen zu werden. Dann, eines Tages, wusste er, was zu tun war. Er würde dem Großvater etwas nehmen, was ihm wichtig war.

Wie alle wusste er um den runden Raum im Zentrum von Großvaters Kugel. Dort, gut geborgen, lebten seine ältesten Kinder, die Lieder des Lebens. Nicht einmal die ältesten Spirits konnten sich an eine Zeit ohne sie erinnern und selbst Großvater Sonne war sich manchmal nicht sicher, ob er nun wirklich älter war. Deshalb wachte er wie kein anderer über sie, denn es hätte ihn unendlich traurig gemacht, wenn er eines seiner geliebten Kinder verlieren würde. Der kleine Spirit musste nur auf den passenden Moment warten und seinem Plan folgen.

Von Zeit zu Zeit brauchte auch der Sonnenvater etwas Ruhe und fiel dazu in eine Art Traum. Er entspannte sich und ließ seinen Blick hinaus in die Endlosigkeit des Universums streifen, lauschte dem Lied des Lebens, beobachtete die tanzenden Sterne und wachte dann gestärkt wieder auf. In diesen seltenen Ruhephasen hielt das ganze Sonnenreich den Atem an. Denn sobald sich die Sonne verfinsterte, wurde jedem bewusst, wie vergänglich das Leben doch war.

Als Großvater Sonne einen dieser kleinen Kurzurlaube genoss, nutzte der kleine Spirit den Moment. Er eilte den Gang ins Zentrum hinab. Dort musste er schnell handeln und griff entschlossen nach der goldenen Tasche, welche seit Anbeginn der Zeit im Raum der Lieder hing. Es war eine besondere Tasche. Mächtige Symbole zierten sie und verliehen ihr die Kraft, Dinge, die sich in ihr befanden, festzuhalten.

Ein besonders kleiner und schwächlich wirkender Funke stach ihm ins Auge. Kurzerhand griff sich der kleine Spirit den Funken und steckte ihn in die Tasche.

Noch beim Davonlaufen verknotete er die Tasche und hielt den Funken sicher darin gefangen. Zugleich brach hinter ihm das Chaos aus. Immer lauter hörte er die ängstlichen Rufe der anderen Lieder.

Der kleine Spirit wusste, dass er nicht bleiben konnte und in die Weiten des Universums fliehen musste. Er war nun ein Dieb und musste sich irgendwo am Rande des Sonnenreichs verstecken.

So rannte er durch das endlose Universum, vorbei an der ersten Tochter des Großvaters. Als die zweite Tochter in Sicht kam, begannen seine Kräfte zu schwinden. Er wurde langsamer, die Flucht strengte ihn mehr an als gedacht. Und da der kleine Funken hartnäckig daran arbeitete, sich aus seinem Gefängnis zu befreien, hatte er Mühe, die Tasche zu halten.

Um ihn herum funkelten zahllose Sterne, andere Töchter und Sonnen, alle geborgen im Leib der Urmutter. Langsam näherte er sich der dritten und jüngsten Tochter, die sich einen Platz nah bei ihrem Sonnenvater ausgesucht hatte.

Wage glaubte der kleine Dieb sich zu erinnern, wie Großvater Sonne von ihrer strahlenden Schönheit geschwärmt hatte. Doch für solche Banalitäten hatte der Dieb jetzt keine Zeit. Seine Beine wurden immer schwerer und bald schon humpelte er. Je weiter er sich vom Großvater entfernte, umso unbehaglicher wurde es ihm. Zweifel begannen an ihm zu nagen, aber nun gab es kein Zurück mehr.

Ohne es zu bemerken, war er gegen den Schutzschild der dritten Tochter geprallt, und dabei entglitt ihm die Tasche. Fassungslos konnte er nur noch zusehen, wie diese durch den Schild fiel. Er wollte hinterher, doch einem Dieb verwehrte die Grenze den Zugang. Die Tasche fiel immer weiter, sie durchbrach die Wolkendecke und entschwand seiner Sicht.

Entsetzen lähmte den Dieb, als ihm bewusst wurde, was soeben passiert war.

Nicht nur, dass er sich gegen seine Familie gestellt und den großen Sonnenvater bestohlen hatte. Nein, nun war ihm auch der Schatz verloren gegangen. Die Tasche hielt ein unsagbar kostbares Lebenslied gefangen. Es war eines der ältesten über das Licht des Lebens, die Kraft der Sonne und die Fruchtbarkeit. Wahrscheinlich hätte es auch ihn niemals gegeben ohne das Lied, das er soeben verloren hatte.

Die Tasche fiel durch den Himmel, bis sie mit einem Donnern auf den Erdboden prallte. Zum Glück hatte sich vom Sturz der Knoten geöffnet und das Lied konnte sich befreien.

Ein merkwürdiger Ort war dies, an dem es gestrandet war. Alles war so schnell gegangen und das Lebenslied hatte nicht gewusst, was ihm geschehen war. Es blickte zum Himmel und sah ganz klein und weit entfernt Großvater Sonne. Verzweiflung machte sich in ihm breit und die Furcht verschlug ihm die Stimme.

Lange harrte es im Schutz der Tasche aus, hoffte darauf, gefunden zu werden. Es versuchte um Hilfe zu rufen, aber es brachte keinen Ton hervor.

Als Tage vergangen waren, beschloss das Lied, sich umzusehen. Vorsichtig strich es zwischen Pflanzen umher, staunte über die großen Wesen, die in den Himmel ragten, und lauschte fremden Stimmen. Nach einer Weile wurde dem Lied bewusst, wo es sich befand. Diese großen Wesen, die ihre Arme hoch in die Lüfte hoben, wurden Bäume genannt. Und dann gab es da noch Berge aus Stein. Ihr Lied kannte es gut. Die vielen Stimmen, sie mussten den Tieren gehören und der Erde. Vater Sonne hatte in letzter Zeit oft von ihr gesprochen.

Das Lied atmete erleichtert auf. Irgendwann würde man es finden, daran hatte es keinen Zweifel. In der Zwischenzeit würde es diesen Ort erkunden, denn seine Vielfalt machte es ungeheuer neugierig.

Schon bald verstand das Lied die Faszination des Großvaters für diesen Ort nur allzu gut. Diese Erde, sie war wahrlich ein Juwel. Wunderschön und einzigartig. All diese kleinen und großen Pflanzen, die mächtigen Ozeane und weiten Steppen, die endlosen Wälder und die scheinbar leeren Wüsten. Gebannt beobachtete es, wie Wind und Feuer die Landschaft beständig veränderten und wie Erde das Land langsam umformte. Das Lied wanderte mit den Tieren umher, nahm teil an ihrem Leben. Und nach und nach fand es auch seine Sprache wieder.

Bis es am Ende gar nicht mehr gefunden werden wollte. Es war glücklich und frei. Es vergaß seine Geschwister und seine eigentliche Bedeutung: Die Fruchtbarkeit und die Erneuerung des Lebens.

Jedoch war ohne das Lied kein Leben möglich. Ohne es warfen die Tiere keine Jungen mehr, die Bäume schlugen keine neuen Triebe und die Farben begannen zu verblassen.

Als sich das Lied ein paar Tage später erneut auf Wanderschaft befand, hörte es ein seltsames Geräusch. Ein Summen, angenehm klingend und irgendwie wärmend. Das musste es sich näher ansehen.

Schließlich kam es auf eine Wiese, die noch in voller Blüte stand, und entdeckte unzählige kleine Wesen, die durch die Luft flogen. Geschickt landeten sie auf den einzelnen Blüten. Das Lied bemerkte, dass das Summen von den Flügeln der kleinen Wesen rührte, und verfolgte fasziniert, wie diese den Pollen der Blüten sammelten. Die kleinen Flieger bestäubten die Blüten. Ihnen war es zu verdanken, dass es alle diese wunderschönen Blumen und Pflanzen gab. Je länger das Lied die gestreiften Wesen beobachtete, umso vertrauter wurde ihr Summen. Es glaubte sogar Ähnlichkeiten mit seinem eigenen Gesang zu entdecken. Traurigkeit überfiel das Lied, denn es konnte sich nicht erinnern, wann es zuletzt gesungen hatte. Aber wenigstens konnte es mittlerweile wieder sprechen.

Auf einmal entdeckten die kleinen Wesen das Lied. Freudig umtanzten sie es und ihr Summen wurde ein Singen. Das Lied fühlte, wie ihm leichter ums Herz wurde.

„Ihr Lieben“, meinte das Lied, „sagt mir doch bitte, wer ihr seid?“ Aufgeregt begannen die kleinen Wesen zu sprechen.

„Wir sind die Bienen, deine Kinder“, verkündeten sie fröhlich.

Nun war das Lied verwirrt. „Meine Kinder?“

Die Bienen summten zustimmend.

„Ja. Wir kennen dein Lebenslied und wir singen es jeden Tag, am liebsten, wenn die Sonne scheint, dann wachsen die Pflanzen besser. Wir helfen Mutter Erde“, verkündeten die Bienen stolz.

„Komm, wir zeigen es dir. Komm, komm.“

So zogen sie los, singend und tanzend und das Lied wurde fröhlich. Sie erzählten ihm vom Leben der Bienen, von Mutter Erde und ganz besonders von den Pflanzen, für die sie sorgten.

Tief beeindruckt blieb das Lied viele Mondzyklen beim Bienenvolk. Hier glich kein Tag dem anderen. Die fleißigen Bienen gingen ganz in ihrer Aufgabe auf, sie wagten sich in die Weite der Welt und schützten ihre Gemeinschaft. Auch wenn ihre Tage der harten Realität unterworfen waren und Geburt und Tod so dicht beieinanderlagen. Das Lied erlebte eine unvergleichliche Freude und Liebe zu jedem Augenblick, den es beim Bienenvolk verbringen konnte.

Und es spürte, dass es den Bienen ebenso ging. Sie wussten, dass von ihrem Tun so viel mehr als nur ihre eigene Zukunft abhing. Mit jedem neuen Morgen wuchs die Liebe des Liedes für das Bienenvolk. Langsam begann seine Stimme zu heilen. Hin und wieder konnte es sogar singen und jedes Mal wurde danach neues Leben geboren.

In den höchsten Tönen schwärmend stimmte es ein Lied für sie an:

Kleine Prinzessin im gestreiften Kleid,

trägt ihre sechs gelben Stiefel mit Stolz.

Entzückt ist die Blumenwelt, wenn sie naht,

ein leises Summen auf den Lippen, verzaubert sie die Welt mit einem Herz aus Gold.

Während all dieser Zeit hatte der Dieb verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht, die Erde zu betreten. Aber Mutter Erdes Schutzschild ließ ihn einfach nicht passieren. Nach endlosen Runden und Versuchen gab es für den Dieb nur noch einen Ausweg: Er musste zurück zu Großvater Sonne.

So machte sich der Dieb auf den Heimweg. Nicht nur, dass er die Schönheiten des Universums auf seiner Reise gar nicht mehr wahrnahm. Es war ihm auch entgangen, dass die Schwingungen sich verändert hatten. Das Leben war stehengeblieben, die Fruchtbarkeit verschwunden, die Lieder stumm.

Niemand sah ihn an oder sprach gar nur ein Wort mit ihm, als er nach Hause kam. Wortlos schlich er sich zu Großvater Sonne und konnte nur tatenlos zusehen, wie dieser versuchte, das Gleichgewicht in seinem Sonnenreich wiederherzustellen.

In Erwartung von Zorn und Strafe zog der Dieb den Kopf ein, doch nichts geschah. Der Großvater stand nur da und sah ihn an. In seinen Augen erblickte er Sorge und Mitgefühl. Da weinte der Dieb bittere Tränen.

„Mein Sohn“, sagte der Großvater leise, „ich habe mir nie gewünscht, dass du mir dienst. Natürlich bin ich alt und weiß vieles, aber eines Tages, da werde auch ich nicht mehr hier sein. Deswegen hat die Urmutter uns die Lieder geschenkt.

Sie werden alles überdauern, auch uns. Sie kennen das Leben und wenn wir mit dem Herzen hören, dann lassen sie uns an ihrem Wissen teilhaben. Deshalb wirst du mich jetzt auch auf der Suche nach dem Lied begleiten.“

Dank Großvater Sonne konnten sie den Schutzschild von Mutter Erde mühelos durchdringen und je näher sie dem Boden kamen, umso größer wurde ihr Staunen. Mutter Erde strahlte in allen erdenklichen Farben und schon von weit her konnte man das fröhliche Summen hören. Ein großer Bienenschwarm tanzte ausgelassen um das Lied herum und das Lied, es sang. Es sang mit solch betörender Schönheit, dass die Fruchtbarkeit sich ausdehnte, weit über die Grenzen von Mutter Erde, hinaus ins endlose All. Neue Wesen und Orte wurden geboren und die anderen Lieder tanzten wieder frei durch das Universum.

Da entdeckte das Lied Großvater Sonne und den Dieb. Aufgeregt winkte es die beiden zu sich heran. Inmitten der Bienen glänzte etwas golden und je näher der Großvater kam, umso heller begann es zu strahlen.

„Seht“, rief das Lied freudig aus und zeigte auf das Nest der Bienen. „Die Bienen, sie haben meiner Stimme einen Körper gegeben.“

Und tatsächlich. Dort aus den noch frischen Waben tropfte eine goldene Flüssigkeit. Ein süßer Duft ging von ihr aus.

„Das Herz“, meinte das Lied. „Ich habe mein Herz geöffnet und die Bienen haben dies daraus gemacht. Sie nennen es Honig und sie ehren damit dich, lieber Großvater Sonne, und das Leben.“

Vorsichtig steckten sich Großvater Sonne und der Dieb etwas von der klebrigen Flüssigkeit in den Mund. Sie probierten und blickten sich verzückt an.

„Etwas so Köstliches habe ich wahrlich noch nie gegessen“, bemerkte der Großvater strahlend.

Der Dieb aber war ungewöhnlich still geblieben. Langsam ließ er den süßen Honig auf seiner Zunge zergehen.

Für ihn hätte dieser Moment ewig währen können, denn dank des Honigs verflogen all seine Sorgen und er konnte klarer sehen als jemals zuvor. Er dachte an seinen Bruder. Ihm würde der Honig sicherlich auch ganz wunderbar schmecken. Unauffällig schlich er näher an die Bienenwabe heran und während Großvater Sonne und das Lied mit den Bienen Konversation betrieben, steckte sich der Dieb etwas Honig in die Tasche.

„Dies ist das letzte Mal, dass ich stehle, und dieses Mal ist es auch nicht für mich selbst“, sagte er zu sich.

Bald darauf machten sie sich auf den Heimweg, denn auch wenn das Lied bei den Bienen sehr glücklich war, gehört es doch zu seinen Geschwistern. Es beschloss, das Bienenvolk und Mutter Erde von nun an regelmäßig zu besuchen. Denn nichts, was es zuvor erlebt hatte, war vergleichbar mit der Begegnung mit den kleinen summenden Wesen.

Und so wurde der Honig auf einem kleinen Umweg geboren. Sein goldener Glanz erinnert an Großvater Sonne, und da er aus den Blütenpollen gewonnen wird, symbolisiert er die Fruchtbarkeit und das Leben. Große Heilung und noch größere Fröhlichkeit ruhen in der goldenen Flüssigkeit. Die Bienen ehren seinen Ursprung, indem sie den Honig das Lied der Sonne nennen.

Noch ein paar Worte zum Dieb:

Es kam, dass er auf dem Nachhauseweg über eine Wurzel stolperte und der Länge nach hinfiel. Dabei ging ihm der Honig verloren. Kurz darauf kam ein kleiner Bär des Weges und fand die goldene Flüssigkeit. Was er da vertilgte, schmeckte ihm so außerordentlich gut, dass er sich gleich auf die Suche nach mehr von der süßen Speise machte. Und damit war er nicht der Einzige.

Zauberreise

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