Читать книгу Mutprobe - Der dritte Fall für Kommissar de Vries - Sonja Zimmer - Страница 4
ОглавлениеFreitag
Timo Landauer sprang mit Schwung auf die Mauer, die den Schulhof vom Sportplatz abtrennte. Der sechzehnjährige griff in seinen Rucksack, um seine Brotdose heraus zu holen.
„Mann, Anna!“ Kopfschüttelnd schaute er auf die bunte Brotdose, auf der Spidermann klebte. Seine Schwester konnte es einfach nicht lassen. Für sie blieb er immer der kleine Bruder, auch wenn er ihr schon locker über den Kopf ging. Seit seine Eltern vor drei Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen waren, lebte er bei ihr. Seine Schwester war zweiundzwanzig und studierte in Oldenburg. Aber sie pendelte täglich, damit er bei ihr leben konnte und nicht in ein Heim musste. Timo und sie verstanden sich super. Bis auf die Sache mit den Brotdosen…
„Na, hat Anna ihrem Kleinen wieder die Stulle geschmiert?“
„Das geht dich gar nichts an.“
„Lass doch mal sehen!“ Blitzschnell hatte sein Klassenkamerad Maximilian Graf sich die Brotdose geschnappt und hielt sie grinsend in die Luft. „Spiderman!“
Timo sprang von der Mauer. „Max, gib mir die Dose wieder!“
„Lass doch mal sehen, was Mutti dir drauf getan hat, du Baby!“ Max riss die Brotdose auf. „Wie süß! Sogar mit Gürkchen! Huch!“ Das Brot fiel auf den Boden.
„Du Arschloch!“
„Was hast du gesagt?“ Max trat drohend einen Schritt auf Timo zu.
„Arschloch.“
Max stieß Timo gegen die Mauer und drückte ihm den Arm an den Hals. „Was hast du gesagt?“, wiederholte er drohend.
Timo japste nach Luft.
Clara Carstens sah die beiden Streithähne schon von Weitem. Wortlos drückte sie ihrer Freundin ihren Rucksack in die Hand und lief zur Mauer. Ihre beiden Klassenkameraden könnten unterschiedlicher nicht sein. Da war Maximilian, von allen nur Max genannt. Er war groß, athletisch, gut aussehend und der Schwarm vieler Mädchen. Leider fand er sich selber auch unwiderstehlich und war arrogant bis unter die gestylten braunen Haarspitzen. Sein Vater war Rechtsanwalt Maximilian Graf. Ein ziemlich guter Anwalt, der nur in gehobenen Kreisen verkehrte. Und Max bildete sich darauf gewaltig etwas ein. Dabei war er selber in der Schule eher Mittelmaß und mit siebzehn der älteste der Klasse, weil er schon eine Ehrenrunde gedreht hatte.
Timo war das genaue Gegenteil. Etwas kleiner und schmächtiger als Max und extrem schüchtern und ruhig. Gut in der Schule. Und damit das geborene Opfer für Max, seit er ihr zu ihnen in die Klasse gekommen war. Clara mochte Timo und seine ruhige Art.
„Lass ihn los!“, fuhr sie Max an, als sie die beiden erreicht hatte.
„Er hat mich beleidigt.“ Max hielt Timo unbeeindruckt weiter an die Mauer gedrückt.
Clara entdeckte die Brotdose auf dem Boden. „Weil du ihn angegriffen hast!“
Max ließ Timo los und tätschelte ihm die Wange. „Ich verzeih dir, Alter. Aber nur, weil Clara da ist“, erklärte er gönnerhaft.
Timo holte Luft und funkelte sein Gegenüber wütend an. „Vollidiot!“
Sofort trat Max wieder bedrohlich näher. „Was sagst du?“
„Jungs! Hört auf!“
Doch die beiden beachteten Clara nicht. Timo hatte plötzlich keine Lust mehr, immer Zielscheibe von Max zu sein. „Du kannst doch nur große Sprüche klopfen! Wenn es drauf ankommt, dann ziehst du den Schwanz ein!“
Max legte verblüfft den Kopf schief. „Sieh an, das Weichei kriegt ne große Klappe. Vorsicht Alter! Sonst zeig ich dir, was Sache ist…“ Er packte Timo an der Schulter.
Der stieß seine Hand weg. „Ach ja, willst du dich prügeln? Kindergarten! Ich wette, du hast zu Hause immer noch ein Nachtlicht an, weil du Angst im Dunkeln hast!“
Clara blickte erstaunt und entsetzt zugleich zu Timo. Was war denn mit ihm los? Warum provozierte er Max? Das würde der sich sicher nicht gefallen lassen.
Max´ Blick verfinsterte sich. „Deine Schwester singt dir bestimmt noch ein Gute Nacht Lied. Putzt sie dir auch noch die Zähne?“
„Hey, aufhören!“
Timo ging einen Schritt auf Max zu. „Okay. Beweis es. Eine Nacht in der Evenburg und du bist so klein mit Hut.“ Er drückte Daumen und Zeigefinger zusammen.
„Eine Nacht in der Evenburg? Vergiss es.“ Max schüttelte den Kopf.
„Ach, hat der große Max etwa Angst vor dem Schlossgespenst?“ Timo lachte.
„Sicher nicht!“ Max spuckte auf den Boden. „Aber wie willste da denn reinkommen?“
„Mit Annas Schlüsselkarte. Sie arbeitet zurzeit da. Aber ich wusste, dass du dich nicht traust…“ Timo bückte sich nach seiner Brotdose.
„Wann?“
Clara sah ungläubig von einem zum anderen. Was ging denn hier ab? „Spinnt ihr jetzt komplett?“
„Morgen. Meine Schwester ist über Nacht in Oldenburg. Zwanzig Uhr am Tor.“ Timo packte die Brotdose in seinen Rucksack und hoffte inständig, dass niemand sah, wie sehr er innerlich zitterte. Er musste völlig verrückt geworden sein, so etwas vorzuschlagen. Seine Schwester würde ihn vierteilen!
„Max. Timo!? Das ist nicht euer Ernst! Das könnt ihr doch nicht machen!“
Max legte den Arm um Claras Schultern und zog sie zu sich. Er stand auf Clara. Sie war sehr hübsch, lange braune Haare, wunderschöne blaue Augen. Nur leider war sie extrem schüchtern und reagierte so gar nicht auf seine Anmache. Aber das reizte ihn nur noch mehr, sie zu erobern. Und wenn´s auch nur für eine Nacht wäre… Ihm kam eine Idee.
„Du kommst mit und bezeugst, dass das Weichei schreiend aus dem Schloss gerannt ist.“
Clara versuchte, sich aus seinem Arm zu winden. „Lass mich! Ich mach euren Blödsinn bestimmt nicht mit. Außerdem hab ich was vor.“ Sie stieß Max von sich.
„Schade. Dann nur du und ich…“ Max packte Timo hart am Kinn. „Aber glaub mir, die Nacht wirst du so schnell nicht vergessen.“
Clara war hin- und hergerissen. Sie musste wirklich auf die Gartenparty ihrer Cousine. Aber Max und Timo eine ganze Nacht alleine? Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Max seinem Klassenkameraden zusetzen würde.
„Ich komm mit. Und wehe einer von euch versucht fiese Tricks.“
Max ließ Timo los und wandte sich wieder zu Clara. „Das wird eine wunderbare Nacht werden“, säuselte er und wollte ihr durch die Haare streichen.
Aber Clara wich ihm aus. Bevor sie etwas sagen konnte, erlöste sie der Gong der Schulglocke. Max drehte sich um und marschierte zurück zum Gebäude.
„Danke.“ Timo war neben Clara getreten und schaute sie verlegen an. „Ich weiß auch nicht, was da eben in mich gefahren ist.“
„Schon gut. Wird Zeit, dass dem mal jemand die Meinung sagt. Aber ins Schloss einbrechen? Oh Mann! Komm, Mathe geht los.“
****
„Möchte vielleicht einer von euch meinen Platz übernehmen?“ Hauptkommissar Johannes de Vries sah auffordernd zu seinen Kollegen. Doch Natalie Janssen und Steffen Reimers schüttelten nur lachend den Kopf.
„Vergiss es!“ Natalie klopfte ihrem Chef aufmunternd auf die Schulter. „Verhalten und Strategien in kritischen Lagen. Klingt doch spannend.“
Johannes verzog das Gesicht. „Mit Möring? Im Doppelzimmer?“ Dieter Möring war Dienstellenleiter der Polizeiinspektion Leer/Emden.
„Doppelzimmer? Ernsthaft?“ Steffen Reimers schaute Johannes ungläubig an.
„Fehlbuchung“, brummte Johannes. „Und jetzt gibt es keine Einzelzimmer mehr.“
„Der arme Möring!“ Natalie kriegte sich nicht mehr ein. Die Vorstellung von Johannes und dem Dienststellenleiter in einem Bett – herrlich. Immerhin war Johannes gut 1,96m groß und recht kräftig. Und auch Möring trug einen sehr stattlichen Bauch mit sich herum.
„Ja, lach du nur. Willst du dich nicht zu ihm kuscheln?“ Johannes blickte sie finster an.
„Nö. Ich kuschel mich lieber zu Alexander. Wir zwei machen uns ein schönes Wochenende.“ Die Fünfunddreißigjährige ging zu ihrem Stuhl und nahm sich ihre Jacke. „Und damit fangen wir auch gleich an. Steffen, ich wünsche dir eine ruhige Bereitschaft.“ Sie nickte ihrem jungen Kollegen zu. „Falls was sein sollte – ruf ruhig an.“
„Bestimmt nicht. Schönes Wochenende!“ Steffen Reimers war achtundzwanzig und der jüngste Kollege. Er war erst seit gut zwei Jahren Kommissar und seit ein paar Monaten in ihrer Abteilung. Er war theoretisch ein wandelndes Lexikon, mit Tätern und Zeugen immer noch ein wenig unsicher, dafür aber umso pedantischer, was Ordnung anbetraf. Bei ihm auf dem Schreibtisch hatte alles seinen Platz. Im Gegensatz zu dem von Johannes. Auf dem Tisch des Vierundvierzigjährigen sah es regelmäßig aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.
„Steffen? Du hast nicht doch Lust auf eine Fortbildung?“, startete Johannes einen neuen Versuch.
„Sorry, Chef. Das Seminar ist nur für Hauptkommissare. Sonst würde ich natürlich gerne. Weißt du, was in kritischen La…“
„Steffen? Raus!“ Johannes ließ resigniert den Kopf auf den Schreibtisch fallen.
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Konzentriert blickte Edgar Mohr auf die kopierten Grundrisse, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Ben hatte erstklassige Vorarbeit geleistet und sämtliche Überwachungskameras und die Standorte der Vitrinen eingezeichnet. Ebenso die Sicherungen an den beiden Eingängen der Evenburg. Die kleine Maus, die er bei der Evenburg aufgerissen hatte, hatte ihm bereitwillig vieles erzählt und auch das kleine Heft aufgedrängt, in dem sich eben jene Grundrisse befanden, die sie sich vergrößert hatten.
Edgar Mohr zündete sich die nächste Zigarette an und blies den Rauch in die Luft. Das würde ein Kinderspiel werden. Die Alarmanlagen an der Tür waren ein Witz. Ben hatte das System sofort durchschaut und würde den Code ohne Probleme knacken können. Die Überwachungskameras waren ihm egal. Die sollten aufzeichnen was sie wollten, erkennen würde sie dank der Masken eh keiner. Die Einzelsicherung der Vitrinen war kniffliger. Nach Einschlagen der ersten blieb ihnen nicht viel Zeit, die Burg zu verlassen, bevor die Polizei eintraf. Aber sie waren zu dritt. Und hatten genau geplant, in welcher Reihenfolge sie vorgingen. Eine richtige Choreografie hatten sie einstudiert. Und bis die lahme Provinzpolizei vor Ort war, waren sie schon lange mit dem Schmuck über alle Berge. Da hatte er in seinen fünfundvierzig Jahren schon ganz andere Brüche gemacht. Und erwischt worden war er noch nie.
Ungeduldig sah er auf die Uhr. Wo blieben die anderen? Verdammt, die Planung musste lückenlos sein, die Choreografie perfekt sitzen! Edgar Mohr wollte gerade zum Telefon greifen, als die Tür zur alten Lagerhalle aufging.
„Moin, Chef!“ Ein schlanker Mann trat ein und zog sich die Kapuze seiner Sweatjacke vom Kopf.
„Wird auch Zeit“, knurrte Mohr, von seinen Komplizen nur Chef genannt. „Bier?“
Ben Rudat alias Florian nickte und ging zum Kühlschrank in der Ecke. Der Vierunddreißigjährige öffnete die Flasche und kam dann zum Tisch. „Ich hab nochmal mein Codeprogramm geprüft. Die billige Sicherung an der Seitentür dürfte kein Problem sein. Ich hätte ja auch die Karte von Anna kopieren…“
Der Chef fiel ihm ins Wort. „Damit die Bullen gleich schnallen, wer dahinter steckt?“
Ben Rudat hob die Hände. „Ist ja gut, reg dich ab. Wir kommen da auch so rein.“ Er griff nach dem Bier, nahm einen großen Schluck und blickte auf die Kartons, die in der Halle aufgestellt waren. Ihre Anordnung war identisch mit denen der Vitrinen in der Evenburg. An ihnen übten sie den genauen und reibungslosen Ablauf des Bruchs. Ben Rudat war der Techniker der Bande. Er verschaffte ihnen den Zutritt zur Burg. Er hatte ausgerechnet, wie viel Zeit ihnen nach dem Bruch der ersten Vitrine blieb, und die perfekte Choreografie ausgearbeitet. Das würde ein Kinderspiel werden. Zufrieden nahm er einen weiteren Schluck Bier. „Wo bleibt Jan? Ich hab heute noch was anderes vor.“
„Willste die Kleine nochmal klar machen?“
„Hey, heute ist die letzte Gelegenheit, die lass ich mir bestimmt nicht entgehen.“
Die beiden Männer stießen lachend an. Dann vertieften sie sich in die Grundrisspläne der Evenburg. Nach zehn Minuten ging die Tür zur Lagerhalle ein weiteres Mal auf und ein Mann trat ein. Er hatte einen Bauchansatz und Glatze und machte einen ungepflegten Eindruck.
„Jan! Endlich! Beweg deinen fetten Arsch hierher!“, brüllte der Chef ihm entgegen.
„Halt die Fresse!“ Jan Petersen trat an den Tisch und griff nach der Bierflasche von Ben Rudat.
Der stand genervt auf und ging erneut zum Kühlschrank. Er hatte keine Lust, sich mit Jan anzulegen. Der dreiundfünfzigjährige hatte unter anderem schon wegen Raubes mit Todesfolge gesessen und war generell nicht sehr zimperlich, wenn ihm etwas nicht passte. Er hatte nicht umsonst den Spitznamen `Der Grobe´. Einen Tag musste er noch mit ihm aushalten. Nach dem Bruch würden sich ihre Wege zum Glück trennen und er würde sich nach Kanada absetzen und sich seinen Traum von einer Farm dort erfüllen. Ben warf den Kronkorken der Bierflasche achtlos auf den Boden und ging zurück zu den anderen.
„Wir waren letztes Mal nicht schnell genug“, erklärte er. „Wir müssen besser werden, sonst laufen wir den Bullen direkt in die Arme.“
Jan Petersen gab nur ein Grunzen von sich. Er hielt nicht viel von der albernen Choreografie. Er war doch kein verdammter Tänzer! Er hielt mehr von seinem kleinen Liebling, den er immer bei sich trug. Seiner 9mm Glock. Die würde ihm gegen die Bullen bessere Dienste erweisen als so ein affiges Rumgehopse. Leider war der Chef anderer Meinung.
„Jan?“ Edgar Mohr sah ihn auffordernd an.
„Alter, muss das sein?“
„Ja. Ich habe keinen Bock auf einen Kontakt mit den Bullen. Wenn wir mit der ersten Vitrine anfangen, müssen wir schnell und präzise sein. Wir dürfen keine Zeit verlieren, hast du mich verstanden? Also, wo fängst du an?“
Widerwillig ging Jan Petersen zu einem der Kartons. Wenn sich der Bruch nicht so lohnen würde, würde er diesen Affenzirkus gar nicht erst mitmachen.