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KAPITEL FÜNF

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Keira musste schnell feststellen, dass es gar nicht so leicht war, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Und es würde weit mehr dazu gehören, als nur ein paar Kontaktdaten vom Handy zu löschen. Denn sobald sie am nächsten Morgen auf dem Weg zum Flughafen war, wurde sie von Erinnerungen an Shane und an Irland eingeholt.

Sie wurde geradezu von Nostalgie überwältigt, als sie durch die Flughafenhalle ging. Als sie ihren Bordpass überreichte, erinnerte sie sich lebhaft an all die Gefühle, die sie beim letzten Mal überkommen hatten, die Anspannung, gemischt mit Aufregung und Hoffnung. Das war noch gar nicht lange her, aber dennoch hatte sie das Gefühl, ein vollkommen anderer Mensch zu sein, trauriger und verbitterter.

Sie ging an Bord und suchte sich ihren Platz. Zum Glück saß sie am Fenster, was ihr als willkommene Ausrede diente, um nicht mit dem Passagier neben ihr ins Gespräch kommen zu müssen. Sie war nicht in der Stimmung für Geplauder. Dummerweise war der Mann aber sehr wohl in der Stimmung dafür. Sie waren gerade erst in der Luft, als er sich schon zu ihr herüber beugte und anfing zu reden.

„Garrett heiße ich. Waren Sie schon mal in Neapel?“, fragte er und grinste gut gelaunt.

Er war ein Mann mittleren Alters, mit dem Ansatz einer Glatze. Offenbar reiste er allein. Keira bemerkte, dass er keinen Ehering trug, aber ein schmaler Streifen blasser Haut verriet, dass das erst seit kurzem der Fall war. Frisch geschieden, vermutete sie und stöhnte innerlich. Das würden verdammt lange acht Stunden.

„Nein“, antwortete sie knapp.

„Warum fliegen Sie heute hin? Geschäftlich oder Vergnügen?“

Keira sank tiefer in ihren Sitz. „Geschäftlich“, antwortete sie. „Ich …“

Sie hielt inne und erinnerte sich daran, was Bryn und Nina ihr im Coffeeshop geraten hatten. Eine falsche Identität anzunehmen. Das war jetzt genau das Richtige. Und vielleicht sogar unterhaltsam. „Ich bin Weinkennerin“, sagte sie. „Die Beste in der Branche. Ich bin auf dem Weg nach Italien, um ein paar besondere Flaschen aufzuspüren.“

Garrett hob überrascht die Augenbrauen. „Das klingt nach einer Menge Spaß. Jedenfalls deutlich unterhaltsamer als mein eigener verdammter Job.“

„Ach ja? Was machen Sie denn?“

„Ich bin in der Buchhaltung“, antwortete er. „Nun, nicht direkt. Es ist etwas kompliziert zu erklären. Sagen wir einfach, ich bin der Buchhalter für die Buchhalter. Macht das irgendwie Sinn?“

Keira krümmte sich innerlich.

„Ja“, sagte sie laut.

Wie passend, dass sie ausgerechnet neben einem Buchhalter saß. Als ob das Schicksal ihr ein Zeichen geben wollte, die Suche nach Mr. Right aufzugeben und sich stattdessen mit Herrn Bilanz zufriedenzugeben.

„Ich nehme an, du legst keinen Wert darauf, mein Gejammer über meinen Job zu hören“, fügte er Mann hinzu. „Deiner klingt aber spannend. Wie bist du dazu gekommen?“

„Ja, er ist spannend“, behauptete Keira. Sie war erstaunt, wie leicht es ihr fiel zu lügen und wie viel Spaß es außerdem machte. „Mein Vater war Weinimporteur“, sagte sie. „Er liebte seinen Job wirklich sehr, ich bin sogar auf einem Weingut gezeugt worden.“

Sie fühlte sich großartig, als ihr diese Lüge so leicht über die Lippen kam. Sie kam jetzt erst richtig in Fahrt. Ihr eigener Vater hatte sich verdrückt, als sie noch ganz klein war und spielte in ihrem Leben keine Rolle, daher war es leicht, ihn neu zu erfinden. Außerdem kam ihr diese Schönfärberei gerade recht. Immerhin würde sie für den Auftrag auch lügen und so tun müssen, als glaube sie immer noch an die Liebe.

„Ach du meine Güte“, sagte der Mann neben ihr.

„Ich weiß. Er hat auch da geheiratet. Aber leider ist er auch auf demselben Weingut gestorben.“ Sie seufzte theatralisch. „Da war es naheliegend, ihn auch da zu beerdigen.“

Keira entging nicht, dass der Mann ein Stück weit von ihr abrückte. Er verlor offenbar das Interesse, mit ihr zu reden, da sie das Gespräch in Richtung Tod gedreht hatte. Sie musste innerlich lachen und versuchte, ihn für den Film, der gezeigt wurde, zu interessieren.

Das Flugzeug stieg immer höher, bald würden sie die Wolken weit unter sich lassen.

Da sie nun endlich etwas Ruhe und Frieden hatte, holte Keira den Terminplan hervor, den Heather ihr zusammengestellt hatte. Und wieder kamen damit auch die Erinnerungen an den letzten Auftrag zurück. Heather hatte hatte dieselbe Schrift, dasselbe Layout benutzt, mit denselben Überschriften. In dem einen Monat in Irland, hatte Keira das Ding komplett zerlegt, Guinness darüber gekippt und es mit Fett vom herzhaften irischen Frühstück beschmiert, welches sie mit Shane gegessen hatte. Es war unwahrscheinlich, dass ihr das dieses Mal wieder passieren würde. Schon jetzt war sie sich darüber bewusst, wie anders sich alles anfühlte bei diesem neuen Auftrag. Sie fühlte sich älter, abgestumpfter.

Und dann las sie auch noch dieses Wort auf dem Terminplan, das ihr das Herz in die Hose sacken ließ: Tourguide.

Natürlich würde sie einen ortskundigen Begleiter für die Reise haben, das hätte ihr doch klar sein müssen. Nur weil sie sich beim letzten Mal Hals über Kopf in den verliebt hatte, um sich anschließend von ihm das Herz brechen zu lassen, bedeutete das nicht, dass es dieses Mal keinen geben würde. Irgendwie fühlte sie sich bei dem Gedanken unbehaglich. Lag es daran, was beim letzten Mal geschehen war? Oder hatte sie etwa ein Fünkchen Hoffnung, dass es gar wieder geschehen könnte?

Sie schüttelte diese Gedanken ab und konzentrierte sich auf ihre Reiseziele. Sie würde in Neapel landen und dort eine Nacht verbringen, anschließend ging es per Zug weiter an die Amalfiküste. Dann die Fähre nach Capri. Eine Fahrt mit der Gondel zu einem Ort namens Blaue Grotte. Rom. Der Vatikan.

Wäre es eine Urlaubsreise, hätte Keira an diesem Terminplan ihre helle Freude. Sie betrachtete auf ihrem Tablet die Bilder der Orte, die sie besichtigen würde und alles sah atemberaubend aus. Perfekt für einen romantischen Urlaub. Aber genau da lag das Problem. Sie würde diese wunderbaren Orte besuchen, in dem romantischsten Land der Welt, aber eben ohne Shane.

Und um alles noch schlimmer zu machen, sollte sie über etwas schreiben, was sie nicht mehr empfand. Sie würde sich Tag für Tag der geballten Dröhnung Romantik aussetzen, Salz in ihre Wunden reiben, alles mit dem Wissen, ihre wahre Liebe verloren zu haben. Das war einfach nicht fair. Ausgleichende Ungerechtigkeit. Sie konnte sich einfach nicht über diese Reise freuen.

Da sie spürte, wie sie in eine depressive Stimmung verfiel, rief sie nach dem Service und bestellte einen Drink. Dann steckte sie ihre Arbeitsmappe wieder weg und warf einen Blick auf ihre sozialen Netzwerke. Damit konnte sie sich immer prima ablenken.

Man brachte ihr den Drink und sie nippte daran, während sie sich durch zahllose Katzenbilder auf Instagram scrollte, Bryns Fotos von dem katastrophalen Date bei Gino und Maxines letzten Marathon, den sie zu wohltätigen Zwecken gelaufen war. Dann bemerkte sie, dass Shelby auch etwas gepostet hatte, das mehrere tausend Mal angeklickt worden war. Es war einfach nur ein Foto ihrer Hand, mit einem Ring auf dem Ringfinger daran.

„Wie bitte?“, rief Keira aus und verschüttete dabei beinahe ihren Drink.

Neben ihr rührte sich Garrett und schaute sie irritiert an. „Ist alles in Ordnung?“

Keira winkte ab. Sie konnte nicht glauben, was sie da sah. Shelby hatte mit keiner Silbe erwähnt, dass eine Hochzeit bevorstand. Sie sprach dermaßen selten über ihren Lebensgefährten David, dass Keira schon manchmal den Verdacht gehabt hatte, die beiden hätten sich heimlich getrennt. Wie man sich doch täuschen konnte!

Die beiden waren seit dem College zusammen, also schon seit gut sieben Jahren. Da war eine Hochzeit durchaus naheliegend. Und dennoch versetzte es Keira einen Stich.

Sie rief noch einmal nach dem Service und bestellte einen weiteren Drink.

Sie brauchte etwas, um ihre Nerven zu beruhigen. Der Mann neben ihr schaute misstrauisch herüber. Keira blickte ihn kühl an und er wandte sich wieder dem Film zu, während er so tat, als habe er überhaupt nicht versucht, einen Blick auf ihr Handy zu werfen.

Sie schickte schnell ein paar Glückwünsche an Shelby und David, auch wenn ihr nicht nach feiern zumute war. Sie wollte nicht verbittert sein. Sie wollte sich vielmehr für ihre alte Studienfreundin freuen. Aber sie fühlte sich einfach zu elend, das Herz war ihr schwer.

Sie warf einen Blick auf ihr Handy und fragte sich, ob Shane wohl überhaupt noch versuchen würde, in Kontakt zu bleiben. Sie hatten vor wenigen Tagen das letzte Mal miteinander gesprochen und seither war Funkstille. Er hatte behauptet, sie könnten ja Freunde bleiben, aber das war wohl nur so dahingesagt. Sie bezweifelte, dass er das ernst gemeint hatte. Er hatte nicht einmal eine Nachricht geschickt, um ihr mitzuteilen, wie es Calum ging oder seinen Schwestern. So viel zum Thema Freundschaft.

Sie kippte den zweiten Drink herunter und spürte die Wirkung des Alkohols. Sie machte es sich in ihrem Sitz bequem und machte ein Nickerchen.

Sie konnte ihr Unglück auch einfach verschlafen.

Schließlich begann sie auch noch zu träumen. Da tauchten Bilder von den Orten in Italien auf, die sie eben noch betrachtet hatte. In ihrem Traum trug sie einen Sportdress und war mit Schlamm verdreckt. Sie musste einen Marathon bis zur Amalfiküste laufen, um an Shelbys und Davids Hochzeit teilzunehmen. Aber als sie da endlich ankam, total außer Atem und verdreckt, trugen alle anderen eine Maske. Als David seine abnahm, kam Shane darunter zum Vorschein. Und die Frau, die er heiratete, war Bryn.

Keira stolperte über den Strand auf sie zu.

„Wie konntest du mich so hintergehen?“, rief sie und starrte Shane schockiert an. „Ich dachte, dein Vater wäre krank und deshalb könnten wir nicht mehr zusammen sein.“

Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Das habe ich mir nur ausgedacht“, antwortete er kühl. „Ich habe mir dir Schluss gemacht, weil deine Schwester viel heißer ist als du.“

Keira wandte sich zu Bryn um. „Du hast mich die ganze Zeit angelogen! Meine eigene Schwester!“

Aber Bryn schien das gar nicht zu beeindrucken. „Was hätte ich denn machen sollen?“, fragte sie schulterzuckend. „Er hat einen heißen Körper.“

Von ihren Gefühlen überwältigt, schaute Keira sich verzweifelt um. Nach und nach nahmen alle anwesenden Hochzeitsgäste ihre Masken ab. Zu Keiras größtem Entsetzen, war da noch ein Shane. Und der war mit Julia da, der Frau, mit der Zach Keira betrogen hatte. Und ein dritter Shane stand an der Seite von Maxine. Und noch einer und noch einer und noch einer, Shane mit Shelby, Shane mit Tessa, dem Mädchen aus Irland, das sie von Anfang an in Verdacht gehabt hatte, dass da etwas mit Shane lief. Shane mit ihrer Mutter. Und immer noch mehr. Wohin auch immer Keira schaute, verwandelten sich alle männlichen Gäste in Shane.

Sie sank auf die Knie und begann zu weinen. Aber plötzlich packte sie jemand am Ellenbogen. Sie blickte auf, die Sonne blendete sie ein wenig. Dann schaute sie in die schönsten brauen Augen, mit den dichtesten Wimpern, die man sich vorstellen konnte.

„Keira, weine doch nicht“, sagte der Mann mit leiser Stimme und einem melodischen italienischen Akzent.

„Wer bist du?“, fragte sie und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen.

„Erkennst du mich denn nicht?“, fragte er lächelnd.

Sein Gesicht war wundervoll, perfekt, bemerkte Keira, als sie ihn genauer betrachtete. Er war so wunderbar, dass ihre Knie schon wieder weich wurden.

Er nahm sie auf den Arm. Sie schmiegte sich an seine Brust, trug sie, als wäre sie ein Fliegengewicht. Seine Füße wurden vom Meer umspült. Sie standen im Ozean.

„Du hast mir noch immer nicht deinen Namen genannt“, sagte Keira.

Der Mann lachte, es klang wie ein Fest für ihre Ohren.

„Das muss ich auch nicht, du kennst ihn bereits“, sagte er.

Keira dachte angestrengt nach. Dann kam ihr ein Name in den Sinn, in absoluter Klarheit.

„Bist du Romeo?“, fragte sie ungläubig.

Der Mann lächelte, das Gesicht war so schön. „Ja, der bin ich. Romeo. Dein Romeo.“

Er beugte sich über sie, ganz langsam. Ihre Lippen waren nur wenige Millimeter voneinander getrennt.

Plötzlich riss Keira die Augen auf. Sie schaute sich orientierungslos um und stellte fest, dass sie noch immer im Flugzeug war. Sie sanken durch die Wolken und das Signal für die Gurte leuchtete auf. Der Landeanflug hatte wohl begonnen. Sie hatte den ganzen Flug verschlafen.

Der Traum hatte sie atemlos gemacht. Sie legte eine Hand auf ihre Brust, spürte den schnellen Herzschlag unter ihrem Shirt. Ihr Kopf drehte sich noch ein wenig vom Alkohol, der noch nicht ganz seine Wirkung verloren hatte.

„Ich glaube, du hattest einen Alptraum“, sagte Garrett.

Keira rieb sich die Schläfen und erinnerte sich an den schrägen Traum. „Ja, ich glaube, da könntest du recht haben. Zumindest anfangs. Ich wurde von meinem Exfreund heimgesucht, der meine Schwester geheiratet hat. Und alle meine Freundinnen. Und meine Mutter.“

Der Mann blickte sie amüsiert an. Keira fragte sich, was er wohl wirklich von ihr dachte. Sie vermutete, er hielt sie für vollkommen durchgeknallt.

Das Flugzeug setzte auf und rollte die Landebahn entlang. Als es endlich zum Stehen kam, sprang der Mann neben Keira auf, sobald es erlaubt war.

„So vermeidet man die Warteschlangen“, erklärte er verlegen.

„Sicher.“ Keira konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Die Kabinentüren wurden geöffnet und Garrett flitzte hinaus. Keira lachte auf. Sie mochte ihre falsche Persönlichkeit. Vielleicht war Bryn doch nicht ganz so albern, wie sie bisher angenommen hatte.

Sie packte ihre Sachen zusammen, löste den Gurt und holte ihre Tasche aus dem Gepäckfach über ihr. Während sie durch den Gang ging, dachte sie darüber nach, wie sie das Spielchen mit Garrett als nächstes in die Tat umsetzen würde. In den nächsten drei Wochen würde sie vorgeben, jemand anderes zu sein. Jemand, der noch immer an die Liebe glaubte. Sie hatte das vage Gefühl, dass das weitaus schwieriger sein würde, als eine Weinkennerin zu spielen.

Sie verließ das Flugzeug und genoss das Streicheln der warmen Sonne auf ihrer Haut. Das war doch viel angenehmer, als das kalte Wetter in New York. Die Sonne machte sie immer irgendwie zuversichtlich. Alles sah netter aus. Und auch wenn sie von Italien gerade nur diesen Flughafen sehen konnte, so sahen die Berge ringsum in der Sonne doch atemberaubend aus.

Sie folgte dem Weg in die Halle, wo sie bald ihren Reisebegleiter treffen würde. Das erste Mal seit sie New York verlassen hatte, stellte sie sich vor, ihr Romeo würde sie erwarten.

Italienische Nächte

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