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Gefangen und geformt in James City
ОглавлениеJames City ist eine Provinzstadt, weder verschlafen noch aufregend. Durch ihre Durchschnittlichkeit – sowohl was ihre Architektur, Wirtschaft, Infrastruktur und natürlich ihre Bewohner selbst betrifft – entzieht sie sich jeder malerischen Deskription. Nicht einmal für eine Grauzeichnung gibt sie eine ideale Vorlage ab. Dazu fehlt es ihr wiederum an explizit depressiven Konturen. Fehlt es ihr an einer expliziten Depressivität, wie sie etwa in der Musik von Nico verströmt wird. Einer Depressivität, wo der sensitive Ästhet nicht umhin kann, darin erregt und in voller Anspannung seiner Sinne zu baden. Nein, das konnte James City nie bieten – und kann es auch heute nicht. Mit der Zuschreibung Durchschnitt kommt man auch nicht wirklich weiter, muss ich mir bei genauerem Nachdenken eingestehen. Müssten doch für einen solchen Fall wiederum erst die passenden Referenzgrößen gefunden werden. Ein aussichtsloses Unterfangen, das ich nicht bereit bin, in Angriff zu nehmen. Wozu auch? James City entzieht sich dem, was man allgemein unter Charakterisierung, Typologisierung, USP, etc. versteht und in Tourismusprospekten sowie neuerdings virtuell, etwa auf Wikipedia, vorfindet. Nein, nein und abermals nein: James City ist nicht vergleichbar mit der liberalen Bürgerstadt Hamburg, dem Moloch Berlin, dem proletarisch geprägten Ruhrpott, der süddeutschen Metropole München oder dessen benachbartem Ausflugziel für die Kulturschickeria, Salzburg. Auch nicht mit Wien, dieser eigentümlichen Mischung aus Balkan, Residuum deutschen Kulturlebens und standardisierter Allerweltsmetropole. Da auch das Umland von James City, der Landstrich, indem es eingebettet ist, kein spezielles Charakteristikum aufweist, ist auch kein Vergleich mit Siedlungen in den Alpen zulässig, wo etwa das Tirolerische als Trademark weit über den deutschen Sprachraum hinausreicht. Dieser Ort liegt fernab von den Zentren des politischen, kulturellen und intellektuellen Geschehens. Okay, das trifft auch auf andere Provinzkaffs zu, möge der Leser meinen, aber es verhält sich bei James City eben anders. Beschaulichkeit, wie man sie meist in den Städten der Provinz antrifft, sucht man in James City vergeblich. Ein Gefühl, das einen zum Beispiel beim scheußlichen Säuseln der Wiener Klassik beschleicht, Beethoven einmal ausgenommen, trifft man hingegen auf Schritt und Tritt an, wenn nicht gerade die eigene Sensitivität im Pfandhaus liegt.
Hier vermisst man die Entfernung zwischen den Niederungen einer Industriestadt und den idealisierten Vorstellungen einer Bürgerstadt. Das, obwohl James City die dumme Aspiration hatte, zivilisiert zu werden. Versucht man den Zugang über die Historie, so stellt sich das Ergebnis auch als bescheiden und wenig befriedigend dar. Kaum ausreichend, um einen Tourismusprospekt zu gestalten. Geschweige denn, einen über, sagen wir, 500 km hinaus reichenden Radius geltenden Bekanntheitsgrad zu erlangen. Das Übliche halt, was viele Volksschulkinder in ihren Dorfchroniken auch lesen und mitunter lernen müssen: Ausgrabungen zeugen von keltischen Siedlungen, die ca. um 300 v. Christus entstanden. Historisch ist noch nicht einwandfrei geklärt, ob sich der heutige Namen der Stadt aus dem keltischen oder aus dem römischen, zu dessen Gebiet in der Antike James City gehörte, ableitet. Wie in vielen anderen Städten auch, wechselte im Mittelalter der Besitztitel auf diese Siedlung, der die heutige Stadt zugrunde liegt, zwischen den verschiedenen Herzogtümern. Die Grundmauern eines Klosters und einiger Kirchen wurden in dieser Zeit gelegt. Für den Abschnitt der Neuzeit ist vor allem erwähnenswert, dass im Zuge der Gegenreformation sich der Katholizismus James City einverleibte und bis zum heutigen Tage nicht mehr freigab. Der Atheismus konnte in dieser Stadt nicht einmal im Ansatz Fuß fassen, dafür dürfte dies – wie in anderen europäischen urbanen Räumen auch – dem Islam gelingen. Von der Revolution von 1848 - wie auch später von der 1968- blieb James City verschont. So genannte Persönlichkeiten, also Menschen, die aufgrund ihres Wirkens im Bereich der Kunst, der Ökonomie oder der Politik, in die Geschichte eingingen, brachte James City in dieser Zeit nicht hervor. In der Stadt verweist die eine oder andere an den Hauswänden angebrachte Gedenktafel zwar darauf, dass so manche Persönlichkeit in James City übernachtet hatte, wenn es hoch herging, eine kurze Zeit in dieser Stadt verweilte, konkret Prägendes findet man aber nicht. Gleich einem Zeitraffer lässt sich das 20. Jahrhundert bis herauf in die Gegenwart abhandeln: Hitler und somit der Nationalsozialismus fasste auch in James City Fuß und so manches hat bis heute Bestand. Zum einen ist es die typische Architektur der Wohnbauten, die in dieser Zeit errichtet wurden. Diese Bauten dienten vor allem den Arbeitern, dem in der Zwischenkriegszeit verelendeten Proletariat, als Wohnstätte. Im Grunde tun sie das auch heute noch im hohen Maße, wenn zwar diese Begrifflichkeit nicht mehr verwendet wird. Diese Gebäude zeigen sich heute vielfach generalsaniert im neuen Glanz, so wie sich heute der Pauperismus auch nicht mehr in schäbigen Lumpen präsentiert, sondern bei seinen Routinegängen aufs Arbeitsamt und zum Discounter die Camouflage der globalisierten Billig-Labels trägt.
Von diesen, im Volksmund Hiltler-Bauten genannten, Gebäuden werden einige Stadteile bis heute maßgeblich geprägt. Diese Wohnbauten prägen nicht nur das Erscheinungsbild in einigen Stadtteilen, sie zeichnen auch auf etwas subtile Weise eine Mitverantwortung für einen geistigen Bestand, der vielfach unter der mehr oder weniger dekorierten Fassade schlummert. Frei nach Parsons` Theorem, wonach jede Gesellschaft ein relativ beharrendes, stabiles Gefüge von Elementen sei. Stabilität, dieses Zauberwort, dieser Zufluchtsort war in der Nachkriegszeit für die geschundene Bevölkerung, implizit auch für die sogenannten Täter, die ja meist in Personalunion mit den Gewinnern des Wiederaufbaues standen, ein Synonym für Restauration und Ausschaltung oder wenn nicht möglich, so zumindest deren Minimierung von Antagonismen. Der Wunsch nach Stabilität muss hier natürlich im Sinne einer Multitude gedeutet werden. Ging es doch vorrangig um den Wunsch nach Frieden, Existenzsicherung und Schutz vor Willkür, der mehr oder weniger allen Bevölkerungsgruppen eigen war. Kameradschaftsbünde mit Mitgliedern ohne Kriegserfahrung existierten in diesen Jahren noch nicht. Die Wirklichkeit hatte zumindest in dieser Hinsicht noch keinen Sprung. Kokettierte noch nicht wieder mit dem Abgrund.
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Hier muss ich nicht erst meine produktive Einbildungskraft befragen, um eine musikalische Deutung vorzunehmen. Natürlich hat hier der artifiziellen Rumpel-Blues eines Captain Beefheart und schon gar nicht erst ein für Kleinkinder gedachter Lärm der White Stripes etwas zu suchen. Nein, die Deutung hat zu erfolgen im Sinne eines „Death Letter Blues“ von Son House oder eines Blind Willie Johnson, wurde uns von Sam apodiktisch verkündet. Zum wiederholten Male ertappte ich Sam dabei, wie er zu allem und jedem einen Bezug zum Blues herzustellen versuchte. Sam halt endlich die Klappe oder besser, bestell die nächste Runde. Die Klappe wirst du ohnehin nicht halten. Dafür, dass wir uns dieses Geschwätz anhören müssen. Selbst ein Idiot wie du muss doch kapieren, dass solche Analogien zu nichts führen. Recht hat er, dachte ich mir, während der junge Heavy-Metal-Fan weiter auf Sam einredete. Irgendwann im letzten Jahr, bevor ich James City für Jahre verlassen sollte, verirrte er sich an unseren Tisch. Fortwährend versuchte er mit der in dieser Szene anscheinend üblichen Fäkalsprache und aufsetzten sexuellen Anspielungen der Servierkraft gegenüber die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ob seine dünne Mähne damals schon fettig war oder dieses ästhetische Verbrechen erst nach dem kurz darauf erfolgten Abbruch seines Studiums der Betriebswirtschaft begangen wurde, weiß ich nicht mehr. Jedoch in diesem Moment, wo er auf Sam einredete und dieser versuchte, ihn zu ignorieren, fiel es mir auf. Ungut, wohlgemerkt! Brandy, Menschen mit einem solch schlechten Musikgeschmack wie du sind nicht in der Lage, an unserem Tisch Präsenz zu markieren. Auch dann nicht, wenn sie im Stile des weibischen Geschreis dieser Trottelbands laut herumkreischen, kam es Sam beinahe emotionslos über die Lippen. Eingebildeter Idiot, schon einmal etwas von Death Metal gehört? Dabei zeigte Brandy die obligate Pommesgabel oder Devil Horn, wie diese infantile Geste in der Szene genannt wird. Ich hatte beim Anblick dieser lächerlichen Gestik das Gefühl, als versuche er sich damit mit den großen Kräften des Universums zu vereinen. Sam ging nicht darauf ein und setzte seine Rede fort. Dabei sah er weder mich noch jemand anderen an, sondern redete mit dem Blick gerade aus auf die Bar weiter, als würde er eine Seminararbeit vortragen.
Ich mag diesen Vergleich mit den Süden der USA, konkret mit der dort lebenden schwarzen Bevölkerung, Neger wie man sie damals nannte, auch nicht besonders. Obwohl fürs Erste, das ist auch der Grund dieser immer wiederkehrenden Gedanken, sich gewisse strukturelle Ähnlichkeiten, wenn schon nicht aufdrängten, so doch zumindest anbieten. Bei näherer Betrachtung gibt es dann doch zu viele gravierende Unterschiede, die derartige Vergleiche der Lächerlichkeit preisgeben, und auf diese Unterschiede kommt es mir an. So exotisch und wesensfremd der Blues für die Bevölkerung Kontinentaleuropas war und immer sein wird, schon der Gedanke an kontinentaleuropäische Bluesbands, gleich ob deutscher oder englischer Zunge, ruft bei mir Brechreiz hervor. Zu unterschiedlich sind auch die Akteure in den zwei Kohorten. Diese Grazie, dieser Stil, diese Würde, von der Kreativität und Musikalität der Afroamerikaner ganz zu schweigen, fehlte den deutschen und auch englischen Brüdern völlig. Wenn zwar nicht im musikalischen Sinne, so doch auf der emotional menschlichen Ebene erkenne ich am ehesten eine Parallele bei jenen Menschen, die sich in den bewegten Jahren des 20. Jahrhunderts den Kommunisten oder dem Widerstand angeschlossen haben. Da aber dieser Typus in keiner Weise Blues oder Rock ‚n’ Roll affin im musikalischen Sinn war, und auch für die Beschreibung der überwiegenden Masse des Proletariats nicht tauge, entfällt eine weitere Vertiefung an dieser Stelle. Auch als Selbstschutz werde ich eine derartige Konnotation vermeiden, denn diese von mir geliebte Musik sollte rein bleiben von solcher Einfalt. Habt ihr durchgemacht? Wie lange sitzt ihr schon hier, wahrscheinlich seit Mittag, wenn ich diesen Idioten höre, fuhr mich Brandy an und drehte dabei die Augen in Richtung Sam. Geht auf Sam, sagte er zur Kellnerin, die in diesem Augenblicke den Biernachschub an den Tisch brachte. Ich sah auf ihre schönen Titten und ließ Brandy Brandy sein. Sam blieb naturgemäß von diesem Zwischenruf unberührt. Er reichte der Kellnerin das leere Glas, zog das volle, neu gebrachte Bier an sich heran, ohne seinen Vortrag zu unterbrechen. Bevor ich meinen historisch-soziologischen Streifzug durch James City abschließe, möchte ich nur mehr die Frage der zukünftigen Gliederung der Gesellschaft, kurzum, die Machtaufteilung im Kontext einer sich abzeichnenden bipolaren Welt, um die es ja damals ging, kurz streifen, hatte ich ihn im rechten Ohr, ans linke drang Lärm vom Flipperautomat herüber. Mittlerweile hatte sich das Lokal gefüllt, es war ja bereits 10:00 Uhr am Abend und Sam und ich saßen, wie vom Heavy Metal Fan vermutet, tatsächlich seit Mittag hier. Überflüssig zu erwähnen, dass sich niemand am Tisch jetzt weder für die Geschichte von James City noch für die des Blues interessierte. Der kommt heute nicht mehr zur Besinnung, sagte Brandy, ohne Sam dabei anzusehen, stand mit dem Bier in der Hand auf und ging hinüber zu dem Tisch, wo gerade drei junge Girls Platz genommen hatten. Ich winkte die Kellnerin herbei, beglich meine offnen Biere und verließ die Kneipe. Objektiv betrachtet hatten diese Menschen nichts weiter zu verlieren, als ihre sprichwörtlichen Ketten. Durch die damals vorherrschende Gesellschaftsstruktur waren Menschen, die in diese Stände hineingeboren waren, nicht als Individuen in vollem Sinne zu betrachten, belehrte Sam gerade die beiden noch am Tisch Verbliebenen, die bereits gelangweilt in Richtung des Tisches von Brandy mit den Girls hinüberschauten bei meiner Verabschiedung. Sam unterbrach auch hier nicht, sondern hob nur die Hand zum Abschied.
In dieser Lebensphase musste Sam nicht erst eine Haltung erwerben, eine solche hatte er längst erworben. Was in dieser Zeit allmählich zu reifen begann, war eine Art Vorahnung, die sich später mit all seiner unliebsamen Konsequenz materialisieren sollte. Heute, wenn ich die Sache genauerer betrachte, wird mir klar, bereits damals fiel diese Verahnung mit dem Beginn der Erfüllung zusammen. Darüber kann ich heute, wo mir sein späterer Werdegang bekannt ist, leicht reden. Aber es stimmte, beim genauen Hinschauen hätte man das bereits damals ahnen können. Aber wer schaut in den jungen Jahren schon so genau hin. Und selbst wenn, es war Sam bereits in diesen jungen Jahren nicht mehr möglich, seine Haltung zu ändern, ihn zu ändern. Ich kann meinem Leben keinen Normaldrall mehr verpassen, war eine seiner Standardantworten, wenn jemand, bevorzugt Mädchen, versuchten, ihm gut zuzureden. In diesen Tagen war er sich bereits der Unkompatibilität seiner Haltung mit einem angenehmen Leben bewusst – von einem glücklichen Leben ganz zu schweigen. Ich fühle mich nur für eine Wanderung auf diesen Weg ausreichend adjustiert, eine andere Route ist für mich nicht wahrnehmbar, sagte er in einer dieser typischen Runden am Kneipentisch einmal zur Schwester des Wirtes. Sie hatte an diesem Tag wieder einmal ausgeholfen. Damals sperrte das Lokal bereits um 11:00 Uhr vormittags auf. Vereinzelt verirrten sich zu Mittag auch noch Beamte herein, die das Lokal wahrscheinlich von früher noch kannten, wo es von einem alten Ehepaar betrieben worden war. Sie bestellten Würstchen oder ne Gulaschsuppe und den danach für diese Ärmelschoner obligaten Kaffe, bevor sie sich wieder in ihre Amtsstuben verdrückten. Neben diesen Gästen war es um diese Zeit und auch am Nachmittag mehr oder weniger still. Mehr als drei, vier Gäste, nennen wir sie mal der leicht verdaulichen Verallgemeinerung willens Bohemiens, waren wochentags nie im Lokal. Erst am Abend füllte sich die Kneipe. Der nunmehrige Wirt hatte gerade das Lokal übernommen, das heißt, er führte es ein knappes Jahr. Da zu dieser Zeit in James City von kultivierten Menschen Kneipen und Cafehäuser noch als Institutionen begriffen wurden, galten natürlich 8 Monate, die Long John das Lokal jetzt führte, beinahe als pränatal. Nur hatte es mit diesem Lokal eine Besonderheit auf sich, wurden doch von Long John weder Namen und Aussehen verändert. Das heißt, sowohl die Inneneinrichtung als auch das über der Einganstür angebrachte Lokalschild, wo in Schreibschrift eine Neonlampe auf geschweißtem Alugitter montiert war, blieb hängen, wo sie vermutlich seit den späten 1960ern hängte, und flackerte am Abend im matten Gelb den Passanten und Nachtschwärmern den Namen Aquarium entgegen. Davor, das Lokal existierte bereits seit den 1950ern, erledigte das ein Emailschild, welches eindeutig die Passanten am Tage bevorzugte. Heute würde man von einem Szenewirt sprechen, war er es doch, der Erste und meines Wissens bis heute Einzige, der in James City ein Punklokal eröffnete. Long John war zwar kein Punk sondern ein Junkie aus der Hippiezeit, aber irgendwie ging das zusammen und funktionierte – zumindest ein paar Jahre. Aber Punk und James City wäre ein eigenes Thema. Ein Thema, das sich nicht lohnt, Lebenszeit dafür zu verschwenden. Als mich Sam einmal fragte, was ich von Punk denn halte, antwortete ich kurz und bündig; das würde ich nicht als Existenzform des Lebens bezeichnen. Zu meiner Verwunderung holte Sam nicht zu einem Vortrag über die Folgen einer Bildung eines weitgehend homogenen Bewusstseins aus, sondern grinste und sagte nur, hier gehe ich mit dir d’accord. Das ist eine Art Strategie für Idioten, die Zuflucht im kollektiven Martyrium suchen. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, damals waren – zumindest in James City – sogenannte Modepunks noch unbekannt. Über einige Zwischenstationen und einer erfolgreichen Entziehungskur übernahm Long John dann Jahre später dieses Cafe, als die alten Pächter in Rente gingen. Das mir bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte Lokal sollte bis zu meinem Weggang aus James City meine Stammkneipe werden. Seine Intention, da inzwischen clean und an der Kunstuni eingeschrieben, war es, wie ich aber erst Jahre später erfuhr, das Lokal als eine Art Künstlercafe zu führen – und keineswegs als Kneipe, zu der es durch Stammgäste wie Sam und Konsorten schließlich wurde. In aller Bescheidenheit muss auch ich mich dazuzählen.
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Von einer alternativen Marschroute, die für mich gangbar wäre, ist mir nichts bekannt. Was ich kenne sind nur die gut ausgebauten Abkürzungen zur Selbstaufgabe, Abkürzungen zum Aufgehen in der unkritischen Masse. Diese Route willst du mir doch nicht ans Herz legen, meine Liebe, oder etwa doch? Die Frau verdrehte bereits die ganze Zeit über die Augen, während Sam sprach und antwortete ihm dann sanft. Nein, Sam! Das möchte ich nicht. Du hast mich überzeugt, für dich gibt es kein Rezept für ein glückliches Leben. Mit dem Wissen steigt anscheinend bei dir auch das Leiden. Ich wünsche dir und auch uns, so die Schwester des Wirtes mit einer sanften Stimme, die ich von ihr bis dato nicht kannte, weiter, du lebst stets so, dass du was du tust, ohne Grauen wiederholen kannst. Damals wusste ich noch nicht, dass es sich hier um eine leichte Abwandlung von Nietzsche handelt. Ob Sam es wusste, kann ich nicht sagen. Er sah sie dabei grinsend an und reichte ihr dann sein leeres Bierglas. In diesem Moment kam Long John, eine 15 Liter Gulaschkonserve unter dem Arm, bei der Tür herein und bewegte sich an unserem Tisch vorbei in Richtung Abstellraum, der hinter der Bar lag und zugleich als Küche diente. Beim Vorbeigehen entfuhr ihm ein Sam, schon lange nicht mehr gesehen, wie geht’s?. Danke Long John, etwas unter mittelbrillant, kam es eben so beiläufig von Sam zurück. Du sollst nicht Sam sondern uns fragen, wie es geht, schallte es in Richtung Abstellraum, wo der Wirt die Konserve verstaute. Wusstest du, Long John, dass damals nach dem Krieg die Devise in James City war, eine Veränderung herbeizuführen, ohne jedoch etwas Neues einzuführen? Dass es um die Kompilierung des Bestehenden ging, wo der Außenwelt signalisiert wurde, es tut sich etwas, es kommt Bewegung in die von ihr als Bedrohung empfunden Strukturen? Nein, wusste ich nicht, warum? war ein etwas geistesabwesendes Gemurmel vom Abstellraum zu vernehmen. Na, weil man bei der Außenwelt ja schließlich in der Schuld stand, so zumindest wurde es von der Außenwelt gesehen und artikuliert. Dieser Vorgang wurde unter größter Sorgfalt und Bedachtnahme auf die seelische Verwundbarkeit der Staatsbürger durchgeführt. Keinesfalls wollte man damals mit einer Neugestaltung der Gesellschaftsordnung Verunsicherung und Verwirrung stiften. Stabilität war das Losungswort. Ruhe und Ordnung die freie Übersetzung für die weniger Sprachgeübten, für den einfachen Mann, für die einfache Frau auf der Straße. Sich aus Bekanntem und Vertrautem einen gangbaren Weg bauen, daran wurde gearbeitet. Den Krieg wollte man ja ohnehin nicht, der wurde einem aufgezwungen, und dafür musste man ja ohnehin schwer bezahlen mit den zerbombten Städten und der Vertreibung der Deutschen aus Ost-, Mittel- und Südosteuropa. Warum weißt du das nicht, Long John, wurde die Befragung in dem Abstellraum abgeschlossen. In diesem Moment erschien ein lachender Long John aus der Abstellkammer und stellte sich wie gewohnt hinter den Tresen und zapfte sich einen kleinen Schluck Bier. Nach dem er einen Schluck gemacht hatte stützte er sich wie ein Pfaffe auf der Kanzel mit beiden Händen ab und sagte an unseren Tisch, den sogenannten Einsertisch, gewandt, wie sollte ich. Ich habe es nicht so gut wie ihr, ich musste die dringenden Einkäufe erledigen, damit der Laden läuft, während ihr hier die ganze Zeit über von Sam Nachhilfe erhalten habt. Ich muss mich wohl oder übel damit abfinden, dumm zu sterben. Die ganze Runde hielt sich den Bauch und auch Sam musste lachen. Zwischenbilanz, ich übergebe, stand seine Schwester vom Tisch auf und bewegte sich zum Tressen, wo ihr Long John die schwarze, bereits stark abgewetzte Kellnerbrieftasche reichte. Als Long John sah, wie alle brav bei seiner Schwester zahlten und keiner anschreiben ließ, kam er mit dem Tablett in der Hand, das mit sechs Bourbons bestückt war, auf uns zu. Geht aufs Haus, ihr braven Schüler! Schon war er wieder verschwunden hinter dem Tresen. Wir kippten den Whiskey und ließen Long John hochleben. Die anderen machten dann einen Abgang, Sam und ich blieben sitzen. Diese ihn oft ans Herz gelegte Abkürzungen wollte er schon damals nicht nehmen, heute wäre es ihm ohnehin nicht mehr möglich, selbst wenn er wollte.
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Bereits seine Betrachtung der ersten Wohnung als temporäre Übergangslösung fußte schon mehr auf Wunsch als auf reellen Voraussetzungen, die eine baldige Veränderung plausibel erscheinen ließen. Das liegt nun schon sehr lange zurück und diese damals intendierte Temporarität wurde längst falsifiziert. Als ich ihn nach Jahren einmal fragte, Sam kannst du dich noch erinnern, was du beim Einzug in dieses kleine Loch zu mir gesagt hast, bekam ich zur Antwort. Ja, daran kann ich mich sehr gut erinnern. Nur aktiviere ich die Erinnerung daran nur mehr selten, da sie für mich einer sadistischen Handlung gleichkommt. Ich tröste mich dann immer damit, dass ja die Wohngegend nicht schlecht ist und es ja noch immer zu einer Veränderung kommen kann. Warum nicht? Du siehst, ich möchte lieber das Reale als das Erfundene gestalten. Aus diesem Hintergrund heraus wurde mir erst seine ostentativ vorgetragene Abscheu gegenüber Mietwohnungen, vor allem gegenüber kleinen Mietwohnungen, begreiflich. Diese Ablehnung wurde noch zusätzlich durch Sams Vorahnungen genährt. Diese Vorahnungen, die Sam mal zusetzten, dann wieder bei ihm für ein lakonisches Lächeln sorgten, würde ich mit negativem Entwicklungspotential umschreiben. Tröstete er sich früher mit der Zukunft hinweg, wo sein Wunsch sich materialisieren lassen werde, so war später, nachdem die besten Jahre, genauer gesagt, Jahrzehnte verstrichen waren, eine derartige Selbsttäuschung kaum mehr möglich. Sam verbat es sich ab einem nicht näher zu datierenden Zeitpunkt, sich weiter derartigen, seiner intellektuellen Integrität widersprechenden Hirngespinsten hinzugeben. Nur manchmal hatte es den Anschein, ganz losgelassen haben ihn diese Gedanken an eine gut bürgerliche Existenz noch nicht. Genauer gesagt, eine gut bürgerliche Existenz in der Camouflage der Boheme. Vor meiner Abreise nach Amsterdam lag mir viel daran, mich auch von Sam zu verabschieden. Immerhin plante ich für 3 Jahre James City zu verlassen, dass es einige mehr werden sollten, war damals weder geplant noch absehbar. Mir war bewusst, im Gegensatz zu den anderen Freunden war es Sam nicht so leicht möglich, mich in Amsterdam zu besuchen. Wie bereits erwähnt, das zeichnete sich bereits damals ab. Meine beruflichen Pläne und Beweggründe schienen ihn wenig zu interessieren, so kam es mir zumindest vor, als wir damals in unserer Stammkneipe ein Bier nach dem anderen runterspülten.
Wie planst du zu wohnen, wie planst du es dir in dieser heißen Stadt einzurichten? Mit Fragen dieser Art wurde ich bombardiert. Zu allen Überfluss würzte er die Sätze mit mir unbekannten beziehungsweise unverständlichen Redewendungen – und daran war nicht der Alkohol schuld. Als ich nach einer Weile auf seine Frage keine konkrete Antwort mehr gab, sondern nur mit den Achseln zuckte und sagte, weiß nicht, mal sehen, nahm er einen tiefen Schluck und meinte: So, so, ich werde hier also Zeuge, wie sich das Individuum von seiner sozialen Umgebung löst und sein Blick auf das Innere gelenkt wird und mit dem Geist der Pflanze verbindet. Ich hatte keine Lust, lange nachzufragen, was er damit genau meine, obwohl ich es ahnen konnte, deshalb lachte ich nur und sagte, ja mein Lieber, schätze dich glücklich! Wenn du ohnehin nur für ne kurze Zeit hingehst, dann richte es dir doch ordentlich ein, zu was hast du denn Architektur studiert, wurde ich weiter belehrt. Wenn du dich in ein verwanztes Loch verschanzt, wird es dir nämlich nicht gelingen, ein entspanntes Verhältnis zur Außenwelt aufzubauen. Als ich ihn so vor mir sitzen sah und ihm zuhörte, hatte ich das Gefühl, sein Seelenfahrzeug hat bereits eingeparkt endlang der Bloemgracht. Ihm schwebte natürlich eine mondäne Wohnung in einem dieser alten Bürgerhäuser als Bleibe für mich vor. Dass ich zwar jung aber mehr oder weniger mittellos war, schien er in diesem Augenblick zu vergessen. Und es dauert auch nicht lange, bis das Gespräch vom Grund unseres Zusammentreffens, nämlich meiner Übersiedelung nach Amsterdam, zu seinen Vorstellungen von Leben wanderte. Ich nahm es Sam nicht nur nicht übel, dass er nach kurzer Zeit nur noch von sich beziehungsweise von seiner Sicht der Dinge sprach, sondern ich hatte sogar etwas Mitleid mit ihm. War es doch in dieser Zeit vor Internet, das es nur in manchen Instituten an der Uni gab, und Multikulti ne große Sache, von James City nach Amsterdam zu gehen. Und das nicht nur wegen der leckeren Rauchwaren und dem sexuellen Angebot. Wie ich meinen alten Freund so dasitzen sah, wünschte ich, er könnte mit mir gehen nach Amsterdam. Ob er es in Amsterdam geschafft hätte, glücklich zu werden, traue ich mir auch heute noch nicht zu beurteilen. Dass er in James City vor die Hunde geht, das jedenfalls spürte ich bereits damals, als ich mich mit ihm an diesem Kneipentisch volllaufen ließ.
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Dieser immerwährende Durst der Menschen nach Anerkennung, Liebe und Geborgenheit wurde fürs Erste gestillt. Dass eine Dehydration verlässlich wie der gefürchtete Brand nach durchzechter Nacht darauf folgenden sollte, konnte man damals nicht ahnen, hörten Sam und auch ich oft als Kinder, wenn Erwachsene über die Vergangenheit sprachen. Na, und das mit den Juden, falls es sich tatsächlich in der behaupteten Weise ereignet hat, hätten die Nazis nicht machen sollen, hätten sie sich sparen können, wurde manchmal noch als eine Art oralem Appendix hinzugefügt. Natürlich wussten wir damals noch nicht, was ein Appendix ist, und auch die Sache mit den Nazis entzog sich unserer genauen Vorstellung. Nur dass sie schon Autos hatten, das war uns klar. Aber das war alles Politik und mit der hatte man ja ohnehin nicht viel am Hut. Jetzt galt es nach vorne zu schauen, eine Perspektive zu suchen, um dem vorherrschenden Leid und der Not zumindest mental einer Linderung zuzuführen, hörte ich einmal einen alten Mann zum Frisör sagen. Aber da habe ich nicht mehr so genau zugehört. Die Ohren spitzte ich vorher, als er sich über die Langhaarigen aufregte. Heutzutage kennt man ja Burschen und Mädchen nicht mehr auseinander. Die Mädchen, falls sie nicht gleich nackt in ihren Hularöckchen herumlaufen, tragen Hosen, und die Burschen haben oft längere Haare als die Mädchen. Da kommen ja die Gammler noch ordentlicher daher, meinte er zum Frisör. Ja, Herr Ingenieur, hier haben sie nicht unrecht. Manche gebärdeten sich wie Unsinnige, laufen herum wie Puppennjungen, fügte er noch mit einer Stimme der Resignation hinzu. Solche oder so ähnliche Äußerung konnte man in diesen Tagen überall im Land hören. Hier war ich keineswegs in einer privilegierten Stellung. Auch bildeten die Bürger von James City keine Ausnahme. Aufbau oder Wiederaufbau? Was James City betraf, einer Stadt ohne nennenswerter Tradition, handelte es sich hier ohnehin nur um eine rein akademische Frage. Diese Stadt hatte damals keine Universität oder war in irgendeiner Weise mit dem Kulturschaffen in Berührung gekommen, worauf sich hätte wieder aufbauen lassen. Weder war sie eine Messestadt – sieht man vom jährlichen Rummelmarkt ab – noch hatte sich ein Handwerk herausgebildet, für welches die Stadt bekannt wäre. James City war auch nie eine Handelsstadt gewesen. Einzig die Kriegswirtschaft, hier vor allem die Grundstoffindustrie, brachte dieser Stadt ein relativ hohes Wachstum und eine Ausdehnung in diesen dunklen Jahren des 20. Jahrhunderts. Wobei dunkel meist als eine Etikettierung wahrgenommen wird, die von außen kommt. Vor allem viele Zeitzeugen sehen, mal von den letzten Kriegsjahren mit ihren schrecklichen Bombenangriffen abgesehen, diese Jahre nicht so dunkel. Im Vergleich zu den Jahren nach dem 1. Weltkrieg wurden diese Jahre unter Hitler durchaus positiv erlebt. Endlich herrschte für breite Bevölkerungsschichten, die davor von der gesellschaftlichen Teilhabe mehr oder weniger ausgeschlossen waren, so etwas wie Aufbruchstimmung. Kannten diese Menschen bis dahin neben den dubiosen Heilsversprechungen der Kirche, dessen Einlösung im Jenseits vorgesehen war, nur die harten Rahmenbedingungen für das physische Überleben, so wurden sie nun von einem ganz neuen Gefühl durchströmt. Einem Gefühl, das, ähnlich dem ersten Orgasmus, unbekannt, aufregend und angenehm zugleich war. Diese Menschen wussten zwar nicht genau, was es war, aber es fühlte und hörte sich gut an. Man sorgte für diese Schichten oder Stände, wie man sie damals nannte, nun auch im Diesseits. Materiell in Form von bezahlter Arbeit und eben – und das war die eigentliche Neuerung – dem sozialen Wohnbau. Sam sagte, sobald wir auf dieses Thema zu sprechen kamen, diese Bauten dienen uns Nachgeborenen als direkte und manifeste Verbindung in diese Zeit. Wahrscheinlich, dabei Denkerposition und Grüblerstirn einnehmend, fühlten sich viele Menschen kombiniert mit der Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilnahme zum ersten Mal in ihrem Leben als Bürger. Zwar nicht im Sinne des französischen Citoyens, das ist bis zum heutigen Tage nicht gelungen, aber zumindest als vollwertiger Staatsbürger – oder Mitglieder der Volksgemeinschaft, wie man es damals nannte. Die Nazis vermittelten diesen Menschen nun erstmals das Gefühl, dazuzugehören. Und zwar nicht als Inventar sondern als Individuum. Aber dass das nicht allzu lange gut gehen kann, hätten doch auch sie müssten, wand ich kurz ein. Ach, das ist doch nicht die entscheidende Frage, wiegelte er ab. Vermutlich dachten sie, es wird schon gut gehen. Und wenn nicht, wird es schon nicht so schlimm kommen. Gleich dem Zecher, dem der nächste Drink näher ist als das böse Erwachen am Tag danach. Mein Lieber, auf dieser psychologischen Grundstruktur basiert heute noch die Werbung.
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Die Wahrscheinlichkeitsform, die hier von Sam gewählt wurde, war nicht ein Zeichen einer listigen Unverbindlichkeit, sondern eines von intellektueller Redlichkeit. Stammten wir doch beide nicht aus solchen Häusern; also weder aus Familien, wo die Eltern oder Großeltern dieser Ideologie etwas abgewinnen konnten, noch aus der Proletarierschicht oder einer Schnittmenge aus beidem. Da uns der Eintritt in dieses Erfahrungsgebiet verschlossen blieb, war nur der Weg über die Spekulation möglich, wollte man den seriösen Diskurs nicht zugunsten eines durchsichtigen, von heuchlerischen und moralinsauren durchzogenen Geschwätz ersetzen. Eines Geschwätzes, das heute den Soundtrack unser Tage abgibt. Besonders schien Sam die Gegebenheiten im sozialen Leben, Sozialarchitektur, wie er es nannte, zu interessieren. Geklaut haben sie ja genial und überall. Bedenke, auch an die Kinder wurde gedacht. Eine Mitgliedschaft in den diversen Vereinen stand ihnen nicht nur offen, sie wurde sogar erwünscht. Diese Indoktrinierung der Nazis schaffte somit, was der Linken vorher nur bedingt gelang, nämlich die erschöpfende Erfassung der unterprivilegierten Schichten, und in weiterer Folge die Bildung eines weitgehend homogenen Bewusstseins. Als Transmissionsriemen diente nicht der materielle Ist-Zustand, das Sein, wie es Marx nennen würde, sondern eben die Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft. Einfach und genial zugleich. Konnte doch aus subjektiver Sicht dieser Menschen ohne Konsumption oder Kauf einer Ware ein Mehrwert in Form einer höheren Lebens- und Wohnqualität erzielt werden. Der Einwand heutiger Zeitgenossen und scheinheiliger Zeigefingerakrobaten, dass durch Einschränkung der Meinungsfreiheit doch ein hoher Preis in Rechnung gestellt wurde, greift in dieser Zielgruppe nur rudimentär, rundete er gerne ab.