Читать книгу DIE VERSCHWÖRUNG DER SCHATTEN - Sören Prescher - Страница 11
3 – Norman
ОглавлениеDer Morgen begann so, wie der Abend davor geendet hatte. Die Blessuren und Schürfwunden versicherten mir beim Aufstehen, dass sie mich den ganzen Tag an den Überfall erinnern würden. Kopfschmerz und Müdigkeit begleiteten mich ins Badezimmer. Hinzu kam, dass mir der Kaffee ausgegangen war. Auch der Arbeitstag entwickelte sich zur mittleren Katastrophe.
Obwohl ich meinen Job seit fast zwanzig Jahren ausübte, war ich noch immer nicht so abgebrüht, dass mir manche Dinge nicht trotzdem an die Nieren gingen. Wenn, so wie heute, die Leiche eines kleinen Mädchens gebracht wurde, das die Eltern hatten verhungern lassen, und ich auch noch jener Unglückselige war, der die Obduktion vornehmen musste, kamen sofort alle Zweifel wieder hoch.
Am Anfang meiner Karriere war ich voller Hoffnung und Tatendrang gewesen. Ich hatte die Gerichtsmedizin als detektivischen Geniestreich gesehen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Doch dies hier war nicht CSI oder irgendeine andere Medical-Detectives-Show. Es ging nicht darum, nahezu perfekte Verbrechen aufzuklären oder im Schicki-Micki-Milieu zu ermittelten. Ständig kamen Leute auf grausame Weise ums Leben oder töteten sich selbst, sodass es mir zunehmend schwerer fiel, an das Gute im Menschen zu glauben. Wahrscheinlich lächelte ich deshalb so selten.
An Tagen wie diesem fragte ich mich ernsthaft, ob ich den Job bis zur Pensionierung durchhalten würde. Manchmal war es einfach nur beängstigend. Das vollkommene Gegenteil dessen, was ich früher einmal darin gesehen hatte. Andererseits: So lange es Gewaltverbrechen und – zumindest auf den ersten Blick – unnatürliche Todesfälle gab, besaß ich einen krisensicheren Job. Das war in der heutigen Zeit keine Selbstverständlichkeit.
Die Autopsie des Mädchens hatte mich bis zum frühen Nachmittag beschäftigt, doch auch danach wurde der Tag nicht besser. Zwar bekam ich keine weitere Leiche auf den Obduktionstisch, aber in Ruhe meine Berichte abzuarbeiten, war ebenfalls unmöglich. So abwegig dies für Außenstehende klingen musste, aus dem Leichenschauhaus waren wieder einmal Leichen verschwunden bzw. kurzfristig verlegt worden, wie es mir der Verantwortliche erklärte. Kurz gesagt: Die Leute hatten keine Ahnung, wo sich die toten Körper derzeit befanden.
Wenn sich so etwas als einmalige Sache entpuppt hätte, wäre es noch zu verkraften gewesen, aufgrund der Unfähigkeit bestimmter Behörden und Personen, geschah so etwas sehr viel häufiger, als man es sich vorstellte. Möglicherweise hatte nur jemand in der Verwaltung geschlampt oder einer hatte die falsche Lieferung in Auftrag gegeben. Zig Erklärungen waren möglich und keine einziger davon gefiel mir. Trotz allem war ich überzeugt davon, dass wir die Toten mit Respekt behandeln sollten. Schließlich endeten wir alle früher oder später zugedeckt auf einer metallenen Bahre.
Wie alle Menschen, wusste ich einen Platz, an den ich dachte, wenn mir die Arbeit über den Kopf wuchs. Allerdings war dies bei mir kein Heim mit Frau, Kindern und einem zahmen Golden Retriever. So etwas besaß ich schon lange nicht mehr. Bei mir war es die Bar meines Freundes Joe. Auch an diesem Abend war mein Buick unterwegs dorthin und ich freute mich darauf, die bekannten Gesichter wieder zu sehen. Eventuell würde ja Lennie vorbeischauen und mir mein Geld zurückzahlen. Oder Joe erzählte mir mehr von seinen Jazz- und Blues-Konzert-Plänen.
An die Frauenstimme von gestern Abend vermied ich jedweden Gedanken. Ebenso an den Überfall auf dem Weg zum Auto. Dies waren einfach bizarre Vorfälle, über die sich niemand den Kopf zerbrechen sollte. Jeden Tag geschahen Dinge, die nicht wirklich viel Sinn ergaben. Die Nachrichten waren voll davon.
Zur Einstimmung auf den Kneipenabend hatte ich mir einen Radiosender eingestellt, dessen Musikprogramm dem von Joe sehr ähnlich war: Stones, Springsteen, Led Zeppelin und die Doors drückten sich hier für gewöhnlich die Klampfe in die Hand. Und da Gott ein Typ mit viel schwarzem Humor war, lief momentan ein Song, der nicht unpassender hätte sein können: Lou Reed's Perfect Day. Ich mochte den Song, obwohl mein heutiger Tag sehr weit davon entfernt gewesen war, perfekt zu sein.
Während ich den Buick von einer Straße in die nächste lenkte, malte ich mir aus, wie köstlich Joes Bier schmecken würde. Herrlich prickelnd und angenehm kühl. Den Geschmack spürte ich bereits auf der Zunge. Dazu ein Schinken-Käse-Sandwich oder was die Küche sonst hergab. Eine Sekunde lang war ich in Gedanken und genau in dieser Sekunde passierte es.
Es war fünfzig Meter hinter der grünen Ampel und es war die Hauptverkehrsstraße. Wie aus dem Nichts tauchte vor mir ein Mann auf der Straße auf. Ich erschrak und biss die Zähne zusammen. Mein rechter Fuß wechselte vom Gaspedal zur Bremse und trat sie bis zum Bodenblech durch. Die Reifen quietschten, aber der Wagen raste trotzdem unablässig auf den potenziellen Selbstmörder zu. Der Bremsweg war viel zu kurz, um den Wagen rechtzeitig zum Stehen zu kriegen. Also riss ich das Lenkrad herum und hätte um ein Haar einen entgegenkommenden Nissan gerammt. In letzter Sekunde lenkte ich gegen und brachte den Buick damit vollends ins Trudeln.
Der Nissanfahrer bedankte sich mit lautstarkem Hupen, aber das bekümmerte mich nicht. Eine Sekunde lang befürchtete ich, die Kontrolle über den Wagen verloren zu haben. Ich schwitzte Lava, verkrampfte mich, rechnete damit, gleich irgendwo dagegen zu knallen. Dann verringerte sich die Geschwindigkeit. Der Buick kam mit quietschenden Reifen zum Stehen.
Mein Herz hämmerte im Maschinengewehrsalventakt, meine Knie zitterten. Doch da war noch etwas Anderes: Eine gewaltige Wut auf den Wahnsinnigen, der völlig ohne Sinn und Verstand auf die Fahrbahn gelaufen war. Also sprang ich aus dem Wagen und freute mich darauf, den Wahnsinnigen zur Schnecke machen. Hatte er keine Augen im Kopf? Selbst ein Blinder hätte die herannahenden Wagen bemerkt. Nach einem langen und harten Arbeitstag war das genau das Richtige, um angestaute Aggressionen loszuwerden.
Beim Näherkommen sah ich allerdings, dass mit dem Fremden etwas nicht stimmte. Sein Gesicht war bleich und seine Arme hingen hinab. Den Oberkörper hielt er merkwürdig nach vorn gebeugt und er schleppte sich mehr, als dass er lief. Dieser Mann war nicht achtlos auf die Straße gelaufen. Er war völlig desorientiert, was entweder auf Trunkenheit oder Drogenkonsum zurückzuführen war. Augenblicklich hatte ich die Bilder von den Drogenleichen im Kopf, wie sie manchmal auf meinem Obduktionstisch landeten.
Wahrscheinlich hatte er nicht mal bemerkt, dass er sein und das Leben vieler anderer aufs Spiel gesetzt hatte. Zuerst wollte ich ihn als verdammten Cracksüchtigen abstempeln, wie sie es hier in rauen Mengen gab, doch etwas widersprach dieser Theorie aufs Heftigste: Der Mann schien mit den Kräften vollkommen am Ende zu sein. Außerdem lag etwas Gehetztes und Verzweifeltes in seinem Gesicht. Meine Wut verpuffte und wurde durch Mitleid ersetzt.
Ich drehte ihn vorsichtig an der Schulter herum. Er war Anfang dreißig, hatte schwarzes Lockenhaar und ein ausgemergeltes Gesicht. Dunkle Augenringe, einen matten Ausdruck in den Pupillen und ein mit Schmutz und Abschürfungen übersätes Kinn. Passend dazu waren seine Lippen rissig und bluteten. Vielleicht hatte er sich mit einer Krankheit infiziert.
»Bitte hilf mir«, stammelt der Fremde und stützte sich auf mich. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn aufzufangen und ihn trotz meiner schmerzenden Schulter nicht fallen zu lassen. In dem Moment kam ich mir ebenfalls hilflos vor. Warum ich, fragte ich mich und bereute es, heute nicht eine andere Strecke gefahren zu sein.
Eine Handvoll Schaulustiger sammelte sich an, doch nicht einer kam auf die Idee, mir zur Hand zu gehen. Verdenken konnte ich es ihnen nicht, vermutlich hätte ich an ihrer Stelle nicht einmal angehalten. Vorsichtig drückte ich den Fremden von mir weg, um ihn etwas zu fragen. Als sein Kopf zur Seite sackte, wusste ich, dass auch das zwecklos war. Der Mann war ohnmächtig, vielleicht Schlimmeres. Blutflecken auf seinem ehemals hellgrauen Pullover nährten meine Befürchtungen. Ich suchte nach einem Puls und atmete erleichtert auf. Wenigstens den gab es noch.
Abermals warf ich den Schaulustigen einen hilfesuchenden Blick zu, doch es schien noch immer besser zu sein, das Ganze aus sicherer Entfernung zu beobachten. Wahrscheinlich dachten sie ebenfalls, dass es sich um einen Haschbruder handelte, der einfach zusammengeklappt war.
Was nun? Ihn an den Straßenrand legen und zusehen, dass ich verschwand? Im Grunde genommen ging mich der Typ nichts an. Dennoch brachte ich es nicht übers Herz. Irgendwer musste ihm helfen und so, wie es schien, kam ich als Einziger dafür infrage.
Großartig. Einfach nur großartig.
Ihn zum Wagen zu schleppen, war anfangs nicht problematisch, doch nach der Hälfte der Strecke verdoppelte Locken-Johnny plötzlich sein Gewicht. Ich keuchte vor Anstrengung und war heilfroh, als ich das Auto erreichte. Blieb die Frage, wie ich ihn gleichzeitig festhalten und die Beifahrertür öffnen sollte.
Ich lehnte den Bewusstlosen an den Buick und presste ihn mit meinem Körper dagegen. Auf diese Weise verhinderte ich, dass er fallen konnte, und hatte die Hände frei, um die Tür zu öffnen. Als ich den Fremden auf den Beifahrersitz verfrachtete, bedankte sich mein Rücken stichhaltig dafür.
Schweißnass lief ich zur Fahrerseite und verfluchte meine Hilfsbereitschaft.
Auf dem Fahrersitz überprüfte ich nochmals seinen Puls. Er schlug regelmäßig. Die Atmung schien ebenfalls in Ordnung zu sein. Dennoch war er nach wie vor ohne Bewusstsein. Außerdem stank er, als hätte er tagelang keine Dusche gesehen.
Während ich den Motor anließ, warf ich einen grimmigen Blick hinaus. Die Schaulustigen gafften, als wäre ich eine barbusige Blondine in einer Peepshow. Am liebsten hätte ich das Lenkrad herumgerissen und einige von ihnen aufs Korn genommen. Es blieb beim Wunschdenken und ich war froh, als ich an der nächsten Kreuzung abbiegen konnte.
Ich war nicht mal besonders schnell unterwegs, aber ein Bewusstloser konnte sich trotzdem nicht festhalten. Sein Kopf knallte gegen meine Seite und verharrte dort regungslos. Verdammt, warum hatte ich daran nicht früher gedacht? Ich hielt an, schob ihn auf den Beifahrersitz zurück und legte ihm einen Gurt an. Worauf hatte ich mich da nur eingelassen?
Über die geistige und körperliche Verfassung meines Beifahrers wusste ich genauso wenig wie darüber, warum er so übel zugerichtet war. Möglicherweise saß neben mir ein Serienmörder. Genauso gut konnte er, so wie ich gestern Abend, nur knapp einem Überfall entkommen sein. Eigentlich stand es mir gar nicht zu, Mutmaßungen über ihn oder seinen Gesundheitszustand anzustellen. Dafür gab es Fachleute im Krankenhaus.
Zum Glück lag die nächste Notfallambulanz nicht weit entfernt. Sobald ich den Verletzten abgeliefert hatte, würde ich zu Joe fahren und mir mein verdientes Bier gönnen. Ich konnte es kaum erwarten.
Ohne es zunächst zu bemerken, summte ich leise vor mich hin. Vermutlich, um meine Nervosität zu überspielen. Normalerweise kam es in meinem langweiligen Leben nicht vor, dass ich um ein Haar einen Fußgänger unter die Räder bekam und mich gleich darauf als guter Samariter entpuppte. Üblicherweise war ich bloß ein unscheinbares Gesicht in der Menge, das nicht auffallen wollte und dennoch nach Existenzberechtigung suchte.
Durch mein Summen wurde mir bewusst, dass nach wie vor das Autoradio dudelte. Vor lauter Aufregung war dies völlig untergegangen. Lou Reeds Ablösung bestand aus CCRs Bad Moon Rising, einer flotten Rocknummer, die ich immer gern hörte. Heute allerdings nicht. Es traf mich wie ein Kanonenschlag. Da war wieder eine Stimme, die meinen Namen rief!
»Nathaniel«, flüsterte sie unglaublich leise, doch ich verstand sie trotzdem. Genau wie gestern schien sie aus den Lautsprecherboxen heraus mit mir zu kommunizieren. Aber es war kein Dèjá-vu und auch keine Wiederholung. Gestern in Joes Bar war es eine Frauenstimme gewesen, nun hörte ich einen Mann. An der schaurigen Situation änderte es allerdings nichts.
Von meinem bewusstlosen Beifahrer konnten die Laute nicht stammen. Außerdem kannte er meinen Namen nicht. Wer war es dann? Woher kannte die Stimme mich? Was wollte sie von mir? Wieder hatte ich das Gefühl, dass der Wahnsinn seine langen Finger nach mir ausstreckte.
»Nat …«
Mein Herz setzte vor Schreck einen Schlag aus. Abgesehen von einem kleinen Straßenschwenker blieb jegliche Folgereaktion aus.
»Tu es nicht.«
Was sollte ich nicht tun? Ich kam mir vor wie ein Esel bei der Bergpredigt. Noch etwas fiel mir auf: Auch die männliche Stimme passte sich der Musik und dem Gesang an. Sie erklang nur, wenn sie sicher sein konnte, dass sie nicht von anderen Lauten übertönt wurde.
»Nathaniel … tu es nicht«, flüsterte der Radiomann wieder.
War es wirklich bloß ein Stressprodukt, das sich mein Geist einbildete, um den Arbeitsstress zu kompensieren? Die Stimme kannte nicht nur meinen Namen, sondern übermittelte mir Botschaften. Was außer einer beginnenden Schizophrenie sollte es sonst sein? Das machte mir mehr Angst als alles andere.
Ich war so frustriert, dass ich das Radio abstellen wollte. Die Hand hatte ich bereits ausgesteckt, als ein leises Stöhnen ertönte. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass die Geräusche nicht aus dem Radio, sondern vom Beifahrersitz kamen.
Der Fremde war aus seiner Ohnmacht erwacht. Langsam richtete er sich auf und verzog schmerzvoll sein Gesicht.
»Alles okay?«, fragte ich und wusste auch ohne seine Antwort, dass es nicht so war. Der Mann sah aus, als wäre er frontal vom Güterzug gerammt geworden.
»Wohin fährst du mich?«
»Ins Krankenhaus. Keine Sorge, wir sind gleich …«
Weiter kam ich nicht, denn Locken-Johnny versuchte, meinen Arm zu sich zu ziehen. Dumm nur, dass ich mit der rechten Hand das Lenkrad festhielt und der Buick dadurch einen gefährlichen Schlenker machte. Die Reifen quietschten. Ein weiteres Mal befürchtete ich, die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Der entgegenkommende Autofahrer hupte wütend. Die Scheinwerfer von der Gegenfahrbahn steuerten direkt auf uns zu. Im Geiste hörte ich es bereits knallen. Im letzten Moment zog der andere Fahrer seinen Wagen zur Seite. Ich keuchte vor Erleichterung.
Inzwischen hatte die Leuchte auf dem Nebensitz seinen Fehler eingesehen und meinen Arm losgelassen. Mein Fuß blieb auf der Bremse und ich versuchte, den Wagen unter Kontrolle zu bekommen. Die Reifen quietschten noch einige Male, ansonsten sah es gut aus.
»Kein Krankenhaus. Ich bin okay.«
»Ja, und der Papst raucht Crack. Das glaubst du doch allein nicht.«
»Kein Krankenhaus«, wiederholte er und setzte sich richtig auf. Sein Blick war ebenso grimmig wie entschlossen. Keinen Zweifel, er meinte es tatsächlich ernst. »Lass mich einfach an der nächsten Ecke raus. Mir geht's gut. Nur ein leichter Schwächeanfall.«
Seine Worte klangen ehrlich, widersprachen aber vollends dem, was ich auf dem Sitz neben mir erblickte. Ich brauchte keine Medizinkenntnisse, um zu sehen, dass der Bursche völlig am Ende war. Rein äußerlich wies er keine schwerwiegenden Verletzungen auf, lediglich ein paar Kratzer, die von allein heilen würden. Doch wer außer ihm wusste, was für Wunden er unter der Kleidung verbarg?
»Glaub mir, es ist alles in Ordnung.«
Ich war noch immer nicht überzeugt, aber wenn es wirklich sein Wunsch war, würde ich ihn am Straßenrand aussteigen lassen. Er hatte gewiss seine Gründe, in keine Notaufnahme gehen zu wollen. Mit einer fehlenden Krankenversicherung hatte es vermutlich nichts zu tun. Aber ich war klug genug, nicht nachzuhaken. Das Bier in Joes Bar rückte näher. Das war alles, was mich interessierte.
Am Straßenrand parkte eine Stoßstange an der nächsten, doch fünfzig Meter vor uns mündete eine Gasse in unsere Straße. Ich brachte den Buick davor zum Stehen.
»Danke fürs Mitnehmen«, sagte der Fremde. »Ich hoffe, ich habe dir nicht allzu große Umstände gemacht.«
»Nicht im Geringsten. Ich les gern Leute auf, die mir vor den Kühler springen.«
»Entschuldige nochmals. Ich war irgendwie nicht ganz bei der Sache.«
»So kann man das auch ausdrücken.«
Beim Aussteigen lächelte er dünn. So wie die Beifahrertür ins Schloss fiel, folgte ihm mein Blick in die Seitengasse. Dank der städtischen Sparmaßnahmen gab es nur wenige Straßenlaternen, sodass der Fremde schon fast vollständig in der Dunkelheit verschwunden war. Trotzdem sah ich, dass er sich nur zögernd bewegte.
Gerade als ich losfahren wollte, blieb er ganz stehen. Was denn jetzt? Er verharrte eine Sekunde lang, dann drehte er sich abrupt um und rannte so schnell er konnte zu mir zurück. Entweder war er zornig oder auf der Flucht. Keine der Möglichkeiten gefiel mir. Ich wollte Gas geben, aber etwas hielt mich zurück. Bevor ich mich versah, riss er die Beifahrertür auf.
»Fahr! Schnell! Sie dürfen uns nicht erwischen.« Eine Sekunde später hatte er bereits von innen die Tür verriegelt.
»Wer darf uns nicht erwischen?«
»Die dunklen Männer. Sie werden gleich hier sein. Dann sind wir verloren.« In seinen Augen sah ich so viel Panik, wie nie zuvor in meinem Leben. »Los, schnell!«
Ich verstand nach wie vor nicht und lugte an ihm vorbei in die Seitenstraße. Da war nichts außer Schwärze. Im selben Moment wie ich mich genervt abwenden wollte, fiel mir in der Finsternis eine Bewegung auf. Ich sah nicht genau, was es war, aber es genügte, dass sich meine Nackenhaare aufstellten.
Gleichzeitig musste ich an die geheimnisvollen Helden denken, die mir vergangene Nacht das Leben gerettet hatten. Allerdings vertrug sich diese Erinnerung überhaupt nicht mit dem, was Mr. Schwach-und-Ausgemergelt gesagt hatte.
»Los, fahr schon!«, erinnerte er mich. »Wenn sie uns erwischen, sind wir beide verloren. Dann ist alles vorbei.« Seine Worte beunruhigten mich und setzten sich weiter unter Druck. Wer auch immer die Verfolger waren, es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis sie den Buick erreichten.
Hastig legte ich den Rückwärtsgang ein und stieß einige Meter zurück. Als der Wagen wieder nach vorn schoss, waren die Schatten unglaublich nah. Normalerweise hätten die Verfolger spätestens jetzt deutlich sichtbar sein müssen, doch ich sah nichts außer Schemen in der Dunkelheit.
Wie konnte das sein?
Ich spürte, wie sich mir die Härchen entlang der Wirbelsäule aufrichten. Mein Magen verkrampfte sich. Die Panik meines Beifahrers sprang auf mich über, obwohl ich nicht einmal wusste, wovor wir eigentlich flohen.
Minutenlang düsten wir kreuz und quer durch die Stadt. Erst nach einer Million Querstraßen und Abzweigungen verschwand die Gänsehaut. Mein Begleiter sah ebenfalls entspannter aus, völlig beruhigt wirkte er aber nicht. In seinen Augen stand nach wie vor deutlich die Angst geschrieben und ich überlegte, ob sie möglicherweise vom ersten Moment unseres Treffens an da gewesen war.
Die Lust auf ein kühles Bier war mir vergangen. Stattdessen dürstete es mir nach Antworten auf eine Menge offener Fragen. Ein Happen Essen wäre ebenfalls nicht schlecht. Letzteres hatte für mich Priorität, denn mit vollem Bauch konnte ich besser nachdenken. »Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber mir hängt der Magen in den Kniekehlen.«
Keine Reaktion. Sein ausgemergeltes Gesicht sagte allerdings mehr als tausend Worte.
»Wann hast du das letzte Mal was gegessen?«
Er zuckte mit den Schultern und starrte aus dem Fenster. Er schien jede Straße und Gasse nach möglichen Verfolgern abzusuchen. In dem Moment tat er mir einfach nur leid und ich beschloss, ihn einzuladen. Vielleicht nicht unbedingt ins teuerste Restaurant der Stadt, denn das gab mein Geldbeutel nicht her. Außerdem trugen weder er noch ich die dafür passende Kleidung. Ein Besuch in einem Burgerlokal dürfte allerdings drin sein.
Nahm ich an, doch als ich beim nächsten Wendy's auf den Parkplatz einbogen, schüttelte er den Kopf. »Da geh ich nicht rein. Wahrscheinlich gibt es überall Kameras. Außerdem weiß man nie, wer sich dort herumtreibt.«
Die Antwort ließ tief blicken, aber ich vermied die Diskussion bewusst. Ich stoppte lediglich den Wagen. »Irgendwas müssen wir essen.«
»Nicht hier drinnen.«
Zwei Sekunden dachte ich über seine Worte nach, dann lenkte ich den Buick zum Drive-in. Schließlich hatte er nur gesagt, dass er nicht ins Schnellrestaurant wollte. Als mein Beifahrer sah, was ich vorhatte, schmunzelte er leicht. Ich deutete es als Zustimmung.
Während wir auf das Bestellterminal zurollten, erfuhr ich, dass mein neuer Freund Norman Hancock hieß. Ich nannte ihm meinen Namen und bot ihm an, mich Nat zu nennen. Schließlich taten das alle.
Mit dem Geruch der Hähnchenburgermenüs in der Nase lenke ich den Buick durch eines der letzten Gettogebiete, bevor das Industriegebiet begann und den Stadtrand einläutete. Wir passierten schäbige Mietkasernen, die spätestens zur Jahrtausendwende hätten saniert werden müssen. Die Gegend selbst war ebenso schmutzig wie ungemütlich und vom Stadtrat vermutlich komplett vergessen. Niemand, der klar bei Verstand war, trieb sich hier abends allein auf der Straße herum. Aber selbst bei den entgegenkommenden Autos konnte man nicht sicher sein. Drive by shooting funktionierte nicht nur in Richtung Bürgersteig.
Entsprechend nervös waren die Blicke, die ich auf Wagen und Fußweg warf. Die Häuserwände waren voll mit den Graffiti rivalisierender Straßengangs. Aber vielleicht war da noch mehr. Für einen Moment vergaß ich meinen Hunger. Heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit hatte ich mich ständig nach der Krakelei umgeschaut, die mir gestern Abend aufgefallen war. Zweimal hatte ich sie entdeckt. Warum es mich überhaupt interessierte, wusste ich nicht. Wahrscheinlich, weil ich noch immer nach einem tieferen Sinn darin suchte.
Als ich den Schriftzug nirgendwo erblickte, nahm ich an, die Hobbypoeten hätte sich in diesen Teil der Stadt noch nicht vorgewagt. Dann stach es mir ins Auge. Es war zweifelsohne nicht dieselbe Handschrift, und in neongrün hatte ich es bislang auch nicht gesehen, aber die Worte an der brüchigen Ziegelsteinmauer waren definitiv dieselben: Der König ist tot.
»Da ist es wieder. Meine Lyrikfreunde sind sehr tüchtig.«
»Bitte was?«
»Ach, nix. Ich habe mich nur gewundert, wo ich diesen Spruch überall lese.« Ich zeigte auf den Satz, den ich nun bereits zum fünften Mal zu Gesicht bekam. »Man könnte annehmen, die Worte verfolgen mich. Seit gestern lese ich sie ständig.«
Norman schaute an mir vorbei aus dem Fenster, aber wir waren zu schnell unterwegs, als dass er das Graffiti noch hätte lesen können. »Was war das denn für ein Spruch?«
»Ach, nix Wichtiges. Der König ist tot. Das steht ständig irgendwo. Ist vermutlich bloß die Werbung zu einem neuen Film oder Computerspiel.«
»Oh, nein.« Sein ohnehin blasses Gesicht wurde schlagartig kalkweiß. Die Augen weiteten sich und sein Kopf zuckte wie bei einem epileptischen Anfall.
»Alles in okay bei dir? Was hast du?« Einmal mehr bekam ich es mit der Angst zu tun.
Er reagierte nicht und starrte mit einer Miene aus dem Fenster, als hätte er gerade vom Weltuntergang erfahren. Fünf Sekunden später sank er wie ein nasser Sack auf den Beifahrersitz zurück. »Nein, das kann nicht wahr sein. Noch nicht.« Er schien am Ende zu sein. Sowohl körperlich, als auch geistig. Was mich betraf – ich verstand wieder mal nur Bahnhof. »Was kann nicht wahr sein?«
Seine Lippen zitterten wie die eines alten Mannes. »Es ist zu spät. Wir sind verloren. Jetzt kann sie niemand mehr aufhalten.«
»Wen kann niemand mehr aufhalten? Was ist zu spät?« Mehr als zuvor wollte ich Antworten, denn je bestürzter und fassungsloser Norman aussah, desto banger wurde auch mir. Am schlimmsten war jedoch, dass ich nicht einmal wusste, wie ich auf all das reagieren sollte. So viele seltsame Dinge waren seit gestern geschehen. Bestand ein Zusammenhang? Einmal mehr befürchtete ich, kurz vor dem Durchdrehen zu stehen.
»Das kann nicht sein«, flüsterte Norman immer wieder und verschaffte mir eine Gänsehaut. »Das kann einfach nicht wahr sein. Ich dachte, ich hätte mehr Zeit.«
Fünf Minuten lang schwiegen wir. Die einzigen Geräusche kamen von den Rädern, die über die schlecht asphaltierte Straße donnerten. Der Motor tuckerte leise vor sich hin. Die Zahl der Wohnhäuser nahm weiter ab, dafür stieg die Anzahl leer stehender Fabrikhallen und wild wuchernder Pflanzen. Wir befanden uns am Stadtrand.
Weit weg von dunklen Männern und geheimnisvollen Graffiti. Unser Ziel war ein vor Jahren Pleite gegangenes Motel, an dem der Zahn der Zeit wie verrückt genagt hatte. Als ich den Buick auf den verlassenen Parkplatz daneben lenkte, sah ich, dass die Fensterscheiben des Hauses eingeworfen und die dünnen Holzwände fleckig wie die Unterhosen eines Kleinkindes waren. Ein lauschiges Plätzchen, an dem wir hoffentlich ungestört bleiben würden.
Normans Blick blieb skeptisch, aber das war mir egal. Wenn er keine Kameras und sonstige ungewollte Aufmerksamkeit haben wollte, war dieser Platz ideal. Ich parkte den Buick mit Blick zur Straße, direkt unterhalb einer schwach leuchtenden Laterne.
Für den Moment waren bloß die Gockelburger relevant. Normalerweise war ich kein großer Freund von Fast Food, aber im Augenblick hätte ich eine lädierte Schuhsohle samt schweißgetränkter Socke verdrückt. Norman schien es ähnlich zu gehen. So schnell, wie er sein Essen verschlang, hatte er wahrscheinlich seit Tagen nicht viel zu sich genommen.
Als die Fensterscheiben beschlugen, kurbelte er die Scheibe auf der Beifahrerseite einen Spaltbreit herunter. Ein kühler Luftzug blies den Hähnchenmief nach draußen.
Norman wusste, dass ich ein paar Antworten haben wollte. Dennoch zögerte er und hätte wohl weiterhin geschwiegen, hätte ich das Thema nicht angesprochen. Er nickte und starrte mit angespannter Miene hinaus in die Finsternis.
»Die Leute, die mich verfolgen, nenne ich die dunklen Männer. Keine Ahnung, wie sie wirklich heißen. Ich weiß nicht, ob oder was du von ihnen gesehen hast. Meistens sind sie bloß Schatten, die in und aus der Finsternis auftauchen. In der Regel an Orten, wo du sie nie vermutet hättest. Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, wie sie es anstellen, aber sie scheinen immer ganz genau zu wissen, wo ich mich aufhalte. Zumindest so lange ich mich in der Stadt unter freiem Himmel aufhalte. In Gebäuden haben sie ihre Schwierigkeiten. Keine Ahnung, wie das mit Autos und völlig abgelegenen Gebieten ist.«
»Diese dunklen Männer …«, begann ich. Abermals dachte ich an den Überfall von letzter Nacht und meine unbekannten Retter. Auf sie traf die Beschreibung ebenfalls zu.
»Sie scheinen nicht nur aus der Finsternis aufzutauchen, sondern ein Teil davon zu sein. Ihre Gesichter habe ich nie vollständig gesehen, immer nur Andeutungen. Sofern überhaupt. Die Nacht ist ihr Verbündeter. Je dunkler es ist, desto stärker sind sie. Und sie sind überall. Etliche Male haben sie mir aufgelauert und zweimal bin ich nur knapp mit dem Leben davon gekommen. Ich kannte andere, die weniger Glück hatten.«
Die letzten Worte sprach er im Flüsterton und machte sie damit noch unheimlicher. Ein Schauer jagte mir den Rücken hinab. Je länger ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich, diese mysteriösen Männer ebenfalls getroffen zu haben. Allerdings unter völlig anderen Umständen. Sie waren keine Feinde, sondern meine Beschützer gewesen. Ohne sie wäre der Kampf mit dem Skimaskenräuber vielleicht ganz anders ausgegangen. Was mir allerdings jetzt erst auffiel: Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie die hilfsbereiten Schwarzträger meinen Angreifer überhaupt ausgeschalten hatten. Alles war viel zu schnell gegangen. Doch das war für den Moment meine geringste Sorge. »Wovor bist du auf der Flucht?«
Er blähte die Backen auf. »Schwer zu sagen. Obwohl es im Grunde genommen so simpel ist. So lange der König lebte, war alles in bester Ordnung. Jetzt ist er tot und alles wird sich ändern. Nichts kann sie jetzt noch aufhalten.«
»Welcher König? Wer kann nicht mehr aufgehalten werden? Und warum? Was wird sich ändern?«
»Alles.« Er hielt inne und sein Blick huschte unruhig von einer Fensterseite zur anderen. »Hast du das auch gehört?«
»Was soll ich gehört haben? Hier ist doch …«
Weiter kam ich nicht. Norman unterbrach mich mit einem knappen aber ebenso bestimmten »Pscht!«. Widerwillig lauschte ich der Stille um uns herum. Doch wie sehr ich mich auch anstrengte, ich vernahm lediglich das Heulen des Novemberwindes. Und der klang so vertraut wie eh und je.
»Hier ist nichts«, flüsterte ich, aber Norman starrte unbeirrt aus dem Fenster. In diesem Moment erschien er mir wie ein Geisteskranker. Wen zum Teufel hatte ich mir da ins Auto gelassen? Wie wurde ich ihn wieder los? Allerdings besaß er das Talent, mich mit seiner panisch-verrückten Art anzustecken.
Das schafften sonst nur wenige.
Ich lauschte ebenfalls mit gespanntem Blick in die Dunkelheit. Mit dem gleichen Erfolg wie zuvor. Da war nichts und würde wahrscheinlich auch nie was sein.
Doch halt!
Gerade als ich meine Fragen wiederholen wollte, vernahm ich ein leises Rascheln, das ich normalerweise überhört hätte. Es klang, als würde eine alte Zeitung oder Laubblätter herumgeweht werden. Mein Begleiter schien in sich zu schrumpfen und suchte die Außenwelt mit zu Schlitzen verengten Lidern ab.
»Vielleicht war es nur der Wind«, versuchte ich, das Geräusch zu verharmlosen, glaubte aber von Sekunde zu Sekunde weniger daran. Das Rascheln klang anders … irgendwie fremd. Verflucht, warum hatte ich überhaupt hier draußen geparkt? Der Lichtkegel der Straßenlaterne reichte keine fünf Schritte.
Alles, was ich sah, war eine flüchtige Bewegung. Möglicherweise von einem umherstreunenden Tier. Möglicherweise nicht.
»Hast du das gesehen?«, fragte Norman leise. »Wir fahren besser.«
Ich spürte ein unangenehmes Kribbeln. Zuerst nur in den Fingern, wenig später ebenso im Bauch. In der Innenstadt gab es so viele beleuchtete Plätze. Wenn das, was Norman sagte, stimmte, war die Dunkelheit im Augenblick sein beziehungsweise unser größter Feind. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wieso hatte Norman dann nichts gesagt, als wir zum Stadtrand fuhren? Hatte er tatsächlich geglaubt, dass wir im Auto sicher wären?
Ich sehnte mich nach Licht, selbst eine dünne Taschenlampe wäre mir recht gewesen … Taschenlampe? Licht? Augenblick! Wieso zum Teufel war ich nicht früher darauf gekommen? Jeder verdammte Idiot hätte zuallererst an die Autoscheinwerfer gedacht. Sofort behob ich meinen Fehler, wünschte mir aber noch im selben Atemzug, es nicht getan zu haben.
Da draußen befand sich tatsächlich etwas. Es bewegte sich auch nicht bloß von einer Seite her, sondern schien aus allem Richtungen gleichzeitig zu kommen. Manchmal wirkte es wie Nebelschwaden, mal wie verschiedene Personen. Nichts, was sich tatsächlich erkennen oder zuordnen ließ. Dennoch genügte es, mich noch mehr einzuschüchtern. Mein Mund wurde staubtrocken und mein Puls raste.
Ich wollte das alles nicht und hätte in diesem Moment lieber bei Joes eine Saalrunde geschmissen, als hier zusammen mit Norman in der Finsternis zu hocken. Sämtliches Blut war aus meinen Händen gewichen.
Plötzlich wurde das Bild klarer. Abseits der grellen Scheinwerfer stand sie: Undefinierbare Gestalten, alle in Finsternis gehüllt, so als wären sie ein Teil davon. Mal sah ich die Andeutung eines bleichen Kinns oder einer Stirn, jedoch nie das komplette Gesicht.
Ein wenig erinnerten sie mich an die Nazgûl, die Ringgeister aus Tolkiens Der Herr der Ringe. Keine besonders angenehmen Zeitgenossen, wenn ich mich recht an die Verfilmung erinnerte.
Es wurde noch schlimmer: Die Lehren von Optik und Licht schienen nicht mehr zu stimmen. Mein an Naturgesetze glaubendes Gehirn weigerte sich, die Tatsachen zu akzeptieren, die mein Auge aufnahm. Die Gesichtslosen standen nur wenige Meter vor dem Auto. Und dennoch erfassten die Scheinwerfer sie nicht. Das Licht schien regelrecht von ihnen verschluckt zu werden. Dahinter herrschte dieselbe Dunkelheit, die wir auch links und rechts vom Auto sahen.
»Das ist unmöglich«, war das Einzige, was ich herausbrachte.
»Wirf den Motor an!«, rief Norman. Er klang kilometerweit entfernt. »Schnell! Sie haben uns gefunden.«
Erst, als er an mir rüttelte, erwachte ich aus der Starre. Zitternd drehte ich den Zündschlüssel um. Das Motortuckern klang noch nie so willkommen. Ich trat das Gaspedal durch und versuchte parallel dazu noch immer, die Wesen in der Finsternis auszumachen. Zwei von ihnen standen regungslos vor den Buickscheinwerfern. Doch wo war der Rest?
Etwas klatschte gegen die Beifahrertür. Erschrocken fuhr ich herum. Eine blassweiße Hand klebte am Fensterglas. Einen Augenblick lang glaubte ich, Teile einer kantigen Nase, und eines spitzen Kinns in der Finsternis auszumachen. Es war kein Knochenschädel aber wie menschliche Haut sah es auch nicht aus. Das bildest du dir nur ein, schrie eine Stimme in meinem Kopf.
Ich gab weiter Gas und der Wagen schoss über den Parkplatz. Es kümmerte mich nicht, ob sich eines der Wesen direkt vor dem Kühlergrill aufhielt. Im Moment zählte nur unser Überleben und wie wir diesen Ort möglichst unversehrt verlassen konnten. Auch von links stürmten die Wesen auf uns zu. Ich versuchte, das Gaspedal weiter durchzudrücken. Es ging nicht, denn es klebte längst am Bodenblech.
»Schneller«, schrie Norman. »Du musst schneller fahren.«
»Ich tu, was ich kann. Mehr geht es nicht.«
»Du musst! Ansonsten sind wir verloren.«
Die Gestalt auf der rechten Wagenseite versuchte, die Hand durch den Fensterschlitz zu schieben. Es waren übermäßig lange Finger mit spitzen braunen Nägeln. Norman bemerkte es und kurbelte, was das Zeug hielt. Ein zorniges Fauchen ertönte und die Kreatur riss die Hand in die Finsternis zurück. Mein Herz pochte schneller, als ein Düsenjet fliegen konnte. Am liebsten hätte ich vor Panik geschrien. Stattdessen versuchte ich gewagte Schlenker, um den Widersacher endlich abzuschütteln.
Direkt vor mir erschien die Parkplatzausfahrt. Ich jagte darauf zu. Ein kurzer Blick zur Beifahrerseite. Unser ungebetener Passagier hatte sich von der Wagentür verabschiedet. War vielleicht einer aufs Wagendach geklettert? Gewiss hätten wir das mitbekommen.
Dann lag die Straße vor uns. Die Reifen quietschten, als wir darauf einbogen. Es klang wie Musik in meinen Ohren. Schweißnass preschte ich den grellen Großstadtlichtern entgegen. Von Finsternis hatte ich die Nase gestrichen voll.
Immer wieder schüttelte ich den Kopf, weil ich einfach nicht begreifen konnte, was gerade geschehen war. Noch gestern Morgen hatte ich ein langweiliges, aber in geordneten Bahnen verlaufendes Leben geführt. Inzwischen hörte ich Stimmen aus dem Radio und Norman war mir vor den Wagen gelaufen.
Alles hatte sich verändert.
Lag es an mir oder an der Welt selbst? Ich wusste es nicht. Auf einmal war ich mir bei fast gar nichts mehr hundertprozentig sicher. Das Schlimmste war, dass es kein Zurück mehr gab. So gern ich auch alles ausgeblendet und ignoriert hätte, es war unmöglich.
Während wir durch die Innenstadt fuhren, gestand mir Norman, dass er nicht wusste, wohin er gehen sollte. Da wir nach den zurückliegenden Ereignissen beide erschöpft waren, bot ich ihm an, bei mir zu übernachten. Es war verrückt, aber das traf auf alles zu, was ich in den vergangenen Stunden erlebt hatte.
Selbstverständlich protestierte Norman anfangs, doch letztendlich wusste er meinen Argumenten nichts entgegenzusetzen. Am triftigsten waren wohl die Punkte, dass er laut eigener Aussage in Gebäuden nicht aufzuspüren war und in meiner Wohnung eine äußerst bequeme Couch stand.
Eigentlich hatte ich vor, mir daheim bei einer guten Flasche Bier erzählen zu lassen, was genau es mit dem ominösen König auf sich hatte. Weitere Infos über die dunklen Männer wären ebenfalls nicht schlecht. Doch als wir die Wohnung betraten, hatte Norman nur noch zwei Fragen. Die erste stellte er mir noch auf der Türschwelle, nämlich ob ich verheiratet war. Meine knappe Antwort darauf lautete »Nein, nicht mehr« und er gab sich damit zufrieden. Als Zweites fragte er, ob man die Couch ausklappen konnte. Nachdem das erklärt war, vergingen keine fünf Minuten, bis er tief und fest schlief.
Ich fütterte noch meinen anderen Mitbewohner – einen für sein Gewicht viel zu klein geratenen Kater namens Joseph – und wollte mich ebenfalls hinlegen. Als ich an Normans Couch vorbeiging, vernahm ich ein leises Murmeln und beugte mich zu ihm hinab. Zwar verschluckte er die meisten Laute beim Aussprechen, dennoch waren Sätze wie: »Der König ist tot«, oder: »Was tun wir jetzt nur?«, deutlich zu verstehen. Ich runzelte die Stirn und verzog mich ins Bett. Es dauerte lang, bis ich endlich einnickte. Auch dann gelang es mir nur im Schein der Nachttischlampe.