Читать книгу Auf Messers Schneide - Sören Prescher - Страница 6
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ОглавлениеEs war bereits nach 21 Uhr, als sie den Tatort verließen. Die Luft roch nach Regen, aber zumindest im Moment war es trocken. Eine unangenehme Kälte zog auf und Mark wäre gern auf direktem Weg zu seinem Passat zurückgekehrt. Da hatte er die Rechnung allerdings ohne den Hund gemacht. Während Felix an einem Heckenzaun seine Blase erleichterte, griff Herrchen nach dem Telefon. Vorhin hatte er Caro eine kurze Nachricht geschickt, dass es bei ihm mal wieder etwas länger dauern würde. Außer einem einsilbigen OK war nichts zurückgekommen.
War sie sauer auf ihn? Einige Sekunden lang kramte er in seinem Gedächtnis, konnte sich jedoch nicht entsinnen, dass für heute ein Termin angestanden hatte. Vielleicht war seine Liebste auch einfach nur müde. Er jedenfalls hatte das Gefühl, dass der Grad seiner Erschöpfung mit jedem Atemzug zunahm. Er wollte nur noch heim, aufs Sofa sinken und für einige Stunden wenig bis gar nicht an die Arbeit denken. Es war ein langer Tag gewesen. Die Aussicht, dass der morgige vermutlich nicht viel kürzer ausfallen würde, war da nicht gerade tröstlich.
Inzwischen hatte der Hovawart sein Geschäft verrichtet und sie gingen zurück zum Dienstwagen, wo Dominik auf sie wartete. Sein Partner wischte unmotiviert auf seinem Smartphone herum, verschonte ihn aber zum Glück mit dem, was immer ihm gerade im Kopf herumspukte. Bei Dominik konnte so etwas manchmal höchst bizarre Überlegungen nach sich ziehen, weshalb ein Schweigen immer einer Unterhaltung vorzuziehen war. Meistens hatte Mark allerdings nicht so viel Glück.
So auch heute.
Kaum saßen sie im Wagen, hatte der Kollege das Telefon in der Hosentasche verstaut. „Ich frag mich immer noch, was es mit dem Loch in der Wand auf sich hat. Ich meine: Wieso tut jemand so was? Unten im Keller und in der Nähe von einer Bank könnte ich so einen Durchbruch ja verstehen. Oder wenn man seine unliebsamen Verwandten einmauern will. Über all das gibt es Geschichten und Filme. Aber ein zugemauerter Bereich in einem Zimmer im ersten Stock?“
„Ein bisschen merkwürdig ist es schon“, gestand Mark ein.
„Merkwürdig ist gar kein Ausdruck. Ich hab Schwierigkeiten, mir das ganze Szenario vorzustellen. Angenommen, ich klopfe da mit ’nem Hammer an deiner Haustür. Entschuldigung, darf ich bitte mal deine Wand aufhacken? Natürlich sagst du Nein. Also droh ich damit, dir mit dem Hammer eins überzuziehen. Nicht mal das ist geschehen! Stattdessen wurde der Hausbewohner erstochen. Doch weiter im Text. Ich überrede dich dazu, mich hoch ins Gästezimmer zu lassen. Und dort schaust du mir dann zu, wie ich mich abrackere, oder wie muss ich mir das vorstellen?“
„Vielleicht hat sich der Einbrecher das Obergeschoss erst vorgenommen, nachdem er Langfellner im Wohnzimmer niedergestochen hat.“
„Du meinst, der Mörder hat sich unter einem falschen Vorwand Zutritt verschafft und dann den Hausbesitzer umgenietet, damit er ungestört im Gästezimmer werkeln kann?“
„Wäre zumindest eine Möglichkeit. Oder der Einbrecher war schon früher da und ist nicht schnell genug fertig geworden. Dann hat ihn Langfellner überrascht und musste dafür sterben.“
„Schöne Theorie, aber eher unwahrscheinlich. Schon vergessen: Die Frau hat ihren Mann am Nachmittag kurz zu Hause gesehen. Ich glaube nicht, dass der Einbrecher in der Zeit oben im Gästezimmer gewartet hat, ohne dass es einem von beiden aufgefallen ist. Ich habe den Staubgeruch schon im Flur gerochen. Zwar nur leicht, aber er war da. Den Langfellners wäre das bestimmt genauso aufgefallen.“
„Es sei denn, der Täter hatte Glück und keiner von beiden war oben im ersten Stock.“
„Dünn. Sehr dünn“, fand Dominik. „Ganz ausschließen können wir es natürlich nicht.“ Er zückte sein Notizbuch und notierte sich den Punkt. Mark genoss das kurze Schweigen und lauschte der Musik aus dem Autoradio. Auf Wild FM lief ein poppiges Stück von Gemma Ray, das dank seiner Surfgitarren wie ein Stück aus einem Italo-Western klang. Es passte hervorragend zur Nacht und ihrem mörderischen Thema.
„Wenn sich der Mörder schon im Haus aufgehalten hat“, setzte Dominik wieder an, „konnte er auch nach Mama Langfellners Aufbruch nicht unbemerkt weiterarbeiten. Vielleicht war der Gatte deswegen fällig. Oder er hat den Täter überrascht, als der gerade abhauen wollte.“
„Und wieso hat er ihn dann ausgerechnet im Wohnzimmer umgebracht?“
„Diese Frage gehört auf unseren Flipchart. Als eine von vielen. Mal schauen, ob der Obduktionsbericht oder die Spurensicherung weiterhelfen können. Und was die Nachbarn den Jungs von der Streife erzählen.“
„Es gibt auf jeden Fall ’ne Menge Sachen, die wir abklären müssen“, zog Mark als Resümee. „Aber nicht mehr heute. Dafür ist morgen noch genug Zeit.“
Das fand auch Dominik: „Heute brauch ich nichts mehr. Vielleicht noch ’nen Single Malt. Danach ist finito. Irgendwann muss schließlich auch mal gut sein.“
Was ein schönes Schlusswort war. Bald darauf erreichten sie das Präsidium. Mark ließ seinen Partner in der Straße davor aussteigen und lenkte den Wagen weiter zum Neutorgraben. Er hatte ebenfalls bloß noch den Feierabend vor Augen.
Die Wohnung am Stadtpark lag im angenehmen Halbdunkel. Caro lag ausgestreckt auf dem Sofa und schlürfte an einer Limo. Im Fernseher an der gegenüberliegenden Wand lief eine Netflix-Serie über die königliche Familie Großbritanniens, die Mark im Moment kaum mehr als ein flüchtiger Blick wert war. Stattdessen musterte er den inzwischen wirklich gewaltigen Kugelbauch seiner Frau. Der Gedanke, dass darin ein neues Leben wuchs – noch dazu ein von ihm gezeugtes –, faszinierte ihn jedes Mal aufs Neue. Deshalb bestand die erste Aktion nach Caros Begrüßungskuss auch in einem vorsichtigen Bauchstreicheln. Die Kugel fühlte sich fest wie ein Medizinball an. Insgeheim fand Mark, dass er auch dieselben Ausmaße besaß. Offen aussprechen würde er das selbstverständlich nicht, obwohl Caro selbst ihren Bauch gelegentlich liebevoll als „Trommel“ bezeichnete. Aber dass sie das tat, bedeutete nicht automatisch, dass er das ebenfalls durfte beziehungsweise tun sollte. Da tat er seiner Gesundheit zuliebe besser das komplette Gegenteil und bestätigte ihr bei jeder Gelegenheit, dass ihr Bauch gar nicht sooo groß war. Das glaubte sie ihm zwar nicht, freute sich aber trotzdem jedes Mal über das Herunterspielen der Ausmaße.
Manchmal hatte er Glück und spürte, wie das Baby gegen die Bauchdecke trat. Das war jedes Mal ein erhebendes Gefühl. Seine Art von Kontakt mit dem ungeborenen Kind. Heute schien es etwas müde zu sein. Vielleicht schlief es bereits. Spät genug war es ja.
„Ach, wer waren Sie gleich noch mal?“, begrüßte ihn Caro. „Sie habe ich ja eine gefühlte Ewigkeit nicht gesehen.“
„Sorry, ist später geworden als gedacht.“ Er setzte sich neben sie aufs Sofa, die Hand nach wie vor auf ihrem Bauch ruhend. „Du weißt ja: Bei einem neuen Fall sind die ersten Stunden immer die wichtigsten. Tatortbesichtigung, Zeugenbefragung, Abstimmung mit den Kollegen.“
Sie nickte wissend und reichte ihm das Limoglas, damit er es auf den Couchtisch zurückstellte. „Wie schlimm ist es?“
Felix nutzte den Moment, um hinter ihnen auf das Sofa zu springen. Als er sich danach gegen Marks Oberkörper schmiegte, hätte Mark um ein Haar das Glas von der Tischkante gestoßen. Er warf ihm einen tadelnden Blick zu, doch der Hund schien sich wie üblich keinerlei Schuld bewusst zu sein.
„Sehr schlimm. Es ist ein Familienvater, den es erwischt hat. Die Kinder und die Frau sind völlig fertig.“
„Verständlicherweise. Habt ihr schon eine Spur?“ Nach all den Jahren wusste Caro, dass ihr Mann ihr nicht alle Einzelheiten seiner Arbeit erzählen würde. Erstens, weil er es nicht durfte, und zweitens, weil sie die allzu blutigen Details lieber gar nicht wissen wollte. Deshalb hakte sie auch immer nur oberflächlich nach, um halbwegs zu wissen, womit Mark sich aktuell beschäftigte. Er war ihr für dieses milde Desinteresse sehr dankbar.
„Dafür ist es viel zu früh. Zuerst müssen wir rekonstruieren, was überhaupt passiert ist. So wirklich eindeutig ist das alles nicht.“
„Dann hoffen wir mal, dass ihr bald etwas Handfestes findet. Und du dabei unsere kleine Familie nicht vergisst. Übermorgen haben wir den letzten Termin vom Geburtsvorbereitungskurs.“
„Keine Sorge, das hab ich im Hinterkopf. Und das Handy ist auch ständig griffbereit. Falls was sein sollte.“
„Besser ist das. Man weiß ja nie, wann es so weit ist.“ Sie strich sich ihre schulterlangen braunen Haare aus dem Gesicht und betrachtete ihn einen Moment lang fragend mit ihren haselnussfarbenen Augen. Ein Anblick, der ihm auch nach sieben Jahren Beziehung noch immer ein wohliges Kribbeln im Magen verschaffte. „Ich hab neulich einen Artikel gelesen, dass manche Babys am liebsten in einer Vollmondnacht zur Welt kommen. Angeblich hängt das mit dem Zyklus der Frau zusammen, der dem Mondzyklus gleicht.“
„In welchem Kräuterforum hast du das denn aufgeschnappt?“
„Das ist kein Hokuspokus. Im Netz gibt es sogar wissenschaftliche Studien darüber, dass es bei so und so vielen Kindern vom Termin her zutrifft.“
„Ja, und beim Rest nicht. Dürfte eine Fifty-Fifty-Sache sein. Wahrscheinlich sogar weniger, weil nur ein Tag im Monat Vollmond ist.“
„Weiß nicht, ob man das pauschal sagen kann. Ich hab deswegen heute mal in der Praxis angerufen und den Doc gefragt. Der hat ähnlich wie du reagiert und gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll. Der nächste Vollmond wird bestimmt nicht die Nacht der Nächte werden.“
„Siehst du.“ Mark fühlte sich durch die Zustimmung des Arztes bestätigt. „Vertrauen wir dem Profi.“
„Das sagst du so leicht. Eine Freundin von mir hat ihr Kind exakt am Vollmondtag bekommen. Und das war drei Wochen vor dem regulären Termin.“
„Trotzdem muss das nicht zwangsweise mit dem Mond zu tun haben. Vielleicht hatte sie sich zu viel bewegt oder irgendwas anderes hat die Wehen ausgelöst. Die ganze Theorie klingt schon fast nach Dominik. Der hätte mir das Ganze wahrscheinlich anhand von Ebbe und Flut erklärt.“
„Eventuell sollte ich mich mit ihm darüber unterhalten.“
„Gute Idee. Dann kannst du mit ihm auch gleich noch ein paar Verschwörungstheorien erörtern. Vorgestern wollte er mir weismachen, dass die Tinte eines Kassenzettels mit speziellen Wirkstoffen versetzt ist. Damit wird angeblich unser Körper manipuliert, um uns absichtlich dumm zu halten.“
„Es wäre zumindest ’ne Erklärung für die Bonpflicht. Die wurde ja sogar noch verstärkt. Selbst beim Bäcker kriegst du einen.“
„Genau damit ist er auch angekommen. Erschreckend, als würde er hier neben mir sitzen.“ Obwohl er es absichtlich sehr lächerlich betonte, schien ihm Caro die Bemerkung einen Moment lang krummzunehmen. Erst als er sich zu ihr beugte und sie küsste, kehrte ihr Lächeln zurück.
„Wann ist eigentlich Vollmond?“, kehrte er anschließend zum ursprünglichen Thema zurück.
„Ende der Woche.“
„Na, dann haben wir ja noch etwas Zeit.“
Zufrieden streckte er die Beine auf Caros Sofaseite aus. Mit der rechten Hand strich er liebevoll über ihren Bauch, mit der rechten kraulte er Felix’ Fell. Hier in ihrer Mitte war er gut aufgehoben und fühlte sich wohl. Deshalb protestierte er auch nicht, als Caro wenig später ihre königliche Serie weiterschaute, von der er nicht die geringste Ahnung hatte. Hauptsache, er war bei ihnen. Nur das war wichtig.