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Die Stadt aus Gold

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Als ihn schließlich ein Hahnenschrei wieder zurück brachte, waren die Sterne bereits erloschen und die Himmelsschale hatte die Farbe von Perlmutt angenommen. Eine Fledermaus kreuzte auf ihrer Flucht vor der Morgenröte seinen Ereignishorizont und verschwand hakenschlagend hinter einer Mauer.

Es dauerte eine Weile, bis er die konfusen Gedanken und die schmerzenden Glieder soweit sortiert hatte, dass er sich erheben und sein erstes konkretes Ziel angehen konnte: das Unbekannte hinter der Einfriedung erkunden. Unweit von ihm hatten Sonne, Regen und Zeit ein Loch in das Mauerwerk gefressen. Was gab es da noch zu überlegen? Er atmete tief durch und steckte den Kopf in die Öffnung. Der Anblick raubte ihm die Sinne. Direkt vor seinen Augen zwängte sich gerade eine ganze Stadt aus ihrem nächtlichen Kokon. Fensterläden flogen auf und Vorhänge wurden beiseitegeschoben, hinter denen sich lauthals gähnende Menschen den Schlaf aus den Augen rieben.

Auf dem Marktplatz, vor der kleinen schmucken Kirche, wurden Stände aufgebaut und die ersten Lieder des neuen Tages angestimmt. Kreischende Windmühlen aus sonnenverbrannten Kinderarmen und Beinen mischten die kühlen Schalenreste der Nacht unter die noch angenehm warme, nach Kakao und Vanille duftende Morgenluft. Nach einer gefühlten Ewigkeit in Finsternis und stummer Verzweiflung, verlor sich die Schöpfung nun in Verschwendungssucht und schüttete ihr Füllhorn über ihm aus. Unweit seines Versteckes war ein halbes Dutzend Männer damit beschäftigt, die Straße zu säubern. Mit Besen und Schaufeln schoben sie schier unglaubliche Mengen von Blumen zu riesigen Haufen zusammen, die von anderen Männern mit Mistgabeln auf Eselskarren geworfen und weggeschafft wurden. Die Strahlen der aufgehenden Sonne ließen die taubenetzten, gelben und orangefarbenen Blüten wie pures Gold erscheinen. Wie wohlhabend eine Stadt doch sein musste, dachte er, in der es sich die Bürger erlauben konnten, die Straßen mit Blumen aus Gold zu dekorieren.

Die Einwohner von Esperanza, so lautete der Name der Stadt, hatten ihre Wohnungen und Friedhöfe in der Tat prachtvoll geschmückt und die zahllosen Altäre, Ofrendas genannt, bogen sich unter den Köstlichkeiten der mexikanischen Küche. Sie fluteten die Stadt mit einem Meer aus Lichtern, hängten Catrinas Bilder auf, und rollten für die Verstorbenen Teppiche aus gelben und orangefarbenen Blumen aus. Wie seit Menschengedenken hatten sie Totenköpfe und Skelette aus Zucker geformt, die Luft mit dem schweren Duft des Kopal-Harzes geschwängert und das Brot der Toten gebacken. In der Nacht des Hundes feierten sie ein Wiedersehen mit den Kindern, den Angelitos, die stets als Erste das Totenreich verlassen durften. Am Tage darauf entstiegen die Erwachsenen ihren Gräbern und ließen sich von den Totenblumen, den Cempasuchils, zu ihren Lieben geleiten. Für einen Wimpernschlag der Ewigkeit reichten sich die vermeintlichen Widersacher Leben und Tod die Hände. Am Abend des dritten Tages erhob sich der fahle Reiter von der reich gedeckten Tafel der Lebenden und forderte seine kostbare Schuld ein. Die Stunde der Rückkehr war gekommen. Und so nahmen die Menschen mit falschem Lächeln und echten Tränen Abschied von den geliebten Angelitos, um sich danach von den erwachsenen Verstorbenen zu verabschieden, nicht selten mit falschen Tränen und einem echten, jedoch sorgsam verborgenem Lächeln. Fortan gehörte der Friedhof wieder den Toten und die Straßen den Lebenden. Der Dia de los Muertos, der Tag der Toten, war zu Ende. Doch das alles konnte er nicht wissen – woher auch? Er wusste ja nicht einmal wer er selbst war …

Da stand er nun und saugte gierig all die warmen und goldenen Wunder in sich auf, wie ein verdorrtes Feld den langersehnten Regen. Die Hüter des Goldes, wie er die Blumenmänner getauft hatte, legten ihre Werkzeuge beiseite und nahmen auf dem nackten Boden Platz, ihre schmerzenden Rücken an die warme Mauer gelehnt. Er konnte ihren Schweiß riechen und ihre Gelenke knacken hören, so nah war er ihnen. Sie packten ihr Essen aus und begannen einen Teppich aus Worten und Sätzen zu knüpfen. Es war die Art von Gesprächen, die Männer nur dann führen, wenn sie unter sich sind. Sie sprachen über die Frauen, die sie hatten, aber nicht haben wollten, und sie fabulierten von Frauen, die sie gerne besessen hätten, aber niemals bekommen würden. Sie sprachen über missratene Kinder, auf die sie stolz waren, und sie sprachen von wohlgeratenen Kindern, die sie dennoch niemals mit „Vater“ ansprechen durften, zumindest nicht in der Gegenwart ihrer Ehefrauen. Er hätte ihnen noch die nächsten tausend Jahre zuhören können, doch die Frühstückspause war zu Ende und die Männer mussten zurück an ihre Arbeit. Zur frühen Mittagszeit, als die Sonne den Himmel in Brand setzte und jede noch so einfache Tätigkeit zur Qual werden ließ, packten die Blumenmänner zusammen und gingen zurück in ihre Häuser, wo sie sich hinter dicken Steinmauern verkriechen und von pfefferminzkühlen Eskimofrauen träumen konnten. Voller Wehmut blickte er ihnen nach. Eine unbeschreibliche Gier nach Leben bemächtigte sich seiner, nach menschlicher Gesellschaft, nach Lachen und nach Geschichten, so belanglos sie auch sein mochten.

„Wartet auf mich!“, schrie er so laut es seine wunde Kehle zuließ.

Verzweifelt versuchte er sich durch die Öffnung zu zwängen. Ohne Erfolg. Doch halt! Fehlte da drüben nicht ein Ziegel? Ohne zu zögern, steckte er seinen Fuß in die Aussparung, schwang sich auf den Mauerkamm und ließ sich von dort auf die Straße fallen – einer nicht mehr ganz taufrischen Senora direkt vor die Füße!

„Santa Muerte, der Leibhaftige!“

Der Schwerkraft enthoben schoss er die Mauer wieder hinauf und sprang zurück auf den menschenleeren Friedhof. Das hysterische Kreischen seines „Opfers“ zwischen den Schulterblättern, raste er keuchend an den einzigen Ort, der ihm vertraut war: zurück in das sinistre Beinhaus. Dort angekommen, quetschte er sich zwischen die kalten Leiber, zog einen über sich und erstarrte.

Unterdessen hatte sich draußen vor der Mauer eine Schar Neugierige versammelt, um das vermeintliche Opfer eines verabscheuungswürdigen Verbrechens in Augenschein zu nehmen. Die in Tränen aufgelöste Jungfer Natividad Gabriela Garcia Morales, so der vollständige Nom de voyage der honorigen Dame, hatte bereits alle verfügbaren Heiligen verschlissen und schwor nun beim Grabe ihres geliebten Vaters, vom Leibhaftigen höchstpersönlich angesprungen und entehrt worden zu sein.

Wachtmeister Calvera, gerade eingetroffen und noch etwas außer Atem, zog ein kleines Notizbuch aus der Jackentasche und stürzte sich kopfüber in die Ermittlungsarbeit.

„Sie geben also zu Protokoll, am helllichten Tage von einem nackten Mann angefallen und ihrer Jungfräulichkeit beraubt worden zu sein?“, repetierte er dienstbeflissen die Aussage des miedergestützten Corpus delicti, derweil im Hintergrund verhaltenes Gelächter aufbrandete.

„Es … es war kein Mann, nein … der Leibhaftige war’s … in der Gestalt eines nackten Mannes … ich … ich meine …“, stammelte sie, bis ihre Stimme gänzlich versagte.

„Jaaaaa, ich höre“, sagte Wachtmeister Calvera, während er ihr sein rechtes Ohr zuwandte.

„Ich … ich …“, wimmerte sie. Ihr Kinn bebte und sie war leichenblass.

Jeder konnte auf Anhieb erkennen, dass ihre Angst nicht gespielt war. Ein älterer, elegant gekleideter Mann brachte einen Stuhl. Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu und nahm Platz, die Schlaufen ihrer Handtasche über die zusammengepressten Knie gespannt.

Der wackere Gesetzesmann richtete derweil das Wort an die Umstehenden.

„Hat sonst noch jemand etwas Verdächtiges gesehen?“

„Also, ich glaube, da war so etwas wie ein … ein Schatten, der über die Mauer huschte“, meldete sich der alte Gomez, den alle nur als „El borracho“, den Säufer, kannten.

„Schatten? So so …“, unterbrach ihn der Wachtmeister mit unverhohlenem Spott in der Stimme. Im Schutze der Menge fing jemand an zu lachen, andere schlossen sich ihm an.

Der ausgerechnet an diesem Tage vollkommen nüchterne Gomez verstummte.

Die seltsame Geschichte des Alejandro Ruiz

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