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Sargento Pippino

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Wachtmeister Ignacio Ramon Rodriguez Calvera, der einzige Sohn eines hochangesehenen Fleischermeisters und einer zur Melancholie neigenden Schönheit, war von Geburt an ein schwächliches Geschöpf, das erst mit zwei Jahren laufen und mit vier sprechen lernte. Im zarten Alter von neun Jahren entdeckte der sensible Knabe seine Leidenschaft fürs Ballett, die ihm sein gestrenger Vater, ein ehemaliger Gefolgsmann des legendären Volkshelden Emiliano Zapata, mit der Peitsche schnell wieder austrieb. Kein männlicher Calvera würde jemals in einem rosa Tutu über die Bühne hopsen und die Familie bis auf die Knochen blamieren. Das eigentliche Schlüsselerlebnis seines juvenilen Daseins, sollte jedoch der Auftritt des Startenors Enrico Caruso werden, der, November 1925, mit seiner Sangeskunst die mit 25.000 Menschen gefüllte Stierkampfarena von Mexiko-Stadt zum Kochen brachte. Eine Cousine zweiten Grades hatte den siebzehnjährigen Ignacio mitgenommen und ihm damit eine gänzlich neue Welt erschlossen. Zurück in Esperanza kaufte er von seinen Ersparnissen ein gebrauchtes Grammophon und alle verfügbaren Schallplatten seines erklärten Idols. Fortan sah man ihn nur noch tänzelnd und Arien schmetternd durch Esperanza lustwandeln. Ab und an lauerte ihm sein Vater auf und prügelte ihn durch, aber das war ihm egal. Die glamouröse Welt der Oper würde künftig auch die seinige sein, so viel stand fest. Doch auch hierbei sollte der unnachgiebige Vater das letzte Wort behalten, wenn auch auf eine etwas andere Art, als man es vermuten möchte – er verstarb.

Nun war es an Ignacio, für den Unterhalt seiner Mutter und der beiden jüngeren, noch unverheirateten Schwestern zu sorgen. Das Fleischerhandwerk stand außer Frage und eine Ausbildung zum Opernsänger hätte viel Zeit und noch mehr Pesos verschlungen. Wie so oft im Leben, blieb es am Ende der Vorsehung vorbehalten, die Weichen zu stellen. Die Polizeibehörde von Esperanza suchte dringend Nachwuchs – und das Schicksal nahm seinen Lauf.

Mochte der Beruf eines Polizeibeamten auch eine Million Meilen von seiner wahren Bestimmung entfernt gewesen sein, so beschloss Ignacio selbigen dennoch mit Stolz und Hingabe auszuüben, wie es sich für einen echten Calvera geziemte.

In einer Kleinstadt wie Esperanza gab es für einen Mann von Ehrgeiz kaum glorreiche Taten zu vollbringen. Die Ära der großen Banditen – pardon: Revolutionäre –, vor denen es die glutäugigen Senoritas zu beschützen galt, war längst vorbei. Sein Alltag erschöpfte sich meist darin, Betrunkene von der Straße aufzulesen und außer Kontrolle geratene Ehezwistigkeiten zu schlichten. Der vorliegende Fall war daher ein Geschenk des Himmels, der seinem bislang recht ereignislosen Dasein endlich die lang ersehnte Wendung geben würde. Trunken vor Glück, gab er sich nach außen hin jedoch besonnen und emotional unbeteiligt, wie es sich für einen gestandenen Profi gehörte. Das anerkennende Brummen der Männer und die bewundernden Blicke der Frauen gaben ihm Recht.

Bei dem Opfer der dreisten Attacke handelte es sich um seine ehemalige Klassenlehrerin, die allseits gefürchtete Senora Morales, von allen nur „La bruja“, die Hexe, genannt, die niemals eine Gelegenheit ausließ, ihre Schutzbefohlenen zu demütigen. Vierzig Jahre lang hatte sie an Esperanzas ehrwürdiger Schule ihr Unwesen getrieben, und das ohne auch nur einen einzigen Tag gefehlt zu haben. Viele der Anwesenden hatten während der Schulzeit Bekanntschaft mit ihrem Rohrstock machen dürfen und freuten sich nun diebisch auf die bevorstehende Commedia dell’arte. Von Mitleid weit und breit keine Spur.

Auch Wachtmeister Calvera sah nicht die verstörte alte Frau vor sich, die in der Tat etwas Schreckliches erlebt zu haben schien, sondern die verhasste Matrone, die einst einen armen Jungen, ohne mit der Wimper zu zucken, dem Spott seiner Mitschüler preisgab.

Das Ganze war zwar eine Ewigkeit her, doch ihr bloßer Anblick ließ es für ihn zur Gegenwart werden. Acht Jahre alt und starr vor Angst, war er an einem schicksalhaften Nachmittag vor beinahe 35 Jahren nicht imstande gewesen, die überlebensgroße Senora um Erlaubnis zu bitten austreten zu dürfen, und machte unter sich. Es war mitnichten eine Premiere, doch diesmal sollte ihn sein gewohntes Glück im Stich lassen. Ein Mitschüler petzte ihr sein Malheur und sie nutzte sogleich die Gunst der Stunde, um ihn vor der versammelten Klasse bloßzustellen. Sie zog ihm die nassen Hosen runter, drehte ihn hin und her, damit sich auch wirklich alle an seinem Unglück sattsehen konnten, und prügelte ihn anschließend windelweich.

Während die Schmerzen des Leibes rasch verflogen waren, bluteten die Wunden der Seele noch lange nach. Sein Leben geriet zu einem nichtenden wollenden Spießrutenlauf. Nicht einmal sein bester Freund wollte fortan die Schulbank mit ihm teilen und von den Mädchen erhielt er den Spitznamen Pippino, den er bis zum Ende der Schulzeit behalten sollte. In den Pausen schloss er sich auf der Toilette ein und schwor mit geballten Fäusten Rache.

Und nun saß sie vor ihm, die Ursache für seine verpfuschte Jugend, ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ihre Tränen hatten die Mascara aufgelöst und über das ganze Gesicht verteilt. Ihr Körper zuckte und bebte in einem seltsam anmutenden Rhythmus, als drohe sie jeden Moment auseinanderzufallen, wie ein zu früh gestürzter Pudding. Nervös nestelte sie an ihrem reichverzierten Taschentuch und blickte sich hilfesuchend um. Die Menschen blinzelten in den strahlendblauen Himmel, oder schauten betreten auf den blasenschlagenden Asphalt unter ihren Füßen. Niemand würde ihr beistehen. Vor lauter Übermut hätte Ignacio Calvera am liebsten laut losgesungen, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Es gab eine Zeit für den Gesang und eine für die Rache – und er würde sich nun in Rache üben, weil es die Zeit dafür war. Trotz ihres beinahe unveränderten Äußeren, zeichnete sich unter ihrer immer noch erstaunlich straffen Gesichtshaut unverkennbar der erbarmungslose Pinselstrich des Alters ab, wenngleich sich selbiges eher durch eine nicht mehr zu verhehlende Resignation, als durch den zu erwartenden Verschleiß manifestierte. Sie war alt, einsam und schwach. Niemand würde da sein, um sie zu trösten, nachdem er mit ihr fertig war. Als sie noch jung und begehrenswert war, voller Kraft und Bosheit, ließ sie keine Arme an sich heran und nun wollten die Arme sie nicht mehr. Wachtmeister Calvera feuchtete seinen Stift an und schlug eine neue Seite auf. Die Schlacht konnte beginnen …

Es sollte nicht lange vorhalten, das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das die finstere, Tod und Verwesung atmende Gruft verhieß. Es stimmte wohl, dass er hier sicher war, doch es war die trügerische Sicherheit einer nichtenden wollenden Nacht. Das schmutzige Zwielicht setzte seine Augen in Brand und die tote Luft spottete seiner Lunge. In seinem Kopf begann sich alles zu drehen und er musste sich übergeben. Der Raum um ihn herum geriet in Bewegung, schien sich abwechselnd zu strecken und zusammenzuziehen, als befände er sich im Bauch einer riesigen Schlange, in deren weitaufgerissenen Schlund er versehentlich geraten war und die sich nun anschickte, das unverhoffte Geschenk in aller Ruhe zu verdauen.

„Egal was mich draußen erwartet, aber hier bleibe ich nicht!“

Fest entschlossen, den grauenhaften Ort so schnell wie möglich wieder zu verlassen, kroch er hinaus, wo ihm sogleich eine Melange aus Gelächter und Wehklagen entgegenschlug. Reflexartig ließ er sich zu Boden fallen und krabbelte hinter ein Grab. Doch seine Furcht war unbegründet. Die Menschen hatten drei Tage und drei Nächte lang mit ihren Verstorbenen gesungen, gebetet, gegessen und gelacht. Vom Tod und von Friedhöfen hatten sie fürs Erste genug. Die Stimmen kamen aus der Welt hinter der Mauer.

Mit der moosweichen Geschmeidigkeit einer altgedienten Friedhofskatze überquerte er den schmalen Streifen offenen Geländes und nahm seinen alten Platz wieder ein. Obgleich das markerschütternde Gezeter seinen Ohren arg zusetzte, hätten ihn keine zehn Pferde von seinem Logenplatz fortbewegen können. Dafür war die Neugier zu groß und die Einsamkeit zu lang gewesen. Etwas Seltsames war zudem geschehen, für das er keine Erklärung hatte: Alles, was er hörte, konnte er für Sekundenbruchteile auch „sehen“.

Hass, Wut, Gier und Schadenfreude blitzten rot auf, Dummheit, Lüge und Rachsucht gelb, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft grün und Freude und Liebe schließlich in einem zarten Blau (wenngleich er den letzten beiden Farben erst später begegnen sollte). Er drehte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Während eine sanfte Brise über seine glühendheiße Stirn strich, tobte hinter seinen zitternden Lidern ein Unwetter aus roten und gelben Blitzen …

Die seltsame Geschichte des Alejandro Ruiz

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