Читать книгу Steve Lombard - Stefan A. K. Weichelt - Страница 4
Der Abschied
ОглавлениеEs war ein trüber Tag, an dem sich Steve Lombard zum Klinikum rechts der Isar aufmachte, um seinem alten Bekannten Viktor die vielleicht letzte Ehre zu erweisen. Es stand nicht gut um ihn.
Ein Mann war Viktor vors Auto gelaufen. Er hatte versucht, auszuweichen, war gegen das Steingeländer der Ludwigsbrücke gefahren. Die Wucht des Wagens durchbrach das Geländer und Viktor stürzte zehn Meter in die Tiefe, in den Fluss.
Steve hatte Viktor vor ein paar Jahren, in seiner Funktion als Journalist kennengelernt. Seine Chefredakteurin Susanne Horn hatte ihn auf Viktor Thomas und seine kuriose Geschichte angesetzt. Viktor beharrte darauf, er sei in einem früheren Leben der Ritter Götz von Berlichingen gewesen, er sei die Reinkarnation eines Menschen, der vor 500 Jahren gestorben war. Und auch wenn das manche für Humbug gehalten hatten, war Viktor damit im Fernsehen aufgetreten. Eine nette Story für die Boulevardmedien, die Steves Sender gute Einschaltquoten brachte. Wenn auch zunächst nur für ein Sommerloch gedacht.
Doch der letzte Sommer war lang und heiß gewesen, und skurrile Nachrichten eher selten. Also stürzten sie sich erst recht auf das Thema, als Viktor erzählte, er habe einen Schatz auf Burg Hornberg versteckt, die Burg, die dem Ritter – also ihm – im sechzehnten Jahrhundert gehört hatte. Wie ein Schwarm fielen die Medien über die heutigen Besitzer her. Die waren alles andere als amüsiert. Sie wollten ihre Ruhe und schotteten sich ab. Nach ein paar Tagen war der erste Hype vorbei.
Nicht für Steve.
Als Mitarbeiter eines privaten TV-Senders in München bat er Viktor um ein Interview. So lernten sie sich kennen. Steve war auch dabei, als Viktor und ein Relikt des echten Ritters einen DNA-Test durchwanderten. Seine Chefredakteurin war geradezu besessen von dem Thema. Die eiserne Handprothese, die Götz von Berlichingen einst getragen hatte, nachdem er seine rechte Hand im Jahr 1504 an eine Kanonenkugel verloren hatte, schmachtete seit seinem Tod in einem Museum vor sich hin. Selbstverständlich wies sie keine DNA auf, die mit Viktors verwandt gewesen wäre.
Wie sollte eine Reinkarnation auch mit DNA-Spuren vergleichbar sein, dachte Steve schon damals. Aber die Horn war von dem Plan nicht abzubringen. Schließlich wollte sie ja wissen, was das für ein Schatz war, den Viktor wiederhaben wollte.
Es war Steve Lombard, der zusammen mit seiner Redaktion so viel Druck auf die neuen Besitzer der Burg ausübte, dass die Schatzsuche schließlich doch beginnen konnte. Aber vielleicht war es auch die Geldsumme von 50.000 Euro, die der TV-Sender für die exklusiven Aufnahmen geboten hatte. Dafür stellten sie auch vertraglich sicher, dass Viktor das, was immer er an der besagten Stelle finden würde, behalten dürfte.
Steve war dabei, als Viktor den Handwerkern zeigte, wo sie die Mauer aufstemmen sollten. Hinter einer Absperrung befanden sich einige Hundert Schaulustige und ein paar wenige Pressevertreter. Viktors Geschichte hatte sich zwar über die Landesgrenzen herumgesprochen, berichten wollten jedoch nur wenige, da die Geschichte für rational denkende Menschen nicht glaubwürdig war. Außerdem behielt der Münchner TV-Sender die schönsten Bilder exklusiv für sich.
Eine ungewöhnliche Ruhe lag in der Luft, während die Handwerker ihre Arbeit verrichteten. Die Schaulustigen sahen zu und filmten fleißig mit ihren Smartphones mit. Es dauerte über eine Stunde, dann kam die kleine, verzierte Kiste aus dem Mauerversteck zum Vorschein. Sie war genauso beschriftet und verziert, wie Viktor es beschrieben hatte.
Steve atmete noch einmal durch, als er direkt vor Viktors Tür im Flur des Krankenhauses stand. Schließlich klopfte er und trat ein.
Viktor öffnete mühsam die Augen. »Na, mein Guter, wie hat dir die Show gefallen?«
»Was machst du denn für Sachen?«, erwiderte Steve.
Viktor schwieg.
Daher schnappte sich Steve einen Stuhl und griff nach Viktors Hand. Ein Lächeln erschien auf dem Gesicht seines alten Freundes. Steve beugte sich vor, und dann sprach er leise: »Viktor. Viktor. Du musst wieder auf die Beine kommen.«
Viktor schloss die Augen, atmete schwer. Der sonst eher mürrische 65-Jährige wirkte geschwächt und hilfebedürftig. Sein unrasiertes Gesicht und die angeschlossenen Apparate ließen ihn noch kränker aussehen. »Das wird in diesem Leben nichts mehr, fürchte ich.«
Steve schluckte und sah Viktor mitleidig an.
Viktor schien das zu merken. »Dein Bart wird auch immer länger«, stellte er fest.
Steve zupfte an den struppigen Haaren auf seiner Oberlippe. »Ja, das stimmt.«
»Henriquatre.« Es klang fast wie ein Röcheln oder Husten aus Viktors Mund.
»Bitte was?«
»So heißt dein Bart.«
»So, das wusste ich nicht.«
Viktor strich sich über seine eigenen Bartstoppeln, die sein sonst rasiertes Gesicht ungepflegt wirken ließen. »Er wurde nach dem französischen König Heinrich IV. aus dem sechzehnten Jahrhundert benannt. Allerdings meine ich, mich zu erinnern, dass Heinrichs Bart noch länger war.«
Steve schmunzelte, da es so klang, als hätte Viktor den König persönlich gekannt. Andererseits, wenn er wirklich die Seele des Ritters in sich trug, war das vielleicht gar nicht so abwegig.
»Steve, der Schatz …« Viktor wirkte mit einem Mal noch geschwächter und ließ die Augen zufallen.
»Was ist mit dem Schatz? Ist er in Sicherheit? Der Sender will wissen, was drin ist. Die Horn wollte dich ja erst gar nicht mit dem Kästchen alleine nach Hause fahren lassen.«
»Du wirst es bald wissen«, hauchte Viktor. Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer. Dabei begann Viktor Steves Hand zu drücken. »Es geht nicht um das Kästchen und auch nicht darum, was drin ist. Der Inhalt soll mich an einen Schatz erinnern, den ich in einem früheren Leben verlo…«
Mit einem Krachen flog die Zimmertür auf. Steve, der mit dem Rücken zur Türe saß, zuckte zusammen. Zugleich hörte er mehrmals ein hohes Surren an seinem Kopf vorbeirauschen. Es klang wie Schüsse aus schallgedämpften Waffen. Steve spürte den starken Druck, den Viktors Hand kurz auf seine ausübte. Dann erschlaffte sie. Obwohl für Steve dieser Moment scheinbar wie in Zeitlupe ablief, konnte er nur langsam seinen Kopf heben. Sein Blick ging zuerst zu Viktor. Aus seinem Kopf quoll Blut und tränkte das weiße Kissen. Sein Brustkorb senkte sich, und auch die Bettdecke saugte sich in ein nasses Rot. Steve war starr vor Angst. Seit dem Aufschlagen der Tür waren noch keine zwei Sekunden vergangen. Er traute sich nicht, sich der Tür zuzuwenden, um die Angreifer zu sehen. Bevor er sein weiteres Handeln überdenken konnte, spürte er einen Schlag auf den Hinterkopf und verlor das Bewusstsein.
Langsam kam Steve wieder zu sich. Sein Kopf schmerzte und in seinen Ohren rauschte es unangenehm laut. Das Licht blendete ihn, sodass er zunächst nur unscharf sehen konnte. Dann fielen ihm die letzten Erlebnisse mit Viktor ein, und er zuckte kurz zusammen. Schnell sah er sich um und erkannte, dass ein Mann am Bettende saß – und er selbst in einem Krankenbett lag. Er war nicht mehr im selben Raum.
»Herr Lombard? Mein Name ist Lumbeck.« Der Mann, etwa Mitte fünfzig, stand auf und stellte sich neben Steve ans Bett. »Kommissar Lumbeck von der Kripo München.«
Das Bild des Mannes wurde langsam scharf vor Steves Augen. Graues Sakko, einfaches Hemd, Jeans. Kurze, braune Haare. Ein leichter Bauch, wie ihn viele Männer haben, wenn sie so um die fünfzig sind. Der Kommissar zückte seinen Ausweis. Jeffrey Lumbeck, Polizeioberkommissar stand darauf.
Steve versuchte, sich aufzurichten. Keine Chance. Schmerzen durchzuckten seinen Kopf.
»Herr Lombard, soll ich einen Arzt rufen?«
»Schon gut, ich habe nur fürchterliche Kopfschmerzen«, antwortete er. Dann mischten sich wieder die Erinnerungen mit dem Schmerz. »O Gott … Viktor?«
»Es tut mir leid, Herr Lombard.« Der Kommissar half Steve, sich aufzusetzen.
»Es ging alles so schnell. Pfeifende Schüsse wie aus einem Schalldämpfer. Dann …«
Lumbeck setzte sich zu Steve ans Bett. »Sie haben nichts gesehen?«
»Nichts, es ging zu schnell.«
In dem Moment ging die Tür auf. Ein Mann mit einem weißen Kittel trat ein.
»Guten Tag, Herr Lombard. Bitte legen Sie sich noch mal hin. Jetzt wollen wir Sie erst einmal anschauen. Herr Kommissar, Sie warten bitte so lange draußen.«
»Augenblick bitte.« Lumbeck hob die Hand und gab dem Arzt zu verstehen, kurz zu warten. Dann sagte er zu Steve: »Herr Lombard. Wir werden natürlich einen Pressebericht rausgeben, dass heute ein Mord in der Klinik passiert ist. Aber wir nennen dabei keine Namen. Ich würde Sie bitten, und das sage ich, obwohl ich weiß, dass Sie von der Presse sind, dass Sie in den nächsten 48 Stunden niemandem davon erzählen.«
»Eine Nachrichtensperre?« Steve war verdutzt. So etwas wurde nur in Ausnahmefällen gemacht.
»Nicht ganz. Aber wenn Sie als Vertreter der Presse eine Story daraus machen, bevor wir den Täter haben, könnte es sein, dass Sie selbst in Gefahr sind. Es könnte sein, dass der Täter oder die Täter doch glauben, Sie könnten etwas gesehen haben.«
»Darf ich jetzt bitten?«, bemerkte der Arzt fordernd. Lumbeck lächelte freundlich und verließ den Raum.
Nach einer kurzen Untersuchung erklärte der Arzt Steve, dass er durch einen Schlag auf den Kopf eine Gehirnerschütterung bekommen hatte. Er war jetzt einige Stunden bewusstlos gewesen. Dabei sah er sich ein paar CT-Aufnahmen von Steves Gehirn auf seinem Pad an. Gerne würde er Steve über Nacht in der Klinik unter Beobachtung behalten. Nur, um sicherzugehen.
Am nächsten Morgen durfte Steve nach Hause. Dem Kommissar hatte er alles gesagt, was er wusste. Am Nachmittag würde ihn ein Polizeipsychologe besuchen. Steve hatte es zuerst abgelehnt, da er wusste, dass dieser auch geschickt wurde, um seine Glaubwürdigkeit als Zeuge besser einzustufen. Aber der Kommissar bestand darauf.
Als es schließlich an seiner Tür klingelte, schreckte Steve von der Couch hoch. Er war tatsächlich eingeschlafen. Seine Smartwatch verriet ihm, dass es zu früh für den Psychologen war. Leise vor sich hin schimpfend schlurfte er zur Tür. Es war nur ein Paketbote. Steve schluckte, als er den Namen des Absenders las: Viktor Thomas. Behutsam öffnete er das Paket. Tatsächlich. Viktors Kiste. Gut verpackt. Sonst nichts. Kein Brief, nur die Kiste. Fast zärtlich streichelte Steve die Intarsien, fuhr die Linien mit den Fingern nach. Er wurde traurig. Es waren erst etwa zwanzig Stunden seit Viktors Ermordung vergangen. Dennoch war er neugierig auf den Inhalt der Kiste. Aber sie war verschlossen. Also stellte er sie zunächst auf seinen Wohnzimmertisch.
Tatsächlich machte die Polizei ernst, denn schon kurze Zeit später stand der Psychologe vor Steves Tür. Er stellte sich höflich als Georg Köhler vor. Der etwa 60-Jährige wirkte sehr herzlich. Sofort erkundigte sich Köhler nach Steves Zustand und sah dabei auf die Beule an seinem Hinterkopf, die aber kaum zu sehen war. Steve hatte den Eindruck, dass dieser Mann sehr gut auf seine Patienten eingehen konnte. Und offensichtlich war er auch gut vorbereitet. Er wusste, welche Geschichte das Fernsehen über Viktor Thomas verbreitete. Tatsächlich hielt er die Geschichte des Ermordeten, einst ein Ritter gewesen zu sein, sogar für möglich. Köhlers Bemühungen, Steve bei der Verarbeitung seiner Erlebnisse zu helfen, konzentrierten sich daher schnell auf Viktors Kiste, die direkt vor ihnen auf dem Wohnzimmertisch stand.
»Und was ist in der Kiste?«, fragte Köhler. Auch er hatte im Fernsehen die Aufregung und die Schatzbergung miterlebt.
»Ich habe sie noch nicht geöffnet«, antwortete Steve. »Wissen Sie, was das bedeutet? Sacer nexus?« Er beugte sich über den Tisch, auf dem die Kiste stand, und fuhr mit dem Finger über die zwei Worte, die unter dem Schloss ins Holz eingelassen waren.
Köhler schien angestrengt nachzudenken. Als durchsuchte er sein altes Schullatein in den Tiefen seines Gehirns. Dabei runzelte er die Stirn und öffnete den Mund. »Irgendetwas Heiliges«, murmelte er.
»Ich kannte Viktor gut«, sagte Steve. »Wir hatten uns angefreundet. Er vertraute mir.«
Köhler sah ihn an und forderte ihn mit einem Blick auf, weiterzureden.
»Er muss etwas geahnt haben. Ich meine, jahrelang versucht er, seinen Schatz aus der Vergangenheit wiederzubekommen. Und dann schickt er ihn mir?« Steve stand auf und ging im Zimmer umher, versuchte Erinnerungen zu finden, die ihm seine Antwort bestätigen würden.
»Familie hatte er keine mehr. Er erzählte mal von einer Bekannten aus seiner Heimat. Was immer er damit auch meinte …«
»Sie meinen, Herr Thomas kannte die Täter?«, hakte der Polizist nach.
Steve überlegte einen Moment. »Er muss was geahnt haben. Denke schon. Aber ob er die Täter kannte, das kann ich nicht sagen.«
Der Psychologe widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem kleinen Kästchen auf Steves Wohnzimmertisch. »Neugierig?«, fragte Köhler und wies mit dem Kinn zu dem Relikt.
»Allerdings«, erwiderte Steve, »aber ich will nichts beschädigen.«
»Wenn Sie wollen, rufe ich Kommissar Lumbeck an. Er ist Spezialist für so was.«
Etwas überrascht darüber, dass gerade ein Polizist Spezialist im Öffnen von Schlössern sein sollte, brachte er schmunzelnd ein »Okay« hervor.
Jeff Lumbeck war schnell gekommen. Mit ruhigen Händen öffnete er eine Werkzeugrolle. Für Steve und Köhler mochte das Schloss kompliziert ausgesehen haben, für Lumbeck war es ein Klacks. Aber ein bisschen Show gehörte auch dazu, um den Nimbus des Experten zu mehren. Lumbeck setzte einen Schraubenzieher an, zuckte zurück, tauschte ihn gegen eine Zange ein, tippte das Schloss leicht an, tippte noch mal, nahm einen anderen Schraubenzieher, setzte ab, dachte nach, deckte dann das ganze Schloss mit der Hand ab. Dann gab es ein leises, aber unüberhörbares Klicken.
Lumbeck atmete tief durch und lehnte sich zurück. Es war Steves Part, den Deckel anzuheben. Behutsam griff der mit beiden Händen nach dem Deckel, zögerte einen Moment, sah Köhler und Lumbeck noch einmal in die Augen, dann tat er es.
Ganz vorsichtig.
Der Deckel gab den Blick auf ein rotes Kissen frei, das einem länglichen, goldenen, aufwendig verzierten Gefäß Halt gab. Behutsam nahm Steve den Gegenstand aus dem Kästchen. Eine angenehme Wärme durchfuhr ihn.
Was war das?
War das möglich?
Bildete er sich das nur ein?
Steve öffnete das Gefäß und blickte hinein. Nichts zu sehen. Also kippte er den Inhalt auf seine Hand.
»Vorsicht«, zischte Lumbeck.
Zu spät. Es waren ein paar zusammengebundene Haare und ein Zahn, die in Steves Hand glitten. Diese unglaubliche Wärme wurde noch stärker, ein geradezu betörendes Glücksgefühl breitete sich aus. Steve fühlte sich rundherum wohl. Waren es die Haare und der Zahn, die diese Wärme ausstrahlten?
Steve war verwirrt.
»Alles in Ordnung?«, fragte Köhler.
»Natürlich«, erwiderte Steve und strahlte die Beamten an.
Die beiden blieben noch eine Weile, jeder durfte die menschlichen Überreste anfassen. Verpackt wie Heiligtümer. Reliquien. Steve hatte nicht den Eindruck, dass die Haare und der Zahn auf die Polizisten eine ähnliche Wirkung hatten wie auf ihn. Im Gegensatz zu Steve, dem die warme Ausstrahlung dieser Gegenstände ein Gefühl der Geborgenheit gab, war bei den Beamten nichts dergleichen zu erkennen. Sie wirkten enttäuscht, da sie keine Erklärung für die Reliquien hatten.
Der Grund für einen Mord schien der Schatz nicht gewesen zu sein, wenn man überhaupt von einem Schatz sprechen konnte. Die Beamten verabschiedeten sich höflich. Steve nahm noch eine Schmerztablette, er ging früh zu Bett.
Die Sonne schien durch das geöffnete Fenster, als er erwachte. Es war außergewöhnlich warm. Steve öffnete langsam die Augen, blinzelte die verschwommene Sicht weg. Die Wände waren aus Stein, kleine Nischen dienten als Regale. Tonschüsseln und ein paar Krüge, mehr entdeckte er nicht. Es war nicht sein Schlafzimmer, aber irgendwie kam ihm der Raum vertraut vor.
»Adamo«, hörte er eine Frauenstimme sagen. Sie fuhr auf einer Sprache fort, die er nicht verstand. War das Italienisch? Oder Latein?
Dann hob sich der Schleier. Plötzlich verstand er die Sprache wie seine Muttersprache.
»Adamo, wie geht es dir?« Die Stimme kribbelte in seinem Ohr, sie war so schön wie die Frau selbst. Überwältigt von der Situation, wusste er keine Antwort auf ihre Frage. Doch nach und nach fielen im Dinge ein, als hätte er sie selbst erlebt. So wusste er mit einem Mal den Namen der Frau, die er zuvor noch nie gesehen hatte.
»Jolanda«, sagte er zu seiner Frau, »ich habe Durst.«
Jolanda tupfte mit einem feuchten Tuch seine Stirn ab. »Ich bringe dir Gemüsesuppe. Du musst dich stärken. Du warst mehrere Tage im Fieber.«
Während ihm seine Frau zu essen holte, sah sich Steve noch einmal um. Der Raum war bescheiden eingerichtet. Keine Kaffeemaschine, kein Fernseher, Radio oder sonst irgendein elektronisches Gerät. Nicht einmal Lampen. Die Fenster waren nicht aus Glas, es gab nur schlichte hölzerne Läden. Er war hier zu Hause.
»Iss, Adamo«, sagte Jolanda, »das wird dir guttun.«
Sie hatte recht. Die warme Suppe tat gut. Außerdem schmeckte sie ausgezeichnet. Zweifellos waren da frische Kräuter drin. Auch ein Hauch Honig war zu erahnen, der der dickflüssigen Suppe eine besondere Note gab.
Ein seltsamer Traum, dachte Steve. Es war nicht das erste Mal, dass er sich des Träumens bewusst war, aber dass er selbst die Nahrung schmecken konnte, war neu. So real war es noch nie gewesen.
Später half ihm Jolanda auf, und die beiden gingen an die frische Luft. Vor dem Haus führte ein schmaler, steinerner Weg zu den Nachbarn, deren Häuser allesamt in den Fels gehauen waren. Auch darüber und auf der anderen Seite des Weges, wo es bergab ging, waren weitere Häuserreihen zu erkennen, die allesamt wie in den Berg gemeißelt wirkten. Ein paar Ziegen trotteten vorbei. Ihr Geruch kitzelte in Steves Nase.
Die wenigen Menschen, die hier draußen umherliefen, waren mit einfachem Leinen bekleidet – Kleidung, wie man sie vor Hunderten von Jahren getragen hatte. Steve betrachtete sich und seine Frau. Sie trugen dasselbe.
»Du siehst mich an, als ob ich dir fremd wäre«, sagte Jolanda.
»Ich bin noch nicht ganz fit«, erwiderte Steve.
»Fit? Was soll das für ein Wort sein?«
»Na, fit eben. Es geht mir noch nicht so gut.« Sie sah ihm tief in die Augen, er fühlte, wie er sich in ihnen verlor. Ihm wurde schwindlig. Wie, wenn man jemanden, den man mochte, belog. Er fühlte sich ertappt. Hatte er einen Fehler gemacht?
»Sag mir, wo du bist?«, forderte Jolanda und fasste ihn an beiden Händen.
Steve erschrak und wusste keine Antwort.
»Welches Jahr haben wir?«
Steve konnte auch diese Frage nicht beantworten. Schweiß lief ihm über die Stirn, er merkte, wie er am ganzen Körper zitterte.
»Steve?«
Da brach er zusammen.
Steve schreckte hoch und schlug die Augen auf. Er war in seiner Wohnung in München. Ihm war hundeelend, und sein Kopf pochte wie verrückt. Als hätte er bis eben hohes Fieber gehabt. Seltsamer Traum. Der Geschmack der Suppe lag ihm noch auf der Zunge.
Steve machte sich Kaffee. Da sein Magen knurrte, nahm er sich ein paar Scheiben Toast und suchte im Kühlschrank nach Käse. Während er das Brot aß, fiel sein Blick auf den Wohnzimmertisch, den er von der offenen Küche aus sehen konnte. Die Kiste stand noch immer dort. Als er sie öffnete, war das wohlige Gefühl wieder da.
Sacer nexus.
Er fragte sich, warum er nicht schon gestern darauf gekommen war, die Worte zu googeln, doch noch während er auf seinem Smartphone tippte, kam ihm die Bedeutung schon in den Sinn.
»Heilige Verbindung«, murmelte er. Er konnte die lateinischen Wörter lesen, und er konnte sie verstehen. Und noch etwas fiel ihm auf. Normalerweise verschwanden Träume nach dem Erwachen, aber dieser wirkte so wahrhaftig, als hätte er Jolanda tatsächlich getroffen.
»Käse«, dachte Steve. Der Schlag auf den Hinterkopf hatte wohl mehr durcheinandergebracht, als er gedacht hatte.
Nach dem kargen Frühstück fuhr Steve zum Sender. Dass er noch krankgeschrieben war, war ihm egal. In der Redaktion angekommen, holte er ein paar Festplatten mit Rohmaterial der letzten Jahre von Viktors Geschichte – mit dabei auch der letzte Drehtag. Die Bergung des Schatzes. Dann setzte er sich an seinen Arbeitsplatz im Großraumbüro, um seine E-Mails zu checken, so wie er es immer tat.
Susanne Horn, die Redaktionsleiterin, erschien überraschend hinter ihm, legte sanft ihre Hand auf seine Schulter und sah ihn besorgt an.
»Alles halb so schlimm«, wiegelte Steve ab. »Leichte Gehirnerschütterung.«
»Was hast’n angestellt?«
Steve schaute sie irritiert an. Natürlich, sie wusste noch nichts von Viktors Ermordung. Die Nachrichtensperre funktionierte.
»Ich bin gestürzt.«
Susanne hob einen Zeigefinger. »Denk an unsere Zuschauer«, mahnte sie gespielt. Sie übte immer wieder Druck auf ihre Redakteure aus, wenn die Themen nicht schnell genug fertig wurden. Aber Steve wusste, dass sie das tun musste. Sollten die Einschaltquoten sinken, würde sie dafür geradestehen und im schlimmsten Fall ihren Schreibtisch räumen müssen.
»Die Leute wollen wissen, was in der alten Schachtel ist. Mir war das gar nicht recht, dass er mit der Schachtel alleine weggefahren ist. Das hättest du nicht zulassen dürfen. Und dann dieser Unfall …«
»Ich kümmere mich darum. Gib mir noch etwas Zeit. Wir haben die Geschichte ja exklusiv. Ihr müsst das noch ein bisschen überbrücken. Und mache dir keine Sorgen um die Kiste. Die ist sicher.«
»Klar, Steve, Gesundheit geht vor. Aber vergiss nicht, dass der Sender einen Haufen Kohle in die Story gesteckt hat.«
»Du musst echt bald liefern«, hörte Steve eine Stimme hinter sich sagen. Es war Claudia, die Kollegin, die ihm im Büro gegenübersaß. Sie war auch gerade gekommen und hatte aufgeschnappt, was die Redaktionsleiterin gesagt hatte. »Susanne möchte dir eigentlich mit ihrem Allerwertesten ins Gesicht springen. Viktors Geschichte muss weitererzählt werden. Unser Facebook-Account bricht bald zusammen, wir kriegen täglich Tausende Mails. Was ist denn los?«
Steve schwieg, lächelte Claudia nur an. Er hatte sie seit ihrem Volontariat begleitet, er wusste: Sie war auf dem Weg, eine exzellente Journalistin zu werden. Allzu gerne hätte er ihr mehr erzählt, aber das durfte er nicht. Also sagte er nichts.
Dann widmete er sich wieder seinem Computer und tippte »Stadt in Stein gehauen« in die Suchmaschine.
Gleich auf der ersten Seite wurde er fündig. »Matera, verrückte Stadt in Stein gehauen«, las er. Genauer gesagt, ging es um die Höhlensiedlungen Sassi di Matera. Viele weitere Artikel wurden aufgelistet, in denen die kleine Stadt als Kulturhauptstadt 2019 gekürt wurde. Weiter kam er nicht, weil sein Smartphone klingelte. Lumbeck.
»Gilt unsere Vereinbarung noch? Bezüglich der Geheimhaltung?«, fragte der Kommissar.
»Natürlich«, sagte Steve. »Ich arbeite gerade an etwas anderem. Ihren Pressebericht hat offenbar niemand gelesen. Zumindest nicht hier in der Boulevard-Abteilung.« Seine Augen ließen Sassi di Matera nicht los.
»Können wir uns kurz mal unterhalten?«
Steve willigte ein, und schon eine halbe Stunde später traf er sich mit Lumbeck in einem Café auf dem Gelände des Senders.
»Wie geht es Ihnen?«, erkundigte sich Lumbeck.
»Es ist tatsächlich ein eigenartiges Gefühl. Einerseits ist es schrecklich … Viktor, die Schüsse, das Blut. Aber irgendwie kommt es mir so vor, als ob überhaupt nichts passiert wäre. Ich habe kein Trauergefühl, verstehen Sie?«
»Ich denke, das ist der Schock.«
Für einen Augenblick erlebte Steve noch einmal die Szene im Krankenhaus. Wie die Tür aufgerissen wurde, wie die Schüsse fielen. Wie Viktors Blut von der Bettdecke aufgesaugt wurde.
»Gibt es schon was Neues bei ihren Ermittlungen?«
»Ich muss gestehen, dass wir noch ganz am Anfang stehen«, erwiderte Lumbeck. »Aber was tun Sie überhaupt hier in der Arbeit? Sie sind doch krankgeschrieben.«
»Ich hole mir das Material von Viktor, ich will mir alles noch mal in Ruhe zu Hause ansehen.«
Lumbeck zückte sein Smartphone, auf dem er ein Foto der Kiste hatte. Er hatte die Inschrift fotografiert, nachdem er das Schloss gestern geöffnet hatte.
»Zeigen Sie das Bild bloß nicht meiner Chefin. Sie ist stinksauer, weil Viktor mit der Kiste verschwunden ist, ohne dass sie den Inhalt sehen durfte.«
»Der Inhalt«, begann Lumbeck, »diese Gegenstände, nun, wie soll ich sagen, diese Reliquien – zumindest gehe ich bei der Inschrift davon aus –, könnten es menschliche Überreste von Heiligen sein?«
Steve schüttelte unwissend den Kopf.
»Sie kannten Viktor Thomas seit Jahren. War er sehr religiös oder vielleicht Mitglied einer Sekte?«
»Nein. Viktor war ein sehr gebildeter Mensch. Er kannte sich gut aus mit Geschichte und wissenschaftlichen Dingen. Aber religiös, nein, religiös war er nicht.«
Matera. Die Bilder waren so unheimlich vertraut. Der Tag war schnell vergangen, und es war schon tief in der Nacht, doch Steve saß immer noch auf der Couch und sah sich Fotos von der steinernen Stadt auf seinem Tablet an. Gähnend rieb er sich die müden Augen. Eigentlich wollte er Viktors Kiste nicht anrühren, aber er öffnete sie, nahm die goldene Röhre und schaute sich den Zahn und die Haare noch einmal genauer an. Der Zahn war mit einem feinen Metallring umfasst, man konnte ihn als Kette tragen.
»Steve«, hörte er eine weibliche Stimme.
»Was?« Steve blinzelte schlaftrunken. Er befand sich wieder in dem Raum aus seinem Traum der letzten Nacht. »Oh mein Gott. Ich bin wieder da.« Verlegen lächelte er Jolanda an, die an der Bettkante saß und ihn sorgenvoll ansah.
»Schön. Du bist es, Steve.« Jolanda drückte ihn an sich.
Eine ungewöhnliche Wärme verursachte ein angenehmes Kribbeln, das vom Nacken bis in den Kopf ausstrahlte. Was hatte sie da gesagt? »Du nennst mich Steve?«
»Ja klar, ich spüre doch, dass du es bist.« Fragend sah sie ihn an. Irritiert löste sie die Umarmung.
Steve stand auf. Er fühlte sich wackelig auf den Beinen. Dann begann er, sich im Raum umzusehen.
»Wohin willst du?«
»Ich suche einen Spiegel.«
»Einen Spiegel?« Jolanda lachte. »Einen Spiegel haben wir nicht. Du kannst dich im Wasser ansehen.« Sie deutete auf die Waschschale.
Vorsichtig näherte sich Steve dem Tisch und blickte in die Schüssel. Was er sah, war – Adamo. Dunkles Haar, dunkler Teint, ein typischer Italiener. In jedem Fall: Das Gesicht war ihm völlig unbekannt.
»Crazy Traum«, sagte er und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Tisch. »Ich bin jetzt Adamo.«
»Nein, du bist jetzt Steve. Adamo bist du die restliche Zeit des Tages.«
»Ich habe keine Ahnung, was hier los ist.«
»Sag mir, wer ich bin, Steve.«
»Du bist Jolanda. Wir haben vor fünf Jahren geheiratet. Ich bin Steinmetz. Ich baue Häuser. Hier, hier in Matera.« Steve grinste. »Matera, das habe ich gegoogelt.«
»Gegoogelt, du Scherzkeks. Wir haben das Jahr 1503. Mit Internet kann ich hier nicht dienen.«
»Aber du weißt, was das Internet ist«, wunderte sich Steve.
»Aus welcher Zeit kommst du?«, fragte Jolanda stattdessen.
»2019.«
»Okay! Welcher Monat?«
»März.«
Jolanda setzte sich aufgeregt neben Steve an den Tisch und nahm seine Hände. Bevor sie weitersprach, kaute sie mit den Zähnen an ihrer Unterlippe herum. »Im April 2019 haben wir uns das erste Mal gesehen.« Dann schweiften ihre Blicke in den Raum. »Das werde ich nie vergessen.«
»Was meinst du damit? Was ist das für ein verrückter Traum?«
»Das ist kein Traum, Steve.« Sie legte ihre Hand auf seine und sah ihn flehentlich an. Ihre Haut fühlte sich warm und weich an.
»Wow, so einen realistischen Traum hatte ich noch nie.«
»Steve, ich will wieder heim.«
Doch Steve hatte genug von diesen verrückten Dingen. Es war ihm unheimlich. Alles war so realistisch. Wenn er sich hier schlafen legte, könnte er vielleicht den Traum beenden. »Jetzt will ich aber endlich aufwachen.«
»Aufwachen? Ich helfe dir beim Aufwachen!« Jolanda lachte trocken auf, und Steve staunte nicht schlecht, als sie auf ihn zu trat und ausholte. Ihre Hand knallte ihm ins Gesicht.
»Aua! Bist du verrückt?«
»Das ist kein Traum, Steve!«, schrie sie ihn an. »Das ist mein verdammtes Leben.«
Die Ohrfeige brannte auf seiner Wange. Er verstand überhaupt nichts mehr.
»Du hast mich hierhergebracht, Steve. Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast, aber es ist passiert. Das ist kein Traum. Das ist das Leben. Die Wirklichkeit, Steve. Und ich sag dir was: Mir gefällt diese Wirklichkeit nicht. Du musst mich wieder zurückbringen. Ich will nach Hause.« Sie wurde traurig und war kurz davor zu weinen.
Steve wollte etwas sagen, sie beruhigen, ihr erklären, dass es nur ein Traum sei, doch als er seinen Mund öffnete, kamen ihm fremde Worte über die Lippen. Nein, nicht fremd. Es war dieses Latein, das wie ein merkwürdiger Dialekt aus Adamos Mund klang.
»Was ist mit mir, liebe Frau? Ich denke verrückte Dinge. Und du sprichst, fragst mich merkwürdige Sachen.« Adamo fasste sich an die Backe. »Jetzt brennt auch noch mein Gesicht.«
»Adamo, ich freue mich, dass es dir wieder besser geht«, erwiderte Jolanda. Auch sie sprach jetzt in diesem romanischen Dialekt. Steve entging die Traurigkeit in ihrem Blick nicht. »Du hast im Fieber zu mir gesprochen.«
»Ich habe starke Schmerzen in den Zähnen. Ich muss immer gelbes Wasser spucken, das soll aufhören.«
»Warum erzählst du erst jetzt davon?« Besorgt legte sie ihre Hand auf Adamos Stirn.
Steve erwachte wieder schweißgebadet, und wieder konnte er alle Details aus dem Traum im Kopf behalten. Oder war es kein Traum? Ratlos trank er noch einen Kaffee, bevor er das Haus verließ.
Ein hagerer junger Mann stand vor Steves Eingangstür auf der Straße. Er hatte lange Haare und einen dichten Bart, verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere, als wartete er schon lange. Als er Steve erblickte, trat er eilig auf ihn zu. »Hast du die Kiste?«
»Tut mir leid, ich weiß nicht, was Sie meinen.« Jetzt kam Steve dieser Mann doch unheimlich vor. Schnell ging er weiter, in der Hoffnung, dass er ihm nicht folgen würde. Der Mann sah ihm nur nach. Steve steig in sein Auto und fuhr direkt zum Sender. Es war bestimmt nur ein Fan, der an Übersinnliches glaubte. Davon gab es einige. Es gab richtige Gruppen, die an Viktors Geschichten festhielten. Manche waren schon beinahe fanatisch. Die Facebook-Kommentare machten das deutlich.
»Kannst du mir die Aufnahmen von vor zwei Wochen mal zeigen?«, fragte er Percy, den Cutter, dem er zuvor seine Daten übergeben hatte.
Dieser nickte kurz, klickte sich durch die Ordner und startete dann den Import.
»Die hier?«, fragte der Cutter und ließ einen kurzen Clip laufen.
Steve sah sich die Aufnahme an. Viktor war zu erkennen; er stand direkt vor der Mauer, aus der dann kurz danach die Kiste mit dem eigenartigen Inhalt ausgegraben wurde.
»Ja, danke, du kannst jetzt Pause machen, ich sehe mir das mal alleine durch«, sagte Steve.
Daraufhin zog sich Percy seine Zigarette hinter dem Ohr hervor, bedankte sich und verließ den Raum.
Es gab jede Menge Rohmaterial. Steve sah sich die Clips immer wieder an. Der Moment, als der letzte Stein aus der Mauer gezogen wurde und die Kiste zum Vorschein kam, machte Steve Gedanken. Viktors Blicke gingen in diesem Augenblick mit einem selbstzufriedenen Lächeln an eine Person, die nicht im Bild zu sehen war. Eine Person, die er zuvor immer wieder angesehen hatte. Wer hatte da gestanden? Wem hatte Viktor zufrieden zugelächelt? Steve war es nicht, denn er stand auf der anderen Seite neben Viktor.
Steve ging auf YouTube. Suchanfrage: Viktor Thomas Fundort. Schon kamen erste Ergebnisse. Gezielt suchte Steve Videos, die Leute mit ihren Smartphones aufgenommen hatten. Nach Möglichkeit mit einer Perspektive, die die Person zeigen konnte, der Viktor zugelächelt hatte.
Zehn Clips sah er sich an. Zwanzig. Dreißig. Seine Kaffeetasse war leer, und Steve allmählich genervt. Er wollte den Browser zumachen und sich etwas zu trinken holen, als die automatische Wiedergabe das nächste Video startete. Was war das? Einer schien im passenden Winkel aufgenommen zu haben.
»Na?«, fragte der Cutter, als er von seiner verlängerten Raucherpause zurückkam. »Hast du schon …«
»Kannst du mir diese Person möglichst scharf zeigen?«, unterbrach ihn Steve und zeigte auf eine verpixelte Menschengruppe.
»YouTube? Lass mal sehen.« Percy beugte sich über den Tisch. »Du siehst das alles gerade mit nur 540p, weil wir hier im Sender die Streaming-Rate inhouse gedrosselt haben.«
Steve sah Percy fragend und zugleich erwartungsvoll an.
»Wenn alle mit HD oder UHD streamen, dann geht im Haus nichts mehr«, erklärte er. »Aber ich kann dir den Clip in der vollen Auflösung runterladen.«
Der Cutter machte ein paar Klicks, die Steve irgendwie beruhigten. Wie wenn jemand, der Hilfe beim Arzt suchte, froh war, dass ihm geholfen wurde.
»So. Schau mal«, sagte der Cutter schließlich.
Steve starrte gebannt auf den Bildschirm. Die Personen waren zu erkennen. »Kannst du mir den da bitte vergrößern?«, bat er trotzdem.
»Da hast du Glück, das ist eine UHD-Aufnahme, da kann ich noch viel näher ran.« Der Cutter vergrößerte das Bild und Steve wurde klar, wer da stand und Viktor zurücklächelte, obgleich er die Person nicht kannte. Es war der langhaarige Mann, der ihn vor wenigen Stunden vor seiner Haustür angesprochen hatte.
Andernorts hielt ein Gelehrter einen Vortrag über irdische Geschichte der letzten hundert Jahre. In einem kreisrunden, modernen Saal saßen gut achthundert junge Studenten auf Tribünen. In einer Art Manege stand der Gelehrte, der eine holografische Projektion einer Person in die Mitte des Saales warf.
»Werner Heisenberg«, begann der kleine weißhaarige Gelehrte, »ein deutscher Quantenphysiker, erwog vor neun Jahrzehnten in seiner Unschärferelation, dass es nicht möglich sei, ein Neutron oder Elektron zu beobachten, ohne dabei ein anderes Neutron oder Elektron im selben Atom unbeeinflusst zu lassen. Heute wissen wir, dass dieser Effekt nicht nur innerhalb eines Atoms stattfindet. Die Atome können sogar an unterschiedlichen Orten sein und dennoch eine Verbindung zueinander haben.«
Einige Studenten gähnten. Der Gelehrte fuhr unbeirrt fort.
»Das bedeutet, dass jede Beobachtung oder nur ein Gedanke an etwas, andere Objekte beeinflussbar macht.«
Noch immer schien das Thema die Zuhörer nicht zu begeistern.
Der Gelehrte grinste. »Ihr alle kennt das. Denn auch unsere Neutronen und Elektronen im Gehirn unterliegen der Heisenbergschen Unschärferelation.«
Er deutete dabei mit dem Finger auf sein Gehirn, als ob er den Studenten einen Vogel zeigen würde.
»Wie oft habt ihr an einen guten Freund gedacht, den ihr vielleicht schon lange nicht mehr gesehen habt. Und wie durch ein Wunder meldet sich genau dieser nur wenige Minuten später.«
Jetzt hatte der Gelehrte wieder die Aufmerksamkeit der Studenten.
»Diese Vernetzung der Atome hat Werner Heisenberg schon erkannt. Er konnte sich nur noch nicht erklären, wie das funktioniert. Da sind wir heute schon um einiges weiter. Also denkt daran, wenn ihr in der nächsten Prüfung schummeln wollt. Ich bekomme das mit.«
Gelächter ging durch den Saal.
Steve war zügig auf dem Weg nach Hause. Er hoffte, den Mann mit den langen Haaren wiederzusehen. Aufgeregt parkte er den Wagen nur wenige Meter von seiner Wohnung und sah sich in alle Richtungen um. Aber es war niemand da.
In seiner Wohnung angekommen, gönnte er der kleinen Kiste mit ihren geheimnisvollen Utensilien nur einen kurzen Blick. Er griff zur Fernbedienung, schaltete seinen Fernseher an und ließ sich auf das Sofa fallen. Seine Füße legte er auf den Tisch neben das Kästchen. Dann streifte er mit dem jeweils anderen Fuß seine Schuhe ab. Ohne auf das Fernsehprogramm zu achten, ließ er seinen Kopf nach hinten fallen und schloss die Augen. Wer war der Mann, der noch am Morgen vor seiner Wohnung gestanden hatte?
Im Fernsehen lief ein Fußballspiel. Frauenfußball, Deutschland–USA, ein Freundschaftsspiel. Die amerikanische Torhüterin, Hope Solo, warf gerade den Ball zu einer Mitspielerin. Hope … er hatte sie bei den Olympischen Spielen 2016 getroffen. Im Regal über seinem Fernseher lagen noch heute ihre Torwarthandschuhe. Damals hatte Hope sie nach einem Interview direkt nach dem Viertelfinal-Spiel vergessen. Er wollte sie ihr noch hinterhertragen, aber sie war schon in die Umkleidekabinen verschwunden. So konnte sich Steve über dieses unverhoffte Andenken freuen, auch wenn er sie nicht persönlich kannte, sondern nur ein paar belanglose Boulevard-Fragen gestellt hatte. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte er sich daran, als sie schlecht gelaunt auf ihn zukam. Sie hatte sich über die schwedische Mannschaft geärgert und schimpfte. Als er das sah, beschloss er, ihr ein paar lustige Fragen zu stellen, die mit dem Spiel nichts zu tun hatten. Tatsächlich hatte er das Gefühl, dass er Hope damit aufgeheitert hatte. Vielleicht ließ sie deshalb ihre Handschuhe liegen.
Auf einem Bankett in Rio de Janeiro kreuzten sich ihre Wege erneut. An diesem Tag hatte die amerikanische Mannschaft die Goldmedaille gewonnen. Es war reiner Zufall, dass die beiden ins Reden gekommen waren, sie hatten sich gut verstanden. Ihre Handschuhe hatte er natürlich nicht dabei an diesem Abend. Hope meinte aber, er könne sie behalten.
Steve verspürte das Bedürfnis, die Torwarthandschuhe zu holen. Er hielt sie fest in der Hand, während er das Spiel im Fernsehen verfolgte. Langsamer als das der Männer mochte das Spiel sein, aber stümperhaft, wie manche stur behaupteten, keineswegs. Die deutsche Mannschaft war an diesem Tag stärker, und Hope Solo hatte alle Hände voll zu tun. Sie attackierten immer massiver das Tor der Amerikaner. Jetzt wieder, die deutschen Spielerinnen stürmten. Steve packte den Handschuh immer fester. Auf dem Bildschirm machte sich Hope bereit für den Schuss der Deutschen.
Steves Blick wanderte durch das Stadion. Die Zuschauer, die Trainerbank, die deutsche Stürmerin, wie sie direkt auf ihn zulief. Steve hörte sich aufgeregt atmen, spürte den Schweiß auf der Haut. Eigentlich sollte er jetzt rauslaufen, die Stürmerin stören, sie aus dem Konzept bringen.
Wie, rauslaufen? Warum war er überhaupt auf dem Fußballfeld? Er sah an sich herab. Was er sah, war der Körper der US-Torhüterin. Er war Hope Solo. Jetzt. In dieser Sekunde.
Die deutschen Stürmerinnen waren jetzt am Sechzehner. Zu spät, um rauszulaufen. Der Ball. Hope Solo. Wieso Hope Solo? Steve sah sich seine Hände an, er konnte nicht begreifen, was gerade los war. Ohne zu überlegen, fasste er sich an die Brüste. Im selben Moment brandete Torjubel auf.
Steve erschrak, und plötzlich konnte er Hope Solos Gesichtsausdruck sehen. Fassungslos starrte sie auf ihre Hände, die immer noch auf den Brüsten lagen. Ihre Mitspielerinnen waren nicht weniger fassungslos als sie selbst. Von einem Moment auf den anderen war Steve wieder in seinem Wohnzimmer vor dem Fernseher.
Steve sah sich den Handschuh an, dann starrte er wieder auf den Fernseher. Dort lief gerade die Zeitlupe, wie der Ball direkt an Hope Solo vorbeiflog, aber sie nicht nach dem Ball griff, sondern an ihre Brüste. Die Torhüterin war in Nahaufnahme zu sehen.
»O mein Gott«, sagte Steve laut. Wie konnte es sein, dass er gerade auf dem Spielfeld in einer anderen Person gewesen war? Sein Herz raste und seine Hände zitterten leicht.
Es klingelte an der Haustür. Also legte er zittrig die Handschuhe aus der Hand und griff nach seinem Smartphone. Über eine App sah Steve, wer da vor der Tür stand. Es war der langhaarige Mann, der Steve am Morgen angesprochen hatte.
Über die Smartphone-App hörte er den Mann in den Türlautsprecher reden: »Ich kann Ihnen helfen, mit Viktors Erbe umzugehen.« Dabei machte er einen sachlichen, nüchternen Eindruck. Keine Spur von einem fanatischen Spinner.
Aber woher wusste dieser Mann von Viktors Erbe? Viktors Tod war immer noch Verschlusssache. War der Mann etwa an dem Mordanschlag beteiligt? Nein, das konnte Steve nicht glauben. Schließlich hatten sich die beiden am Fundort des kleinen Kästchens angelächelt. Er musste Viktor gekannt haben. Steves Neugierde gewann schließlich.
»Einen Augenblick«, sagte Steve in sein Smartphone und ging Richtung Tür. Bevor er sie öffnete, sah er noch in einen Spiegel neben der Tür, um sich zurechtzuzupfen. Dann öffnete er.
»Guten Abend, Herr Lombard.« Der Mann reichte Steve lächelnd die Hand.
»Sie waren heute Morgen schon da, richtig? Sie haben was von einem Erbe erzählt?«
»Viktors Erbe, richtig. Nun ja. Ich wollte es so formulieren, dass Sie als Journalist neugierig werden.«
Beschämt gab Steve zu: »Ich muss gestehen, meine Neugier hat mich erst später aufmerksam werden lassen. Daher habe ich tatsächlich gehofft, dass Sie zurückkommen würden.«
»Ich hatte da so ein Gefühl, dass Sie mich doch sprechen wollen. Kennen Sie so ein Gefühl?«
Steve wusste nicht recht, was er antworten sollte, nickte aber zustimmend.
»Dürfte ich …?«, fragte der Fremde und machte eine Geste mit seiner Hand, um zu verdeutlichen, dass er in die Wohnung kommen wollte.
Steves Neugier war groß, und so führte er den Mann herein, der sich dabei entspannt umsah. Sie gingen durch die Tür rechts, etwa zwei Meter dahinter war die offene Küche mit einer Esstheke, und dann links um die Ecke in das offene Wohnzimmer mit den großzügigen Fenstern.
»Oh, Sie sehen sich ein Fußballspiel an«, bemerkte der eigenartige Gast.
Steve runzelte die Stirn? In welcher Beziehung zu Viktor stand der Langhaarige? »Sie wollten mir etwas über Viktor erzählen?«
»Ach so, natürlich, aber zunächst möchte ich mich vorstellen. Ich bin Nikolas Falk.«
Steve nickte. »Meinen Namen kennen Sie ja offensichtlich.«
»Sieht so aus.« Nikolas lächelte. Dann ließ er sich aufs Sofa fallen, als wäre er in seiner eigenen Wohnung. Er warf wieder einen Blick auf den Fernseher. Hope Solo musste vom Platz und klatschte mit der Ersatztorhüterin ab.
»Möchten Sie was trinken?«, fragte Steve ein wenig überfreundlich, denn die Art, wie sich Nikolas in seiner Wohnung zu Hause fühlte, gefiel ihm nicht. Schließlich war er ein Fremder.
»Ja gerne, ein Glas Wasser bitte.« Nikolas breitete die Arme auf der Lehne aus. »Ah, Frauenfußball«, rief er, »wird ja immer populärer in letzter Zeit.«
Steve reichte ihm das Glas und sah noch, wie Hope auf der Bank Platz nahm und sich die Hände vor das Gesicht hielt.
»Was da wohl passiert ist?«, wollte Nikolas von Steve wissen.
Er überging das. »Was wollen Sie?«, fragte er stattdessen.
Nikolas trank einen Schluck Wasser. Dann setzte er das Glas ab und sah Steve an. »Ich kenne Viktor schon lange. Sehr viele Jahre. Wir sind auf eine gewisse Weise in vielen Punkten gleich. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, Ihnen das zu erklären, aber eines kann ich Ihnen sagen: Ich weiß mit Sicherheit, dass Viktor nicht mehr in seiner physischen Form unter uns weilt.«
Etwas verunsichert setzte sich Steve neben den Mann: »Was soll der Blödsinn?«
»Der Mann, der Viktor vor das Auto lief … das war vielleicht kein Zufall. Viktor hat mir gesagt, dass der Mann seinen Namen rief. Und dass seine Zeit gekommen wäre.«
»Ach ja? Wieso erzählen Sie das nicht der Polizei?« Steve stand wieder auf.
Nikolas stand ebenfalls auf und beobachtete jede Reaktion von Steve. »Herr Lombard, Viktor war gewissen Leuten zu gefährlich geworden. Er suchte etwas, was er um keinen Preis finden durfte. Aber er war kurz davor. Seiner Ansicht nach war das, was passiert ist, notwendig, um etwas zu aktivieren. Etwas in Ihnen, Herr Lombard. Das wusste Viktor schon lange. Auf diesen Augenblick hat er schon ewig gewartet. Na ja, zumindest ein paar Hundert Jahre.«
»Ein paar Hundert Jahre? Sie wollen mich auf den Arm nehmen, oder?«
»Herr Lombard, Sie haben doch schon von Reinkarnation gehört? Wie denken Sie darüber?«
»Weiß nicht. Viktor selbst hat behauptet, in einem früheren Leben dieser Ritter gewesen zu sein. Aber …«
Im Fernsehen lief gerade noch einmal eine Wiederholung des letzten Torschusses der Deutschen und eine Nahaufnahme von Hope Solo mit den Händen an ihren Brüsten.
»Viktor war ein Seelenwanderer«, behauptete Nikolas, während Steve gebannt auf den Bildschirm sah. »Und wenn Sie, oder darf ich du sagen?«
Steve nickte nur, beobachtete aber immer noch beiläufig den Fernsehbildschirm. Eigentlich unhöflich, dachte Steve kurz. Aber sein Besucher war ja fast in der gleichen Blickrichtung. Er würde es sicher verstehen. Es ging ja um Fußball.
Nikolas deutete das Nicken als ein Ja. »Also, wenn dir in den letzten Tagen etwas Unbeschreibliches passiert ist, dann ist das Viktors Erbe.«
Steve riss sich vom Fernsehen los. Die letzten zwei Sätze des Fremden schossen ihm durch den Kopf. »Ein … was? Ein Seelenwandler? Erbe?«
»Nicht Seelenwandler. Viktor verwandelt keine Seelen. Er wandert. Viktors Seele ist wie ein Reisender, der sich seit vielen Hundert Jahren von Körper zu Körper bewegt.« Nikolas sah in Steves fragendes Gesicht und lachte. Er legte eine Hand auf Steves Schulter und formulierte den nächsten Satz vertrauter, fast kumpelhaft: »Ich sehe schon. Du wirst mir jetzt Löcher in den Bauch fragen. Aber eines gleich vorweg: Ich bin froh, dass ich mit dir spreche. Ich hatte schon befürchtet, dass Viktor deinen Körper besetzt hat.«
Die kurze Stille, die daraufhin entstand, wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Steve brauchte noch ein paar Sekunden, bevor er sein Smartphone aus der Hosentasche zog. Sein Verstand sagte ihm, das eben Gehörte als Märchen zu betrachten und den Mann rauszuwerfen, wenn da nicht sein Erlebnis mit der Fußballspielerin gewesen wäre.
Das Display zeigte eine bekannte Nummer an: Lumbeck.
»Einige Nachrichtendienste wollten den Namen des Ermordeten im Krankenhaus aus unserem Pressebericht wissen. Es ist ein Pressetermin für morgen Vormittag um 10 Uhr angesetzt worden. Ich denke, Sie verstehen, dass dieses Thema von unserer Seite nicht exklusiv für Ihren Sender freigegeben werden kann.«
»Klar, Herr Lumbeck. Aber bitte, haben Sie denn inzwischen Hinweise auf den Täter?«
»Herr Lombard, ich weiß, dass Ihnen Herr Thomas persönlich sehr nahestand. Ich muss Sie dennoch bitten, sich auch bis morgen zu gedulden.«
»In Ordnung. Danke Ihnen und schönen Abend.«
»Ihnen auch. Bis morgen.«
Steve hatte kaum aufgelegt, da fragte Nikolas: »Ich hatte recht, nicht wahr? Viktor ist nicht mehr unter uns.«
Steve steckte sein Smartphone wieder in die Hosentasche. Dann nickte er und sagte mit zittriger Stimme: »Ich war bei ihm, als es passierte. Er wurde erschossen. Mich haben die Täter bewusstlos geschlagen. Ich durfte nichts sagen. Es gab eine Nachrichtensperre.« Mit einem Mal traf ihn die Traurigkeit wie ein Vorschlaghammer. Er atmete tief durch, wollte sich seinen Zustand nicht anmerken lassen und drehte sich zum Fenster. Draußen senkte sich der Abend über die Stadt.
»Oh«, sagte Nikolas, »das tut mir leid. Darf ich fragen, ob du in der letzten Zeit so etwas wie fremde Gedanken hattest? Irgendetwas Ungewöhnliches?«
»Wie meinst du das?«
»Dass kleine Teile von Viktors Seelenenergie in dir sind, durch dieses traumatische Erlebnis. Das ist das Erbe von Viktor. Kann sein, dass das Möglichkeiten in dir geweckt hat, die neu für dich sind.«
Steve griff sich an die Stirn und massierte seine Schläfe. »Tatsächlich sind da ein paar merkwürdige Dinge geschehen. Du sagst was von Seelenwanderer. Ist das jemand, der seinen Körper verlässt und in einen anderen geht?«
Nikolas machte ein erfreutes Gesicht und bejahte. »Du musst diese Fähigkeiten erst kontrollieren lernen.« Nikolas breitete die Arme aus, wie wenn man einen alten Freund wiedersah. »Willkommen bei den Priori.«
»… bei den Priori?«
»Ganz genau. Du musst wissen, dass eine Seelenwanderung nur stattfinden kann, wenn der Geist des anderen Körpers schwer angeschlagen oder willensschwach ist. In deinem Fall wohl eher das Erstere. Na ja, wenn Rauschmittel im Spiel sind, geht es auch. Oder wenn jemand bewusstlos ist. Dann kann eine Seele durch einen Priori unterwandert werden.«
Nikolas musste lachen, als er Steve ansah. Vermutlich amüsierte ihn sein stirnrunzelndes Fragezeichengesicht.
Zaghaft stimmte Steve in das Lachen ein. »Entschuldigung. Ich muss mich an deine Antworten erst gewöhnen.«
»Klingt komisch, wie?«
»Wie soll ich sagen … unglaubwürdig.«
Na ja, bis auf die Sache mit Hope Solo eben. Steve entschied, es zunächst für sich zu behalten. Selbst wenn alles stimmte, was Nikolas sagte, hätte Steve als Seelenwanderer nicht ihren Körper übernehmen können. Unter Drogen hatte sie ja wohl kaum gestanden.
»Du musst dich den Tatsachen stellen«, sagte Nikolas. Er musterte Steve. »Dir ist schon etwas Ungewöhnliches passiert, habe ich recht?«
Steve sagte nichts. Nikolas griff in seine Tasche und fischte eine Visitenkarte heraus. »Komm morgen Vormittag zu mir, dann reden wir. Ach, und bring doch bitte Viktors Kiste mit.«
»Nikolas Falk, Wissenschaftlicher Leiter«, las Steve leise vor. Darunter stand noch was von einem Institut namens WIAP. Der Name war Steve unbekannt. Er würde es später googeln, so wie er es immer machte. »Gut, ich komme. Oh Moment, morgen Vormittag geht nicht. Pressekonferenz der Polizei. Danach muss ich die Story schreiben.«
Während Nikolas sich Richtung Tür bewegte, setzte sich Steve auf das Sofa.
»Dabei fällt mir ein, ich bin noch krankgeschrieben. Ich bitte meine Kollegin, zur Konferenz zu gehen.«
»Schön, wie du dir die Antwort auf dein Problem schon selbst gegeben hast«, erwiderte Nikolas. »Wir sehen uns morgen.« Dann verließ er die Wohnung.
Steve griff sofort zum Telefon. Er versuchte, seine Stimme krank und schwach klingen zu lassen, als er sich meldete.
»Hey, Steve, wie geht’s?«, fragte die Stimme am anderen Ende.
»Hey, Claudia«, sagte er und täuschte ein Husten vor, »so lala. Ich muss dich um etwas bitten.«
»Du fällst doch jetzt nicht etwa aus? Die Horn hat dich heute schon überall gesucht.«
»Aber sie weiß doch, dass ich krankgeschrieben bin.«
»Das ist ihr doch egal. Sie weiß, dass du gestern und heute im Sender warst. Und jetzt bist du plötzlich krank? Du hast was verbockt, oder?«
»Hör zu«, zischte Steve. »Viktor ist im Krankenhaus ermordet worden. Ich selbst war bei ihm und wurde bewusstlos geschlagen.«
Claudia stockte. »O Gott. Wie schrecklich. Wurden die … wer hat … geht es dir gut? O mein Gott, tut mir leid, dass ich dich so … Aber, warum weiß ich davon nichts?«
»Das war eine Hinrichtung.«
Für einen Moment war nur noch ein schweres Atmen in der Leitung zu hören.
»Claudia, mir geht es wirklich nicht gut. Ich habe eine Gehirnerschütterung, und das ist auch der Grund, warum ich dich bitte, dass du zur Pressekonferenz ins Präsidium musst. Ich maile dir die Kontaktdaten. Bitte entschuldige mich dort. Ich werde noch mal in die Klinik gehen.«
»Was heißt Pressekonferenz? Das ist doch ein exklusives Thema von uns.«
»Mord gibt’s nicht exklusiv. Bitte vertritt mich dort und mach einen Bericht fertig. Susanne musst du erklären, dass ich nichts sagen durfte. Und keine Sorge. Die Inhalte der Box haben wir exklusiv. Wir machen danach die ganze Story zusammen weiter. Bitte, Claudia.«
Wieder war Stille in der Leitung.
»Okay, ich mach’s.«
»Danke. Morgen um zehn ist der Pressetermin.«
»Okay«, sagte sie noch mal. »Furchtbar, was da passiert ist. Ich muss das … ich muss es jetzt auch erst mal verarbeiten. Gute Besserung, Steve.«
Dann war ein lautes Gurren aus dem Telefon zu hören.
»Was war denn das?«, fragte Steve.
»Meine Katze. Sie spürt, dass ich traurig bin, und will nur trösten«, sagte Claudia leise.
»Danke, dass du mir hilfst. Wir reden morgen.«
Steve mailte Claudia die Daten von Jeff Lumbeck zu und leitete auch die Einladung zur Pressekonferenz weiter. Dann dachte er daran, was er Claudia an Exklusivität versprochen hatte. Der Inhalt der Kiste war ihm ja selbst noch ein Rätsel, wie sollten sie das als Story verkaufen? Mit Seelenwanderern bräuchte er gar nicht erst anzufangen, wenn er seinen Job behalten wollte.
Bei Lumbeck entschuldigte sich Steve per Mail, verbunden mit der Bitte, in der Pressekonferenz nichts über den Inhalt der Box zu sagen. Dann war es wieder Zeit, zu Bett zu gehen.
»Adamo, halt still«, hörte er eine fremde, männliche Stimme auf Latein sagen. Der Schmerz durchzuckte vom Mund aus den ganzen Körper.
Adamo öffnete die Augen. Unscharf erkannte er einen Mann, der sich über ihn beugte. In seinem Mund spürte er etwas aus Metall, das seinen Zahn umklammerte. Der Schmerz wurde unerträglich.
»Jetzt ist es gleich geschafft«, sagte der Mann und machte im selben Augenblick einen kräftigen Ruck. Er hatte ihm offensichtlich einen Backenzahn gezogen. Das Stechen verwandelte sich in ein warmes Pochen. Adamos Mundhöhle füllte sich mit Blut und Eiter. Er musste spucken.
»Hier, kau diese Kräuter.« Jolanda reichte Adamo eine Handvoll Blätter.
Steve, der Adamos Körper wieder komplett eingenommen hatte, spürte den Schmerz, als ob es sein eigener wäre. Im Grunde genommen war er das auch. Als er auf den frischen Kräutern herumkaute, wurde es langsam besser. Er hatte so viele Fragen, doch das Sprechen war jetzt einfach nicht möglich. Zu sehr pochte und schmerzte sein Kopf. Der Zahnzieher gab Jolanda ein kleines Säckchen. Sie bedankte sich und ging zu Adamo.
»Komm, ich stütze dich«, sagte sie leise, sodass es wieder ein angenehmes Kribbeln in Steves oder vielmehr Adamos Nacken erzeugte. Das tat ihm gut.
Gemeinsam gingen sie langsam die in Stein gehauenen Straßen zurück zu ihrem Haus. Steve fiel auf, dass ihm nach und nach nicht nur die Schmerzen und die Gefühle Adamos zuteilwurden, sondern auch seine Erinnerungen. Vielleicht müsste er Jolanda gar nichts fragen.
Von Minute zu Minute wurde sein Wissen erweitert. Adamo war Steinmetz – das wusste Steve schon. Adamo liebte seine Frau. Sie kannten sich schon, seit sie Kinder waren. Beide waren mit ihren Familien aus Norditalien in den Süden gekommen, genauer nach Otranto, um dort ein neues Leben anzufangen.
Er war etwa zehn Jahre alt gewesen, als es einen Angriff des türkischen Sultans Mehmed II., auch Mehmed der Eroberer, gegeben hatte. Es war der 11. August 1480, als Jolandas und Adamos Eltern bei einem osmanischen Angriff sterben mussten. Beide Kinder waren versklavt worden. Wie durch ein Wunder hatten sie sich in der Gefangenschaft wiedergefunden und konnten fliehen – vier Jahre später.
Adamos Erinnerungen flogen an Steve vorbei. Mit einem Mal überfiel ihn tiefe Trauer. Er sah Adamos kranke Ehefrau, er sah einen toten Säugling. Und neuer Schmerz, der Schmerz des Verlustes. Jolanda lag im Sterben, während Männer und Frauen um ihr Bett herum die Köpfe schüttelten. Auch ein Geistlicher war da. Dann bäumte sich Jolanda auf. Sie keuchte schwer. Alle Muskeln spannten sich gleichzeitig an, sie riss die Augen auf und schrie. Hektisch schaute sie sich um, sagte auf Deutsch: »Wo bin ich?« Der Pater war verblüfft, wollte mit Adamo sprechen. Steve sah, wie Adamo sich über Jolanda beugte, überglücklich, dass sie lebte. Flüsterte er ihr etwas zu?
Diese Bilder waren nicht klar. Steve erinnerte sich aber an einen anderen Tag, als der Priester mit Adamo geredet hatte. »Sie hat mit fremder Zunge gesprochen. Du musst das genau beobachten. Denke bloß, wenn sie besetzt ist!«
»Es ist ein schweres Trauma, das sie plagt. Sie hat ihr Kind verloren, unseren Sohn.«
»Was sie offensichtlich vergessen hat …«
»Sie ist meine Frau, und ich liebe sie. Ich lasse nicht zu, dass Ihr schlecht über Jolanda sprecht.« Erbost hatte Adamo damals den Priester stehen lassen.
Jolanda und Adamo waren inzwischen fast an ihrem Haus angekommen.
»Er ist wieder hier, Jolanda«, murmelte Adamo, so gut es seine dicke Backe zuließ. »Ich spüre ihn. Er ist in meinem Kopf.«
»Was meinst du?«
»Dieser Steve, wie du ihn immer nennst.« Dabei tropfte Blut aus Adamos Mund. Steve zuckte innerlich zusammen, irgendwie fühlte er sich ertappt. Wie ein Spanner, der ungebeten ein fremdes Leben beobachtete.
»Steve, ich weiß, dass du da bist«, sagte Adamo laut, »und ich danke dir, dass du mir die Zahnschmerzen genommen hast. Tut’s sehr weh?«
Das klang schon beinahe sarkastisch, aber Adamo hatte recht. Die Schmerzen hatte er gespürt. Gut möglich, dass Adamo davon nicht viel mitbekommen hat.
»Ich … ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin«, stammelte Steve aus Adamos blutigen Mund.
Jolanda wirkte verunsichert. Sie konnte im Moment sicher nicht klar unterscheiden, wer gerade zu ihr sprach. Adamo blieb vor ihrem Haus stehen. »Siehst du? Ich habe recht.« Steve fragte sich, wie das auf Jolanda wirken musste, wenn zwei Männer mit einer Stimme aus einem Mund sprachen.
»Dann mache ich euch beiden mal eine kräftige Suppe«, sagte Jolanda lächelnd. Sofort ging sie Richtung Haus, verdrehte dabei ein wenig die Augen.
Adamo saß am Küchentisch, als Jolanda eine Schale brachte.
»Den Priester muss ich schon seit Tagen belügen«, murmelte Adamo. »Er möchte dich einer Austreibung unterziehen, Jolanda …«, Adamo fixierte ihre Augen, »… oder soll ich Julia sagen?«
Steve konnte alles sehen, spüren und hören. Beim Namen Julia wurde er stutzig. Ihm war keine Julia bekannt.
»Hörst du, Steve?« Adamo wurde energischer und drehte dabei die Augen, als ob er in sich hineinsehen und dabei lauter sprechen müsste.
»Versuch, ruhig zu bleiben, Adamo«, bat die Frau, die Julia genannt wurde. »Alles wird wieder gut. Du wirst deine Jolanda wiederbekommen. Ich spüre ihre Anwesenheit, so wie du jetzt Steve spürst«, sagte sie und hielt Adamos Hand.
»Pater Matteo behauptet, Jolanda sei vor drei Monaten mit unserem Kind von uns gegangen. Ein böser Geist wäre jetzt in Jolandas Hülle.«
»Matteo ist ein böser Geist.«
»Ich will dir ja glauben. Ich will nur, dass dieser Steve alles wieder richtet und mir meine Jolanda zurückgibt.«
Steve fühlte sich überfordert und er hoffte, dass Adamo es nicht merkte. Wie sollte er denn alles wieder umkehren?
»Ist er noch in deinem Kopf?«, fragte Jolanda.
»Keine Ahnung, die Schmerzen werden stärker. Kann sein, dass er weg ist«, antwortete Adamo mit Tränen in den Augen.
»Wird Steve uns wiederfinden? In ein paar Tagen müssen wir nach Trentino aufbrechen. Du weißt, meine Großeltern brauchen mich auf dem Hof.«
Steve sah in Adamos Gedanken, dass die Großeltern nicht der Hauptgrund waren, Trentino zu besuchen. Pater Matteo war der Grund. Er hatte Adamo zu verstehen gegeben, dass es zur Anhörung kommen würde, wenn Jolanda nicht zu sich käme. In seinen Augen war sie von den Toten zurückgekommen und nicht mehr sie selbst.
Während Hexen in Italien im Mittelalter nicht viel zu befürchten hatten, war die Kirche mit Ketzern oder Besessenen weniger zimperlich. Jolanda würde möglicherweise Tage oder Wochen verhört; ihr blühte Exorzismus, bliebe sie in der Stadt. Pater Matteo war überzeugt davon, Jolanda sei von einem Dämon besessen. Er wartete nur noch auf eine Depesche aus Rom. Papst Alexander VI. sollte dem Exorzismus zustimmen. Er hätte auch den zuständigen Kardinal um Erlaubnis fragen können. Matteo war ein guter Bekannter der Familie Borgia, deren Oberhaupt der Papst war.
»Steve kommt und holt mich. Dann bekommst du deine liebe Frau zurück«, sagte Julia, die immer noch Adamos Hand hielt.
Steve hörte die Worte und spürte die Hand der Frau, die er nur als Jolanda kannte. Er spürte eine unglaublich starke Wärme, die angenehm aus seinem Herzen kam. Sein Körper prickelte bis in die Fingerspitzen, doch die Worte verhallten und die Bilder verschwanden.
Als er die Augen öffnete, war er wieder in seiner Münchner Wohnung. Die ersten Sonnenstrahlen kamen durch sein Fenster. Er lag in seinem Bett und konnte sich kaum bewegen.
Seit drei Nächten träumte er von diesem Ort, an dem er nie gewesen war. Von Menschen, die er nicht kannte. Dennoch empfand er eine starke Bindung zu der Frau, die anscheinend aus seiner Zeit kam und nicht aus dem 16. Jahrhundert.
Julia … Wer war Julia? Und warum sprach sie aus Jolandas Mund? Dieser Nikolas Falk hatte von Seelenwanderungen gesprochen. Ob er ihm weiterhelfen konnte? Nikolas nannte sich einen Priori.
Durch die Bindung zu Adamo konnte Steve plötzlich gut Latein, wenn auch mit Dialekt. Noch im Liegen schnappte sich Steve sein Smartphone, um diesen Dialekt zu googeln. Schon nach wenigen Minuten fand er eine Popband auf YouTube. Sie bestand aus drei jungen Frauen, die tatsächlich in dem lateinischen Dialekt sangen, den Adamo und Jolanda sprachen. Ladinisch, eine noch immer gesprochene lateinische Variante aus der Südtiroler Gegend. Gänsehaut breitete sich an Steves Nacken aus. So seltsam war es doch für ihn, diese fremde Sprache mit einem Mal zu verstehen. Steves journalistischer Trieb wurde geweckt und versuchte, Verbindungen mit dem Erfahrenen und dem Erlebten zu knüpfen. Nikolas erzählte von den Priori. Das musste so etwas wie Erster, Vorderer, Vorgehender bedeuten. Hatte das was mit einer Religion zu tun? In mehreren Ordensgemeinschaften war ein Prior der Vorsteher eines Klosters. Aber was waren Priori? Antworten, die sich Steve von Nikolas Falk erhoffte.
Rasch ging Steve ins Bad und machte sich fertig. Auf seinem Smartphone hörte er sich dabei noch einen Song der ladinischen Band an. Dann nahm er die Kiste samt Inhalt und packte sie wieder in die Schachtel, die er mit der Post bekommen hatte. Die Schachtel steckte er in seine Umhängetasche. Auf seinem Notebook gab er die Webadresse des Instituts ein, bei dem Falk arbeitet. WIAP, Forschungsgebiet dunkle Materie und dunkle Energie. Astrophysik.
Als er aufbrechen wollte, läutete es an der Tür. Steve fragte sich, wer so früh morgens klingelte, es war gerade erst sieben Uhr.
Er klappte sein Notebook zu und sah auf seine Kamera-App. Es war Köhler, der Polizeipsychologe. Steve steckt das Notebook zur Schachtel in die Tasche und öffnete die Tür.
»Guten Morgen, Herr Lombard. Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«
»Nein, nein, ich war schon auf. Was führt Sie zu mir?«
»Herr Lumbeck hat mich gebeten, nach Ihnen zu sehen. Sie kommen heute nicht zur Pressekonferenz?«
Steve setzte sich und gab Köhler mit einer Geste zu verstehen, dass er sich auch setzen könne.
»Ich habe eine hervorragende Kollegin gebeten, einzuspringen. Sie wird mich über jede Einzelheit unterrichten. Ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, dort hinzugehen. Am Ende werde ich noch von meinen Kollegen interviewt. Das könnte ich nicht. Entschuldigen Sie. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«
»Nur wenn es Ihnen keine Umstände macht«, sagte Köhler.
Steve stand auf und ließ zwei Kaffee aus seinem Vollautomaten laufen.
»Ich verstehe Ihre Bedenken. Sie sind persönlich betroffen. Wir machen uns Sorgen um Sie, Herr Lombard. Wie geht es Ihnen heute?«
Steve brachte den Kaffee, er sagte nichts.
»Wie haben Sie das Ereignis verarbeitet?«, hakte Köhler nach.
Innerlich musste Steve lachen. Was er erzählen könnte, würde Köhler extrem interessieren. Und er würde ihn für verrückt halten. Aber nichts zu sagen, war auch nicht gut. Schließlich entschied er sich dafür, dem Psychologen die Wahrheit zu erzählen.
»Ich träume sehr intensiv in den letzten Tagen.«
»Von dem Tag im Krankenzimmer?«
»Nein, eigentlich nicht. Eher von Geschichten aus dem Mittelalter.«
»Sie meinen die Zeit, aus der die Kiste kommt, die wir geöffnet haben?«, fragte Köhler.
Erst jetzt fiel Steve dieser Zusammenhang auf. »Ja, Sie haben recht. Dass ich das nicht gleich bemerkt habe …«
Vielleicht sollte er dem Psychologen ein paar Fragen stellen, um herauszufinden, wie viel Steve ihm anvertrauen konnte. »Sagen Sie Herr Köhler, was halten Sie eigentlich von Viktors Geschichte?«
»Sie fragen, ob ich glaube, dass Herr Thomas früher tatsächlich Götz von Berlichingen gewesen ist?« Köhler grübelte einen Moment. »Ich weiß nicht, aber ich bin sicher, dass wir alle schon ein Vorleben hatten. Also, wenn die Frage sein soll, ob ich an Wiedergeburt glaube, so lautet die Antwort: Ja. Aber ob Thomas wirklich der Götz war?«
Steve war erstaunt. Wieder ein Mensch, der an geistige, spirituelle Dinge glaubte. Vielleicht auch von Berufs wegen. »Wie würden Sie meine Träume erklären?«
Köhler nahm eine lockere Haltung ein, lehnte sich etwas zurück, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme so, dass er mit einer Hand seinen Kinnbart zwirbeln konnte. »Das kann mehrere Gründe haben. Unser Gehirn spielt uns manchmal einen Streich. Und gerade Ihr Gehirn hat im Moment sehr viel zu verarbeiten. Oft ist das den Betroffenen gar nicht bewusst. Sie haben bei einem Mord zugesehen. Ein Freund wurde ermordet. Die Geschichten Ihres Freundes, die seinen Erzählungen nach im Mittelalter spielen – das alles begleitet Sie im Schlaf. Ihr Gehirn versucht vielleicht, das Erlebte zu verarbeiten, damit Sie damit leben können.«
Dann wurde Köhler etwas ernster und verfiel in einen Redefluss. »Mit der alten Kiste und den Reliquien sind Gegenstände aus der Vergangenheit zu Ihnen gekommen. Ich bin mir sicher, dass dem Inhalt der Kiste eine Geschichte vorausgeht. Und vielleicht hoffte Thomas, eine geistige Verbindung aufzubauen. Aber die letzte Möglichkeit würde Ihnen gar nicht gefallen. Und ich weiß auch aus ihren Berichten, dass Sie sowieso nicht an so etwas glauben.« Köhler verstummte, als hätte er bemerkt, dass dieses Thema nicht sehr glaubwürdig klang.
»Sie machen mich neugierig. Bitte erzählen Sie.«
Köhler sah Steve an. »Sie werden mich auslachen.«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Ich möchte nicht esoterisch auf Sie wirken. Es ist nur so … wie soll ich das sagen?« Köhler versuchte, Wörter zu finden, die ihn nicht lächerlich machen würden. »Manche Menschen glauben, dass Verstorbene noch unter uns wandeln. Das sind Menschen, die zu ihren Lebzeiten eine starke Bindung zu bestimmten Orten oder Gegenständen aufgebaut haben. Nicht ohne Grund wird oft behauptet, dass es in alten Gebäuden spukt. Das sind womöglich Geister, also Seelen, die sich nicht von ihren Besitztümern trennen wollen oder die meinen, sie hätten noch etwas zu erledigen. Viele von ihnen, so sagt man, wissen nicht einmal, dass sie verstorben sind.«
Steve, der vor einer Woche noch über so einen Spruch gelacht hätte, sagte nichts, blieb regungslos und starrte Köhler an.
Als wüsste Köhler nicht so recht, wie er mit Steves ausbleibender Reaktion umgehen sollte, zwirbelte er nervös an seinem Bart. Vermutlich rechnete er nach einer solchen Behauptung mit einer Reaktion.
»In ihrer Kiste wohnt also möglicherweise ein Geist«, sagte er und schmunzelte, als ob er versuchte, die Situation aufzulockern.
Steve grinste und klopfte dem Psychologen auf die Schulter. »Ja, das wird’s sein.«
»Wo ist das gute Stück überhaupt?«, fragte Köhler etwas verunsichert. Vielleicht hatte er das Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben.
»Ich habe sie weggepackt.« Instinktiv blickte Steve auf die Tasche, in der er die Schachtel verstaut hatte. Als er Köhler wieder ansah, hatte dieser auch die Tasche im Visier. Der Psychologe war Steves Blick gefolgt.
»Kann ich sie noch einmal sehen?«
»Ein andermal«, sagte Steve kurz angebunden. »Bitte sagen Sie Ihrem Kollegen, dass es mir soweit gut geht. Aber wie ich Ihnen ja schon sagte, ich möchte keine Konfrontation mit meinem eigenen Berufsstand. Claudia Weiß wird mich vertreten.«
Kurze Stille, dann stand Köhler auf. »Danke für den Kaffee. Bitte denken Sie nicht, dass ich so ein verrückter Geisterpsychologe bin. Aber manchmal liegen die Antworten eben nicht in unserer erklärbaren Welt.«
Ein langhaariges Mädchen mit übergroßen Augen betrat den Raum und sah den Mann vor ihr abwartend an.
»Balvi Hishient, du bekommst in den nächsten Tagen eine Sonderaufgabe von mir.«
»Ich verstehe nicht, Gelehrter Ganda.« Das Mädchen, das Balvi genannt wurde, setzte sich.
»Ein guter Freund hat mir ein paar Informationen besorgt, die dir bei deinen Prüfungen nützlich sein können.«
»Ach«, meinte Balvi und nahm das Tablet, das der Gelehrte ihr reichte.
18. August 1503 in Rom. Ein Diener hatte den Papst tot in seinen Gemächern gefunden. Sein Leibarzt, Pietro d’Argellata, ging von einem unnatürlichen Tod aus. Sein Körper war in den Abendstunden schnell stark aufgequollen. Aus Körperöffnungen sowie aus Teilen der Haut trat eine schwarze, übel riechende Flüssigkeit aus. In den Händen hielt Papst Alexander ein Schreiben von einem Pater Matteo.
Das Mädchen sah den Gelehrten an. »Wie soll mir das helfen? Ich wollte die irdische Technik studieren und nicht deren Mittelalter.«
Ganda zuckte mit den Achseln: »Du wirst es schon sehen. Aber wegen der irdischen Technologie, warte auf meinen nächsten Vortrag.«