Читать книгу Steve Lombard - Stefan A. K. Weichelt - Страница 5
Das Vermächtnis
ОглавлениеNikolas Falk erwartete Steve bereits in der in weißen Marmor gehaltenen Empfangshalle des Instituts. Viel Glas und ein paar ebenfalls mit Marmor verkleidete Säulen. In der Mitte der Halle war ein Empfangstresen. Die dort sitzenden Frauen übergaben Nikolas einen Gästeausweis für Steve. Ihm fiel ein, dass er nur die Überschrift auf der Webseite gelesen hatte. Einen solch großen Empfangsbereich hätte er nicht erwartet.
Nikolas hieß Steve herzlich willkommen und übergab ihm den Gästeausweis.
»Was genau macht ihr hier? Was soll das sein, dunkle Materie?«, fragte Steve Nikolas. Für einen Moment musste er an Köhlers Geistertheorie denken und wie sehr er sich früher doch über diese Art von esoterischen Spinnern amüsiert hatte.
»Klingt nach mystischen Dämonen, wie?« Nikolas lachte. »Für einen Journalisten bist du nicht gut informiert. Recherchiert man ein Institut nicht wenigstens auf der Webseite, bevor man …« Nikolas stockte, als er Steve in die Augen sah. »Okay, du bist sicher etwas durch den Wind. Ich denke, die letzten Tage haben dir doch etwas zugesetzt.« Er führte Steve durch das Institut. »Jetzt lernst du erst mal unser Team kennen. Und dann erklär ich dir, was dunkle Materie ist.« Dabei machte er eine gespielt geheimnisvolle Geste mit den Händen und grinste.
Sie betraten einen Raum mit mehreren Arbeitsplätzen. Technische Geräte, die Steve keinem Zweck zuordnen konnte, standen auf den Tischen und in Regalen. Steve hatte sich unter einem solchen Institut eher ein Labor vorgestellt, in dem viele Mikroskope oder Glasröhrchen standen.
»Darf ich vorstellen? Anja, Larissa, Ralf und Arnold. Meine Teamkollegen. Kollegen, das ist Steve Lombard.«
Alle Anwesenden wirkten sehr jung, vielleicht Mitte zwanzig. Anja, die den beiden am nächsten war, stand auf und gab Steve lächelnd die Hand. Sie hatte dunkle, zottelige Haare. Aber irgendwie passte es zu ihrer zierlichen Figur und gab ihr einen frechen sowie sympathischen Ausdruck. Die beiden Männer hoben locker die Hand zum Gruß und wandten sich gleich wieder ihrer Arbeit zu. Larissa kam auch auf Steve zu. Sie war voller Sommersprossen und hatte rote, lange, gewellte Haare. Auch sie gab Steve die Hand zu Begrüßung.
Nikolas richtete seine Worte zunächst an Steve, dann an die beiden Frauen. »Unsere Abteilung ist bemüht, die dunkle Materie zu erforschen und ihre Existenz zu beweisen. Leider hat sich unser Gast mit dem Thema noch nicht auseinandergesetzt. Vielleicht könnte einer von euch ihm in wenigen Worten Hilfestellung erteilen, während wir den ersten Versuch starten.«
Anja winkte Steve zu sich. »Kommen Sie mit, ich bereite Sie vor und erzähle Ihnen was über unsere Arbeit.«
Steve war für einen Moment versucht, Anjas Hand zu nehmen, dachte aber dann, dass es vielleicht komisch aussehen würde, wenn sie Hand in Hand gehen würden. Anja zeigte dann auf einen Nebenraum, in den sie wohl mit ihm gehen wollte. Durch die Armbewegung öffnete sich ihr weißer Laborkittel und ihr T-Shirt war zu erkennen. Darauf war eine mit Blättern gefüllte Glühbirne gedruckt. Darunter stand der Slogan: »Think Green!«
»Ach, Steve«, hielt Nikolas sie auf, ehe die beiden verschwinden konnten.
»Ja?«
»Das Kästchen. Könnte ich es haben?«
Steve zögerte. Sollte er Nikolas das Kästchen wirklich überlassen? »Da wäre ich dann schon gerne dabei, wenn Sie, wenn du …«
»Keine Angst«, unterbrach Nikolas mit einem grinsenden Gesicht. »Es kommt nichts weg in diesem Universum.«
Steve entschloss sich, Nikolas zu vertrauen, griff in seine Tasche, zog das Paket raus und übergab es Nikolas. »Aber ich brauche es zurück«, fügte er hinzu, weil ihm einfiel, dass der Sender nach dem Kästchen fragen würde. Er konnte es nicht im Institut lassen – das Einzige, was der Sender jetzt noch exklusiv hatte.
»Später«, meinte Nikolas.
»Meine Chefin killt mich, wenn die Kiste weg ist.«
Anja ging mit Steve in den Nebenraum, der nur durch eine Glasscheibe vom Hauptraum getrennt war. »Setzen Sie sich bitte, ich befestige hier ein paar Elektroden auf Ihrem Kopf. Damit messen wir Ihre Gehirnströme. Tut nicht weh.« Sie lächelte freundlich.
Steve ließ es über sich ergehen, obwohl er keine Ahnung hatte, was diese Leute mit ihm vorhatten. Aber Anja wirkte nett. Außerdem war er neugierig. Also sah er sie an und versuchte, ein fragendes Gesicht zu machen.
Anja, die sich gerade daran machte, Steves Kopf mit Elektroden zu versehen, reagierte schließlich darauf. »Okay, in wenigen Worten: Dunkle Materie heißt nichts anderes als unsichtbare Materie. Wir versuchen, diese Materie gemeinsam mit der dunklen Energie, die ebenfalls unsichtbar ist, nachzuweisen. Diese uns verborgene Welt macht rund 95 Prozent des ganzen Universums aus. Wobei die Dichte nicht überall gleich ist. Innerhalb einer Galaxie ist der Anteil geringer.«
»Was bedeutet das?«
»Alles, was wir sehen können, besteht aus Atomen, also aus Materie.« Anja war sehr konzentriert bei der Verkabelung der einzelnen Elektroden an Steves Kopf. Es waren bereits zwei Drittel der sechseckigen, weißen Sensoren an ihrem Platz. »Seit Einstein wissen wir, dass Licht Energie ist. Ihm stellte sich schon die Frage, wie es dem Licht möglich ist, zu uns zu kommen, wenn im Weltraum nichts ist? Früher wurde das Nichts als Äther bezeichnet. Also, wenn das Licht der Sonne Energie ist und 150 Millionen Kilometer zu uns durchs All möchte, brauchen die Photonen, Elektronen und Antiteilchen ein Transportmittel. Das ist die unsichtbare Materie.«
Steve erinnerte sich an seine Schulzeit. Im Unterricht wurden immer wieder mal Lehrfilme mit Animationen gezeigt. Atomkerne mit Protonen und Neutronen, die von Elektronen umkreist wurden. »Ich glaube, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Aber was hat das mit mir zu tun?«
Anja hatte inzwischen fast alle Elektroden platziert. Die letzten befestigte sie auf seine Stirn. Auch sie waren weiß und sechseckig, hatten aber Saugnäpfe, die sie mit etwas Gel an Steves Schläfe drückte. »Wir wissen, dass auch unser Körper und damit auch unser Geist aus Energie besteht. Unser Forschungsgebiet der dunklen Energie ist etwas spezieller, als es auf der Homepage steht.« Sie aktivierte das Gerät, mit dem alle Kabel an Steves Kopf verbunden waren. »Wir können inzwischen die menschliche Seele nachweisen.«
Steve runzelt etwas ungläubig die Stirn. Dabei lockerte sich einer der Elektroden an seiner Schläfe.
»Ruhig halten«, mahnte Anja und drückte den Sensor wieder fest auf Steves Stirn.
»Auch die Seele – also der Geist – geht, wenn er nach dem Tod den Körper verlässt, in die Welt der dunklen Energie und später dann eventuell als Reinkarnation in einen neuen Körper. Das Wissen aus den Vorleben ist dann aber blockiert. Das Gesamtwissen hat man nur in der anderen Welt, also wenn man sich in der dunklen Energie aufhält. Unser Chef meint, Sie haben vielleicht fremde Energie von dieser alten Kiste oder von Viktor empfangen.«
Nikolas betrat den Raum. »So, Steve, wir wären dann so weit. Danke, Anja.«
Anja nickte, schaltete noch eine Kamera an, die in zwei Metern Entfernung direkt auf Steve gerichtet war, und verließ den Raum.
Nikolas kontrollierte kurz die Elektroden an Steves Kopf mit einem Blick. Gut zwei Dutzend der kleinen Sensoren umschlossen Steves Kopf wie eine Perücke, die nach oben hin wie dicke Haare zu einem Kabelstrang gebunden waren und über eine Halterung in der Decke wieder nach unten in ein Messgerät liefen.
»Bist du nun im Bilde, was die dunkle Materie angeht?«, fragte Nikolas etwas sarkastisch.
»Ein wenig. Ist sie, ich meine Anja, ist sie auch eine Priori?«
»Sie ist eingeweiht, aber keine Priori.« Nikolas tippte auf einen Knopf, und viele kleine Dioden begannen zu leuchten. Der Bildschirm vor Nikolas warf eine für Steve nicht deutbare grafische Darstellung aus.
»Faszinierend«, murmelte Nikolas, erklärte aber nichts weiter.
Steve verstand nicht ganz, was rings um ihn herum geschah. Gerne hätte er mehr über das erfahren, was Nikolas so interessant fand. »Nun mal raus damit, Spock! Was ist faszinierend?«
Nikolas musste lachen. »Ha, noch ein Trekkie. Da werden wir bestimmt noch viel Spaß miteinander haben. Aber im Ernst. Ich sehe, dass du mit Teilen der Kiste in Verbindung stehst. Es ist wie ein Datenaustausch. Die größte Verbindung ist mit dem eingefassten Zahn. Schau, da sind die Messungen von dem Zahn.«
Er deutete auf den Bildschirm. Steve konnte nur gepunktete Linien sehen, die sich bewegten.
»Das Faszinierende daran ist, dass die Verbindung nicht nur in eine Richtung geht, sondern in beide. Jemand aus der Vergangenheit zapft deine Gedanken an.«
Steve erschrak. Wie konnte Nikolas so etwas so schnell sehen? Es würde passen, denn Adamo lebte im 16. Jahrhundert und wusste von Steves Existenz. Aber wenn die Verbindung in beide Richtungen ging, wäre es dann möglich, dass Adamo auch durch Steves Körper sprach. Diese Vorstellung fand Steve unheimlich.
»Ich habe zunächst nach Spuren von Viktor gesucht«, gestand Nikolas. »Manchmal dauert es Tage, bis sich ein Seelenwanderer in einem neuen Körper wiederfindet. Aber zu deiner Beruhigung: Er ist nicht da. Er hat nur eine Tür in deine Synapsen öffnen können, die er wohl ursprünglich selbst nutzen wollte. Diese kleine Änderung in deinem Gehirn wurde durch den Schlag auf deinen Kopf vielleicht noch begünstigt.«
»Bitte in einfacheren Worten. Was meinst du damit: Tür aufgemacht?«, bat Steve.
»Diese Änderung ist wie ein ungeschützter Port auf einem Computer. Fremde können diese Öffnung nutzen und eindringen, verstehst du?«
Steve konnte nach und nach die Zusammenhänge miteinander verknüpfen. Er fühlte, wie Angst in ihm aufstieg. Er versuchte sich vorzustellen, wie sich ein Computer fühlen musste, wenn er ungeschützt mit dem Internet verbunden wurde und unbekannte Apps ungefragt sein Betriebssystem umbauten. »Denke schon«, sagte Steve unsicher.
»Ich werde dir noch mehr erklären. Keine Angst. Du musst aber auch offen und ehrlich zu mir sein. Nur dann kann ich dir helfen.« Nikolas stand auf und ging im Raum auf und ab, während er weitersprach. »Viktor war ein Seelenwanderer. Das sagte ich dir schon, auf die Gefahr hin, dass du mich für einen Spinner hältst. Du hast mich ernst genommen. Das lässt mich vermuten, dass du schon Erfahrungen mit Viktors Vermächtnis gemacht hast?« Nikolas blieb vor Steve stehen und hob die Augenbrauen, wartete wahrscheinlich auf eine Antwort.
Steve dachte kurz nach, wie viel er preisgeben sollte. Dann nickte er. Dabei runzelte er leicht die Stirn, sodass sich erneut eine der Elektroden löste.
Nikolas atmete tief ein. »Das Fußballspiel gestern, richtig? Da ist etwas passiert. Kanntest du jemanden persönlich?«
Steve sprang gedanklich zurück an den Abend der Preisverleihung in Rio de Janeiro. Und er dachte an das Spiel, wie er den Handschuh in der Hand gehalten hatte und mit einem Mal in Hope Solos Körper war. »Ja«, sagte Steve schließlich. »Mir war so, als wäre ich plötzlich im Körper einer Spielerin.«
»Hattest du etwas an dir, was dieser Person gehört?«
Steve nickte wieder. »Ja, einen Handschuh. Den hatte sie vergessen, als wir uns zufällig kennenlernten. Ich glaube aber nicht, dass sie eine große Bindung zu ihren Handschuhen hatte.«
»Es sind nicht die Objekte, die den Bezug herstellen«, erklärte Nikolas. »Es ist die DNA der Person. Sie hatte die Handschuhe an. Ihr Schweiß ist durch das Material geflossen. Womit wir schon mitten in unserem Forschungsprogramm wären. Auch die DNA besteht aus Atomen, die wiederum zum größten Teil aus dunkler Materie bestehen. Und diese DNA, also die feste Materie, bleibt immer über die dunkle Materie verbunden. Beziehungsweise, es kann mithilfe der dunklen Materie eine Verbindung hergestellt werden. Sie ist wie eine Brücke. Die Energie deiner Seele kann mithilfe dieser Brücke in einen anderen Körper reisen. So machen es auch die Priori. Viktor hat das so gemacht. Kannst du mir folgen?«
»Ja, langsam wird es klarer.« Dann schüttelte Steve den Kopf. »Nein, eigentlich nicht wirklich. Aber ich gebe mir Mühe.«
Nikolas atmete durch und klappte ein Notebook auf. »Ich verstehe, dass es viel Stoff ist, den du jetzt verarbeiten musst.« Dann öffnete er einen Browser und –rief YouTube auf. »Das eigentlich Faszinierende, es geht noch weiter. Ich ahnte das schon und habe mir das Spiel bereits angesehen. Es gab da diese eine Szene …« Auf dem Bildschirm waren Dutzende YouTube-Clips. In jedem wurde die Torhüterin auf den Arm genommen. Etliche waren mit verträumter Musik unterlegt, während sie sich in Zeitlupe an die Brüste fasste.
»Mal ehrlich«, lachte Nikolas, »was Besseres ist dir nicht eingefallen?«
Steve grinste verlegen. Wusste nicht recht, was er sagen sollte.
»Was das Besondere ist: Die Torhüterin war körperlich in bester Verfassung, als du in sie gefahren bist. Das ist das Besondere. Unter normalen Umständen können Seelenwanderer jemanden nach dem, was wir bisher wissen, nur besetzen, wenn die Person schwer krank ist oder sich spirituell öffnet. In diesem Fall traf das nicht zu.«
»Und was bedeutet das?«
»Das bedeutet, du bist nicht nur einer von uns, sondern in dir schlummert mehr. Viktor hatte so etwas schon vermutet. Was ich mir noch nicht erklären kann, ist die Verbindung zu dem Zahn und den Haaren. Sie kommen aus der Vergangenheit. Dass du Erlebtes aus der Vergangenheit neu erleben kannst, ist möglich. Das kommt einer Art Rückführung gleich, wie sie vielen Menschen bekannt ist. Aber dass dieser Weg andersherum funktioniert, ist, sagen wir mal vorsichtig, ungewöhnlich. Es gibt frühe Aufzeichnungen darüber, aber das ist nicht wissenschaftlich erwiesen.«
»Wissenschaftlich? Von welcher Wissenschaft sprechen wir hier? Entschuldige meine Skepsis. Für mich ist das alles sehr neu. Und ohne mein Erlebnis würde ich dich wahrscheinlich auslachen.« Steve wollte sich die Haare raufen, griff aber nur in die vielen Elektroden. Sorgfältig schob Nikolas die verrutschten Sensoren wieder an ihren Platz.
»Seelenwandern? Wenn ich mir das so überlege … Für mich klingt das, als ob ihr Menschenbesetzer wärt. Wenn ich sehe, was ich Hope Solo angetan habe. Das hat sie doch nicht freiwillig gemacht. Das ist doch furchtbar.«
Nikolas unterbrach ihn. »Ganz ruhig. Wir könnten das, aber wir tun das nicht. Denn wie du schon sagst: Das wäre natürlich eine Besetzung. Du solltest auch kein Seelenwanderer sein, und ich hoffe, dass du keinen Gefallen daran finden wirst, so was zu machen. Viktor allerdings war so einer.« Nikolas hatte gerade alle Elektroden wieder an ihren Platz gerückt. Dann legte er seine Hand auf Steves Schulter, um ihn zu beruhigen. »Steve, ich weiß, dass das jetzt alles recht viel für dich ist. Du wirst in Kürze mehr erfahren. Zunächst sollten wir die Verbindung in die Vergangenheit trennen, bis wir mehr darüber wissen.«
»Dein Team, wissen sie alle Bescheid über die Dinge, die du mir hier erzählst? Oder sogar euer ganzes Institut?«
»Mein Team, ja. Das Institut? Nur zum Teil. Sprich nur mit mir oder meinen Leuten über dieses Thema. Alle anderen würden dich nicht verstehen. Oder für bescheuert halten.«
Nikolas stand auf und verließ den Raum. Steve konnte durch die großen Scheiben erkennen, dass er zu dem Kästchen ging. Es stand auf einem Tisch, und Sensoren, die in dünnen Metallröhren steckten, waren auf die Kiste gerichtet. Er nahm eine Metallvorrichtung und stülpte sie darüber. Dann drückte er ein paar Knöpfe an einem Gerät, welches so aussah wie das, an dem auch Steve angeschlossen war.
Steve spürte einen leichten Ruck, gefolgt von einem Gefühl, etwas verloren zu haben. Er blickte kurz auf den Bildschirm, auf dem zuvor noch die gepunkteten Linien in beide Richtungen geflossen waren. Sie waren verschwunden.
»Sehr schön, es funktioniert«, freute sich Nikolas. »Ein elektronischer Schutzschild. Er lenkt die Verbindung ab. Muss nur immer eingeschalten bleiben. Lass uns das mal über Nacht hierbehalten. Mal sehen, wie es sich auf dich auswirkt. Dann bekommst du die Gegenstände wieder, okay?«
Was Steve jetzt fühlte, war Erleichterung – und Verlust. »In Ordnung. Aber ich brauch die Dinge wieder.«
21. August 1503. Pater Matteo erreichte am selben Tag die Botschaft des mysteriösen Ablebens des Papstes. Er überlegte nicht lange. Entschlossen, Jolanda in Haft zu nehmen, ging er am Vormittag zum Haus der Neris. Doch Adamo und Jolanda waren nicht mehr da. Sie seien vor wenigen Stunden nach Trentino aufgebrochen, erfuhr er von einer Nachbarin. Das waren knapp 900 Kilometer, also ein Weg von 50 bis 60 Tagen, wenn man zu Fuß reiste. Und als Steinmetz und Köchin würde Adamo und Jolanda nichts anderes übrig bleiben.
Steve saß mit Nikolas und dessen vierköpfigem Team am Tisch eines Arbeitszimmers im Institut. Er hatte ihnen von seinen Träumen aus dem mittelalterlichen Italien erzählt. Das Team hatte gebannt zugehört.
»Und Sie hatten zuvor nie ähnliche Träume?«, fragte die rothaarige Larissa interessiert.
»Nein, nie. Und bitte tut mir einen Gefallen und lasst das ›Sie‹ weg, ja? Wäre mir lieber.«
Alle waren einverstanden. Daraufhin fragte Steve, was ihm schon auf der Zunge brannte: »Was denkt ihr nun über diese Träume? Ist das üblich bei Priori?«
»Wir haben so eine Geschichte wie bei dir noch nicht gehört«, erwiderte Anja. »In Erinnerungen oder frühere Leben einzutauchen und diese wieder zu erleben, ist die eine Sache. Aber dass Menschen aus früheren Leben mit einem Menschen aus der Zukunft interagieren, das ist neu. Wir müssen da noch einiges prüfen.« Dabei zog sie ein Pad aus ihrer Tasche, auf dem sie sich etwas notierte.
»Viel wichtiger ist aber die Frage«, meinte Arnold, »ob man die Vergangenheit dadurch verändern kann oder ob diese Interaktion damals und heute immer schon passiert ist.«
Arnold war ein junger, schmächtiger Mann mit dunklem, kurzem Haar. Er sah Steve sehr oft an, machte dabei aber immer eine ernste Miene.
»Arnold, die Vergangenheit kann man nicht ändern«, sagte Larissa schmunzelnd. »Was wir sagen wollen: Wir sind einfach sprachlos.«
»Es ist ja nicht so, dass Adamo in der Gegenwart mit mir spricht, es ist nur umgekehrt.« Dabei hoffte Steve, dass dies auch so bleiben würde.
»Wir haben eine Verbindung gemessen – in beide Richtungen«, erwiderte Arnold.
»Ich habe sehr wohl von Theorien gehört, dass es möglich sein könnte, die Vergangenheit zu ändern«, fügte Ralf hinzu. Dann fragte er Nikolas. »Der Gehirnscan? Soll das CT heute noch gemacht werden?«
Nikolas nickte und meinte: »Ruf gleich mal unten an. Nicht, dass sie gerade Mittag machen.«
Sogleich machte sich Ralf auf, um die CT-Abteilung zu kontaktieren. Beim Verlassen des Raums wurde der Blonde mit dem rotbraunen Hipsterbart von Larissa beäugt.
»Werde ich eigentlich auch gefragt?«, rief Steve dazwischen und lachte kurz künstlich. Er fühlte sich etwas überrumpelt. Allerdings bekam er keine Antwort auf seine Frage. »Ihr habt ein CT hier? Computertomografie und Astrophysik – wie hängt das zusammen?«
»Unser Institut hat noch ein paar andere Abteilungen, mit denen wir zusammenarbeiten«, erklärte Nikolas, während Ralf den CT anforderte.
Ein wenig später war der Computertomograf bereit. Steve musste sich bis auf die Unterwäsche ausziehen und alle Metallgegenstände ablegen.
»Sie haben hier einen Knopf, auf den sie drücken können, wenn sie Platzangst oder irgendwelche Probleme haben«, sagte eine Assistentin im weißen Kittel. »Die Prozedur wird etwa fünfzehn Minuten dauern.«
Steve nickte und legte sich auf die Liege, die auf einer Schiene langsam in die Röhre geschoben wurde. Es war tatsächlich sehr eng. Steve versuchte zu entspannen und schloss die Augen. Er fühlte sich wie im Krankenhaus, obgleich er bislang das Glück hatte, dieses bisher nur als Besucher betreten zu haben. Doch sofort spürte er ein Stechen im Kopf, und ihm fiel ein, dass er vor zwei Tagen doch eine Nacht im Krankenhaus hatte verbringen müssen. Er hoffte, dass dies eine Ausnahme bleiben würde.
Das Gerät war laut. Er hörte durch die Kopfhörer die pulsierenden Brummgeräusche in mehreren Tonlagen. Nach der Hälfte der Zeit fragte er sich, was er da eigentlich machte. Steve war eigentlich skeptisch gegenüber fremden Menschen, und hier ließ er sprichwörtlich die Hosen runter. Und dann dieser ganze Wahnsinn von Seelenwanderern und Priori. Das war doch Science-Fiction – und er mittendrin.
Als er sich in der Umkleidekabine wieder anzog, läutete sein Smartphone. Claudia war dran.
»Na, wie ist es gelaufen?«, fragte Steve.
»Eigentlich weiß ich jetzt nicht mehr als vorher. Sie haben von nur einem Zeugen gesprochen. Das bist dann wohl du, oder?«
»Sieht wohl so aus. Gibt es Anhaltspunkte auf den Täter?«
»Sie haben eine Leiche und drei Projektile, die präzise in den Kopf und ins Herz getroffen haben.«
»O Gott. Das habe ich nicht gewusst.«
Drei Schüsse. Unfassbar. Dies zu hören, entsetzte Steve noch mal aufs Neue.
»Ja, da wollte jemand auf Nummer sicher gehen. Das meinte der Kommissar auch.«
»Lumbeck, du meinst Lumbeck, nicht wahr? Hat er was von der Kiste erzählt?«
»Nein, hat er nicht«, erwiderte Claudia.
»Gut, dann haben wir noch was für später.« Das beruhigte Steve. »Und ansonsten? Läuft es gut?«
»So weit alles gut«, antwortete sie. »Kommst du morgen wieder? Die Horn wollte einen längeren Nachruf haben und nicht nur meinen Fünfzehnminüter. Dazu brauche ich dich, Steve. Außerdem muss entschieden werden, wie wir die Story noch ausschlachten.«
»Morgen Nachmittag vielleicht«, sagte Steve, »ich bin ziemlich durch den Wind. Mir wird nach und nach erst bewusst, was da alles passiert ist.« Dabei versuchte er, seine Stimme kränklicher wirken zu lassen. Claudia musste sehr wohl gemerkt haben, dass Steve eben noch normal gesprochen hatte, dennoch sagte sie nichts dazu. »Hab gerade ein CT machen müssen. Mal schauen, ob noch alles da ist in meinem Kopf.«
»O je. Ich hoffe, sie finden alles.« Den Satz betonte sie etwas frech. »Aber nun ernsthaft: Bleib erreichbar, bitte.«
Nachdem Steve aufgelegt hatte, trat er aus der Umkleidekabine, wo auch schon Anja wartete.
»Entschuldigung, hatte noch ein Telefonat«, erklärte Steve die Verzögerung. »Wie geht es jetzt weiter?«
»Die Tests sind erst mal fertig. Die Bilder von deinem Gehirn werden wir nachher ansehen. Kann sein, dass wir da noch einmal einen Test machen. Aber heute war wichtig für uns, deine Identität eindeutig festzustellen.«
Steve sah Anja an. »Meine Identität? Dafür könnt ihr auch auf meinen Ausweis gucken.«
»Nikolas hat dir das doch erklärt: Viktor war ein Seelenwanderer. Wenn Teile seiner Seele in dir sind, ist es möglich, dass der Rest irgendwann auch noch dazukommt.«
»Der Rest?«, fragte Steve. »Ich dachte, er ist tot? Vorhin hast du noch erzählt, dass man nach dem Tod in dunkle Energie oder Materie gewandelt wird, oder so.«
»Ich glaube, es ist besser, wenn Nikolas dir das erklärt.« Mehr verriet ihm Anja nicht. Sie schwieg, bis sie nach einem Marsch durch lange Gänge in der obersten Etage in einem Besprechungszimmer ankamen.
»Wir sind da.« Anja öffnete die Tür.
»Nach dir.« Steve bedeutete ihr mit einer Geste, zuerst durch die Tür zu gehen.
»Nein, das Gespräch ist nur für dich.«
Also sah er erst vorsichtig in den Raum, trat aber dann gleich ein.
»Paul Charles William Davies, Astrophysiker. Er beschäftigt sich neben der Kosmologie und Quantenfeldtheorie auch mit Astrobiologie, SETI und Fragen des Ursprungs des Lebens. Seine Forschungsgebiete waren Themen seiner zahlreichen, allgemein verständlich gehaltenen Bücher, in denen er auch weltanschauliche und religiöse Fragen anspricht.«
Ein Zwischenruf unterbrach den Vortrag des Gelehrten. Ein junger Mann mit ebenso großen Augen wie Balvi erhob sich. »Was ist SETI?«
Gleich nach seiner Frage setzte er sich, und ein leises Klatschen ging durch den Saal, der mit etwa tausend Studenten gut gefüllt war.
Der Gelehrte sah sich um. »Verzeiht, meine Lieben. Ich ging davon aus, dass ihr schon so weit seid. SETI ist eine Abkürzung für ›Search for Extraterrestrial Intelligence‹. Ein Institut, das sich zur Aufgabe gemacht hat, Spezies wie uns zu finden.«
Ein leichtes Gelächter ging durch den Saal.
»Doch zurück zu Davies, er ist nah dran, könnte man sagen. Er sagt, die Aliens haben auf der Erde schon vor Millionen von Jahren eine Botschaft hinterlassen.«
Dann öffnete sich eine Tür im Saal. Licht strömte herein. Als der Gelehrte Ganda Balvi erblickte, war er traurig und neigte den Kopf. Dennoch fuhr er fort: »In unserem Erbgut. Aminosäure, Cyanin, Proteine, diese Bausteine sind in Millionen Jahre alten Meteoriten und – dieselben Bausteine sind in unserer DNA. Das Genom, also das Erbgut des Menschen hat viele verschlossene Türen, die nicht entschlüsselt sind.«
Steve stand in einem sehr hellen, fast komplett in Weiß gehaltenen Besprechungsraum, in dem Nikolas mit einem älteren, gut gekleideten, weißhaarigen Mann wartete. Er musste so um die siebzig Jahre alt sein. Freundlich stand er auf und grüßte Steve.
»Ah, da bist du ja. Schön, dich persönlich kennenzulernen.« Der ältere Herr ging auf Steve zu, um ihm die Hand zu geben. Obwohl der Mann fremd für Steve war und eher wie ein Vorstandsmitglied oder Chefarzt wirkte, duzte er ihn auf Anhieb, was eine gewisse Vertrautheit schuf.
»Hallo? Und wer …«
»Das ist David Braun«, stelle Nikolas vor. »Er ist im Vorstand unseres Instituts. Ich habe ihm von dir erzählt.«
Braun schüttelte Steve die Hand, bevor er sich Nikolas zuwandte. »Und er weiß nichts von seiner wirklichen Heimat?«
»Nein, und das hat sich auch bis jetzt nicht geändert. Ich schlage vor, etwas behutsamer vorzugehen. Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, ob er einer von uns ist.« Nikolas wählte diese Worte mit Bedacht, da er seinen Chef nicht verärgern wollte.
»Mein lieber Steven …«, begann Braun, der immer noch Steves Hand hielt, was ihm nicht so recht war.
»Ich heiße Steve, nicht Steven«, korrigierte er. »Aber was meint ihr mit Heimat? Könnt ihr mir nicht mal erklären, was los ist? Warum mache ich hier so viele Versuche und Tests?«
»Immer der Reihe nach.« Nikolas klopfte Steve im Vorbeigehen auf die Schulter. »Du bekommst doch gerade deine Antwort.«
»Mein lieber Steve.« Bei diesen Worten wirke Braun ein wenig aufgeregt. »Es ist auch nicht alltäglich für uns, einen aus unserer Welt zu finden. Aber setzen wir uns doch.«
Nikolas ging Richtung Tür. »Ich bin im Labor.« Dann verließ er den Raum. Durch die offene Tür konnte Steve Anja erkennen. Sie stand noch davor.
David Braun saß derweil da und grinste Steve an.
»Ich höre?«, meinte Steve, der nun hoffte, mehr zu erfahren.
David tippelte mit seinen Fingerkuppen auf dem Tisch herum, sah Steve an, als erwartete er etwas. Vielleicht wollte er auch einfach die Spannung erhöhen. Schließlich sagte er: »Wir sind Bellatrixianer. So zumindest würden wir hier vermutlich genannt werden, wüsste man von unserer Existenz.«
Steve sah David mit großen Augen an. Er war also doch auf einen Haufen Verrückter getroffen. Oder doch nicht? Oder spielte ihm hier jemand einen Streich? Er antwortete vorsichtig und langsam: »Okay.«
David fuhr fort. »Ja. Bellatrix aus dem Sternbild des Orion. Etwa 250 Lichtjahre von hier.«
»Alles klar, wo ist die Kamera?« Steve sprang auf. »Ich denke nicht, dass ich mir diesen Unsinn länger anhören muss.«
»Steve, Steve!« David stand auf, hob beschwichtigend die Hand. »Du solltest mir glauben. Und dein Wissen über die Welt, die du bisher kanntest – vergiss es. Du musst in dich sehen.«
Braun setzte sich wieder und bat Steve, das auch zu tun. Er grinste auch nicht mehr. Nun wirkte er besorgt. Ein zweites Mal bat er Steve, sich wieder zu setzen. Steve verdrehte kurz die Augen, tat, wie ihm befohlen. Ehrlich wie Steve eben war, machte er noch eine Bemerkung. »Sei mir nicht böse. In der Welt, in der ich lebe, stehen wir auf Fakten. Würde ich einem Kollegen erzählen, dass ich mit Außerirdischen gesprochen habe, würde er mich für verrückt halten.«
»Ich verstehe dich sehr gut. Schließlich lebe ich in deiner Welt. Aber bitte, gib mir die Chance, mehr darüber zu erzählen.« David Braun nahm Steves Hand und sah ihn bittend an. Steve willigte nickend ein, auch wenn er lieber gegangen wäre.
»Unsere Existenz hat vor etwa zwölf Millionen Jahren eurer Zeitrechnung begonnen. Damit meine ich, dass wir vor zwölf Millionen Jahren schon so weit waren, wie die Erde heute ist. Allerdings durchqueren unsere Vorfahren erst seit einigen Tausend Jahren die Galaxien. Das hatte Gründe, die ich dir später erkläre.«
Steve lehnte sich zurück und blickte an die Wand des Besprechungszimmers. Im Inneren fragte er sich, warum er sich das alles tatsächlich anhörte, während David weitererzählte.
»Vor zehn Millionen Jahren hat ein großer Krieg unser Volk auf Eskuathea gespalten. Unser Volk suchte Wege, den Planeten zu verlassen. Daher schossen sie damals unsere DNA, also die sogenannten Nukleotide Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin und so weiter mit unseren personifizierten Daten ins All – gezielt auf Planeten, die bereits begonnen hatten, sich zu entwickeln.«
Steve hörte zwar nur mit einem Ohr zu, dennoch kombinierte er das, was er hörte, und stellte eine Gegenfrage. »Wie sollte das bei einem Krieg helfen? Die Menschen im Krieg sind immer noch im Krieg. Um einen Planeten zu verlassen, muss man wegfliegen, oder nicht?«
»Nein, so ganz stimmt das nicht. Wir wussten damals schon, dass es eine Verknüpfung gibt. Nicht nur zur eigenen DNA, sondern zu jedem einzelnen Atom und den darin enthaltenen Quarks.«
»Quarks?«
»Das sind die Teilchen in den Protonen und Neutronen. Und in diesen Teilchen sind alle Informationen und Befehle gespeichert.« Er musste Steves verwirrten Blick bemerkt haben, denn er stockte. »Du weißt, was ein Atom ist, und kennst dich ein wenig mit den Elementen aus?«
»Schulwissen«, sagt Steve entschuldigend.
»Fragst du dich nicht manchmal, warum alles so ist, wie es ist?«
»Macht das nicht jeder irgendwann?« Steve hatte inzwischen die kahlen Wände des Raumes angesehen und beschlossen, sich wieder auf David Braun zu konzentrieren.
»Ja, vermutlich. Ich gebe dir ein Beispiel. Alle Welt ist so erpicht darauf, Gold zu haben. Das ist die Währung Nummer eins auf der Erde. Dabei ist es leicht herzustellen. Entnimmt man dem Quecksilberatom ein Proton oder fügt man Platin eines hinzu, so entsteht Gold. Supersimpel, oder?« Braun lehnte sich zurück und wippte auf dem Konferenzstuhl. »Und das nur, weil diese Befehle und Wandlungsenergien gespeichert sind. In jedem Atom sind alle Elemente gespeichert. Und dazu bleiben die Informationen über benachbarte Atome gespeichert. Sollten sich diese Atome trennen, bleiben sie dennoch immer in Kontakt miteinander.«
Steve grübelte in sich hinein, so wie er es immer tat, wenn er sich bei Interviews gedankliche Notizen machte, die er später noch googeln wollte. Dennoch konnte er nicht einfach alles glauben, was David Braun ihm erzählte. Um das zu verdeutlichen, fasste er kurz zusammen: »Ein Freund stirbt. Seltsame Träume beginnen. Ich reise in einen fremden Körper. Das hängt zusammen – mit was?«
»Mit deinen Genen. Wir Eskuatheaner können direkt in andere Körper reisen. So wie Seelenwanderer auch. Du bist einer von uns. Es wird dauern, aber du wirst dich wieder erinnern. Noch einmal herzlich willkommen.« David stand auf und breitete die Arme aus, als wolle Steve eine Umarmung anbieten.
Steve stand auf, mehr nicht. Es kam ihm komisch vor, diesen Mann wie einen Freund zu umarmen. »Esku… Wie hast du gesagt? Ich dachte, ihr kommt von Bellatrix. Und wie seid ihr oder wie bin ich dann hierhergekommen? Mit einem Raumschiff?«
David senkte seine Arme wieder und schüttelte den Kopf. »Eskuatheaner. So heißt unser Volk bei uns. Das hatte ich doch vorhin schon erwähnt. Und nein, wir reisen wie ein Datenstrom durch die dunkle Materie durch das Weltall. Und das millionenfach schneller, als das ein normaler Datenstrom oder auch das Licht machen würde. Ich sagte doch, dass wir unsere DNA vor Millionen von Jahren in viele Galaxien gestreut haben. Durch sie stellen wir die Verbindung her.«
Steve grinste in sich hinein, schüttelte den Kopf und ging Richtung Tür. »Danke für die Erklärung.«
Steve wurde trotz seiner jüngsten Erlebnisse das Gefühl nicht los, dass Braun nicht alle Tassen im Schrank hatte. Dieser schien Steves Meinung zu bemerken. Also fügte er schnell an: »Nikolas erzählte mir von der Fußballerin. Du hattest DNA von ihr in deiner Hand. So konntest du die Verbindung herstellen.«
Steve blieb stehen. »Und ihr alle könnt so etwas auch? Das macht mich zu einem Bellatrixianer?«
»Eskuatheaner, meinst du. Nein, das können nur wenige. Viele von uns würden das gerne können. Wir können nur den Körper bewohnen, den wir haben. So wie ihr Menschen auch. In dir schlummert ein Gencocktail, den es nur selten gibt. Die Fähigkeit ist vermutlich durch den Tod Viktors aktiviert worden. Du solltest sehr behutsam damit umgehen.«
»Aber Viktor war auch einer von euch … oder uns?«
»Seelenwanderer sind Leute, die in ihrem Interesse handeln und von Körper zu Körper springen. Sie haben ähnliche Gene wie du. Nur muss der Wirt in der Regel körperlich geschwächt sein oder freiwillig zustimmen, dass ein anderer den Körper übernimmt. Ist es unfreiwillig oder nicht richtig gemacht worden, spricht man von einer Besetzung. Die Kirche hat das oft mit Exorzismus behandelt. Diese Geschichten kennst du ja bestimmt.«
Viktor kam ihm wieder in den Sinn. Dass er die Absicht gehabt haben soll, Steve zu besetzen, konnte er sich dennoch nicht vorstellen. Sie kannten sich seit Jahren. Nie hatte Viktor einen schlechten Eindruck auf ihn gemacht. Die Story an sich war schräg, aber er war ein guter Kerl.
Wer könnte an Viktors Tod Interesse gehabt haben? Steve wollte gerade nachfragen, aber David schaute auf die Uhr.
»Ich denke, für heute hast du erst einmal genug Antworten«, sagte er. »Und ich denke, du hast einiges zu verdauen. Wir bereiten eine Reise für dich auf deinen Heimatplaneten vor. Morgen Vormittag, wäre dir das recht?«
Steve schluckte. Er sollte also morgen nach dem Frühstück mal eben 250 Lichtjahre überwinden? Er musterte David für einen Moment. »Das klingt spannend. Aber du meinst bestimmt, dass ihr mir ein paar Filme zeigen wollt.«
David Braun lächelte Steve an und reichte ihm die Hand. »Anja Lorenz bringt dich wieder raus. Sie macht auch den Termin morgen mit dir aus.«
Pater Matteo packte seine Sachen. Auch wenn er keine Freigabe durch den Papst erhalten würde, er wollte im Namen des Herrn handeln. So setzte er ein Schreiben für den nächsten Papst auf. Die besetzte Jolanda müsse im Namen des Herrn gereinigt werden.
Auch Matteo, war er doch ein einfacher Priester, musste zu Fuß laufen. Am 22. August 1503, einen Tag nach Adamo und Jolanda, brach er auf.
Zuhause angekommen, wollte sich Steve erst mal ein paar Notizen machen und nachrecherchieren, was ihm im Institut präsentiert worden war. Es waren so viele Informationen, die er verarbeiten musste, und er konnte niemanden fragen. Da musste mal wieder Google ran.
Er klappte das Notebook auf. Der Desktop ging an.
Etwas war anders.
Aber was?
Da fiel ihm ein, dass er morgens, bevor der Polizeipsychologe gekommen war, das Institut googeln wollte und dann eilig sein Notebook zugeklappt hatte. Der Browser war jetzt zu. Eigenartig. Vielleicht hatte er den Browser ja doch noch geschlossen, bevor er das Notebook geschlossen hatte. Oder es war tatsächlich jemand an seinem Laptop gewesen.
Das war nicht schwer, da sein Rechner selbst kein Passwort hatte, weil alles über eine gesicherte Cloud lief. Auf dem Notebook selbst waren keine persönlichen Dinge und keinerlei Passwörter gespeichert.
Egal.
Wie nannte David das Volk oder die Galaxie, von der er abstammen sollte? Bellatrix. Das Volk hatte er anders genannt. Aber den Namen hatte Steve vergessen.
Steve tippte den Namen ein. Der Wikipedia-Eintrag war schon mal vorhanden. Bellatrix war neben Beteigeuze der rechte Schulterstern des Orion. Bei Beteigeuze dachte Steve gleich an einen Roman von Douglas Adams – »Per Anhalter durch die Galaxis.« Beteigeuze Fünf war der Geburtsort von Ford Prefect, dem Freund des Protagonisten.
Steve wurde ganz warm ums Herz. Er war immer schon Fan von Zukunftsromanen und -filmen. Dass er jetzt selbst plötzlich mitten in so einer Geschichte stecken sollte – er konnte es noch nicht wirklich glauben.
Als Nächstes suchte er nach »Leben« und »Bellatrix«, und es wurden seitenweise Links zu Harry Potter angezeigt. Bellatrix Lestrange hieß eine Figur. Keine Außerirdische, sondern eine Hexe. Also fügte er seiner Suche das Wort »Alien« hinzu. Jetzt öffneten sich viele Seiten, die von diversen mutmaßlichen Lebensformen berichteten. Alle ohne wissenschaftliche Grundlage. Es waren eher Verschwörungstheoretiker, die Steve den Spaß an seiner Recherche nahmen.
Auf dem Wohnzimmertisch lag Hope Solos Handschuh. Ein leichtes Grinsen stellte sich ein. Aber nein, keinesfalls durfte er das noch einmal machen. Und er wusste ja auch gar nicht, wie er wieder zurückkam in seinen eigenen Körper. Was, wenn er in einem fremden Menschen festsäße?
Mit diesem Gedanken googelte Steve das nächste Thema: »Besetzungen« und »Körpertausch«. Er erhielt viele unterschiedliche Treffer, überwiegend Romane und Filme, aber auch Zeitungsberichte. Er fand auch einen Artikel, in dem es Neurowissenschaftlern aus Schweden offenbar gelungen war, Probanden in den Körper eines anderen Menschen schlüpfen zu lassen. Die Wissenschaftler des Karolinska-Instituts in Stockholm hätten diesen Effekt durch die Manipulation der Selbstwahrnehmung erreicht. Also ging es eher um eine Illusion, die man heute virtuelle Realität nennen würde.
Über sogenannte Astralreisen war jede Menge zu finden. Meist waren dort Leute zu sehen, die Geld machen wollten. Andere wollten einem erklären, wie man mit der Deltafrequenz in ein anderes Bewusstsein fallen konnte. Dreißig Minuten Gelaber und danach – nichts.
Aber Steve fand auch ein paar Artikel über Menschen, die nach einem Unfall plötzlich Fähigkeiten nutzen konnten, die sie zuvor nicht gehabt hatten. Epilepsie sollte der Grund dafür sein, wenn Leute zum Beispiel plötzlich von heute auf morgen Klavier spielen konnten.
Das hyperthymestische Syndrom sollte mit dafür verantwortlich sein, wenn jemand nichts mehr vergaß. Diese Menschen konnte sich alles merken. Wenn man sie fragte, was an einem bestimmten Tag vor ein paar Jahren, beispielsweise um 11 Uhr vormittags passiert war, konnte die Person – sollte sie zu diesem Zeitpunkt ein Buch gelesen haben – jede einzelne Seite wiedergeben.
Erklären konnte sich die Medizin diese Symptome allerdings auch nicht. Genaugenommen hatten die Forscher den Phänomenen nur Namen gegeben. Sie maßen erhöhte Gehirnaktivitäten in verschiedenen Sektoren, aber warum das so war – unbekannt. Er fand Artikel über bekannte Persönlichkeiten. Ennio Morricone zum Beispiel antwortete auf die Frage, woher die fantastischen Ideen für seine Musikstücke kamen: »Keine Ahnung. Das weiß ich auch nicht. Es ist einfach da.«
Auslöser solcher Symptome, dass Menschen neue Fähigkeiten oder Inspiration haben, war häufig ein Unfall, und sei es nur ein Schlag auf den Kopf. Eine vorübergehende körperliche oder geistige Schwäche. Das würde mit Davids Erklärungen übereinstimmen, schlussfolgerte Steve. Der Wirt musste geschwächt sein, sonst konnte kein Bellatrixianer eindringen.
Steve recherchierte weiter. Eine Berufskrankheit. Informationen sortieren und Wichtiges herausfiltern – genau sein Ding. Zudem war er wie viele andere Journalisten stolz darauf, unkonventionell zu denken und Zusammenhänge zu erkennen, die andere nicht so schnell sahen.
Allerdings waren viele Artikel dabei, die sich nicht so wahnsinnig von den Beiträgen der Verschwörungstheoretiker unterschieden. Das viele Googeln machte ihn müde. Es half auch nicht wirklich weiter. Wie ein Kranker, der im Internet nach seinen Symptomen sucht, würde ihm danach nicht geholfen sein. Er würde sich nur noch kränker fühlen und am Ende doch einen Arzt aufsuchen müssen.
Steve brauchte frische Luft. Ein Spaziergang in der Münchner Altstadt würde ihm gut bekommen. Er schlenderte durch die Straßen. Es war kurz vor acht, und die Geschäfte hatten noch geöffnet. Deshalb ging er in einen Biomarkt. Vielleicht würde er noch Bier kaufen.
Er musste im Kühlregal nicht lange suchen, die Auswahl an alkoholischen Getränken war nicht sehr groß. Seine Wahl fiel auf ein kühles Hefeweizen. Diese Biersorte trank Steve am liebsten.
An der Kasse drängelte hinter ihm ein junges Pärchen. Sie waren offenbar unter Zeitdruck, denn die junge Frau stießt einen genervten Seufzer aus. »Das wird knapp mit dem Zug.« »Ja«, stimmte ihr Freund zu, der nicht älter als achtzehn wirkte, »und blöderweise ist nur eine Kasse auf.«
Da die beiden auch nur einen Softdrink hatten, trat Steve beiseite und ließ sie vor. »Gehen Sie ruhig vor, ich habe Zeit.«
»Danke, sehr freundlich«, sagte der junge Mann, während seine Freundin auf Steves Bierflasche sah. So, wie sie die Augenbrauen hochzog, musste sie ihn für einen Alkoholiker halten. Die beiden bezahlten und verließen eilig das Geschäft.
Steve hatte beim Warten bereits das Kleingeld passend abgezählt, wodurch das Bezahlen schnell ging. Wenige Sekunden später war er auch wieder auf der Straße. Links sah er das Pärchen eilig in Richtung U-Bahn verschwinden. Steve ging mit seinem Bier in die andere Richtung.
Auf einmal krachte es fürchterlich, gefolgt von einem kurzen Aufschrei und einem weiteren Krachen.
Steve drehte sich zurück in die Richtung, wo er eben noch das Pärchen hatte laufen sehen. Ein Taxi war in ein parkendes Auto gefahren und genau in das Pärchen geschlittert.
Für einen Augenblick war es gespenstig still. Dann fingen einige Leute an zu schreien. Steve ließ vor Schreck seine Bierflasche fallen, sie zerschellte am Boden. Dann rannte er zum Unfallort.
Die junge Frau war nur zur Hälfte zu sehen. Das Taxi war über sie gefahren, und ihr Brustkorb war eingedrückt. Ihre Beine lagen noch unter dem Wagen. Sie blutete aus mehreren Schnittwunden im Gesicht, ein Stück der Aluminiumdose, die sie eben erst gekauft hatte, steckte noch in ihrer Wange. Die Wunden füllten sich mit Blut. Ihre Augen waren geöffnet und die Pupillen weiteten sich rasch. Der junge Mann zuckte. Blut lief aus seinem Mund. Auch er war unter dem Wagen eingeklemmt und hatte mehrere Quetschungen am Körper sowie Schürfwunden, die sich mehr und mehr mit Blut füllten.
Immer mehr Passanten strömten herbei. Einige hielten nur die Hand vor den Mund und rissen die Augen weit auf. Andere zückten ihr Smartphone und filmten den Unfallort. Einer machte die Tür des Unfalltaxis auf. Der Fahrer schien bewusstlos zu sein.
Steve erschrak, als eine Hand ihn am Unterarm packte. Er drehte sich um; es war der verunglückte Mann, der Steve mit großen Augen ansah.
»Hilfe …«, keuchte er mit letzter Kraft. Dann klammerte sich seine Hand ganz fest um Steves Arm.
»Es muss doch möglich sein, dem Mann zu helfen«, dachte Steve. Hätte er doch die beiden an der Kasse nicht vorgelassen.
Der Mann drückte Steves Hand ganz fest mit aufgerissenen Augen. Mit einem Mal durchschoss Steve ein brutaler Schmerz. Als würde ihm jemand von jetzt auf gleich seine Wirbelsäule rausreißen und einen Felsen auf seine Brust werfen. Er befand sich plötzlich im Körper des Mannes. Angst überkam ihn. Was, wenn er jetzt sterben würde? Die Fußballerin kam ihm in den Sinn. Wie gerne wäre er jetzt in ihrem Körper und nicht in diesem sterbenden Mann. Dann dachte er an seine Träume aus der Vergangenheit. Die Frage von dem Forschungsassistenten Arnold, ob man die Vergangenheit nicht ändern könnte. An den letzten Gedanken klammerte sich Steve. Er versuchte, in die Vergangenheit zu reisen. Plötzlich wurde es still. Alles ringsherum erstarrte. Die Zeit fror ein. Klappte es tatsächlich?
Er würde nur ein paar Sekunden zurückgehen, nur so viel, um das Pärchen warnen zu können oder um die Reaktion des Mannes zu beeinflussen. »Gehe rückwärts, Zeit, gehe rückwärts«, dachte er. Und die Zeit fing wieder an, zu laufen. Rückwärts. Erst langsam, dann schneller.
Der Schmerz war mit einem Schlag verschwunden. Dann flog das Auto rückwärts von ihm weg. Er blickte nach links. Da war die Freundin. Sie lächelte ihn an und öffnete den Softdrink. Zum Hauptbahnhof wollten sie. Eine Freundin abholen. So viel erfuhr er in der kurzen Zeit über den Mann. Jetzt waren die beiden wieder am Ladenausgang.
»Reicht«, dachte Steven, aber nichts passierte. Die Zeit lief weiter rückwärts, ohne dass er etwas tun konnte – er wusste ja nicht, wie.
Er sah sich, wie er den jungen Mann an der Kasse vorließ, wie wenn man einen Film zurückspulte. Wieder konzentrierte er sich auf sich. »Zurück in meinen Körper«, dachte er.
Es klappte.
Er stand wieder an der Kasse, hinter ihm das junge Pärchen. Mein Gott, jetzt bloß nicht rumdrehen. Doch Steve tat genau das. Wieder drängelte das Pärchen, er riss sich zusammen und sagte diesmal nichts. Er sah die beiden einfach nur an.
»Wahnsinn!« Der junge Mann grinste Steve an. »Kennen Sie das? Ich hatte gerade voll das Déjà-vu.«
Leicht irritiert nickte Steve.
»Echt?« Die junge Frau sah ihren Freund an.
»Ja, voll. Wie mich der Mann da angesehen hat …« Dann wandte er sich wieder an Steve: »Entschuldigen Sie. Aber das war jetzt ganz eigenartig.«
Steve war jetzt dran. Es waren ja nur Sekunden, die er ändern wollte. Ein kurzes Gespräch sollte reichen. »Ja, ich kenne dieses Gefühl.« Dabei holte Steve ein paar Münzen aus der Tasche, um das Bier zu bezahlen. »Ob Sie es glauben oder nicht. Manchmal kann so ein Moment ein ganzes Leben verändern.« Dann lächelte er die beiden an und bezahlte gemütlich seinen Einkauf.
Er ging langsam Richtung Tür in der Hoffnung, genügend Zeit für das Pärchen herausgeholt zu haben. Draußen ging Steve diesmal in die Richtung, in der gleich das Taxi den Unfall bauen würde. Schon sah er den Wagen mit hohem Tempo kommen. Das Pärchen wollte gerade an Steve vorbei, als das Taxi in ein parkendes Auto krachte und dann auf den Gehweg schleuderte. Geschockt sahen alle auf den Unfall. Das Pärchen sah Steve kurz an, als hätten sie erneut ein Déjà-vu.
Ein Passant kümmerte sich um den Fahrer. Der Mann war wieder bei Bewusstsein.
Steve war froh, dass niemandem etwas Ernsthaftes passiert war, dass niemand gestorben war. Doch nachdem die Erleichterung abebbte, wurde ihm bewusst, was er gerade getan hatte. Er war durch die Zeit gegangen. Er konnte Ereignisse ändern.
Ob diese kleine Veränderung Konsequenzen hatte? Vielleicht hätten die beiden sterben müssen. Er war sich nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte. Andererseits hatte er diese Gabe, diese Möglichkeit, den beiden zu helfen. Dennoch beschloss er, dieses Ereignis für sich zu behalten. Niemand würde davon erfahren. Auch die Leute im Institut nicht.
Zu Hause bemerkte er eine gut sichtbare Staubschicht auf seinem Tisch, abgesehen von den Spuren, die Lumbeck und Köhler verursacht hatten, als sie Steve geholfen hatten, das Kästchen zu öffnen. Die letzten Tage waren wie im Flug vergangen. An Putzen war nicht zu denken. Und auch in diesem Moment war ihm nicht danach. Er beschloss, das Putzen zu vertagen. Zu lebendig waren die gerade erlebten Ereignisse. Das Bier stellte er in den Kühlschrank. Dann sah er sich noch den Beitrag über Viktor an, den seine Kollegin boulevard-typisch geschnitten hatte. Ohne sein Bier zu trinken, entschloss er sich, früher als üblich schlafen zu gehen.
Steve wachte auf. Er fühlte sich ausgeruht. Diese Nacht hatte er keinen Traum gehabt, zumindest keinen, an den er sich erinnern konnte.
Er trank einen Kaffee, dann nahm er seine Tasche, in die er wieder sein Notebook packte.
Dann ging Steve direkt ins Institut. Anja wartete in der Eingangshalle. Sie begrüßte ihn lächelnd und führte ihn in einen unbekannten Flügel, wo sie eine schwere Behandlungszimmertür aufdrückte, die man vom Röntgen oder MRT kannte.
Steve kniff die Augen zusammen. Dieser Raum, der was von einer hochmodernen Klinik hatte, war perfekt ausgeleuchtet. Die gesamte Decke schien eine einzige, gleichmäßig leuchtende Lampe zu sein.
Nikolas und Larissa warteten schon. »Guten Morgen, Steve«, grüßte Nikolas. »Wollen wir gleich anfangen?« Er zeigte auf eine Liege, vielleicht fünf Zentimeter dick, die ohne Gestell an der Wand befestigt war.
»Was? Da soll ich drauf? Das Ding hält mich nie im Leben aus. Ich wiege 90 Kilo«, warnte Steve.
Nikolas lachte. »Keine Sorge. Es wird dich aushalten.«
Und tatsächlich. Steve setzte sich zunächst. Die Liege wippte kaum. »Und was jetzt?«
»Du wirst jetzt in unsere Heimatwelt reisen. Wir haben einen Freiwilligen, der seinen Körper für dich zur Verfügung stellt. Es wird so sein wie bei der Fußballfrau.« Dabei grinste er etwas. »Allerdings wirst du in einen anderen Mann reisen. Dazu werden wir dir einen Gegenstand geben, der einen direkten Bezug zu seiner DNA hat. Seine atomare Struktur wird dich, sobald du dich darauf konzentrierst, zu ihm bringen. Um dich besser darauf vorzubereiten, werden wir dir gleich ein Mittel spritzen. Das hilft dir, dich zu konzentrieren. Es beschleunigt den Vorgang. Nach etwa zwei bis drei Stunden kommst du zurück.«
»Was wollt ihr mir spritzen?«, fragte Steve besorgt. Er hatte kein gutes Gefühl dabei. Und schon gar nicht, wenn er nicht wusste, was das für Medikamente waren. »Ich kann mich doch auch so konzentrieren. Ich mag das nicht. Das muss ohne Spritze gehen.«
Nikolas sah Larissa an, die daraufhin die Spritze mit der vorbereiteten Ampulle zurückstellte. »Gut, wir versuchen es.«
Steve war entspannter, aber dennoch nicht unsicher. Er konnte sich nicht so recht vorstellen, wie diese Reise nun vonstattenging. Wie sollte er sich verhalten? »Und, wissen die, wer ich bin? Warten die auf mich? Kann ich sie verstehen?«
Nikolas brachte eine Box, in der ein paar polierte, dunkle Steine lagen. »Steve, du machst diese Reise, damit du Antworten auf deine Fragen bekommst. Natürlich wissen die von dir. Du wirst schon erwartet.«
Steve nickte beruhigt. Dennoch hatte er das Gefühl, dass alles viel zu schnell ging. Aber seine Neugierde war größer, und er entschloss sich, Nikolas Anweisungen Folge zu leisten.
»Nimm diesen Stein in die Hand und leg dich hin!«
Steve tat, wie ihm geheißen. Dennoch spürte er, wie Nervosität in ihm aufstieg. »Wie lange werde ich brauchen?«
»Dein Bewusstsein wird durch die dunkle Materie reisen«, erklärte Anja, »beschleunigt durch die dunkle Energie, die um das Millionenfache schneller ist als das Licht. Eine Reise mit der dunklen Energie ist zeitlich praktisch nicht messbar.«
»Genug, Anja«, unterbrach Nikolas sie. »Jetzt konzentriere dich auf den Stein in deiner Hand. Die Atome in dem Stein erinnern sich an seinen Besitzer. Sie führen dich direkt zu ihm. So wie bei dem Fußballspiel.«
»Jetzt hört mir doch mit dem Fußballspiel auf. Ich wünschte, ich hätte das nie erzählt. Außerdem habe ich mich da nicht auf den Handschuh konzentriert. Ich habe mir nur das Spiel angesehen.« Kopfschüttelnd, immer wieder auf das Fußballspiel angesprochen zu werden, betrachtete er den dunklen Stein in seiner Hand. »Was macht ihr denn so lange? Was ist jetzt?«
Nikolas ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Wir gehen dann und lassen dich hier. Keine Sorge.«
»Das hilft mir aber nicht.«
»Darum wollten wir eine Konzentrationshilfe injizieren«, wiederholte Nikolas ganz ruhig. »Versuch, dich zu konzentrieren. Drück den Stein in deiner Hand wie den Torwarthandschuh.«
Steve sah ein, dass es nur zwei Möglichkeiten gab. Er könnte aufstehen und gehen oder einfach das machen, was Nikolas sagte. »Gut.« Steve schloss die Augen. Er spürte den Stein in seiner Hand. Dann dachte er an Anjas Worte und daran, was ihm David Braun über die dunkle Energie erzählt hatte.
Steve atmete tief ein und wieder aus. Er dachte kurz an die Situation bei dem Fußballspiel, die ihm inzwischen ziemlich peinlich war, dann an den Unfall des jungen Pärchens. Jetzt lag seine ganze Konzentration bei dem Stein in seiner Hand. Er versuchte, alles richtig zu machen. Dabei hatte er überhaupt keine Ahnung, auf wen oder was er sich in der anderen Welt konzentrieren sollte.
Eine Weile lag Steve einfach nur so da. Es wurde etwas wärmer, aber sonst passierte nichts. Kein Geräusch war zu hören. Nicht einmal das leichte Ohrenrauschen, das er seit einigen Jahren hatte, konnte er hören. Schließlich hatte Steve keine Lust mehr und kam zu folgendem Entschluss. »Es funktioniert nicht.«
Niemand antwortete.
Dann fiel ihm auf, dass er den Stein in seiner Hand nicht mehr spürte. Er öffnete die Augen – und erschrak. Vor ihm stand ein fremdes Wesen. Die Haut des Wesens war hellgrau, fast weiß. Es wirkte weiblich, aber nicht menschlich, sehr schlank, mit langen, glatten, schwarzen Haaren. Die Augen waren größer als bei Menschen. Eine dunkle Iris bedeckte die größte Fläche des Augapfels und ließ kaum Weißes im Auge erkennen. Die Pupille selbst war kaum dunkler als die Iris und nur ein kleiner Punkt im Auge. Nase und Mund waren sehr dünn und zierlich. Das Wesen machte Laute, mit denen Steve nichts anfangen konnte. Dennoch klangen die Silben freundlich.
»Hallo«, sagte Steve. Was Besseres fiel ihm nicht ein. Dann sah er seine Hände an. Sie waren auch weiß. Er hatte fünf lange, dünne Finger, einer menschlichen Hand sehr ähnlich.
Es hatte also doch geklappt.
Aus dem Gemurmel des Wesens entwickelten sich langsam Worte, die Steve verstand.
»… Eskuathea willkommen.«
Und schon hatte Steve das Gefühl, antworten zu können, »Verzeihung. Ich habe nicht gleich alles verstanden. Könnten Sie Ihre Worte wiederholen?«
»Aber gerne«, sagte das Wesen. Es klang wirklich sehr liebenswürdig und beruhigend. »Lieber Steve, ich freue mich, dich kennenzulernen. Mein Name ist Dimi Takari. Ich heiße dich im Sternensystem Bellatrix auf unserem Heimatplaneten Eskuathea willkommen.«
1. September 1503. Völlig vernarrt in den Gedanken, die besessene Jolanda zu finden und ihr den bösen Geist auszutreiben, suchte Pater Matteo den Feldherrn Cesare Borgia in der Festung Nebi auf. Ein Mann mit vielen Titeln: Bischof, Staatsherr, Fürst und General.
Cesare Borgia war ein Führer des damaligen Kirchenstaates. Er sollte ihm die Vollmacht erteilen, Jolanda zu fassen. Am besten mit einer Garde, die ihn begleitete. Schließlich war Papst Alexander der Sechste, der die Entscheidung treffen sollte und als Letztes nur noch den Brief Matteos in seinen kalten Händen gehalten hatte, kein Geringerer als Cesares Vater.
Dieser hatte allerdings ganz andere Probleme, denn seit dem mysteriösen Tod des Vaters war die Macht der Borgia gebröckelt. Jahrzehntelange Korruption, Mordintrigen und Feldzüge hatten dem Clan, der selbst die Kardinalshüte unter sich aufteilte, viele Feinde gebracht. Der selbst gegründete Kirchenstaat hing nun stark von der nächsten Papstwahl ab.
Matteo beschrieb die Besessene sehr genau und ließ kein gutes Haar an ihr. Er machte sie zu einem bösen Dämon, der schuld am Tode des Papstes sei. Cesare gab nach und stellte fünf Gardisten zu seiner Begleitung ab.
Fortan würde Matteo auch nicht mehr zu Fuß reisen müssen. Wagen und Pferde würden seine Suche beschleunigen.
Dimi führte Steve in die obersten Etagen des Gebäudes, in dem sie sich befanden. Alles war sehr aufgeräumt und hell. Der Gang, durch den sie wanderten, war geschätzte zehn Meter hoch und wurde nach oben hin schmaler. Durch mehrere dreieckige Oberlichter fiel helles Licht auf den weißen, glänzenden Gang. Nach etwa fünfzig Metern kamen sie in eine größere Halle. Durch eine riesige Glasscheibe sah man etwa einen Kilometer unter ihnen die Stadt. Mehrere hohe Gebäude rankten in den wolkenlosen Himmel. Die meisten waren aber nur halb so hoch wie dieses, in dem sie sich befanden. Aber alle hatten eins gemeinsam: Sie hatten Glasfronten und sie waren alle weiß. Farben waren nicht zu sehen.
Steve drehte sich um. In der gläsernen, lichtdurchfluteten Halle, in der sie sich befanden, waren etwa hundert Wesen. Steve war ziemlich sicher, dass es auch hier Männer und Frauen gab. Einige unterhielten sich leise, andere saßen einfach nur da und ruhten sich aus, wie in einer großen Lounge in einem Hotel. Auch hier gab es so gut wie keine Farben. Nur Weiß und Grau in mehreren Abstufungen. Ab und zu ein Muster aus Grau und Weiß.
Die Kleidung hatte im Großen und Ganzen denselben Schnitt: lange, anliegende, dünne, hemdähnliche Kittel, dazu gleichfarbige Hosen. Der Gang der Wesen war sehr elegant, hatte etwas Anmutiges.
Dann kam eine Frau des Weges, durch ihr dunkelrotes, samtiges Kleid und die hellen, langen Haare hob sie sich von den anderen ab. Sie war auch über einen Kopf größer, hatte ansonsten aber die gleiche Statur und Hautfarbe, wenngleich sie etwas Menschlicher wirkte.
Steve konnte nicht anders, als sie anzusehen. Sie allerdings ging an Steve vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Das ist eine unserer Städte hier auf Eskuathea«, holte ihn Dimi aus seinen Beobachtungen.
Steve sah wieder aus dem Fenster. Eine Etage über ihnen dockte gerade ein Luftschiff an. Die Form erinnerte an eine Pfeilspitze, die in der Mitte ein kreisrundes Loch hatte. Dennoch war alles abgerundet und nicht kantig. Komplett in Weiß mit Dutzenden Fensterfronten, die im hellen Sonnenlicht funkelten. Wie viele Personen da wohl reinpassten? 100? 200? – Und warum schwebte es wie ein Zeppelin? Es war kein Ballon zu sehen, dachte Steve. »Beeindruckend. Wunderschön.«
»Wir sind hier im Ministerium für interstellare Angelegenheiten. Von hier aus starten die meisten unserer Reisen zu fernen Welten«, fuhr Dimi fort. »Unser Anliegen ist es, Wissen und Frieden in andere Galaxien zu bringen und unser Wissen mit anderen Spezies zu teilen.«
»Ihr seid also keine Bellatrixianer, wie mir das erzählt wurde?«
»Nein«, antwortete Dimi lächelnd. »Bellatrixianer würden wir bei euch genannt werden, weil unsere Sonne von euch Menschen so genannt wurde. Bei uns heißt unsere Sonne auch Mutterlicht – ein Begriff aus alten Überlieferungen.« Dimi machte eine Pause in ihrer Erklärung, schien auf eine weitere Frage zu warten.
»Warum denkt ihr, ich wäre einer von euch?«
Dimi setzte sich auf eine steinerne Bank an der großen Fensterfront und gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er es ihr gleichtun solle. »Es gibt nicht viele Spezies, die ihre Persönlichkeit auf eine andere Rasse übertragen können. Daher liegt die Vermutung nahe, dass du ein Eskuatheaner bist. In der Vergangenheit gab es Priori, die diese Gabe so wie du einsetzten. Die heutigen Priori haben diese Fähigkeit fast verloren. Sie können es nur noch, wenn das andere Wesen nicht mehr bei klarem Verstand ist oder tatsächlich sein Einverständnis gibt. Du, mein lieber Steve, musst einer der alten Priori sein. Deine Gabe und dein Geist wurden weitertransportiert und haben viele Hundert Jahre geschlummert. Aus einem noch unbekannten Grund scheinst du aber deine Vergangenheit nicht mehr zu kennen. Wir helfen dir, dich wieder zu erinnern.«
Steves Augen wurden groß und sein Mund öffnete sich leicht. Obwohl er gerade in einem fremden Wesen steckte, versuchte er, fragend die Stirn zu runzeln.
»Ich möchte nicht verheimlichen«, gab Dimi zu, »dass wir von dir wieder lernen wollen, diese Fähigkeit in uns zu entdecken.« Dabei sah sie verlegen auf den Boden. Dann wanderte ihr Blick vorsichtig in Steves Gesicht, aber nicht in seine Augen. Nur knapp daran vorbei.
Steve bemerkte das und schloss daraus, dass sie auf seine Reaktion wartete. »Ist das das Ziel der Priori? Ungefragt in fremde Körper zu gelangen und deren Kontrolle zu übernehmen?«
Dimi lächelte verlegen. »Steve, du tust nichts anderes in diesem Augenblick. Und glaube mir, so wie du davon profitierst, dein Wissen erweiterst, so tut es auch Bekheo, der Mann, in dem du gerade bist. Auch er profitiert von deinem Wissen. So kann Wissen in ferne Galaxien transportiert werden.«
Ein stechender Schmerz durchzuckte Steve. Oder war es das Wesen, in dem er steckte? Bekheo. Für einen Augenblick wurden seine Sinne getrübt, und er konnte nur noch unscharf sehen. Als er zu sich kam, lag er auf dem Boden.
Dimi kniete vor ihm und sah ihn besorgt an. Dabei fasste sie ihn am Arm und versuchte, ihm beim Aufstehen zu helfen. Auch andere Wesen waren dazugekommen und boten besorgt ihre Hilfe an. Seine Sinne wurden wieder klarer, und mit Dimis Unterstützung konnte er wieder aufstehen.
»Geht es dir gut?«, fragte Dimi.
»Ja, geht wieder«, murmelte Steve noch leicht benommen. Sie setzten sich auf eine Bank, die nur wenige Schritte entfernt war.
»Geht es wirklich?«
Steve nickte. Er fragte sich zwar, was gerade passiert war, aber womöglich waren das normale Begleiterscheinungen der Reise. »Ich hoffe, ich füge Bekheo kein Leid zu. Aber vielleicht ist er auch krank.«
»Nein, Bekheo ist kerngesund. Es wird die Aufregung sein. Aber sag, wenn du dich unwohl fühlst.«
Steve nickte und fasste sich an die Brust. »Es war ein schneller, stechender Schmerz. Aber jetzt geht es wieder. Aber bitte, erzähl weiter.«
Die Besorgnis verschwand aus Dimis Gesicht, und so widmete sie sich wieder ihrer Geschichte. »Vor vielen Millionen Jahren haben wir unsere DNA in der Galaxie verteilt. So wurden viele Spezies auch erst durch unsere genetischen Bausteine möglich. Wenn man so will, sind in all euch Menschen unsere Bausteine. Wir besetzen niemanden. Wir teilen unser Wissen.«
Steve erholte sich wieder. »Wenn ich daran denke, wo ich gerade bin, was alles rund um mich passiert, dann … Verzeih mir, wenn ich da etwas Zeit brauche, um das zu verarbeiten.«
Er stand auf. Etwas wackelig ging er zum Fenster, das vom Boden sicherlich zehn Meter hoch zur Decke reichte. »Erzähl mir was von diesem Planeten. Können wir rausgehen?«
Dimi stellte sich neben ihn und sah mit ihm aus dem Fenster, ging aber nicht direkt auf seine Frage ein. »Eskuathea ist etwa zehnmal so groß wie dein Heimatplanet. Wir haben etwa 25 Milliarden Einwohner. Rund 100 Millionen sind in der Raumfahrt tätig. Wir haben zwei weitere Planeten allein in unserem Sonnensystem besiedelt. Diese Planeten sind wichtig für uns, weil sie Rohstoffe haben, die es hier nicht gibt.«
Jetzt fühlte sich Steve wieder wie in einem Zukunftsroman. Ihm wurde bewusst, dass alles, was er da hörte und sah, echt war. Er sah sich seine Hand an, er berührte sie, er fühlte eine Hand eines fremden Wesens.
Dabei fiel ihm ein Artikel ein, den er gelesen hatte. Über die Neurowissenschaftler aus Schweden, die ihren Probanden mit einer virtuellen Realität suggeriert hatten, dass sie einen künstlichen Körper als ihren eigenen akzeptierten. Das Gehirn ließ sich überlisten. Wurde er womöglich auch …?
Dimi legte ihre Hand auf seine, als ob sie seine Zweifel ahnte. »Du bist wirklich hier.«
Steve spürte ihre Hand. Sie war kühl und weich. Sie strich über Steves Handrücken. Es kribbelte.
Eine Gruppe ging an Dimi und Steve vorbei, er spürte ihre befremdeten Blicke. Womöglich war das hier schon ein sehr intimer Akt, die Hände zu berühren? Jedenfalls zog Steve seine Hand wieder weg.
»Können wir rausgehen?«, fragte er noch mal. »In einen Park oder so?«
Dimi schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Die Sonne ist zu intensiv zu dieser Jahreszeit und Bekheo ist sehr empfindlich. Aber lass uns in den Pflanzengarten gehen.« Sie lächelte, nahm Steve wieder bei der Hand und führte ihn zu den Aufzügen.
Der Fahrstuhl raste derart schnell in die Tiefe, dass sie beinahe schwerelos waren. Steve genoss es, er lachte. Dimi grinste ihn an, als ob sie sich was Freches ausgedacht hatte. Und tatsächlich: Schnell schob sie ihre Hände unter seine Achseln und hob ihn an. Jetzt schwebte Steve für einen Moment tatsächlich. Beide lachten laut, das musste im ganzen Fahrstuhlschacht zu hören sein.
Der Pflanzengarten war in einem überdachten Innenhof. Ein großer botanischer Garten mit Früchten und Blüten, die Steve noch nie gesehen hatte. Fasziniert sah er sich die Pflanzen an und roch an den Blüten und Früchten. Süßliche Düfte, die ihn an Ananas erinnerten, nahm er im Umkreis der Pflanze wahr. Eine andere duftete eher säuerlich. Dann dachte er an Dimis Aussage, dass dieses Volk bereits zwei weitere Planeten besiedelte.
»Wie schnell sind denn eure Raumschiffe?«, fragte Steve neugierig.
Dimi stellte sich vor einen Busch, der große grüne Früchte mit roten Flecken trug, die halb so groß waren wie sie selbst. Die Form erinnerte an Essiggurken. Dies war auch der Busch, der etwas sauer roch. »Du willst wissen, wie schnell unsere Raumschiffe sind. Wir Eskuatheaner reisen seit umgerechnet 1.200 Erdenjahren durch die Galaxie, seit über 800 Jahren in Überlichtgeschwindigkeit. Seit ein paar Jahrzehnten sind Reisen in etwa zehnfacher Lichtgeschwindigkeit möglich. Die Beschleunigung dauert leider einige Monate. Aber wir sind so weit, dass wir in gut 30 Jahren gemeinsam in unseren Körpern auf der Erde spazieren gehen könnten.« Sie lächelte ihn an, womöglich in der Erwartung, dass er zurücklächelte. Aber Steve sah ihr nur selten direkt in die Augen. Die dunkle Iris in den großen Augen, war zwar einerseits niedlich, aber andererseits auch unheimlich. Außerdem gab es ja so viel zu sehen. Auch wenn er kein Botaniker war, so waren diese Pflanzen doch sehr eindrucksvoll. Die ganze Halle wurde von einer großen Glaskuppel überdacht. Jedoch schien das Glas abgedunkelt zu sein.
»Du sprichst von Erdenjahren. Gibt es da einen Unterschied?«
»Unser Planet ist größer als euer Planet und dreht sich langsamer um die Sonne. Daher sind unsere Jahre etwa ein Fünftel länger als eure.«
Steve wollte so viele Fragen loswerden wie nur möglich. Immerhin wusste er nicht, wie lange er in diesem Körper bleiben konnte. »Aber wie kommt es, dass wir dann noch nie Kontakt zu euch hatten? Eure Raumschiffe müssten doch schon lange bei uns sein.«
Dimis Lächeln verschwand. Sie blinzelte ein paarmal und kniff ihre dünnen Lippen zusammen. »Das ist ein nicht so erfolgreicher Abschnitt unserer Geschichte. Schon vor gut 900 Jahren sind Raumschiffe in euer Sonnensystem gereist, die DNA-Steine für die Priori überbringen sollten. Das sind diese Steine, die dich hierhergebracht haben. Die Besatzung war damals noch etwa 250 Jahre unterwegs, weil Reisen schneller als das Licht nur über dunkle Energie möglich war. Also wurden ihre Körper kryokonserviert. Nur im Kühlschlaf konnten sie diese lange Reise lebend überstehen. Leider wurde damals die kosmische Strahlung nicht hinreichend berücksichtigt. Diese Strahlung ist in der gesamten Galaxie vorhanden, sie durchschießt Körper mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit. Jede Zelle wurde pro Sekunde mehrfach durchschossen, und das über Jahrzehnte im Tiefschlaf. Das neuronale Netz im Gehirn wurde zerstört. Die Zellen konnten sich im Tiefschlaf nicht mehr regenerieren. Es fielen ihnen zum Beispiel Haare aus. Als sie aufgeweckt wurden, konnten sich nur wenige zu Anfang an ihren Auftrag erinnern. Ein kleineres Schiff ist sogar auf die Erde gestürzt.« Dimi schloss kurz die Augen, versuchte dann wieder, ein freundliches Gesicht zu. »Aber das ist lange her. Inzwischen haben wir bessere Raumschiffe. Aber wir denken, dass die Erde noch nicht bereit für eine Begegnung ist.«
Steve nickte.
»Deshalb haben wir die Priori. Unsere Wegbereiter.«
Steve verstand. Die Verbindung zur Erde hatten die Eskuatheaner schon lange vor ihren Raumschiffreisen aufgebaut, weil sie ihre DNA auf vielen Planeten verteilt hatten. Sie besuchten die Erde, indem sie ihre Seelen in andere Körper transportierten. Steve versuchte, sich die Erde aus der Sicht von außen vorzustellen. Mit wie vielen komplizierten religiösen oder politischen Kriegen sie zu kämpfen hatte, bis heute. Man könnte auch die Geschichte der Erde in wenigen Sätzen erklären. Auch die Eskuatheaner hatten Kriege. Das hatte David Braun, der Chef des Instituts, erzählt.
Steve war froh, zumindest einen keinen Einblick bekommen zu haben. Er begann tatsächlich, Dimis Worten Vertrauen zu schenken, was er ihr mit einem Lächeln zu erkennen gab. Sie klimperte mit den Augen und lächelte zurück.
»Wie könnt ihr mir helfen, meine vergessenen Erinnerungen wiederzuerlangen?«, fragte Steve.
»Das machen die Priori auf der Erde. Hier können wir nur reden. Wir können hier deine Synapsen und dein Gehirn nicht untersuchen, weißt du.«
Steve nickte, dann bekam er wieder das Stechen, und wieder brach er zusammen.
»Steve, wach auf!«, hörte er eine Frauenstimme wie aus der Ferne sagen. Er spürte eine zierliche Frauenhand, die erst leicht, dann etwas heftiger an seiner Schulter rüttelte. Als sich seine Sicht schärfte, erkannte er Anja mit ihrer strubbeligen Frisur. Er hob die Hand vor die Augen, da die beleuchtete Decke zu grell war, ebenso wie die steril-weiße Einrichtung in dem Raum. Offenbar war er zurück im Institut in München. Steve versuchte, sich aufzurichten, aber er sackte wieder zurück. Die Umgebung drehte sich.
Irgendwas war passiert, er hatte kein Hemd und keine Hose mehr an. Auch die DNA-Steine waren weg.
Anja hatte ein Säckchen in der Hand, das sie nun hastig verschwinden ließ. Vielleicht hatte sie die Steine an sich genommen.
»Komm schnell, wir haben nur ein paar Minuten.«
»Wo ist meine Hose? Was habt ihr gemacht?«, fragte Steve stirnrunzelnd. Dabei wunderte er sich auch, warum Anja so hektisch war und wo die anderen waren.
Anja warf ihm seine Kleidung auf die Liege. »Ich erklär dir gleich alles. Aber nicht hier.« Dabei steckte sie das Säckchen, in dem vermutlich die DNA-Steine waren, in ihre Handtasche.
Steve zog sich schnell seine Hose und sein Hemd an. Er konnte sich aber nicht erklären, warum er jetzt so einfach verschwinden sollte. »Wo soll ich denn hinkommen?«
»Verlass das Gebäude. Ich komme zum Parkplatz.« Anja öffnete die Tür und sah nach links und rechts in den Gang, bevor sie verschwand.
Steve zog nur noch seine Schuhe an und warf einen Blick in seine Tasche, die gefüllter aussah als zuvor. Das Kästchen war wieder da. Vielleicht hatte Nikolas nur die Haare und den Zahn behalten und ihm das Kästchen wieder eingepackt?
Vorsichtig sah er die noch offene Tür, der Gang war leer. Dann musste er schmunzeln. Anja hatte ihm tatsächlich das Gefühl vermittelt, heimlich verschwinden zu müssen. Mit schnellen Schritten ging er Richtung Ausgang. Ein paar Leute kamen ihm entgegen, aber niemand interessierte sich für ihn, sodass er ungehindert zum Auto gelangte. Er wollte gerade losfahren, da riss Anja die Beifahrertür auf und sprang rein.
»Hat dich jemand gesehen?«, fragte sie nervös.
»Na ja, ich bin einigen Leuten begegnet, aber niemandem, den ich kenne. Aber jetzt erzähl doch mal. Warum sollte ich so schnell verschwinden?«
»Fahr erst mal.«
Steve fuhr vom Parkplatz. Dabei warf er Anja einen fragenden Blick zu. Schließlich begann Anja zu erzählen.
»Sie haben dir Dutzende DNA-Proben entnommen. Außerdem haben sie deinen ganzen Körper durchgemessen. Darum haben sie dich ausgezogen.«
Naserümpfend warf er einen kurzen Blick zu Anja. »Moment mal, wenn du sie sagst, meinst du Nikolas? Das Institut? Aber sag mal, gehörst du da nicht dazu?«
»Ja, schon.« Dabei rieb sie nervös ihre Hände aneinander. »Aber ich bin mit den Methoden nicht einverstanden. Ich bin mir nicht sicher, was sie mit deiner DNA machen wollen. Ich möchte auch, dass dieses Gespräch unter uns bleibt.«
Erstaunt über Anjas Vertrauen, aber dennoch skeptisch fragte Steve: »Warum erzählst du mir das? Wir kennen uns doch gar nicht.«
Anja suchte Blickkontakt, doch Steve musste sich auf den Straßenverkehr konzentrieren. Sie kniff die Lippen zusammen und wurde unsicher. »Ich glaube, du musst sehr vorsichtig sein mit deiner neuen Gabe. Ich habe immer geglaubt, dass Nikolas und das Institut auf der Seite der Guten sind. Seine Vorgehensweise heute hat mich stutzig gemacht. Ich wollte, dass du das weißt.«
Steve wollte eigentlich Richtung Sender fahren, aber Anja begann Instruktionen zu geben. »Da an der Ampel links.« Leicht irritiert sah Steve sie an. Aber er folgte Anjas Anweisungen. Alles schwirrte in seinem Kopf. Er hätte es vielleicht nicht tun sollen, aber er redete einfach drauflos. »Ich war tatsächlich auf Eskuathea«, sagte Steve begeistert, »und es war unbeschreiblich.«
Anja verlor ihre Nervosität und hatte ein Lächeln in den Augen. Dann sah sie nach vorne auf die Straße. »Die nächste Querstraße rechts.«
Steve folgte wieder Anjas Wegführung.
»Nikolas weiß nicht, was ich weiß. Ach, in ein paar Minuten wirst du mich besser verstehen. Da vorne links, dann sind wir da.«
Steve kam die Straße, in die sie abbogen, gleich bekannt vor. Eine Wohngegend mit alten Einfamilienhäusern. »Das ist Viktors Wohnung.« Steve war verblüfft und hielt genau vor Viktors Haus.
»Ich bin nicht aus dem Bellatrix-System von Eskuathea, so wie die anderen«, erklärte Anja. »Ich bin eine Zulekh. Viktors und meine Heimat war Bacrillon. 430 Lichtjahre von hier.«
»Aha. Eine Zulekh. Und … ist das dein Körper oder besetzt du diesen, so wie es die Priori tun?« Die Hand auf das Lenkrad abgestützt, drehte er sich zu ihr und musterte sie skeptisch. Dass sie kein Mensch war, wunderte ihn nicht mehr. Er fragte sich eher, ob es vielleicht auch noch ein paar echte Erdlinge auf der Erde gab. Schließlich behaupteten die Eskuatheaner ja selbst von ihm, dass er einer von ihnen war.
»Ich habe diesen Körper nicht besetzt, hier bin nur ich.«
Steve hob skeptisch die Augenbrauen. »Wissen die anderen, dass du eine – wie sagtest du? – eine Zulekh bist? Oder ist das was Normales? Sind mehrere Spezies in eurem Institut vertreten.«
»Nur Larissa. Sie ist meine beste Freundin, auch wenn sie eine Eskuatheanerin ist. Du musst wissen, dass sich Zulekh und Eskuatheaner im Allgemeinen nicht so gut vertragen. Larissa ist eine aufgeschlossene Frau. Aber die anderen dürfen nichts erfahren«, sagte sie.
Anjas Blicke waren inzwischen starr auf Viktors Haus gerichtet.
»Du hast ihn gekannt?«
Anja nickte und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
»Hast du eine Idee, wer Viktor ermordet hat?«
»Es könnten die Priori sein. Aber ich glaube nicht, dass es Nikolas war. Es gibt so viele Gruppierungen unter den Priori.«
Steve ließ seinen Kopf an die Kopfstütze seines Sitzes fallen und starrte einfach nur geradeaus. Er versuchte, die jüngst erlebten Ereignisse zusammenzufassen. Dann sah er Anja an, die ihn mit großen Augen beobachtete. Er entschloss sich, ihr zu vertrauen.
»Erzähl mir mehr. Wie gut kanntest du Viktor?«
Statt zu antworten, hielt Anja Steve einen Wohnungsschlüssel unter die Nase.
Dann klingelte Steves Handy. Es war der Kommissar. »Herr Lombard, ich habe Sie zu Hause nicht angetroffen. Ihre Kollegin sagte mir, Sie kommen heute noch in den Sender. Können wir uns dort treffen?«
»Das habe ich vor. Aber es kann noch zwei Stunden dauern.«
»Gut, ich komme dann auch dorthin.«
Die Wohnung war seit gut einer Woche verlassen, aber sie wirkte, als wäre eben noch jemand da gewesen. Gut, die Polizei war hier gewesen, aber sie hatten sich dezent bewegt. Auf dem Küchentisch standen noch eine benutzte Kaffeetasse und eine Schüssel voller Obst. Einige Bananen hatten bereits schwarze Flecken bekommen.
Anja ging weiter durch den Flur in den Wohnraum, und Steve folgte ihr. Er bemerkte das Rückenmotiv ihres T-Shirts. Auf dem stand in großen schwarzen Buchstaben »Stop Ocean Plastic«. Darunter war eine Illustration einer durchgestrichenen Plastikflasche.
»Ich habe hier oft mit Viktor gesessen«, sagte Anja. »Er hat mir immer wieder erklärt, wie wichtig es ist, dass wir diese Artefakte aus der Vergangenheit zu dir bringen. Und wie wichtig es ist, dein Leben zu schützen. Viktor wusste von deinem Gen.«
»Also habt ihr mich schon gekannt. Warum hat Nikolas oder du nichts davon erzählt?«
Anja schüttelte den Kopf. »Nur ich wusste von dir. Nikolas kannte Viktor, aber er wusste nichts von dir. Er ahnte nur, dass Viktor einen weiteren Kontakt zu einem Seelenwanderer hatte.«
Die beiden waren nun im Wohnzimmer. Anja deutete auf den Wohnzimmertisch. »Am Abend vor dem Unfall saß ich hier mit ihm.«
Auf dem Tisch lag eine alte, in Latein geschriebene Besitzurkunde der Familie Neri. Eine Wohnung in Sassi bei Matera. Die Urkunde stammte aus dem 15. Jahrhundert. Und Steve fand Briefe von einem Pater Matteo, zwei davon waren an Päpste gerichtet, an Alexander VI. und Pius III.
»Er wusste, dass es dich gibt«, fuhr Anja fort. »Und er wusste, dass du in der Zeit zurückreisen kannst. Adamo kannte deinen Namen und das Jahr, aus dem du gekommen bist.« Anja zog eine weitere Urkunde aus dem Stapel. »Die Heiratsurkunde von Jolanda und Adamo. Steve, es gab sie wirklich.«
Steve hielt sich die Hand an die Stirn. »Warte, nicht so schnell. Ich muss das alles erst verarbeiten.«
Anja setzte sich auf das Sofa und lehnte sich zurück.
»Viktor musste sterben, weil …?« Steve setzte wieder sein Fragezeichengesicht auf, indem er die Stirn runzelte und Anja genau in die Augen sah.
»Okay, zunächst einmal«, begann Anja, »ist Viktor nicht tot. So wie jedes Lebewesen im Universum ist seine Seele durch die dunkle Materie an einen anderen Ort gebracht worden. Oder er ist wieder zu Hause auf Bacrillon. Über den Verbleib seines eigenen Körpers hat er mir nie etwas erzählt. Aber merke«, und dabei hob Anja ihren Zeigefinger, »nichts geht verloren im Universum. Es ändert sich nur der Zustand.«
»Okay, nehmen wir an, du hast recht. Dennoch ist er – oder sein Körper – erschossen worden. Er weilt also nicht mehr unter uns. Wer glaubst du, hätte einen Nutzen davon?«
»Er wurde vielleicht aus dem Weg geräumt, weil jemand Angst hatte, du würdest von ihm besetzt werden. Und mit Viktors Wissen und seinen Fähigkeiten wärst du nicht mehr von Nutzen für die Priori gewesen. Ich weiß es nicht.«
»Du meinst, die Priori könnten Viktor ermordet haben – wegen mir?« Steves Unterlippe begann zu zittern.
Anja stapelte die Papiere auf dem Tisch und legte sie in eine Mappe. Sie schien zu bemerken, dass Steve der Gedanke, dass Viktor wegen ihm gestorben war, sehr mitnahm. »Ich weiß es nicht, Steve. Aber mach dir keine Vorwürfe. Viktor hat mir erzählt, dass er von seinem Ende wusste.«
Steve setzte sich zu Anja auf das Sofa.
»Dieses Volk, also die Eskuatheaner, sie sind nicht böse. Die Priori wurden einst aus der Not heraus geboren. Denn das Volk suchte nach Möglichkeiten, zu überleben. Die Masse von Bellatrix ist bereits das zehnfache der Sonne in diesem System, und sie ist viertausendmal heller. Ein Leben auf Eskuathea ist nur noch auf den Polkappen möglich, und da auch nur in Gebäuden oder im Schutzanzug. Die beiden anderen Planeten in ihrem System bieten zwar Platz für den Lebensmittelanbau, aber das reicht nicht für die gesamte Bevölkerung. Das Allerschlimmste ist, dass sich die Sonne der Eskuatheaner immer weiter aufbläht. Sie stirbt. In ein paar Tausend Jahren wird es zu heiß sein. Aber schon viel früher wird die Gravitation des blauen Riesen den Heimatplaneten der Eskuatheaner verschlingen.« Anja hielt kurz inne. »Der Weg, den Körper zu verlassen, ist da das Einfachste. Die Priori sind ihre Wegbereiter. Vielleicht sehen sie in deinem Gen eine mögliche Lösung für ihr Problem. Denn mit deinen Fähigkeiten könnten sie womöglich eine Invasion wagen. Niemand auf der Erde würde das überleben beziehungsweise merken. Sie würden einfach ungefragt alle Körper übernehmen. Die Priori können nur in geschwächte Körper oder in Lebewesen, die sich freiwillig zur Verfügung stellen. Daher wurde ich stutzig, was das Institut und Nikolas Vorgehensweise angeht. Sie haben dir nicht nur viel DNA entnommen, sondern auch Blut und Gewebeproben.«
Anja nahm Steves Arm und raffte sein Hemd hoch zum Ellenbogen. Sie deutete auf drei kleine rote Punkte, die wie Einstiche aussahen. Steve war erschrocken und riss die Augen auf.
»Diese Male hast du am ganzen Körper.«
Steve sah rasch auf seinem anderen Arm. Auch dort waren Punkte zu sehen. Auch die Waden waren voll davon. Steve zuckte zusammen und versuchte, tief Luft zu holen.
»Du warst dort. Hast du erfahren, wie viele auf dem Planeten leben?«
Steve überlegt kurz. »Ja, Dimi hat es mir gesagt. 25 Milliarden.«
Anja hielt sich eine Hand vor den Mund, um ihr Erstaunen zu verbergen. »So viele? Krass. Okay, eine Invasion macht da auch keinen Sinn. Auf der Erde gibt es nur knapp acht Milliarden Menschen.«
Steve stand vom Sofa auf und schaute sich im Raum um. Erst jetzt fielen ihm die vielen alten Bücher in den Regalen auf. Sehr alte Bücher. »Wie lange, sagtest du, ist Viktor unter uns gewesen?«, fragte er.
»Etwa 550 Jahre«, antwortete Anja.
»Und du? Wie lange bist du schon hier?« Dabei nahm er sich eins der besonders alt aussehenden Bücher und schlug es auf.
Anja deutete auf ihren Körper. »28 Jahre. So steht es in meinem Pass.«
Steve sah zu Anja und kniff seine Augen ein wenig zu zusammen.
Sie senkte ihren Blick und sah auf ihre Schuhe, während sie weitersprach. »Ich will ehrlich zu dir sein. Wir Zulekh können reisen wie die Eskuatheaner. Nur dass ein normaler Zulekh einen Körper nur verlässt, wenn er nicht mehr lebensfähig ist. Seelenwanderer wie Viktor können von Körper zu Körper springen und dabei den eigenen Körper irgendwo in Stasis halten, um später wieder zurückzukehren. Aber das gilt nicht für mich.« Dabei schluckte Anja. »Wir Zulekh haben auf Dutzenden bewohnten Planeten Meldesysteme. Wenn ein geeigneter Körper frei ist, dann können wir in ihn gehen. Dieses Privileg bekommen nur sehr wenige und vor allem junge Zulekh. Unsere Seelenwanderer sind wie die Priori. Sie sind auf fremden Planeten, um die dortigen Rassen zu inspizieren oder um nach Spendern zu suchen. Die Gabe des Seelenwanderers ist jedoch sehr selten.«
Steve war sehr wohl aufgefallen, dass Anja von Dutzenden bewohnten Planeten gesprochen hatte. Er ahnte, dass es schwer sein würde, alles zu behalten. Daher hatte er von Anja unbemerkt den Audiorecorder auf seinem Smartphone aktiviert. »Da du kein Seelenwanderer bist, hast du von solch einem Privileg profitiert, richtig?«
Anjas Blicke wanderten derweil auf Steves Schuhe. Sie schien es nicht zu wagen, ihm dabei in die Augen zu schauen. »Auf Bacrillon hatte ich natürlich auch schon ein Leben, wenn auch nur kurz. Ich war gerade fertig mit der Ausbildung, dann zertrümmerte ein Anschlag auf unsere Schule meinen Körper. Nur mein Gehirn war noch intakt. Das war vor 28 Jahren. Und zu dieser Zeit kam auf der Erde ein hirntotes Kind auf die Welt. Zumindest würden das die irdischen Ärzte so sagen. Der Körper wurde noch nicht beseelt. Ja, und seitdem bin ich hier.«
Anjas Blick fiel nun in Steves Augen. Dabei merkte er, dass ihre Augen feucht wurden.
»Und erinnerst du dich noch an dein erstes Leben?«
»Bis zu dem Tag in der Schule. Die Erlebnisse aus meinem Körper auf Bacrillon kommen zurück, seit ich etwa sechs Jahre alt bin. Meine irdischen Eltern hielten mich immer für verrückt.«
»Wie hast du von deinen Eltern auf Bacrillon erfahren?«
Anja nahm die Mappe mit den alten Urkunden und Briefen und steckte sie in ihre Tasche. »Unsere leblosen Körper werden in der Heimat zu Diamantsteinen gepresst. Zu diesem Stein hat mein Geist eine Verbindung. In unserer Heimat gibt es das Berufsbild des Mediums. Wenn meine Eltern Kontakt zu mir aufnehmen wollen, buchen sie ein Medium. Mein Geist kann dann in diesen Körper fahren, solange das Medium es zulässt. So können meine Eltern mit mir kommunizieren.«
»Dasselbe Prinzip wie bei den Eskuatheanern. Und die Reise wird durch dunkle Energie ermöglicht, richtig?«
Anja grinste. »Richtig.« Dabei wischte sie sich eine Träne von der Wange.
»Ach, und wo war euer Sternensystem doch gleich?«
»Beteigeuze wird es hier genannt. 430 Lichtjahre von hier.«
Steve musste wieder an den Roman »Per Anhalter durch die Galaxis« denken, in dem Beteigeuze nicht unwichtig war, und er fragte sich, ob der Autor, Douglas Adams, sich das alles womöglich gar nicht ausgedacht hatte.
»Wir müssen jetzt los«, sagte Anja und packte noch ein paar Sachen zusammen, »ich habe noch einen Termin.«
Dann verließen sie Viktors Wohnung.
Steve fiel beim Verlassen des Hauses eine dunkle Limousine auf, in der zwei Männer mittleren Alters saßen.
Bevor er mit Anja losfuhr, startete Steve seine Haustür-App. Damit konnte er nicht nur kontrollieren, wer vor seiner Haustür stand, sondern auch im Nachhinein prüfen, ob jemand an der Haustür gewesen war. Die Kamera zeichnete alles auf. Es war kein Eintrag vorhanden, obwohl Kommissar Lumbeck vorhin behauptet hatte, bei ihm gewesen zu sein. Dann beendete er auch noch die Audioaufnahme, die er zuvor gestartet hatte.
Sie fuhren los.
Steve sah in den Rückspiegel. Der Wagen setzte sich ebenfalls in Bewegung. Wie in einem Krimi. Steve bog links ab und stellte sich vor einen parkenden Lieferwagen, sodass der Verfolger ihn erst sehen würde, wenn er schon vorbeigefahren war.
»Warum halten wir hier?«, fragte Anja.
»Ich glaube, uns folgt jemand.« Steve deutete auf den Rückspiegel.
Tatsächlich fuhr der anthrazitfarbene Wagen Sekunden später an ihnen vorbei. Steve machte noch schnell ein Foto mit seinem Smartphone.
Anja schaute dem Wagen hinterher. »Waren die das?«
»Ja, ich glaube schon. Ich tippe auf die Polizei. Wo musst du denn jetzt hin? Ich fahre zum Sender.«
»Lass mich einfach da vorne raus. Da ist eine U-Bahn. Aber bitte: kein Wort zu irgendwem von unserem Gespräch. Ich habe Jahre gebraucht, um mich als Eskuatheanerin in Nikolas’ Team zu mogeln. Ich denke, er wird sich wieder bei dir melden. Sei ruhig skeptisch und sprich ihn darauf an, warum er dir Spritzen gegeben hat. Aber von mir weißt du nichts.«
»Anja«, antwortete Steve, »natürlich werde ich dich nicht auffliegen lassen. Ich weiß viel zu wenig von euren Welten, um entscheiden zu können, was los ist. Allerdings habe ich auch sehr viel von Dimi aus dem Sternbild des Orion erfahren. Ich würde gerne ein weiteres Mal mit ihr sprechen.«
Ein verschmitztes Lächeln verdrängte ein wenig die Sorge in Anjas Gesicht. »So, du kennst dich aus mit Sternbildern.«
»Google«, sagte Steve und lachte.
»Auch meine Heimat ist in diesem Sternbild«, sagte Anja.
»Ach«, Steve war verdutzt, »das wusste ich nicht. Ich dachte, zwischen Bacrillon und Eskuathea liegen Hunderte von Lichtjahren.«
»Na, von hier aus kann man das nicht sehen. Wir liegen optisch nur von hier aus im selben Sternbild.«
Steve hielt den Wagen am Straßenrand an.
»Für den Fall, dass du eine Reise machen willst«, Anja kramte in ihrer Tasche und holte das Säckchen hervor, »das sind die Steine von heute Morgen.«
»Wird Nikolas die nicht vermissen?«
Anja zuckte mit den Achseln. »Die nächste Zeit eher nicht.«
Anja öffnete die Autotür. Sie drehte sich aber zurück und drückte ihm eine Visitenkarte in die Hand. »Ruf mich später an.«