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EINLEITUNG

Das Mysterium der Einheit in der Vielheit ist das zentrale Problem aller grundlegenden spirituellen und philosophischen Fragen. Es ist untrennbar verknüpft mit Fragen nach Gott, nach Ewigkeit und nach Individualität. Auch alle Fragen nach dem Wesen des Bewusstseins, nach materieller und geistiger Welt, nach Getrenntheit und Verbundenheit, nach Gut und Böse lassen sich nur wirklich beantworten, wenn man sich mit diesem Mysterium, mit dem Verhältnis der Vielheit zur Einheit, auseinandersetzt. Das alte philosophische Problem des Gegensatzes von Erscheinung und „Ding-an-sich“, von der Manifestation und dem ihr zugrunde liegenden Wesen, hängt gleichfalls mit ihm zusammen.

Dennoch bleibt die „Einheit-in-der-Vielheit“ für unseren rationalen Verstand und unser menschliches Bewusstsein ein Mysterium. Wir werden es nie vollständig erklären können, woraus sich die Frage ergibt, ob es nicht klüger wäre, zu dem Thema zu schweigen. Aber selbst wenn man es nicht vollständig erklären kann, so kann man doch aufgrund von Indizien logische Schlüsse ziehen und falsche Vorstellungen widerlegen und ausschließen, sodass man sich der Wahrheit soweit annähert, wie es für den rationalen Verstand möglich ist. Ja mehr noch: Auf diesem Wege kann man den Verstand beruhigen, befrieden und ihm seine Grenzen aufzeigen, sodass dadurch Raum entsteht für tiefere Untersuchungen und für jene entscheidende Erkenntnis, jene Bewusstseinserweiterung, die nichts mit philosophischen Überlegungen mehr zu tun hat und deren Lehren und Erkenntnisse sich auch kaum mehr in Worten mitteilen lassen. Aber selbst wenn jene höhere, nicht in Worte zu fassende (Selbst)Erkenntnis von einem gewissen Standpunkt das allein Entscheidende und der Zielpunkt aller spirituellen Wege ist, so macht sie dennoch die in Worte zu fassende philosophische Erkenntnis nicht überflüssig. Die philosophische Erkenntnis bleibt auf immer eine wesentliche Ergänzung subjektiver Transformationen oder Erkenntnisse („Erleuchtung“), die sich als (geistige, psychologische…) Phänomene einordnen und interpretieren lassen müssen. Es lohnt sich immer, auf philosophischem Wege soweit zu gehen, wie man kann, denn die Philosophie ist ein wichtiger Wegweiser, eine Art rationales (und daher eins-zu-eins mitteilbares) Gegenstück zur subjektiven mystischen Erkenntnis. Neue philosophische Erkenntnisse sind dann zu erwarten, wenn es gelingt, verschiedene, bisher als inkompatibel geltende Erkenntnisquellen oder „Realitätsmodelle“ zusammenzubringen und ihre Schnittmengen zu finden. Im Falle von Das Mysterium der Einheit in der Vielheit sind dies vor allem die nichtdualistische Philosophie der Upanishaden, christliche Offenbarungen, Mystik und schließlich Nahtoderfahrungen, die eine neue und eigene Klasse von Offenbarungen bilden.

Das Mysterium der Einheit in der Vielheit ist gewissermaßen das Einlösen einer Ankündigung oder einer Idee aus Eine Neue Aufklärung, nämlich, dass die unterschiedlichen „westlichen“ und „östlichen“ religiösen Ansätze sich ergänzen und gemeinsam mehr Energie entfalten. Sie sind zwei Seiten der Einen Wahrheit. Der Impuls hinter Eine Neue Aufklärung war der Gegensatz von materialistischem und spirituellem Weltbild. Der Impuls hinter Das Mysterium der Einheit in der Vielheit ist der Gegensatz zwischen „Ost“ und „West“, zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Selbsterforschung und Offenbarung, zwischen den Lehren des Advaita Vedanta und den Lehren, die wir z.B. aus Nahtoderfahrungen ziehen können, oder auch, philosophisch betrachtet, die Beantwortung der Frage, wie in einem nichtdualistischen Weltbild das Verhältnis von Einheit (des Bewusstseins) und Vielheit (der Wesen) aussieht. Die Beantwortung dieser Frage käme dem Lösen des von Schopenhauer so genannten „Weltknotens“ gleich, sie wäre das Tiefste, was an philosophischer Erkenntnis möglich wäre.

Ein gestalterisches Grundprinzip von Eine Neue Aufklärung wird auch in diesem Buch angewendet, nämlich dieses, dass die Thematik nicht nur aus einer Perspektive, sondern aus vielen, sich ergänzenden Perspektiven dargestellt wird. So wird Advaita Vedanta auf der Grundlage der Upanishaden, die hier zusammengefasst werden, aber auch auf der Grundlage der Darstellungen der modernen Advaita Vedanta-Bewegung erklärt. Auch die praktische Umsetzung (wenn man so sagen kann), also das zur Befreiung führende System des Vedanta wird zum einen in seinen philosophischen Grundlagen dargestellt, zum anderen auch durch eine Sammlung von „Pointern“, die von unterschiedlichen Lehrern, von Ramana Maharshi, Rupert Spira, Mooji, Eckhart Tolle, Francis Lucille usw., inspiriert sind, vermittelt. Es wird im Zusammenhang anderer Lehren, speziell der christlichen, aber auch anderer hinduistischer Lehren betrachtet. Es wird in einen größeren philosophischen Kontext gestellt, wobei die Quellen für diesen Kontext unterschiedlicher Natur sind, insofern sowohl philosophische Ansätze, die mit Kant, Schopenhauer und Eine Neue Aufklärung zu tun haben, als auch Nahtoderfahrungen berücksichtigt werden. Während also Advaita Vedanta im Kontext eines größeren Weltbildes betrachtet wird, wird es ebenso auch in Beziehung gesetzt zu einem, meiner Auffassung nach, komplementären Weg, nämlich dem Bhakti-Weg, dem Weg des Herzens und der Liebe.

Eine wichtige These dieses Buches ist, dass es zwei unterschiedliche religiöse Ansätze gibt: der Glaube, der sich auf Offenbarung stützt, und die Selbsterforschung, die sich auf Erfahrung stützt. Den zuerst genannten finden wir besonders in den großen semitischen Offenbarungsreligionen, aber auch im Hinduismus. Den anderen Weg finden wir besonders im Buddhismus und anderen auf Selbsterforschung zielenden Lehren, wie etwa Advaita Vedanta, die Upanishaden, „the Direct Path“ (im Folgenden: „Der direkte Pfad“) usw. Jeder dieser zwei Wege ist ohne den anderen unvollständig, denn während Selbsterforschung unverzichtbar ist und die Methoden, die im Buddhismus und im Vedanta hierfür entwickelt worden sind, ein großer, hilfreicher Schatz sind, so ist doch das Weltbild dieser Lehren reduktionistisch, verkürzt und damit teilweise auch falsch und bedarf der Ergänzung durch Offenbarungen. Zu diesen zählen heute auch und besonders Nahtoderfahrungen, die uns auch zeigen, dass das, was für den einen (nämlich für den Nahtoderfahrenen) eine mystische (Selbst-)Erkenntnis ist, für den anderen (nämlich für den, der nur davon hört oder liest) eine Offenbarung bedeutet, etwas, das ihm durch jemand anderen offenbart wird und an das er nun glauben kann, oder nicht.

Was bedeutet Offenbarung? Auf Englisch heißt es sehr passend „revelation“: Es handelt sich also um eine „Enthüllung“ höherer, transzendenter Wahrheiten, die sonst, immanent, mit unserem Verstand oder mit empirischen Methoden, nicht zugänglich sind. Selbsterforschung ist immanent, kann aber zu transzendenten Offenbarungen führen. Grundsätzlich geben uns Offenbarungen Informationen über transzendente Welten, was auch heißt, dass der Begriff der „Offenbarung“ nur Sinn macht, wenn man von der Existenz solcher transzendenter Welten ausgeht. Religiöse Offenbarungen können durch Eingebungen einzelner Menschen zu uns kommen (diese Menschen nannte man früher allgemein „Propheten“). Sie können auch durch hellsichtige Menschen, durch „Auserwählte“, durch göttliche Inkarnationen, durch „Heilige“, oder durch Nahtoderfahrungen zu uns kommen. Dieser zuletzt genannte „Kanal“ dürfte heute einer der wichtigsten sein.

Die radikal nicht-dualistische Lehre des Advaita Vedanta ist in dieser materiellen Welt der scheinbaren totalen Trennung, in der wir leben, das stärkste „Gegengift“ und daher der für viele Menschen effektivste spirituelle Weg. Von einem höheren transzendenten Standpunkt aus betrachtet aber stellt die nichtdualistische Lehre des Advaita Vedanta eine zu starke Vereinfachung der wirklichen Verhältnisse dar. Ich glaube sogar, dass der radikale Nicht-Dualismus des Advaita Vedanta auf viele Menschen deswegen abschreckend wirkt, weil er nicht in einem größeren Kontext, in einer spirituellen Kosmologie eingebettet ist. Diese Einbettung soll mit diesem Buch geschaffen werden. Denn das durchaus richtige Empfinden vieler Menschen, dass diese Lehre einseitig ist, kann auf diesem Wege rational nachvollzogen werden. Diese rationale Erklärung der berechtigten unbewussten Widerstände gegen den radikalen Nicht-Dualismus kann dazu führen, dass man die Lehren des Advaita Vedanta effektiver anwenden kann.

In den westlichen, semitischen Religionen ist der Weg der Hingabe und Liebe, des Bhakti, viel entscheidender. Im Osten ist der Weg des Wissens und der Erfahrung dominanter. Wie schon in Eine Neue Aufklärung gesagt, müssen diese beiden Teile zu einem neuen Ganzen zusammenwachsen. Paramahansa Yogananda war ein wirklicher Wegbereiter einer solchen neuen, integrierten west-östlichen Spiritualität. Yogananda, der ein echter Bhakta war, berichtet in seinem bekanntesten Buch, Autobiography of a Yogi, von vielen Offenbarungen, die er in seinem Leben erleben durfte.

Die Rückkehr zur Einheit ist ein gemeinsames Ziel aller Spiritualität; nur die Wege, die die Traditionen gehen, unterscheiden sich. Ein wichtiger vermeintlicher Gegensatz zwischen Christentum und Hinduismus sollte schon hier besprochen werden. Es hat den Anschein, als habe das Christentum insofern einen gänzlich anderen Ansatz als der Hinduismus, als es im Christentum viel mehr um den Willen und um moralisches Handeln geht: um den Willen zum Guten oder zum Bösen oder, anders gesagt, den bösen oder guten Willen. Im Hinduismus andererseits scheint es vor allem um Bewusstsein und Erkenntnis zu gehen. Dieser vermeintliche Gegensatz löst sich aber auf, wenn man sich folgende Zusammenhänge vergegenwärtigt: Der Wille des Menschen geht immer in die gleiche Richtung. Der tiefste Wunsch jedes Menschen ist Freude und Glück. Dies liegt daran, dass Freude und Glück seine wahre, tiefste, göttliche Natur sind. Daneben gehören auch Bewusstsein, Wissen und Weisheit zu seiner göttlichen Natur, weshalb auch diese zu seiner „Grundmotivation“ gehören. Wenn also jeder Mensch im Grunde dasselbe will (nämlich Freude und Glück), warum gibt es dann einerseits den bösen Willen und andererseits den guten Willen? Der Wille ist hier ganz allein eine Folge der Erkenntnis oder des Bewusstseins. Wenn ein Mensch nicht erkennt, dass er eins ist mit Gott und allem Leben, wenn er sich als getrennt erlebt, dann glaubt er, dass Glück und Freude dadurch erreicht werden können, dass er alles Gute und alle Freude nur für sich selbst, für dieses getrennte Wesen, für seinen physischen Körper beansprucht. Er meint dann, dass das Glück und die Freude des vermeintlich „Anderen“ (also anderer Personen oder physischer Körper) hierfür geopfert werden können oder sogar müssen.

Das Entscheidende im Hinblick auf den guten oder bösen Willen ist also ganz allein die Selbsterkenntnis und Selbstwahrnehmung des Menschen. Wenn sich der Mensch als verbunden erlebt, als Teil von allem, dann wird er folgerichtig und „automatisch“ das tun, was man als „moralisch gut“ bezeichnet. Ein Mensch hingegen, der sich als getrennt erlebt, kann solche guten Handlungen zwar imitieren, aber das sind dann bloße Äußerlichkeiten. Die „guten Werke“, die im Christentum so sehr Vordergrund stehen, sind bloß die Folge der rechten Selbsterkenntnis, die im Hinduismus im Vordergrund steht. So könnte man zwar von zwei unterschiedlichen Ansätzen sprechen, aber der Kern ist der gleiche, vor allem dann, wenn man berücksichtigt, dass Jesus Christus die Selbsterkenntnis gelehrt hat, indem er gesagt hat: „Ich und der Vater sind eins“ und „Das Reich Gottes ist in euch“. Die mystischen Aussprüche Christi stehen dem Advaita Vedanta sehr nahe. Aber gerade dieser Teil seiner Lehre wurde am häufigsten gar nicht oder falsch verstanden, einfach weil er im Kontext der aus Vorschriften bestehenden Morallehren des Alten Testaments manchen vielleicht als weniger wichtig erschien und weil er mehr auf das Innere zielt als auf das Äußere, das den allermeisten Menschen leider näher liegt und das sie leichter verstehen können.

Im Interesse der Annäherung der spirituellen Bewegungen und Religionen ist es natürlich zu begrüßen, wenn Eckhart Tolle und andere Lehrer, die eher einer indischen oder buddhistischen Tradition zuzuordnen sind, Offenbarungsschriften, wie das Neue Testament oder die Bibel, im Sinne ihrer Lehre interpretieren, wobei sie oft erstaunliche Parallelen finden. Gerade in Kernaussagen, wie dem „Ich bin der ich bin“ oder „Ich und der Vater sind eins“ findet sich eine unleugbare Übereinstimmung indischer und semitischer Lehren. Dennoch ist es so, dass diese Einordnung von Offenbarungsschriften in die eigene Lehre vieles ignoriert oder auch den Sinn entstellt und verkürzt, denn während Offenbarungsschriften natürlich oft das bestätigen, was die Selbsterforschung dieser Lehrer zutage gefördert hat, so geht Offenbarung doch per Definition eben über Selbsterforschung hinaus und ist eine Kommunikation höherer Ebenen mit unserer irdischen Ebene. Das Zusammenwachsen von Offenbarungsreligionen und spirituellen Bewegungen, die stärker auf Meditation und philosophische Erkenntnisse setzen, würde darin bestehen, dass Anhänger von Offenbarungsreligionen (Christen, Muslime etc.) auch grundlegende Meditationstechniken (Atem-, Zen- etc.) nutzen und auch die Methoden und tiefen philosophischen Erkenntnisse der indischen Spiritualität, etwa des Advaita Vedanta, kennenlernen, dass aber auch andererseits Menschen, die z.B. in buddhistischen und Vedanta-Traditionen ihren geistigen Weg gehen, die Legitimität und die tiefe Bedeutung von Offenbarungen, Eingebungen und Glauben verstehen und anerkennen. Denn ein ganzes und vollständiges Bild erhält man nur, wenn man alle im Untertitel dieses Buches genannten spirituellen Wege und Erkenntnisquellen berücksichtigt und miteinander verbindet.

Dass Gott die Welt geschaffen hat, ist ja so etwas wie ein religiöser Konsens. Die Frage nach Schöpfer und Schöpfung ist eine in fast allen Religionen sehr zentrale. Bei den Details der Frage und der Antwort auf sie wird es interessant: Wer oder was ist Gott? Was ist die Welt? Hat er sie in der Vergangenheit erschaffen oder ist das „Schaffen“ etwas, was im Hier und Jetzt stattfindet? Gibt es eine Kausalbeziehung zwischen Gott (als Ursache) und der Welt (als Wirkung) oder ist das Konzept der Kausalität nur immanent gültig? Ist Gott in uns, außer uns, oder beides? Sind wir in Gott oder ist Gott in uns – oder beides? Ist die Welt wirklich oder ist sie nur ein Bild, eine Projektion - oder gar ein Trugbild? Oder ist sie das Abbild eines Urbildes? Bei den Antworten auf diese „Detailfragen“ divergieren die Religionen oft sehr stark.

Selbsterkenntnis bedeutet im Vedanta, das wahre Selbst in sich als reines Bewusstsein zu erkennen, woraufhin sich die Identität des Selbst mit dem kosmischen Geist, Brahman, erschließt. Wer also das Selbst in sich kennt, kennt den Urgrund allen Seins. Es „kennen“ heißt aber es sein. Dieses Sein-wahres-Wesen-Sein ist aber nichts anderes, als ein Nicht-mehr-von-der-Welt-geblendet-Sein (wobei die Welt „Maya“ ist). Einheit ist demnach Realität, Vielheit ist Illusion. Sagen Nahtoderfahrungen dasselbe? Ja und nein. Sie sagen: „Einheit ist Realität, Getrenntheit ist Illusion.“ Das ist der entscheidende Unterschied und die entscheidende Richtigstellung. In der geistigen Welt besteht die Vielheit, die wir auf der Erde kennen, fort und doch gibt es kein Gefühl der Getrenntheit mehr, sondern ein Gefühl der Liebe und Verbundenheit. Das bedeutet ein Sowohl-als-Auch: Die Wesen sind selbstbewusste Einzelwesen und doch ganz miteinander und mit der Quelle verbunden. Sie sind miteinander verbunden, weil sie mit der „Quelle“, mit ihrem tiefsten Wesen verbunden sind. Das ist die große Lehre aus Nahtoderfahrungen und es gibt gute Gründe, zu sagen, dass damit die Lehre, dass Vielheit nur Täuschung ist und nur auf Unwissenheit beruht, widerlegt ist. Vielheit ist Realität, aber ein Geheimnis; ebenso ist Einheit Realität, aber ein Geheimnis: Der kürzeste Ausdruck für dieses Geheimnis ist „Einheit-in-der-Vielheit“.

Das „östliche“ Weltbild des Advaita Vedanta geht von der Erfahrung aus und Rupert Spira hat Recht, wenn er fragt, wovon man denn auch sonst ausgehen sollte. „Erfahrung“ ist aber nicht im Sinne von „Erfahrungswissenschaft“ zu verstehen, sondern im Sinne von unmittelbarer, „innerer“ Erfahrung, von jener Erfahrung, die einfach schaut, „Was ist da?“ und die die Tatsache des Bewusstseins nicht überspringt, sondern bei ihr anfängt. Wenn man mit Hilfe dieser Methode die „äußere“, vermeintlich objektive, aber in Wahrheit vom Bewusstsein geschaffene Realität gewissermaßen durchschaut und enttarnt, dann bleibt jenseits der Welt der Vielheit die absolute Einheit des Selbst, das Atman und Brahman zugleich ist. Der Mensch sagt dann: „Ich bin Brahman und es gibt nichts, was nicht Brahman ist. Es gibt keine von mir verschiedenen Objekte. Es gibt auch keine Individuen. Es gibt Brahman und alles was sich in der Welt der Vielheit darstellt, ist im Innersten nur das „Gesicht Gottes“. Alle Wesen sind Brahman und jeder Unterschied zwischen ihnen ist ausschließlich Maya oder Täuschung.“ Es muss nicht besonders hervorgehoben werden, dass dieses Weltbild die Einheit in der Vielheit betont. Allerdings merkt man auch, dass der Begriff „Weltbild“ hier nicht mehr passen will; es ist nichts anderes als ein intuitives Verstehen der Welt, ja mehr noch: Es ist Wissen als Sein, also im Hinblick auf das herkömmliche Wissen betrachtet eigentlich Nicht-Wissen oder das „Zurückweisen“ von (letztlich immer unzureichenden) Weltbildern. Deswegen kann es auch mit Worten nicht weitergegeben werden und deswegen sind alle Fragen, die darauf zielen, letztlich nur Fragen, die davon ablenken, wie klug auch die Antworten sein mögen. Ramana Maharshi sagte zu Recht, die höchste Lehre würde in der Stille gegeben.

Das andere, „westliche“ Weltbild betont verhältnismäßig stärker die Vielheit und die Individuation. Dies ist das esoterischchristliche Weltbild, wie es sich auch aus den Offenbarungen unserer Zeit, den Nahtoderfahrungen, ergibt. In diesem Weltbild gehen wir als Geschöpfe Gottes, als Individuen in Gruppen, die das irdische Dasein transzendieren, einen spirituellen Entwicklungsweg, der zu größerem spirituellen Wissen und zur Entwicklung selbstloser Liebe führt. Auch in diesem Weltbild sind wir insofern eins, als wir alle Kinder Gottes sind, aber es gibt einen übergeordneten, alles verbindenden Geist (Gott) und Schöpfungen dieses Geistes, die eben nicht nur Maya oder Täuschung sind, sondern, wie die biblische Familienmetaphorik es ausdrückt, wirklich seine „Kinder“, von ihm ausgehende Manifestationen, die sowohl selbstständig, als auch von ihm, dem größeren Geist, abhängig sind. Ein wichtiger Unterschied ist, dass man hier einen langsamen geistigen Entwicklungsweg geht, auf dem man zwar die Einheit mit Gott und allen Wesen intuitiv begreift und allmählich lernt, aber dennoch ein kleiner Teil eines großen geistigen Kosmos mit vielen geistigen Wesen ist. Die einzige Entwicklung und das einzige Lernen, das andererseits im Weltbild des Vedanta stattfindet, ist, dass Brahman, der menschgewordene und damit der Täuschung der Maya erlegene einzige Geist oder Gott, diese von ihm selbst geschaffene Illusion durchschaut und sein eigenes Wesen erkennt, indem er begreift: „Ich bin. Ich bin bewusst. Ich bin alles und außer mir ist nichts.“

Natürlich ist keines dieser Weltbilder wirklich falsch. Sie sind gewissermaßen zwei Seiten einer Medaille und doch ist dieser Satz allein zu wenig, wenn wir sie philosophisch miteinander in Einklang bringen wollen, was ein großes Ziel dieses Buches ist. Zunächst muss deutlich gezeigt werden, dass sie sich im Innersten nicht widersprechen. Das beide Weltbilder umfassende Weltbild ist das der „Einheit-in-der-Vielheit“. Diese Einheit in der Vielheit ist für den Verstand zwar ein Mysterium, aber sie ist die tiefste Realität.

Beide Weltbilder sagen, dass die Einheit die ursprüngliche Realität ist und die Vielheit hinzugekommen. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass das „östliche“ Weltbild sagt: Maya ist nur Täuschung, eine unerklärliche Selbsttäuschung Gottes, und etwas, das es aufzulösen gilt, ein bloßer Irrtum, den man nur als solchen erkennen muss. Das „westliche“ Weltbild sagt, dass auch die Welt der Vielheit, die von Gott, dem einen großen schöpferischen Bewusstsein, geschaffene Welt, die aus vielen verbundenen und doch getrennten „Bewusstseinen“ besteht, eine wirkliche und erhaltenswerte Welt ist. Ganz kurz gesagt: Advaita Vedanta sagt: Vielheit ist Täuschung. Nahtoderfahrungen und Christentum sagen: Vielheit ist Realität.

Die eigentliche „Offenbarung“ des Vedanta ist, dass die Einheit mit dem Absoluten, die der Befreite oder Erleuchtete realisiert hat, keine vorübergehende Erfahrung ist, sondern der, wenn einmal erreichte, dauerhafte und „allein wirkliche“ Zustand. Die Erfahrung von kosmischem Bewusstsein oder völliger Einheit, die in Nahtoderfahrungen vorkommt, geht hingegen vorüber, sodass man zumindest mit Sicherheit sagen kann, dass diese beiden Zustände in dieser Hinsicht nicht identisch sind. Aber für beide Zustände ist es charakteristisch, dass, wer sie erlebt, fest davon überzeugt ist, das Höchste, die vollkommene Seligkeit, erreicht zu haben und eins mit dem Absoluten zu sein („Ich war zu Hause.“). Wie könnten wir, von unserem philosophischen Standpunkt aus, entscheiden, was der „höchste Zustand“ ist und ob es einen „endgültigen“ höchsten Zustand gibt?

Das Thema „Erleuchtung“ ist ja für jeden spirituell Suchenden mittlerweile ein zentrales und spielt für fast alle eine viel größere Rolle, als andere Mysterien, wie z.B. das der Dreieinigkeit. Daher lohnt es sich, hier noch einmal etwas genauer hinzuschauen. Was ist Erleuchtung? Grundsätzlich ließe sie sich definieren als das tief empfundene Gefühl der Einheit oder auch der Zustand der Einheit, der mit einem Gefühl tiefen Friedens einhergeht. Ist dieses Erleben, ist dieser Zustand nun dauerhaft? Er ist sicher bei einigen Menschen in dem Sinne dauerhaft, als sie ihn für ihr ganzes irdisches Leben nicht mehr verlieren. In der Literatur wird zwar unterschieden zwischen dauerhaften und nicht dauerhaften Erleuchtungszuständen (Savikalpa Samadhi, Kevala Nirvikalpa Samadhi, Sahaja Nirvikalpa Samadhi), aber auch wenn Sahaja Nirvikalpa Samadhi als dauerhafter Zustand - das heißt: als das Ende des Kreislaufs der Wiedergeburten - beschrieben wird („wie ein Fluss, der sich mit dem Ozean vereinigt hat“), so ist eben diese Behauptung nicht auf Erfahrung gegründet, weshalb man sie als die eigentliche Offenbarung des Vedanta (bzw. des Buddhismus etc.) bezeichnen kann. Die Behauptung, dass man als erleuchteter Mensch nicht wiedergeboren wird, ist letztlich ein Glaubenssatz.

Uns erscheint das Weltbild, das auf Nahtoderfahrungen beruht, insofern als das umfassendere, philosophisch gesehen vollständigere, als hier die Vielheit nicht bloß als Täuschung, sondern als Realität gesehen wird (wenn auch nur als relative Realität, während die Einheit die absolute Realität darstellt). Der Satz „Der Vielheit liegt eine Einheit zugrunde, die tiefer ist als die Vielheit“ ist ein Satz, der mehr Wahrheit enthält, als der Satz „Es gibt nur Einheit und Vielheit ist bloße Täuschung“. Einheit-in-der-Vielheit und Vielheit-in-der-Einheit ist das Letzte und Tiefste, was man über die Realität sagen kann, ist die tiefste Realität. Realität heißt auf deutsch „Wirklichkeit“. Bloße Einheit ist keine Wirklichkeit, denn in der absoluten Einheit kann nichts wirken. Wenn man zur intuitiven Erkenntnis der Einheit aller Dinge kommt, verschwindet dadurch ihre Vielheit? Das tut sie nicht. Das östliche Weltbild würde da anfangen, falsch zu sein, wo behauptet wird, dass die Vielheit sich wirklich und in jedem Sinne auflöst, denn diese Auflösung wäre auch das Ende der „Realität“. Die Erfahrung der Einheit ist in jedem Fall ohne die Erfahrung der Vielheit unvollständig oder unmöglich. Keine „Einheitserfahrung“ ohne „Vielheitserfahrung“.

Wir müssen die Lehren aus Nahtoderfahrungen und die Lehren des Vedanta in einen gemeinsamen Kontext bringen: Das ist der einzige Weg zu einem wirklich ganzheitlichen und modernen Weltbild, zu einer wirklich ganzheitlichen und modernen Spiritualität. Beide Weltbilder sind in ähnlicher Weise zueinander komplementär wie in der Quantenphysik die Interpretationen der Realität als Teilchen und als Welle sich komplementieren. Niels Bohr formulierte folgende Interpretation des Doppelspaltexperiments: „Die Begriffe Teilchen und Welle ergänzen sich, indem sie sich widersprechen; sie sind komplementäre Bilder des Geschehens.“ Das Komplementaritätsprinzip in der Physik ist ein hervorragendes Analogon zum Verhältnis unserer Weltbilder, insofern, als die Art der Beobachtung determiniert, welches Weltbild als richtig erscheint. Hier ist es nun so, dass man ganz und gar vom Standpunkt des eigenen Bewusstseins ausgehend zur Nicht-Dualität gelangt; dies wäre der „östliche“ Standpunkt. Man betrachtet also das eigene Bewusstsein als das zunächst einzige Gegebene, als einzige unmittelbare, „sichere“ Realität, während man die vom eigenen Bewusstsein unabhängige Realität „äußerer“ Objekte als potentiell illusorisch ansieht („von innen betrachtet“). Wenn man hingegen das eigene Bewusstsein mehr „von außen“ betrachtet, indem man die Phänomene, die sich in diesem Bewusstsein darstellen, also den „Inhalt“ des Bewusstseins, interpretiert und auslegt, wenn man Offenbarungen, die Transzendierungen des individuellen Bewusstseins sind, miteinbezieht, gelangt man zum „westlichen“ Weltbild, welches stärker die Realität der Vielheit und Multidimensionalität betont. Wie in der Quantenphysik ergeben zwei unterschiedliche Standpunkte, von denen aus man die Welt betrachtet, zwei unterschiedliche „Weltbilder“ (der sogenannte „Welle-TeilchenDualismus“), die man als sich ergänzend und nicht als sich widersprechend sehen kann und sollte. Man könnte sogar sagen, dass vom Standpunkt der Vielheit aus die Wahrnehmung der absoluten Einheit eine Täuschung ist und dass vom Standpunkt der Einheit aus die Wahrnehmung der absoluten Vielheit eine Täuschung ist. Jedes „Entweder-Oder“ ist hier automatisch falsch, nur ein „Sowohl-als-Auch“ nähert sich der Wahrheit an, auch wenn natürlich die Einheit das Erste ist und daher ihr Standpunkt der höhere, umfassendere, der aber für sich genommen die Realität nicht vollständig beschreibt.

Die zwei philosophischen Perspektiven, die dem Gedanken der Einheit-in-der-Vielheit unterzuordnen sind, sind Realismus und Idealismus. Der Realismus sagt „Die Realität ist viele Dinge“, der Idealismus sagt „Die Realität ist mein Bewusstsein“. Können wir, statt ewig zwischen diesen beiden hin- und herzuwechseln, beide Standpunkte transzendieren? Schon der alte Kantische und Schopenhauersche Gegensatz von „Ding-an-sich“ und „Erscheinung“ ist, richtig verstanden, erhellend, kann aber auch irreführend sein, wenn man die Konzepte als Dualismus auffasst. Brahman ist das „Ding-an-sich“, aber die Erscheinungswelt ist nichts von Brahman Verschiedenes (kein dualistisches Gegenteil), sondern er erscheint sich selbst, oder, wie die Yoga Vasishta Sara es ausdrückt: So wie ein einzelnes Gesicht in vielen Spiegeln als viele erscheint, so erscheint das eine Selbst in vielen Intellekten als viele. Aber nur die Reflexionen können unklar oder verunreinigt sein, das Urbild bleibt immer rein und klar. Oder christlich ausgedrückt: Gott schuf den Menschen nach „seinem Bilde“; das göttliche Urbild bleibt immer vollkommen, auch wenn die Seelen, die Kinder des Höchsten, es nicht vollkommen realisieren.

Nicht-dualistische mystische Lehren gibt es natürlich nicht nur in den indischen Traditionen, sondern auch im Westen. Nicht-Dualität ist auch keine exklusive Lehre der Upanishaden oder Jesu Christi (etwa im Johannesevangelium und einigen Apokryphen), sondern findet sich in vielen anderen großen Traditionen, dem Buddhismus, Sufismus, Taoismus, gnostischen Schriften, letztlich in jeder Mystik von Meister Eckhart bis zu Ramana Maharshi. Aber Advaita Vedanta und die Person Christi sind als Zugangspunkte besonders hilfreich, weil sie von zwei unterschiedlichen Seiten darauf hinwirken, das falsche Weltverständnis des bloß rationalen Verstandes aufzulösen. Advaita Vedanta zeigt systematisch, was alles nicht die „wahre Realität“ sein kann. Durch diese Methode der Elimination bleibt schließlich nur das „wahre Ich“, Atman, übrig. Jesus Christus zeigt durch sein Beispiel, dass durch die Kraft der Liebe, durch das Verständnis des Herzens, sich die vermeintlichen Beschränkungen der materiellen Welt, Maya, auflösen. Grundsätzlich ist die Gefahr, mystische, offenbarte Lehren misszuverstehen bei den Offenbarungsreligionen noch viel größer, wenn die Gläubigen keinen „Abgleich“ oder keine Verifizierung und Erforschung des Gelernten mit Hilfe von Innenschau betreiben. Auch sind natürlich keineswegs alle Offenbarungen echt - und doch gibt es auf der Erde immer wieder Offenbarungen des Allerhöchsten.

Die Entwicklung des Bewusstseins hin zur Präsenz, zur Nicht-Dualität, wie sie Eckhart Tolle und Rupert Spira lehren, ist für die allermeisten Menschen sicher der wichtigste spirituelle Entwicklungsschritt, den sie hier auf der Erde machen können: daher die Wichtigkeit, der hohe Wert dieser Lehrer. Ihr historischer Prototyp ist Buddha, der Erleuchtete. Wenn wir aber an transzendente Welten und Offenbarungen glauben, gibt es jenseits dieses Schrittes noch unabsehbar viele Möglichkeiten der geistigen Entwicklung. Wenn sich die Erkenntnis der Einheit-in-der-Vielheit bei einem geistigen Wesen verfestigt hat, ist dieses Wesen bereit für neue Aufgaben, denn es sieht seine Rolle im Kosmos nun ganz anders, nämlich als Teil eines großen göttlichen Plans, einer Evolution des Geistes, und nicht als eine getrennte Einheit, die nur auf das eigene Überleben bedacht sein muss.

Erleuchtungserfahrungen sind keineswegs abhängig von östlichen Philosophien; sie geschehen spontan und die Philosophien helfen nur, sie im Nachhinein zu erklären (wobei sich die „Erleuchtung“ durch bestimmte spirituelle „Techniken“ zwar vorbereiten, aber nicht erzwingen lässt). Auch der „Weg der Liebe“ ist natürlich nicht abhängig vom christlichen Kontext; entsprechend sollte man sowohl hinduistische als auch christliche Lehren als Hilfestellung sehen. Wir brauchen ein neues Weltbild, das über traditionelle östliche religiöse Ansätze ebenso hinausgeht, wie über traditionelle christliche Ansätze und dessen vielleicht wichtigste Quelle Nahtoderfahrungen sind. Tiefe Nahtoderfahrungen geben uns Aufschlüsse über den geistigen Kosmos und unseren Platz in ihm. Wir sind im Moment noch dabei, alte Traditionen im Lichte neuer Offenbarungen durch Nahtoderfahrungen einzuordnen.

Das Mysterium der Einheit in der Vielheit

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