Читать книгу Vermintes Gelände. Eine Streitschrift gegen den Mainstream der deutschen Integrationsdebatte - Stefan Böckler - Страница 8
Was sind die zentralen Anliegen des Textes?
ОглавлениеIm zweiten Motto des Essays ist das wesentliche Anliegen des Textes schon aus höchstberufenem Munde benannt: Gerade wegen der enormen emotionalen Besetzung und politischen Instrumentalisierung des Integrationsthemas bedarf es hierbei einer „rationalen, auf Fakten gestützten Debatte“6. Grundannahme des Essays ist, dass die zu diesem Thema in Deutschland geführte Debatte in dieser Hinsicht vieles zu wünschen übrig lässt. Dies gilt nicht nur für diejenigen, die „Ängste und Abwehrhaltungen“ gegenüber der zunehmenden ethnisch-kulturellen Pluralisierung der deutschen Gesellschaft zeigen, sondern immer wieder auch für diejenigen, die diese zunehmende Vielfalt akzeptieren oder sogar begrüßen. Und leider betrifft auch das erste Motto damit manche derer, die das wissenschaftliche Rüstzeug für eine solche akzeptierende Haltung bereitzustellen versuchen; eine zentrale These des Textes wird gerade darin bestehen, dass die vom Marxschen Diktum beschriebene Form der „Gemeinheit“ auch in diesem Personenkreis verbreitet ist.
Aufgrund der persönlichen Forschungserfahrungen des Autors richtet sich der Text ausschließlich auf und an letzteren Personenkreis und nicht auf und an diejenigen, die der wachsenden Multikulturalität der deutschen Gesellschaft abwehrend gegenüberstehen7. Wie hoffentlich an jeder Station des Textes klar werden wird, ist mit der an ersterer Gruppe geübten Kritik an keinem Punkt eine Zustimmung zu den Positionen des zweiten Personenkreises verbunden. Eine selektive und verfälschende Inanspruchnahme der präsentierten Argumente durch fremdenfeindliche und rechtspopulistische Positionen ist allerdings kaum auszuschließen, kann nach Meinung des Autors aber keinen Grund dafür darstellen, sie aus der Debatte auszuklammern.
Das wesentliche Anliegen des Textes besteht darin, durch die Offenlegung und Kritik theoretisch und empirisch nicht haltbarer und dogmatisch verfestigter Annahmen in Bezug auf das Zusammenleben von Gruppen mit unterschiedlicher ethnisch-kultureller Herkunft zu der erforderlichen rationalen und empirisch fundierten Debatte beizutragen. Der Text besitzt also in erster Linie kein ‚politisches‘ Anliegen, sondern wird sich ausschließlich am Leitwert der ‚Wahrheit‘ (verstanden als logische Stimmigkeit und empirische Triftigkeit) orientieren. Im Hintergrund steht allerdings die Annahme, dass ein weniger ‚ideologisch‘ geprägter Umgang mit dem Integrationsthema es auch ermöglichen könnte, falsche politische Frontstellungen aufzuweichen, und insofern auch im politischen Bereich zu einem rationaleren Umgang mit dem Thema beitragen könnte. Diese Annahme betrifft auch die politische Wirksamkeit rationaler Argumente und empirischer Befunde zu Schwierigkeiten im Integrationsprozess in Bezug auf die o.g. fremdenfeindlichen und rechtspopulistischen Positionen: Es wird davon ausgegangen, dass eine argumentativ unstimmige, vereinseitigende und beschönigende Präsentation solcher Befunde auf lange Sicht keineswegs zu einer Schwächung solcher Positionen führt, sondern sie tatsächlich sogar stärkt, indem sie ihrer Kritik am Mainstream der Integrationsdebatte ein Stück weit an Legitimität verschafft.
Der Text wird sachlich weitgehend um zwei Fragestellungen kreisen, die aber im kritisierten Integrationsdiskurs durchaus in einem systematischen Zusammenhang stehen:
Zum einen geht es um die Frage der Relevanz, die ethnisch-kulturellen Unterschieden und Gemeinsamkeiten für die Beziehung von Gruppen mit unterschiedlicher ethnisch-kultureller Herkunft zukommt. Dabei wird davon ausgegangen, dass die hierbei diagnostizierten Fehlschlüsse, Paradoxien und Dogmen auch damit zusammenhängen, dass die Soziologie – als zentrale Bezugswissenschaft für die Beschäftigung mit diesem Thema – die Relevanz ethnisch-kultureller Einflussfaktoren für die Erklärung der Beziehungen zwischen sozialen Gruppen immer wieder grundsätzlich in Frage gestellt hat8. Größerer Einfluss wird der ‚Verminung‘ dieses Feldes in der deutschen Debatte zugeschrieben werden, wie sie sich aus der spezifischen Inanspruchnahme rassistischer Argumentationsmuster und Praktiken in den dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte ergeben hat.
Zum anderen wird sich der Text mit den argumentativ fehlerhaften und häufig ideologisch motivierten Annahmen zur Beziehung zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheitengruppen in der Integrationsdebatte und deren Folgen für eine verzerrte und manchmal sogar die Tatsachen verfälschende Wahrnehmung dieser Beziehung befassen.
Insgesamt soll zwar diese kritische Intention im Vordergrund stehen; anknüpfend an den Aufweis, wie das jeweils anstehende Thema sinnvollerwiese n i c h t angegangen werden sollte, wird der Text aber auch konzeptionelle und forschungsstrategische Hinweise dazu geben, in welche Richtung eine angemessenere Behand-
lung des Themas anzugehen wäre. Schließlich sollen zumindestpunktuell auch offene Fragen formuliert werden, die im Rahmen eines solchen alternativen Zugangs zum Thema vertiefend zu behandeln wären.
1 Die Literaturbelege für die formulierten Thesen werden von daher nur exemplarisch sein und kein vollständiges Bild der Literaturlage zu der jeweiligen These liefern. Genauso wenig können einzelne Argumentationsstränge innerhalb der inzwischen unüberschaubar gewordenen Literatur zum Thema systematisch nachgezeichnet werden.
2 Zur besseren Lesbarkeit des Textes wird hier und im Folgenden ausschließlich die männliche Form der Personenbezeichnungen verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten sind dabei ausdrücklich mitgemeint.
3 Die im Folgenden kritisierten Positionen finden sich inzwischen unter dem Titel einer ‚reflexiven Migrationsforschung‘ versammelt. Siehe hierzu Nieswand/Drotbohm 2014. Der vorliegende Text zielt demnach auf eine Metareflexion dieses Gesamtprogramms.
4 Für einen breiter angelegten Zugang zu Migrations- und Integrationsfragen in Deutschland siehe zum Beispiel Bertelsmann Stiftung 2014. Im Folgenden werden sowohl typische Beispiele für die Verwendung der kritisierten Argumentationsmuster als auch über diese hinausweisende Ansätze benannt.
5 Erheblichen Einfluss auf diesen Prozess wird voraussichtlich der im Januar 2021 veröffentlichte Bericht der Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit nehmen. Nicht nur aufgrund des Auftragsgebers dieses Berichts, sondern auch durch die breite und kompetente Zusammensetzung dieser Kommission werden seine analytischen und politisch-normativen Stellungnahmen zu den Bedingungen und Perspektiven von Integration die weitere Debatte in Deutschland mit Sicherheit stark mitbestimmen – ähnlich wie das seinerzeit (2001) der Bericht der sogenannten Süssmuth-Kommission für die nachfolgende Debatte (und Gesetzgebung) zu Integrationsfragen getan hat. – Aufgrund der im Januar 2021 anstehenden Drucklegung des vorliegenden Textes konnte dieser Bericht hier nicht mehr systematisch berücksichtigt werden und wird nur punktuell herangezogen werden. Obwohl sich dabei zeigen wird, dass der Bericht immer wieder die im Folgenden kritisierten Argumentationsmuster auch teilt, ist davon auszugehen, dass er insgesamt zu einer Versachlichung und größeren Differenziertheit der Debatte beitragen wird.
6 Als Plädoyer für einen faktenbasierten Bezug auf die Welt und zu dessen Relevanz für einen angemessenen politischen Umgang mit sozialen Problemen siehe Rosling et al. 2020.
7 Als Text, der eine vergleichbare ‚versachlichende‘ Motivation in Bezug auf dieses Segment der Integrationsdebatte und seine im Vergleich zu den im Folgenden kritisierten Einseitigkeiten und Verfälschungen deutlich massiveren ‚Mythenbildungen‘ besitzt, siehe Haller 2019.
8 Zu diesem „Versagen der Soziologie“ siehe beispielsweise und für die soziologische Debatte in Deutschland einflussreich Hondrich 1992.