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Goodbye Deutschland!

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Der ganz normale Wahnsinn eines länderübergreifenden Umzugs, warum man immer eine Rolle Toilettenpapier dabeihaben sollte und wie man neue Nachbarn für Sachen haftbar macht, die sie nicht zu verantworten haben.

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Die Entscheidung war getroffen. Der Umzug sollte zum ersten Oktober geschehen. Nun war es also an uns, eine Spedition zu kontaktieren, die einen länderübergreifenden Umzug seriös und zu einem akzeptablen Festpreis durchführen konnte. Ich bin ein systematischer Ordnungsfanatiker, der schon bei weitaus geringeren Anlässen – wie etwa einfachen Geburtstagspartys – irgendwelche Listen und Pläne verfasst und deshalb oft verlacht wird. Hier aber schien mir das äußerst angebracht. Ich zählte also Möbelstücke, schätzte Volumina und erstellte Packlisten. Ich wollte optimal auf die Gespräche und Verhandlungen mit den Spediteuren vorbereitet sein. Ich habe vier Angebote eingeholt, denen der Hausbesuch des jeweiligen Speditionsvertreters vorausging.

Das Auftreten, die Vorgehensweise, aber auch die Ergebnisse der Besprechungen waren sehr unterschiedlich. Sie reichten von konkreten, schriftlichen und sehr ausführlichen (was mich angesprochen hat) Aussagen bis hin zu Kommentaren wie „Das kriegen wir da schon rein!“ Wenn man mit zwei kompletten Haushalten, einem Kind, einem Hund und einer Katze ins Ausland ziehen will, gibt einem eine solche Aussage ein absolut sicheres Gefühl, nämlich dafür, genau diesen Spediteur nicht zu nehmen. Die Preisspanne erstreckte sich zudem von 5.000,00 bis hin zu sage und schreibe 11.000,00 EUR.

Wir haben uns schließlich für den Kompromiss aus günstigem Preis und einigermaßen gutem Gefühl geeinigt. Letztlich hat der Umzug durch die Spedition rund 6.500,00 EUR gekostet, und es ist trotzdem nicht alles glatt gelaufen, da der Spediteur in seinem Angebot – das habe ich dummerweise unterschrieben, ohne nochmals genau Position für Position zu prüfen – nur neunzig statt der mehrfach besprochenen einhundert Kubikmeter Transportgut kalkuliert hatte. „Das wird schon reichen“, redete ich mir trotz meiner professionellen Raumkalkulationen ein, nur weil ich mich nicht ärgern wollte.


Nach unserer sehr gelungenen Abschiedsparty, die von teilweise rührenden Darbietungen unserer Freunde begleitet worden war, war es Ende September endlich soweit. Der zuvor bei der beauftragten Spedition bestellte Lkw rollte mit zwei Packern – einem schweigsamen, sehnigen Deutschrussen und einem stämmigen, ganzkörpertätowierten Brandenburger – vor und wurde beladen. Dass die beiden von einer völlig anderen Firma kamen, als derjenigen, die ich beauftragt hatte, verwirrte mich zuerst.

Ich dachte sofort an die alte Sendung „Die Kriminalpolizei rät“ und Eduard Zimmermann oder „Aktenzeichen XY ungelöst“. Ich sah vor meinem geistigen Auge schon zwei Gauner in Blaumännern, wie sie unsere Sachen über eine östliche Landesgrenze Grenze schaffen und sich dabei halb totlachen, weil ich so einfältig gewesen war, obwohl ich beide, Eduard Zimmermann und Rudi Cerne, kannte.

Meine Befragung der beiden ergab, dass sie als Subunternehmer für diejenige Spedition arbeiteten, die ich eigentlich beauftragt hatte. Sie konnten das schriftlich belegen, weshalb mein Argwohn ihnen gegenüber verflog. Meine Verärgerung gegenüber dem Spediteur jedoch nicht. Ich rief ihn umgehend an und sagte, dass ich zumindest erwartet hätte, dass er mir das eventuell und freundlicherweise mitteilen würde. Er entgegnete nur, das sei sein gutes Recht und das stünde ja auch im Vertrag. Es stand tatsächlich im Vertrag, wenn auch in klitzekleinen Lettern auf der Rückseite des Angebots. „Vielen Dank für das Gespräch, Herr Spediteur!“ Ich legte auf.

Die beiden unverschämt unterbezahlten Möbelpacker machten hingegen einen professionellen Job und nutzten jede Lücke des Stauraums optimal aus, aber leider waren die neunzig Kubikmeter natürlich erreicht, bevor mein Büroinventar und zahlreiche Blumentöpfe dazugeladen werden konnten. Es waren genau die fehlenden zehn Kubikmeter, die ich mir schöngeredet hatte. Meine Berechnungen hatten gestimmt. Ich fragte also meinen Freund und Nachbarn Peter, ob er morgen schon etwas Bestimmtes geplant hätte oder ob er und seine Frau Hertha mich mit einem weiteren Fahrzeug nicht nach Schweden begleiten wollten. Die beiden willigten spontan ein. Ich musste jetzt nur noch einen Miettransporter organisieren. Gesagt, getan. Am nächsten Tag beluden wir den überteuert und hastig gemieteten Mercedes Vito und fuhren ab.

Goodbye Deutschland!

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So zog die Karawane los. Sie bestand aus meinem Wagen, der von Frank, dem Ex-Mann meiner Freundin Dorit und damit Lisas Vater, gelenkt wurde und neben den Dreien eine schreiende Katze (Lou) und einen unter homöopathische Drogen gesetzten Hund (Pepper) an Bord hatte. Gefolgt von dem Speditions-Lkw mit Anhänger und schließlich unserem Transporter mit meinen Büromöbeln, Blumentöpfen, allerlei Krimskrams, Peter, Hertha und mir an Bord. Die Kolonne war als solche nicht sofort erkennbar, denn zwischen den Fahrzeugen lagen zum Teil mehrere hundert Kilometer Abstand, aber unsere Handys gaukelten uns Nähe vor.

Dorit, Lisa und Frank erreichten das Ziel in Schweden als erste. Der Lkw hingegen musste die gesetzlichen Zwangspausen einhalten. So kam es, dass unser Vito den Lkw überholte und sich schließlich gegen drei Uhr nachts, nach vierzehn unerholsamen Stunden, in der Nähe des Zielorts befand.

Bereits einige Kilometer vorher fiel mir Peters gequältes Gesicht auf, doch ich dachte mir nichts dabei. Was soll ich sagen? Wir fanden unser Haus nicht. Es war dunkel (hatten die Leute am Ende doch Recht?) und ich war erst ein einziges Mal dort gewesen, nämlich zur Besichtigung vor dem Kauf. Also rief ich Dorit auf ihrem Handy an, die zwar noch recht genau wusste, wie sie zum Haus gekommen waren, ich aber konnte ihr leider nicht erklären, wo wir uns befanden.

Deshalb musste uns jetzt also unser Makler Gunnar weiterhelfen. Ein netter Kerl. Er hatte mir angeboten, dass ich ihn jederzeit kontaktieren könne. Ich war mir zwar nicht ganz sicher, ob jederzeit auch die Zeit zwischen drei und vier Uhr morgens beinhaltete, aber ich war verzweifelt genug, es herausfinden zu wollen.

Nach langem Klingeln hob Gunnar ab. Sein total verschlafenes und akzentbehaftetes Englisch war nur teilweise verständlich, aber ich glaubte etwas mit „Ö“ herausgehört zu haben. Peters Gesichtsausdruck wurde indes nicht besser. Wir fuhren weiter. Da, ein schwedisches Schild! Man konnte die Orte „Börstig“ und „Möne“ in reflektierenden Lettern auf blauem Grund erkennen. Einer von beiden musste es dann wohl sein. Ich sah sonst kein weiteres Wort mit „Ö“ um uns herum.

Also folgten wir den Hinweisschildern und Peter bog nach links ab, den Berg hinauf. Es wurde immer dunkler, als wir aus dem Örtchen Blidsberg hinaus in den Wald fuhren, und die Lichtkegel des Vito erhellten nur schemenhaft die dichten, vorbeiziehenden Fichtenwälder. Waren wir auf der richtigen Fährte? Ich konnte mich nicht entsinnen, dass unser Haus so weit entfernt lag. Aber nach etwa fünf Kilometern und zwei weiteren Anrufen bei dem inzwischen Kaffee trinkenden Gunnar, schienen wir endlich auf dem richtigen Weg zu sein.

Peter jedoch sah mittlerweile äußerst besorgniserregend aus und krallte seine Hände ins Lenkrad. Seine natürliche Gesichtsfarbe war einem blässlichen Grau gewichen. Nun begann auch ich, mir ernsthaft Gedanken zu machen. Auf meine Erkundigung hin, was denn los sei, fragte er mich, wo denn das Toilettenpapier wäre. Na gut, dachte ich, dann ist es ja nicht so tragisch. Er muss nur aufs Klo.


Endlich tauchte unser Haus am geschotterten Wegesrand auf. Peter bog in die Einfahrt ein, doch dann bremste er plötzlich und packte mich mit eisernem Griff am Arm.

„Ich muss aufs Klo! Dringend! Ich gehe in die Büsche! Sofort!“, presste er heraus.

Hervorgetretene Augen starrten mich aus seiner schweißperligen Fratze an und machten mir die Dramatik dieser Situation mehr als deutlich. Hertha bemerkte wie beiläufig, aber nicht ohne Souveränität: „Ich kenne ihn, jetzt ist es ernst!“

Ich beruhigte Peter mit den Worten, es seien nur noch wenige Meter, und er trat daraufhin spontan aufs Gas. Einen Sekundenbruchteil nach dem völligen Stillstand des Vito, sprang er auch schon aus dem Wagen und rannte in verkrampfter Haltung an Dorit, Lisa und Frank vorbei, die sich zur Begrüßung vor die Tür begeben hatten und ihm jetzt verwundert nachsahen. Peter stieß bereits nach wenigen Minuten mit entspannten Gesichtszügen zu uns. Wir tranken alle zusammen noch ein Gutenacht-Bier und fielen dann völlig erschöpft auf die Matratzen und Feldbetten, die unsere Vorhut glücklicherweise bereits ausgeladen und aufgestellt hatte.

So ist es also, wenn man auswandert ...

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Die Nacht war um neun Uhr vorbei. Der Lkw mit unserem Umzugsgut stieß rückwärts in die Einfahrt und kam vor dem Haus zum Stehen. Nach einem ausgiebigen, gemeinsamen Frühstück mit den beiden Packern begannen wir, die von mir in akribischer Arbeit und zum Gespött aller mehr als ausreichend beschrifteten Kartons, die Möbel und alles andere, was sich auf dem Hänger und dem Lkw selbst befand, auszuladen und an die entsprechenden Stellen zu verteilen, die ich auf einem Plan markiert hatte.

Gegen elf Uhr hörten wir zum ersten Mal die Melodie, die jedem in Schweden in den Ohren klingt. Es war der himmelblaue Transporter der Firma hemglas, dem schwedischen Pendant von bofrost, mit Spezialgebiet Speiseeis. Diese Lkw sind besonders im Sommer ständig und überall unterwegs und vor allem zu hören. Das Unternehmen scheint nicht zu begreifen, dass wahrscheinlich viele Leute einfach nur aus Wut und Trotz über die penetrante und dümmliche Lockmelodie ihrer rollenden Verkaufsstände nichts erwerben. Wir kannten diese Melodie damals jedoch noch nicht und sahen daher mit Freude unserem ersten inländischen Kontakt entgegen. Und dann stieg er aus. Der erste Schwede auf unserem Grund und Boden. Endlich, ein Eingeborener.

Er pries uns auf Schwedisch seine Produkte an, doch wir verstanden natürlich nichts und antworteten daher auf Englisch. Er erkundigte sich, woher wir denn kämen, beantwortete sich die Frage aber umgehend selbst, indem er einen unauffälligen Blick auf unsere Kennzeichen warf. Blitzschnell wechselte er in ein kristallklares Rheinländer-Deutsch. Er stamme aus Düsseldorf. Aus Mitleid haben wir ihm Eis abgekauft. Pepper hat ihn fortwährend angeknurrt. Ob das auch an der Herkunft des Fahrers lag, kann ich nicht mehr sagen.

Ansonsten verlief das Ausräumen nicht schlimmer als erwartet. Nach einer Woche ließ uns unser hilfreicher Besuch nach einem tränenreichen Abschied allein in Schweden zurück. Es war wunderschön, aber auch sehr befremdlich. Es war so unglaublich ruhig, dass man sich manchmal zwicken musste, um sich zu vergewissern, dass man noch lebte. Wer wie wir aus dem Rhein-Main-Gebiet oder einer Gegend mit ähnlicher Menschendichte stammt, wird das sicherlich nachvollziehen können.

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Gleich am zweiten Tag unserer selbstgewählten Einsamkeit betrat eine Familie mit fünf Hunden und drei Kindern ungefragt unser Grundstück. Das konnte nur der Mann sein, dessen Haus ich erstanden hatte. Man muss dazu sagen, dass ich ihn tatsächlich noch nicht persönlich kannte, da der gesamte Kauf über Gunnar, den Makler, abgewickelt worden war und eine weitere Vertragsunterzeichnung noch ausstand. Ich begrüßte ihn herzlich auf Englisch und zerrte ihn von seiner verdutzten Frau weg mit ins Haus, um ihm ein paar Fragen über unsere Holzheizung zu stellen, deren Befeuerung und Regulierung ich nicht wirklich verstanden hatte.

Bereitwillig folgte mir der lächelnde Mann, der wirklich sehr schwedisch aussah: groß gewachsen, rotblondes Haar, wettergegerbte Haut, blaue Arbeitsbekleidung. Mit einem zunehmend fragenden Gesichtsausdruck stand er neben mir in der Küche, und ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. Wie das mit dem Wasserdruck wäre und wo man die Temperatur einstelle. Er musste mir diese Fragen doch beantworten können, schließlich hatte er über ein Jahrzehnt in diesem Haus verbracht! Doch er konnte mir keine Antworten geben.

Er zuckte nur die Schultern und erklärte mir, dass müsse wohl so ähnlich wie bei ihm zuhause funktionieren. Er hätte auch so ein System. Mit Gewissheit könne er das aber nicht sagen, da solle ich doch besser den ehemaligen Eigentümer meines Hauses fragen, er sei hingegen schließlich nur mein übernächster Nachbar.

Das war etwas peinlich für mich. Außerdem entpuppte sich der Schwede als waschechter Holländer. Er war mit seinen Angehörigen lediglich gekommen, um uns in Schweden zu begrüßen. Das fand ich äußerst nett, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass außer diesen Leuten niemand sonst kam, um uns Brot und Salz zu schenken. Natürlich mit Ausnahme unseres direkten Nachbarn, Björn, dessen Grundstück direkt an das unsere grenzte.

Die anderen Schweden, die um uns herum wohnten, schienen keine Notiz von uns zu nehmen. Sie taten das übrigens bis zuletzt nicht. Nicht, dass sie uns nicht mochten. Nein, man grüßte immer freundlich und redete übers Wetter und die Heuernte, das war’s dann aber auch schon. Wir waren scheinbar einfach irrelevant.


Wir taten uns ohnehin etwas schwer damit, Schweden kennen zu lernen. Wir wollten das gerne, aber es war nicht leicht. Natürlich wohnten wir auf dem Land und ein Schwede hätte es anders herum in Niederbayern auf dem Dorf sicher auch nicht einfacher gehabt – zumal die meisten Schweden auch noch Protestanten sind –, aber wir bedauerten das schon ein wenig. Schade. Man hätte sich wahrscheinlich auf Biegen und Brechen irgendwo engagieren können, etwa kirchlich oder in einem Klöppelkreis der Volkshochschule, aber wir wollten schon lieber etwas machen, was uns auch Spaß bereitete und nicht bloß zweckdienlich war. Wir wollten nicht nur Priester und klöppelnde Schwedinnen in unserem Bekanntenkreis haben.

Ich sprach einmal mit Björn über dieses Thema, der besonders in der Anfangszeit unseres Aufenthaltes viele interkulturelle Irritationen ausräumen und als Schwedenberater herhalten musste. Er sagte, dass selbst er – der er nun einmal nachweislich gebürtiger Schwede sei – immerhin seit über zwanzig Jahren hier wohne und keinen Menschen wirklich kenne. Sie würden ihn genauso behandeln. Es liege also definitiv an der Tatsache, dass man fremd sei. Wobei man hier bereits als „fremd“ gelte, wenn man aus dem Nachbarort käme. Deutscher oder Schwede aus Malmö oder Dalum (ein Ort weiter), das spiele keine Rolle für die Menschen hier.

Er schätze, dass man ab der dritten Generation eine reelle Chance darauf hätte, von den Eingeborenen einigermaßen akzeptiert zu werden. An der Sprache oder einem Akzent liege das nur bedingt, denn Schweden aus Skåne könnten auch kein richtiges Schwedisch, so Björn, und würden es nie mehr lernen. Da hätten wir bessere Chancen. Aber selbst die könnten irgendwann einmal in die Volksgemeinschaft aufgenommen werden. Ich sollte mir daher keine Gedanken machen, es läge nicht an uns. Das beruhigte mich natürlich ein wenig, aber in einen christlichen Klöppelkurs gingen wir trotzdem nicht.

Mücken bei 30 Grad minus

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