Читать книгу Kreatives Kapital - oder aus welchem Stoff Innovationen sind - Stefan Bornemann - Страница 4
Zweites Beispiel. Zweite Kreativitätsstrategie.
ОглавлениеDraußen knallen marschierende Stiefel auf Kopfsteinpflaster. Jemand brüllt Kommandos. Die Geräusche dringen aber nur dumpf in das Wohnzimmer der Wohnung in Berlin-Kreuzberg und treffen bei dem 28jährigen frischgebackenen Ingenieur auf wenig Beachtung. Der junge Tüftler bleibt unverändert auf das kleine Metallblättchen vor im fokussiert, dann setzt er seinen nur wenige Jahre vorher erfundenen elektrischen Lötkolben erneut an und punktiert das Blättchen zielsicher an zwei Stellen. Wieder ein Relais fertig. Das war das siebenundfünfzigste manuelle Relais, gefeilt aus dünnen Blechen. 600 werden es bestimmt. Die Tür geht auf: Konrad. Ich hab dir ein paar Brote gemacht. Nicht jetzt Mutter! Das war wohl etwas zu schroff. Schließlich kann man nicht unbedingt erwarten, dass Eltern ihren Sohn, dem sie gerade so das Studium ermöglichen konnten und der dann eine feste Stellung bei den Henschel Flugzeugwerken ergattern konnte, ihm nun, nach seiner plötzlichen Kündigung ihr Wohnzimmer zur Verfügung stellen, nur weil dieser fest entschlossen ist, die beste Rechenmaschine der Welt zu bauen. Nicht nur irgendeine, sondern eine vollautomatische, programmierbare Maschine. Genau das war sein Plan. Seitdem tüftelt er an einem binär arbeitenden Gleitkommarechenwerk und schneidet tausende von Blechen zurecht, feilt Stifte, baut Federn ein und schraubt an einer mechanischen Maschine, die am Ende aus 30.000 Einzelteilen bestehen wird. Sein Name: Konrad Zuse. Seine kreative Leistung: die Entwicklung des ersten programmierbaren Computers.
Zuse erkennt ein Problem und schafft eine technische Lösung, um repetitive Aufgaben zukünftig ohne unnützen Verbrauch von Humanressourcen zu erledigen. Zuse verstand von Anfang an Rechenoperationen nicht nur als Verarbeitung von Zahlen, sondern als die Verarbeitung von Zahlen, Namen, Daten, Befehlen und Schlussfolgerungen. Aus vorhandenen Angaben will er nach einer bestimmten Vorschrift neue Angaben bilden. Das ist Rechnen! Heute spricht man von Objekten mit Eigenschaften. Zuse dachte schon damals über das pure Zahlenrechnen hinaus und beschrieb Objekte inklusive deren Variabilität. So ist eine Zahl 2-fach variabel (1 und -1), eine Dezimalzahl 10-fach (1,0 / 1,1 ... 1,9) und die Angabe der Fachzugehörigkeit eines Studierenden an der Technischen Hochschule Berlin-Scharlottenburg 8-fach (weil es an der Hochschule acht Fachbereiche gibt). Der richtige Gedanke, wenn man komplexe Aufgaben in basale Teilschritte zerlegen will. Der junge Ingenieur schickt sich an im Wohnzimmer seiner Eltern in Berlin eine geistige Großtat zu vollbringen. Dafür kündigte er seine Stellung, überzeugte seine Eltern und motivierte zahlreiche Helfer. Es wird ihm gelingen. Ein kleiner Ingenieur aus Deutschland wird im Alleingang den Amerikanern und allen anderen bei der Erfindung des Computers ein paar Nasenlängen voraus sein.
Dann hängt Innovation also doch mit dem individuellen Können eines Genies zusammen, der lediglich Raum, Zeit und Unterstützer benötigt, um kreative Durchbrüche zu erreichen? Schaut man bei Zuse genauer hin, dann steht auch dieser zweifelsohne große Denker auf den Schultern deren, die wichtige gedankliche Vorlagen lieferten. Im Falle des Computers ist es das binäre Zahlensystem von Gottfried W. Leibniz. Dieser wiederum konnte auf Gedankenspiele anderer Mathematiker wie Thomas Harriot oder den Arbeiten des spanisch-italienischen Bischoffs Giovanni C. y Lobkowitz im 17. Jahrhundert zurückgreifen. Die Ursprünge des Binärsystems liegen wohl bei dem chinesischen Gelehrten und Philosophen Shao Yong. Ist Innovation also immer das Ergebnis einer Kette von Teilinnovationen? Liegt dem Neuen immer eine unsichtbare Kollaboration zu Grunde?