Читать книгу Der Sommer mit dem Krähenmann - Stefan G. Rohr - Страница 3
Prolog
ОглавлениеNovelle nach einer wahren Geschichte.
Es war gerade Anfang Mai. Die Zeit im Jahr, in der man sich zu strecken begonnen hatte und die kargen Wintermonate fast schon wieder in Vergessenheit geraten waren. Das Grün der Bäume lag satt und unverbraucht auf den Kronen, und die Menschen in unserer schönen Fördestadt machten sich bereit für den Sommer, für kurze Hosen, Picknicks, Ostseestrand, Sonnencreme und Badehandtuch.
Die großen Ferien waren zwar noch einige Wochen entfernt, doch das Gefühl, es werde bald so weit sein, schwebte bereits in allen Schülerköpfen, ließ Pläne schmieden und linderte den Schmerz über akut bevorstehende Versetzungsängste. So ein auflebender Sommer bewirkte eben auch schon damals all diese typischen kleinen Wunder, öffnete jedermanns Seelen und Herzen, ließ faszinierend Neues entdecken, bei Fortgeschrittenen unbekannte Hormone Kapriolen schlagen, machte aber allen Mut für das Leben, gab Kraft und Energie.
So begann eben auch der Sommer 1971, auf ebensolche Weise. Frischer Wind von der Förde mischte sich in die aufsteigende Wärme, ließ Blätter rauschen und verteilte den Duft der ersten aufgehenden Heckenrosen in der Umgebung. Die Mutigsten unter uns machten sich schon einmal zum Strandbad auf, auch wenn das Wasser die Vierzehngradmarke noch nicht überschritten hatte. Alles war irgendwie schon auf Sommer ausgerichtet. Er sollte deshalb auch kommen können. Man war bereit.
Mein Sommer in diesem Jahr, ich stand kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag, sollte jedoch ein ganz besonderer werden. Ich wusste das natürlich noch nicht, und auch im Nachhinein betrachtet kann ich ohne Umschweife bestätigen, dass es noch eine ganze Weile gedauert hatte, bis ich begreifen sollte, welch eine wunderbare Begegnung mir das Schicksal in jenen Tagen zuspielte. Denn es war, auch das wurde mir erst viel später klar, eine dieser Fügungen, deren Bedeutung und Wertigkeit sich erst im eigenen Herzen und der Seele entfalten mussten. Ebenso, wie sich aus der Saat die Frucht entwickelt.
Doch war ich noch weit davon entfernt, mir hierüber das Bewusstsein zu schärfen. Denn vor allem hatte ich in dieser Zeit ganz andere Probleme, die mich beschäftigten. Dass ich es daseinsmäßig in vielen Dingen recht schlecht getroffen hatte, war mir zu diesem Zeitpunkt allerdings längst schon bewusst. Mit den meisten dieser Defizite hatte ich mich sogar bereits irgendwie abgefunden. Doch die Tatsache, dass alle ein Fahrrad hatten, manche sogar schon eine Mofa, ich aber mangels ausreichender Mittel immer noch per pedes unterwegs sein musste, setzte mir in dieser Zeit deutlich mehr zu, als die bereits zur Gewohnheit gewordene Kenntnis, von Tyche vaterlos, dazu noch mit einer kranken Mutter ausgestattet worden zu sein.
Der fehlende Besitz eines solchen Gefährts wog deshalb besonders schwer, da der Wettstreit unter den glücklichen Eigentümern solcher Geräte bereits in der nächsten Ebene angekommen war, während ich eben noch nicht einmal ein nacktes Gestell vorweisen konnte. Sie protzten mit einer Torpedo-Dreigangschaltung, mit einem Renn- oder Büffellenker, einige Auserwählte mit einem ganz und gar vollkommenen Rennrad, mit fliehender Zehngangschaltung, und die wenigen Götter unter meinen Schulfreunden besaßen ein orangenes Bonanza-Rad, mit Bananensattel und Profilreifen. In derlei Gesellschaft der Einzige sein zu müssen, der den davonbrausenden Nachbarskindern hinterherschauen musste, den einzigen Zurückbleibenden abzugeben hatte, erneut und auch in dieser Hinsicht wieder einmal den armen Schlucker geben zu müssen, trübte mir die Einkehr des herannahenden Sommers erheblich ein.
Was nutzen blauer Himmel und die herrlichste Ostsee-Frische, wenn das Herz eines heranwachsenden Jünglings schwer wie Blei anmutet? Und das Gewicht zerrte an mir, zog an meinem Selbstbewusstsein, rang mich noch weiter zu Boden, und machte mir abermals deutlich, dass es schon einen Unterschied darstellte, zu den Kindern zu gehören, deren Gabentische zu Weihnachten oder Geburtstagen voll gedeckt waren und die Beschenkten von unbekümmerter Freude über erfüllte Wünsche berichten konnten. Ich kannte das Delta zwischen Wunsch und Wirklichkeit leider schon in epischer Breite, doch in bestimmten Momenten brannte mir die wiederaufflammende Erkenntnis ein neuerliches Loch in meine Seele, und ließ mein Spiegelbild wie das eines Verlierers erscheinen.
Abhilfe war von keiner Seite zu erwarten. Ebenso gut hätte ich nämlich auch auf Sterntalerchen oder die Zahnfee hoffen können. Das Geld für ein Fahrrad, ein solches zum Beispiel, welches mir unser Nachbar, Herr Hinrichsen, gebraucht angeboten hatte, war weder in meinem Sparschwein noch auf dem Bankkonto meiner Mutter vorhanden. Das lag vor allem an zwei Gründen: Zum einen besaß ich kein Sparschwein, da ich weder Taschengelder erhielt, noch in die Pflicht zu nehmende Verwandte oder gönnerhafte Patentanten vorweisen konnte. Das Schicksal hatte derlei Bevorteilungen auf andere verteilt, für mich war offensichtlich nichts mehr übrig. Zum zweiten reichte die Witwenrente meiner Mutter stets nur bis zum Zwanzigsten eines jeden Monats. Für das letzte Drittel hatten sich meinen älterer Bruder und ich uns auf Haferflocken mit Zucker und Kakaopulver zu beschränken. Die Gabe von Taschengeld wäre uns damals deshalb so absurd vorgekommen, wie der Wunsch nach einem eigenen Zimmer oder einer Urlaubsfahrt mit dem familieneigenen Auto an die Italienische Riviera. Wie gesagt, nach Hilfe Ausschau zu halten war ein völlig ungeeigneter Gedanke.
Ich fasste deshalb einen Plan. Und so einfach dieser auch formuliert werden konnte, so schwierig erschien dessen Umsetzung. Nicht sofort, doch je näher der Tag rückte, desto geringer erschienen mir die Erfolgsaussichten. Mein Ziel war es, am Ende des Sommers ausreichend Geld verdient zu haben, um Herrn Hinrichsens Drahtesel erwerben zu können. Er wollte einhundert Mark für diesen, denn es war ein gutes Rad, mit Dreigangschaltung und zwei Felgenbremsen, deren Züge mit rot-weißen Plastikverzierungen umkleidet waren. Um diese astronomische Summe verdienen zu können, hatte ich mir vier Monate Zeit eingeräumt. Pro Monat also fünfundzwanzig Mark. Das wollte ich schaffen, denn mein Konzept war kalkulatorisch mehr als simpel. Fünfmal Rasenmähen zu jeweils fünf Mark im Monat ergäbe das erste Viertel des Kaufpreises. Das Ganze mal vier, und der Drops sollte gelutscht sein. Es bedurfte nur entsprechend vieler Kunden, deren Rasen ihnen vielleicht nicht ganz so wichtig war, und sie diesen deshalb einem zwar eifrigen, zu allem Übel aber leider völlig unerfahrenen Fünfzehnjährigen zur Beschneidung ihres Bodengrüns überließen. Mir war klar, dass derlei Menschen nicht so einfach vom Himmel fallen würden. Man musste sie suchen und sich anbieten. Und das genau war die Crux.
Es half aber nichts. Wenn ich es nicht wenigstens versucht haben würde, wäre auch kein Klagelied zu singen. Und so entschloss ich mich nicht nur für ein zügiges Umsetzen meines Vorhabens, sondern fasste auch allen Mut zusammen, und machte mich auf den Weg in eine der feinen Wohngegenden meiner Heimatstadt, in denen – ganz im Gegensatz zu meinem Wohnviertel – schöne Einfamilienhäuser und so manche größere Villa standen. Denn dort gab es Gärten, Rasen und Hecken. Wege, die es zu fegen oder vom Unkraut zu befreien galt. Rosen, die geschnitten werden mussten, Blumenbeete, die geharkt, Büsche, die ausgedünnt und vielleicht sogar Autos, die gewaschen werden konnten.
Ich machte mir keine Gedanken darüber, ob meine Konstitution überzeugend daherkam. Ich glaubte vielmehr, dass ein sauberer Scheitel im Haar eher über Wohl und Wehe entscheiden würde, als bullige Kraft und das Kreuz eines Raubmörders. Ich war nämlich das ganze Gegenteil eines kräftigen Burschen. Meine Körpergröße maß ganz sicher schon über 1,70 Meter, doch hatten sich meine Muskeln und Gelenke darauf geeinigt, ihre Entscheidung darüber, dass ich ein Junge war, gegebenenfalls noch einmal zu revidieren. So kam ich eher daher, wie ein Spatz mit Krampfadern, neigte zur Blässe und dunklen Augenringen, und wenn mich Frau Hagel sah, sie betrieb einen der damals noch üblichen Tante-Emma-Läden an der Ecke zum Kupfermühlenweg, fragte sie fast immer, ob ich zuhause auch wirklich genug zu essen bekäme. Und ganz ehrlich, würde heute ein Knabe meiner damaligen Statue vor meiner Türe stehen und sich für harte Arbeit empfehlen, wäre meine Prognose seines Arbeitsergebnisses sicher auch nicht schmeichelhaft.
Gottlob aber war meine Befähigung zu einer objektivierten Selbstreflektion in jenen Tagen noch stark unterentwickelt, und so stieg mit jedem Schritt in Richtung der `Westlichen Höhe´ meine Zuversicht auf das Antreffen freudestrahlender Gesichter ältlicher Villenbesitzer, deren größtes Problem gelöst werden sollte, nämlich ihr getrübter Blick aus dem Terrassenfenster auf einen zu lang gewachsenen Rasen.
Schaue ich nun auf diesen Sommer zurück, und das tue ich sehr häufig, erwische ich mich immer mal wieder bei der Überzeugung, dass es auch im Olymp so etwas wie frühsommerliche Euphorie geben muss. Das berühmte Homerische Lachen, dem so köstlichen Einfall des altertümlichen Dichters den Göttern durch ihre Fähigkeit zum Lachen mehr Menschlichkeit zu verleiben, hätte in diesem Moment ganz sicher gehört werden können. Denn es war durchaus wahrscheinlich, dass sie sich am Rand, allen voran Zeus und Athene, herübergebeugt hatten, nach unten schauten, und den tapferen kleinen Franz in Richtung der westlichen Villen stampfen sahen. Sie werden sich dabei ebenso köstlich amüsiert haben, wie sie es taten, als sie den hinkenden Kollegen Hephaistos herumtorkeln sahen.
Nach einer knappen Stunde erreichte ich die ersten Straßen des Viertels. Dort sah es völlig anders aus, als bei mir zu Hause. Die Straßen waren von hohen Bäumen gesäumt, meist Kastanien oder Buchen. Sie spendeten wohltuenden Schatten und sorgten für ein lebendiges Spiel der Lichtstrahlen, die immer wieder durch das dichte Laub hindurchschienen und helle Kegel auf die Straße warfen. Es war schon sehr warm an diesem Tag und ein leichter Wind, der wie fast immer vom offenen Meer herüberwehte, strich durch mein Haar.
Ich ging die Straße entlang und schaute mir die Häuser an. Sie lagen meist hinter dichten Buchenhecken, und waren nur durch das Eingangstor zu erspähen. Die meisten von ihnen waren zweistöckig und aus rotem Klinker gebaut. Sie trugen hellrote oder dunkelgraue Ziegeldächer, hatten weiße Holzfenster mit einfachem Kreuz oder Sprossen, und nicht wenige von ihnen zeigten grüne oder blaue Fensterläden mit Lamellen an den Seiten, die den Häusern einen ganz besonders anheimelnden Reiz verliehen. Weiße Gardinen im Inneren, Blumentöpfe oder kleine englische Leselampen aus Messing mit grünem Glasschirmen zeigten an, dass in diesem Haus eine sorgsame Hand für Wohl und Gemütlichkeit sorgte. Kleine Treppen reichten zu den seitwärts gelegenen Hauseingängen, an deren Ende eine schwere Türe zu sehen war, in die ein ovales oder viereckiges Fenster eingelassen war. In den Vorgärten blühten karmesinrote Azaleen, buschige Rhododendren mit großen roten, weißen oder violetten Blüten, rankten sich Kletterrosen mit ersten aufgehenden Knospen an feinen Holzspalieren, oder säumten kugelförmig getrimmte Buchsbäume Ecken und gepflasterte Steinwege, die sich kunstvoll über das Grundstück schlingerten.
Alles sah sehr fein aus. Ganz anders, als in meinem Block des Arbeiterbauvereins, in denen die Schweißer und Kranführer der hiesigen Werft wohnten. Unsere Flora bestand in einer Unmenge von Heckenrosen und einigen Vogelbeerbäumen, während die Wege mit groben Betonquadern belegt waren und der Platz zwischen den Häusern aus festgefahrenem Sand bestand. Unsere Häuser waren die typischen Mietskasernen der Nachkriegszeit, schnell gebaut, dafür wenig Platz und kein Komfort. Keine der Wohnungen verfügte über mehr als fünfzig Quadratmeter, und nur die Privilegierten konnten einen winzigen Balkon ihr Eigen nennen.
Meine Mutter, mein Bruder und ich wohnten in einer vierunddreißig Quadratmeter umfassenden und ofenbeheizten Zweizimmerwohnung, mit einem Badezimmer in der Größe von zwei Telefonzellen. Die Hälfte nahm schon ein riesiger Wasserboiler ein, das übliche Interieur drängte sich auf dem Rest. So erschien es mir hier, vor diesen Villen stehend, wie ein Zugegensein auf einem anderen Stern. Es hing nirgends die Bettwäsche heraus, niemand hatte sein Kissen im Fenster platziert und gaffte auf die Straße, niemand klopfte auf der Teppichstange seine Läufer. Alles war still, alles glänzte in vornehmer Pracht, alles schirmte sich durch mannshohe Hecken und gusseiserne Zäune vom Rest der Welt ab.
Mich verließ bei diesem Anblick sofort der dünne Mut. Sollte ich jetzt einfach eine dieser Pforten öffnen, hinauf bis zu Tür gehen, klingeln und mein Angebot platzieren? Ein Junge, wie ich es war, dessen Adresse zu denjenigen in der Stadt gezählt wurde, die als Problembezirke galten? Wer in einem dieser hübschen Villen wohnte, der blickte doch auf mich herab, würde wohl kaum Vertrauen haben, mir den schönen Rasen zum Mähen zu überlassen, mich gar unbeaufsichtigt um das Haus schleichen zu lassen. War es also nicht eine völlig dämliche Idee, sich hierhinbegeben zu haben, dieses in der Hoffnung, man würde einen dahergelaufenen Jungen mit offenen Armen aufnehmen und ihm eine Arbeit geben? Doch ich war nun schon einmal da. Der Weg war lang genug. Und einfach wieder unverrichteter Dinge zu gehen, es nicht einmal versucht zu haben, war ein schlimmerer Gedanke, als abgewiesen zu werden.
So passierte ich einige der Häuser. Ein Muster hatte ich nicht im Kopf, ich wollte mich leiten lassen, vielleicht ein Gesicht irgendwo hinter einem der Zäune entdecken, das Freundlichkeit versprach. Doch war ich schnell am Ende der Straße angekommen, ohne meinem Ansatz auch nur im Entferntesten gerecht geworden zu sein. Ich wechselte die Straßenseite um den Rückweg einzuschlagen. Beim vierten Haus standen die Porte offen und ich blieb stehen, um einen schüchternen Blick zu wagen. Die Eingangstüre von dem Haus, es war ein eher kleineres Haus, doch ebenso aus rotem Backstein gebaut, stand offen und ich hörte Stimmen. Ein Mann unterhielt sich laut mit einer Frau, die wohl in der oberen Etage war, und ich konnte vernehmen, dass er sich gerade aufmachen wollte, zum Einkaufen zu fahren.
Ich stand immer noch an der Pforte und überlegte, ob ich den kleinen gepflasterten Steinweg, der zum Hauseingang führte, einschlagen und dann mein Sprüchlein aufsagen sollte. Meinen ganzen Mut zusammenfassend schritt ich auf das Grundstück. Ich war die ersten Meter zum Haus gegangen, das trat ein mächtiger Mann aus der Türe und schaute mich verwundert an. Er maß an die zwei Meter, hatte eine hellbraune Cordmütze auf seinem Kopf, die sein graues Haar verbarg, und ich erinnere mich bis heute, wie seine hellblauen Augen mich interessiert anschauten.
Ich blieb wie angewurzelt stehen und mit einem Mal schlotterten meine Beine. Der Mann stand immer noch in der offenen Eingangstüre des Hauses und schien neugierig zu warten, dass ich näher kam. Mir fehlte dafür jedoch vollkommen der Mut und beinahe hätte ich mich umgedreht und wäre eilig von diesem Ort geflohen. Doch bevor ich mich bewegen konnte, trat er ein paar Schritte auf mich zu und fragte mich lächelnd, ob ich jemand suchen würde. Das war nun der Moment, den ich ja eigentlich herbeiführen wollte. Der Augenblick, an dem ich mein Angebot, besser meine Frage, vortragen wollte. Ich riss mich also zusammen und gab bekannt, dass ich gerne Gartenarbeit erledigen würde, und ich vergaß dabei auch nicht zu erwähnen, dass ich derlei für einen äußerst günstigen Preis anbot.
Wider Erwarten zeigte sich ein überaus erfreutes Lachen auf dem Gesicht des Mannes, dem so etwas wie ein `Dich schickt der Himmel!´ folgte. Er schien in gleicher Weise über mein Auftauchen überrascht gewesen zu sein, wie ich über die Fruchtbarkeit meines Ersuchens. Er musterte mich von oben bis unten, dann nickte er mit dem Kopf uns deutete mir zu, ich solle ihm ums Haus folgen. Ich tat das beflissen, denn scheinbar hatte er Arbeit für mich, und so ließ ich ihn einige Schritte vorausgehen bis er an der hinteren Gartenseite des Hauses angekommen war, wo einige Gartengeräte standen. Er zeigte auf den Rasenmäher und fragte, ob ich mich damit zurechtfinden könnte. Es war ein Handmäher, der allein mit Muskelkraft zu bedienen war. Mir erschien das aber völlig ausreichend und ich nickte.
Der Mann lächelte nun noch mehr, zeigte auf das große Rasenstück hinter dem Haus, welches am hinteren Ende von großen Buchen gesäumte war. Der Auftrag war somit formuliert und er würde mich nun sogleich auch meiner Arbeit überlassen. Nach seinen Erledigungen wollte er zurückkommen und dann sehen, wie mein Werk ihm gefallen würde. Ein Übereinkommen, das mir durchaus entsprach, denn ich war nun Feuer und Flamme den Mäher über das Grundstück zu jagen. Kurz bevor er mich verließ, gab er noch bekannt, dass er mir zehn Mark geben würde, wenn ich beide Flächen, demnach auch das Rasenstück vor dem Haus, gemäht haben würde.
Zehn Mark war deutlich mehr, als ich es selbst verlangt hätte. Und während ich mähte, begann ich zu kalkulieren, dass ich derlei Arbeit nur weitere neunmal zu machen brauchte, bis ich mein Fahrrad kaufen konnte. Und wenn ich das heute auch gut erledigt haben würde, dann wäre vielleicht sogar einer der Nachbarn willens, seinen Rasen von mir mähen zu lassen. Es war ein aussichtsreicher Anfang. Und ich wollte diesen so gut wie es ging absolvieren.
Und ich erinnere mich nur zu gut daran, wie sich erstmalig meine Erkenntnis einstellte, dass Theorie und Praxis weit auseinander liegen können. Dieser Handrasenmäher verlangte alles von mir ab. Während die ersten Bahnen noch mit einer gewissen Leichtigkeit abgearbeitet werden konnten, wurde es Meter für Meter immer schwerer, denn das Gras, das sicher schon einige Zeit hätte gemäht werden müssen, wehrte sich mit allen Mitteln auf die gewünschte Länge gekürzt zu werden. Meine Muskeln begannen bereits nach wenigen Minuten zu brennen. Ich wechselte immer öfter zwischen dem Mäher und dem Rechen. Türmte immer kleinere Grashaufen auf, die sich über das Rasenstück verteilten und davon zeugten, dass es Manches gibt, das dem Unwissenden erst klar wird, wenn er inmitten des Fiaskos dort angelangt ist, wo er seinem Untergang erstmalig in die Augen schaut.
So war ich in kürzester Zeit schweißgebadet und klatschnass. Mein so sorgsam gezogener Scheitel war verschwunden und es zeigten sich die ersten Blasen an meinen Händen. Ich hatte jedwedes Zeitgefühl verloren, mähte wie ein Besessener, klaubte das Gras zusammen und spuckte immer wieder in die Hände, hoffend, dass dadurch irgendetwas leichter werden würde.
Als der Mann wieder zurückgekehrt war, grinste er so freundlich, dass ich mich zu schämen begann. Ich hatte es nicht einmal geschafft, die hintere Gartenfläche fertig zu stellen. Es fehlte eine ganze Bahn und ich war mir sicher, dass er mich nun als ungeeignet bewerten und sogleich nach Hause schicken würde. Doch mitnichten. Er schob seine Unterlippe hervor, betrachtete das große Rasenstück und nickt anerkennend. Er selbst, so gab er bekannt, hätte es nie mit einem Mal so weit gebracht. Er war demnach mehr als zufrieden und meinte, dass ich für diesen Tag genug gerackert und mir nun erst einmal ein Glas Apfelsaft verdient hatte.
Ich allerdings wollte das so nicht stehen lassen und bestand darauf, auch noch die fehlende letzte Bahn zu mähen, bevor ich den Saft annehmen wollte. Während er ins Haus eilte, um das versprochene Getränk zu besorgen, spuckte ich abermals in die Hände, unterdrückte den Schmerz der Blasen auf meinen Handflächen, und zog durch, bis der erste Teil der Arbeit als wirklich erledigt betrachtet werden konnte. Für das Beseitigen der Grashaufen allerdings fehlte mir nun jedwede Kraftreserve. Und ich stand kurz vor einer Ohnmacht.
Der große Mann zückte einen Zehnmarkschein hervor und übergab mir diesen. Er wollte, wie er bekundete, mich schon einmal ganz bezahlen. Den Rasen vor dem Haus sollte ich am darauffolgenden Tag mähen, er vertraute mir, dass ich das erledigen würde. Dann wies er mit einer Armbewegung über das ganze Grundstück. Er meinte, dass es hier noch viel zu tun gäbe und er sich wünschen würde, dass ich ihm dabei behilflich sein konnte. In meinem Inneren jubilierte ich sofort, denn mit diesem Glück hatte ich wirklich nicht gerechnet. Ich betonte, dass ich mich ebenso gut auf das Autowaschen verstand, was komplett gelogen war. Meine diesbezüglichen Fähigkeiten basierten allein auf den Beobachtungen meiner Nachbarn, wie diese mit Hingabe und Akribie, vornehmlich am Sonntag, ihre Isetta oder das Goggomobil, später den Ford Taunus 17m oder den VW-Käfer pflegten. Doch ich traute mir das natürlich ebenso zu, wie das Rasenmähen. Wer mit einem biestigen Ungetüm von Handmäher zurechtkam, würde bei Schwamm, Seife, Wasser und einer Politur nicht mehr versagen können.
Wir saßen so auf einer kleinen Holzbank, die an der Rückseite des Hauses in Richtung der Buchen stand, und wir tranken unseren Apfelsaft. Der Mann fragte plötzlich, ob ich Vögel mochte, was ich, trotz meines auch im späteren Leben bewiesenen Mangels an Diplomatie, vorsorglich spontan bejahte. Er lächelte mich an und sagte, dass er für diesen Fall eine Überraschung für mich parat hatte. Gleich darauf stand er auf und schnalzte mit der Zunge, hob seinen rechten Arm und rief einige Male laut `Jakob, Jakob!´. Und kurz darauf kam ein großer schwarzer Vogel angeflogen, krähte dabei laut, und landete mit einigen Flügelschwüngen direkt auf dem ausgestreckten Arm des Mannes.
Es war eine Krähe, und wie mir der Mann erzählte, hatte er diese selbst aufgezogen. Sie war aus einem der Nester in den großen Buchen gefallen und er hatte sie gefunden – so wie er es fast in jedem Jahr erleben würde. Er nannte alle dieser jungen Krähen ´Jakob`, und im Herbst würde sie wieder mit den anderen Krähen davonfliegen.
Da stand er nun, dieser große Mann, mit breiten Schultern und Händen, die gut und gerne doppelt so groß wie die meinen waren. Er war Mitte fünfzig und mit seiner Prinz-Heinrich-Mütze aus hellbraunem Cord sah er aus, als käme er direkt von Bord eines großen Schiffes. Er erzählte mir, dass er die Krähen lieben würde, denn sie seien besonders kluge Tiere, die schnell lernten und sodann kaum noch Scheu vor Menschen hatten. Er strich mit seiner Hand behutsam über das schwarze Gefieder des Vogels und zog einen Apfel aus seiner Tasche, an dem Jakob sofort zu picken begann.
Ich war ebenfalls aufgestanden und konnte meine Blicke kaum von dem herrlichen Tier abwenden. Ich streichelte vorsichtig den Kopf der jungen Krähe, die sich völlig unbekümmert davon weiter mit dem Apfel beschäftigte. Gleichfalls genoss ich die Idylle des für mich so fremden Ortes. Von diesem ging eine mir bis dahin unbekannte Ruhe und Geborgenheit aus, die so unvergleichlich anders als mein Zuhause war. Mit einem Mal begriff ich den Satz meiner Mutter, dass es eben einen wesentlichen Unterschied ausmachen würde, von welcher Seite eines Zaunes aus man ins Leben schaute. Hier war der Blick aus dem Geborgenen möglich, aus dem Schutze einer eigenen und ungestörten Welt. Ohne Sicht auf andere, aber auch ohne selbst gesehen zu werden. Mit einer verschließbaren Pforte, an der man Störer oder den Unfrieden vor sich abschirmen konnte. Ein frisch gemähter Rasen, herrlich nach feuchtem Gras riechend, ein Glas Apfelsaft und ein ruhender Körper, der sich nach harter Arbeit fallen lassen konnte. Selbst ein handzahmer Vogel, dem nichts Böses wiederfuhr, ein fremder Mann, dessen Freundlichkeit und Gleichmut mir wie ein lang ersehnter Friede vorkam.
Ich erinnere mich, wie ich nur da stand und alles in mich aufsog, als wäre ich eine trockene Pflanze, benetzt vom ersten frischen Morgentau. Meine Hände schmerzten, doch ich vernahm diese Pein nicht wirklich. Es war viel zu schön an diesem Ort zu verweilen, und der Fremde, der nur wenig sprach, stand wie ein alter Freund neben mir, stellte keine Fragen, wollte nichts von mir wissen, war zufrieden mit meiner Arbeit und gab mir das Gefühl, dass es gerade einer dieser wenigen Augenblicke war, wo man in zufriedener Eintracht mit sich und seinem Dasein einen Moment der Besinnung erhaschen konnte.
Es war das erste Mal, dass ich merkte, wie sehr ich mich nach Flucht und Ausweg sehnte. Wie unterschiedlich das Leben sein konnte, wie sehr doch das meine nichts von alledem, was ich hier sah und fühlen konnte, selbst für mich vorsah. Und so wollte ich noch lange sitzen, träumen, aufgreifen, was sich mir zeigte. Mir war es egal, wer der Mann mit der Krähe war. Ich machte mir keine Gedanken darüber, ob er vielleicht ein Gauner oder ein Kindermörder sein würde. Ich empfand seine Nähe als Erfüllung einer menschlichen Wärme, die von Güte und Verständnis geprägt war, frei von Eitelkeit oder Vorwürfen, frei von Sorge, Gewalt und Tragödie. Frei von all dem, das meinem Leben zu diesem Zeit schon so lange beiwohnte, bar all dieser peinigenden Geschehnisse, deren Ausmaß mir bis dahin noch gar nicht bewusst waren, denn diese erklärten sich erst viele Jahre nach diesem ersten Tag des Sommers, im Garten des Krähenmannes.