Читать книгу Der Sommer mit dem Krähenmann - Stefan G. Rohr - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеDer frühe Abend brach heran und wäre Zeit für mich gewesen, den Weg nach Hause anzutreten. So lehnte ich das Angebot eines zweiten Glases Apfelsaft dankend und höflich ab und fragte, wann am folgenden Tag die beste Zeit sein würde, dass ich meine Arbeit fortsetzte. Der Mann wollte es mir überlassen, denn er sei in jeden Fall den ganzen Tag zu Hause, so konnte ich kommen, wann ich wollte. Er blickte in mein Gesicht, welches ganz sicher von der hinter mich gebrachten Anstrengung Zeichen trug, zumal ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte und sich ein flaues Gefühl in meinem Magen ankündigte. Ich konnte sehen, wie er seine Stirn in Runzeln warf. Mit einem kurzen Satz entschied er, dass ich mit ihm zu Abend essen sollte, denn er würde schnell ein paar belegte Brote zubereiten. Und hiernach würde er mich in seinem Auto nach Hause fahren, damit sich keiner Sorgen um mich machen bräuchte.
Da mein gesamter Bewegungsapparat sich nun bereits anfühlte, als wäre eine Dampfwalze jeweils einmal im Vorwärts-, dann auch gleich noch einmal im Rückwärtsgang über mich gerollt, klang sein Chauffier-Angebot mehr als verlockend und ich zog unmittelbar der gebührenden Höflichkeit die verlockende Bequemlichkeit vor. Vor allem aber war es die Aussicht auf eine Autofahrt, denn ich war bis dahin nur einige wenige Male in den Genuss gekommen, in einem Automobil mitfahren zu können. So nickte ich erleichtert, unterdrückte dabei mein schlechtes Gewissen, dem netten Mann und spendablen Auftraggeber ungebührlich auf den Pelz gerückt zu sein.
„Es ist sicher die Zeit, dass wir uns gegenseitig einmal vorstellen.“ lächelte der große Mann am Abendbrottisch, an den wir uns gesetzt hatten und der inmitten eines großen Esszimmers lag, welches vom Wohnbereich L-förmig abging. „Ich werde mit mir beginnen. Ich heiße Rolfs, Jochen Rolfs. Und ich lebe hier im Haus meiner alten Mutter, die seit langer Zeit schon behindert ist und die oberste Etage nur noch verlassen kann, wenn ich sie herunter trage. Aus diesem Grund müssen wir leider auf ihre Anwesenheit verzichten.“
Er schaute mich erwartungsvoll an, denn jetzt war ich an der Reihe. Doch ich war noch viel zu sehr damit beschäftigt, das eigentümliche Innere des Hauses zu beäugen. Heute weiß ich, dass der Bau in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts erfolgt sein musste. Hölzerne und leicht knarrende Dielenböden verrieten die für diese Zeit typische Handwerksarbeit. Auch die Treppe in die obere Etage, die ich bei Hereinkommen im Vorflur erspäht hatte, war aus Holz und verfügte über einen geschwungenen Handlauf, der von vielen kleinen gedrechselten Rundstäben getragen wurde. Die Decken im Wohn- und Essbereich waren zudem mit dunklem Eichenholz getäfelt, das mit kunstvollen Schnitzarbeiten anstelle von Stuck gesäumt war.
Schwere Möbel, ein Vertiko, ein ausladendes Bücherregal, ein mit Intarsien belegter Couchtisch sowie der große, runde Esstisch, um den acht dunkelgrün gepolsterte Stühle standen, gaben dem Bereich eine eher düstere Atmosphäre, die an die vorletzte Jahrhundertwende erinnern ließ. Auf einem kleinen Beistelltisch stand das Telefon, welches mit einem brokatbesetzten Stoffbezug verziert war. Doch das für mich Erstaunlichste waren die vielen Ölbilder, die sich überall an den Wänden verteilten. In unterschiedlichsten Formaten, von klein bis groß, von quadratisch bis länglich, waren Portraits neben Landschaften gehängt, bunte Stillleben platziert, Kornblumen, Rosensträucher und Obstschalen abgebildet und über dem schwarzen Klavier, auf dem sorgsam eine Samtdecke den Tastaturdeckel schützte, hing ein Gemälde, welches für mich eine hohe Anziehungskraft darbot.
Auffallend waren auf diesem die geometrischen Figuren und Linien, die das farbenfrohe Bild ausmachten, fast so, als hätte der Künstler mit Lineal und Geometriedreieck die Leinwand vor dem Farbauftrag in viele Teilstücke geordnet. Was aber auf den ersten Blick wie ein technisches Muster daherkam, erwies sich bei näherem Hinsehen als eine Ansammlung von wilden Pferden, die sich in einer Herde befanden. Sie waren allerdings eher eckig, statt mit natürlichen Rundungen dargestellt. Fast erschien es mir, als wäre das Bild als Vorlage für ein modernes Kirchenfenster oder Glasmosaik gedacht. Es faszinierte mich aber die eigene Art der Darstellung, die technische Charakteristik, die der Maler in ein letztlich äußerst harmonisches Werk verwandelt hatte.
Ich werde wohl mit großen Augen und vielleicht auch mit leicht geöffnetem Mund dagesessen und gestaunt haben. In jedem Fall aber hatte ich vergessen, dass ich meinem Gastgeber noch eine Antwort schuldig war. Dieser hatte meine Faszination natürlich bemerkt, und diese schien ihm zu gefallen.
„Gefallen Dir die Bilder?“ fragte er mit einem hörbar neugierigen Unterton. Und als ich still nickte, fuhr er fort: „Wenn wir uns vorgestellt haben, und es Dich wirklich interessiert, dann kann ich Dir gerne mehr zu den Gemälden erzählen.“ Er schaute mich lächelnd an.
Ich besann mich nun wieder auf die Höflichkeit: „Ich heiße Franz.“ Es war mir wie immer etwas peinlich, meinen Vornamen zu nennen, denn ich empfand diesen ebenso attraktiv, wie ein Glas Lebertran.
Jochen Rolfs lächelte sehr milde. „Schön, Franz! Das war ein Anfang. Aber sicher haben Deine Eltern Dir auch einen Nachnamen verliehen …“
Ich werde in diesem Augenblick rot angelaufen sein und ich ärgerte mich sofort, es unbeabsichtigt allein bei meinem blöden Vornamen belassen zu haben. „Urban.“ gab ich bekannt. „Ich heiße Franz Urban.“
„Soooo!“ dröhnte es aus dem großen Mann hervor. „Franz Urban! Was für ein wunderbarer Name, mein Junge. Da kannst Du aber mächtig stolz sein. Denn Könige hießen Franz. Und Urban war immerhin noch der Name eines Papstes. Kennst Du denn die Bedeutung Deines Nachnamens?“
Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Und so schüttelte ich noch einmal beschämter den Kopf.
„Nun, lieber Franz,“ holte Jochen Rolfs aus, „Urban leitet sich aus dem Lateinischen ab. Urbanus von urbs. Und das bedeutet `Städter´, also der, der in der Stadt wohnt. Damals war natürlich Rom als Stadt gemeint. Allerdings gibt es auch noch eine zweite Bedeutung. Urbs steht sodann auch für den Höflichen, den Gebildeten. Du siehst, Dein Name bietet bei Weitem mehr, als nur einen schnöden Anhang abzugeben. Er sollte Dich zudem prägen und Dir sagen, was das Leben von Dir erwartet.“
„Wofür steht dann Rolfs?“ fragte ich unvermittelt zurück.
Der Riese am Tisch, der sich auch weiterhin nicht von seiner Kopfbedeckung getrennt hatte, begann herzlich und laut zu lachen. „Das ist eine berechtigte Frage. Gerade deswegen, weil ich mit Deinem Nachnamen in keiner Weise mithalten kann. Eine tiefere Bedeutung, einen Hinweis auf eine edle Herkunft, oder gar auf eine hohe Bildung, kann ich nämlich nicht bieten. Leider! Denn mein Nachname sagt beklagenswerter Weise lediglich aus, dass irgendjemand einmal den Vornamen `Rolf´ getragen haben wird und dessen Nachfahren sich so seiner Abstammung erklärten.“
Mir gefiel es durchaus, was ich über meine Namen gerade erfahren hatte, wenngleich es mir noch nicht einleuchten wollte, was mit diesem Wissen anzufangen war. Dennoch war offensichtlich etwas an diesem, was interessanter als `Müller´ oder `Meier´ war. Und dass Könige und Päpste mit der Namensbürde `Franz´ zurechtgekommen waren, ließ mich hoffen, dass ich es dann auch schaffen konnte.
„Die Bilder scheinen Dir zu gefallen.“ konstatierte mein Gastgeber. „Und das freut mich, denn all diese hat mein verstorbener Bruder gemalt.“ Er stand auf und stellte sich in die Mitte des großen Wohnzimmers. Dann wies er mit ausgestrecktem Arm der Reihe nach auf die Gemälde an den Wänden. „Hier zum Beispiel siehst Du, wie mein Bruder ein Gemälde von Emil Nolde nachgemalt hat. Oder hier, die Sonnenblumen von van Gogh. Und das Bild über dem Klavier – es scheint Dir ja besonders zu gefallen – ist die Kopie eines berühmten Bildes von Lyonel Feininger. Eine Arbeit meines Bruders, die auch mir in besonderem Maße am Herzen liegt.“
Der große Mann stand da, seine hellblauen Augen leuchteten wie Sterne am Firmament, und er beschrieb in wohlgeformten Sätzen die Bilder seines Bruders, die Kunststile, die dieser verwendete und die Geschichten der Künstler, die die Originale gemalt hatten. Es war eine kurze Stippvisite in die Welt der Kunstmalerei und ich verstand auf einmal, wie sehr doch ein Werk über das Leben des Schaffenden hinaus fortbestehen und dessen Geschichte weiterführen lassen konnte.
„Mein Bruder war seit früher Jugend an gelähmt und verbrachte die meiste Zeit seines Lebens im Rollstuhl.“ berichtete mir Jochen Rolfs. „Als Junge sprang er kopfüber von der Ostseebadbrücke ins Wasser. Doch es war nicht tief genug dafür. Er stieß mit dem Kopf auf den Grund und war fortan querschnittsgelähmt, von seinem Nacken abwärts. Malen konnte er nur noch mit dem Pinsel in seinem Mund. Und das tat er über dreißig Jahre lang. All diese Bilder, alle auf die gleiche Weise hergestellt. Und ich habe das ganze Haus mit ihnen geschmückt.“
Ich betrachtete jedes Bild mit einer neuen Ehrfurcht. Mit einem Pinsel im Mund zu malen stellte ich mir besonders beschwerlich vor, ja fast unmöglich. Wie konnte es jemand auf diese Weise zu solchen Kunstwerken bringen? Wie groß musste ein Antrieb sein, um allen körperlichen Defiziten entgegen derlei zu erschaffen? Wie stark war der Wille dieses Menschen gewesen? Und wie lebensfroh musste dieser geblieben sein, denn es fehlte den Bildern jedwede Trübsal und Düsternis.
Von der oberen Etage aus erklang die Stimme einer alten Frau. „Rolf, haben wir Besuch? Ist da jemand bei Dir?“
Er schritt ein paar Meter in Richtung des Vorflures. „Ja Mutter, es ist ein junger Mann hier, der mir heute bei der Gartenarbeit behilflich gewesen ist. Doch wir sind jetzt auch fertig. Ich werde ihn gleich nach Hause fahren, komme dann aber sofort wieder zurück.“
„Ich habe Hunger, Rolf!“ tönte es von oben.
„Das weiß ich, Mutter.“ bekundete mein Gastgeber freundlich. „Ich bringe Dir jetzt ein paar Brote und Deinen Tee.“
Er nickte kurz in meine Richtung, nahm von der noch reichlich bestückten Platte auf dem Tisch ein paar der zubereiteten Brote, legte sie auf einen Teller. Kurz darauf verschwand er und ging in die Küche, aus der nach kurzer Zeit das Pfeifen eines Wasserkessels zu vernehmen war. Ich hörte, wie er mit schweren Schritten die Holztreppe in das obere Stockwerk nahm, konnte ein sonores Murmeln vernehmen, dann stand er bereits wieder im Esszimmer vor mir. Ich sprang von meinem Stuhl und begann die Teller zusammen zu stellen. Jochen Rolfs half mir dabei und als wir alles in die Küche gebracht hatten, öffnete er die Haustüre und wir gingen gemeinsam zu seinem Auto, das auf einer sandigen Einfahrt vor der kleinen Garage stand.
Da stand ein silberblaues Fahrzeug, das ich sofort lustig fand. Denn es sah vorn wie hinten fast gleich aus, und es wäre niemandem aufgefallen, wenn es ausnahmslos rückwärts gefahren wäre. Es war ein Simca 1000, und als Jochen Rolfs sich mit seinen zwei Metern hineinzwängte, kam es mir fast so vor, als würde sich ein Erwachsener in ein Spielzeugmodell setzen. Innen stieß er mit seiner Mütze an die Unterseite des Wagendaches. Und er musste sich ein wenig zusammen beugen, damit er überhaupt nach vorn hinaus schauen konnte. Zwischen Handbremse und Schaltknüppel hatte er einen großen Aschenbecher platziert, der randvoll mit Zigarettenkippen gefüllt war. Unmittelbar nach seinem Einsteigen hatte er ein silbernes Etui hervorgezaubert, aus dem er eine seiner selbst gedrehten Zigaretten herausnahm und diese mit einem alten Benzinfeuerzeug anzündete. Dann kurbelte er die Scheibe herunter und blies den Rauch aus dem Fenster.
Das Gefährt, in dem ich Platz genommen hatte, roch nach kaltem Tabakrauch und vergasenden Benzin. Der Motor rüttelte erheblich und ratternd setzte sich der Wagen in Bewegung. Für mich war es ein besonders spannender Augenblick. Es war nicht allein die Tatsache, dass ich in einem Auto saß und kutschiert werden sollte. Es war etwas viel Eigentümlicheres, denn ich geriet immer mehr in eine Haltung der Erwartung, wie sich diese Begegnung wohl noch weiter entwickeln würde. Ich spürte, dass ich mit diesem großen Mann, der ganz sicher mindestens vierzig Jahre älter als ich war, öfter zusammen kommen sollte. Es hatte sich, ohne dass ich es hätte beschreiben können, ein unsichtbares Band geknüpft. Eine Verbindung war entstanden, deren Ursprung ebenso im Verborgenen ruhte, wie die Faszination, die mich umarmte.