Читать книгу Herr und Untertan - Stefan G. Rohr - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеZum Sonntag ward der Bräutigam geladen. Ganz manierlich und sittsam, zudem ohne großes Aufsehen. Die Tage bis dorthin waren für Katharina Kohlhaase vollgestopft von allerlei Vorbereitungen und Geschäftigkeiten.
Zum einen war da der Geburtstag der Tochter. Sie jährte süß ganze achtzehn Lenze, und was eigentlich zu einem angemessenen Festchen hätte Anlass geben können, wurde still und unauffällig zelebriert, ganz im kleinen Kreise von Tochter und Eltern. Denn Kohlhaase hatte entschieden, dass es sich doch besser ausmachen würde, ja überdies aus vielerlei Gründen mehr als empfehlenswert war, das Hochleben seiner Tochter ein paar wenige Tage zu verrücken und im Kreise der kurzfristig eingeladenen Gäste zu einer Soiree im Jagdsaal des Hauses zu laden.
Da er sich bisher nicht rühmlich mit derlei Festlichkeiten hervorgetan hatte, war davon auszugehen, dass trotz der wahrzunehmenden Spontanität seiner Einladung die meisten der Geladenen auch kommen würden, vielleicht sogar ihm den Vorzug vor bereits zugesagten anderen Gelegenheiten geben würden, allein der Neugier wegen und dem Instinkte folgend, es dann spektakulärer sich erweisen könnte, als die sonstige Gesellschaftsroutine. So führte er denn auch selbst die Feder für jede einzelne Einladung, die er sorgfältig per hauseigenem Kontorsiegel verschloss und mit eilenden Boten den Herrschaften persönlich überbringen ließ.
Indes oblag es der Hausdame, die zuvor von ihm detailliert festgelegte Festlichkeit zu gestalten. Dies hatte er mit dem Hinweis verbunden, dass der Schneider, Metzger, Dekorateur, Weinhändler, Konditor oder auch die Musiker von ihm beauftragt wurden, die Rechnung ans Kontor zu stellen wären, die Gattin sich somit um das Budget keine Gedanken zu machen bräuchte. Sie sollte es nur sicherstellen, dass alles am Abend zur Soiree nach seinen Vorgaben erledigt sei, so dass es an nichts mangelt, weder Lücken noch Entbehrungen zu beklagen wären. Auch stattete er dem Goldschmied einen schnellen Besuch ab, gab die großzügige Bestellung eines Ringes mit edelstem Stein in Auftrag, für dessen Rechnung jedoch nicht er gerade stehen würde, sondern diese vom ehrenwerten Herrn Dr. Krottenkamp beglichen werde, es aber die Konkurrenz sein würde, die das Folgegeschäft einheimsen würde, sofern es Hinweise auf die Indiskretion des Meisters oder seiner Angestellten zu beklagen gäbe, der Bräutigam nicht selbst den Ring gewählt hätte. Der Goldschmied bekundete seinen Eid auf die Tora, Stillschweigen zu bewahren und alles in gewünschter Zeit sowie in höchster Wertigkeit auszuführen.
Kohlhaase nickte zufrieden, wusste er doch nur zu gut, dass sich die Nachricht um die anstehende Vermählung des Herrn Medizinalrates Dr. Johann Krottenkamp mit der Kaufmannstochter Viktoria Kohlhaase wie ein Lauffeuer entfachen würde, sobald die Ladentüre nach seinem Austritt hinter ihm zugefallen war. Dass er nun selbst es war, als Vater der Braut, der den Verlobungsring in Auftrag gab, tat, trotz der eigentlichen Unüblichkeit, der Sache keinen Abbruch. Im Gegenteil. Bekräftigte dieser Umstand doch vielmehr, wie hoch im Stand und auch tonangebend in der Bestimmung der Kaufmann über dem Medizinalrat zu verorten war. Denn nur wer derlei zu behaupten hat, kann sich die Freiheit herausnehmen, selbst noch Größe und Qualität eines Ringes zur Verlobung zu bestimmen, was gewiss sodann erst recht den Rückschluss auch auf alle anderen Konditionen bezüglich dieser Liaison zuließ. So geriet auch dieser Winkelzug zu seiner Ehre.
Viktoria selbst hatte sich zu einem fast durchgängigen Schweigegelöbnis entschieden. Sie sprach nur selten, gab einsilbig Antwort, meist dabei beschränkend auf ein „Ja“, ein „Nein“ oder im Zweifel dem „Wie Sie woll´n!“. Sie hatte schnell erkannt, dass ein Boykott zum Scheitern verurteilt war und beschlossen, das bitt´re Spiel zwar mitzumachen, doch eben ganz ohne eigenes Zutun, bar jedweder eigenen Einbringung. Man sollte sehen, dass sie sich nicht in Freiwilligkeit bewegte, und es war ihr ein Anliegen, die Suppe gut zu versalzen, jedoch keinen Anlass zur Korrektur ihres Handelns zu offerieren. Lächeln, Freude, Ausgelassenheit oder gar verliebte Blicke unterlagen keiner Befehlsgewalt. So lange sie zur Musik allein das Füßchen bewegte, wäre es der Forderung nach Tanz Genüge getan. Und was an eigener Erwartung ihr gegenüber und dem prahlerischen Getue der Gesellschaft gezollt sein würde, wollte sie mit größter Kühle und undurchsichtiger Miene durchkreuzen, damit sich Eltern und der fette Pfau in jeder Sekunde grämten, es aber keinen Vorwurf zu formulieren gäbe. Was Vater und zukünftiger Gatte daraus machen würden, war für sie nur bedingt von Interesse. In erster Linie galt es für sie, die Mutter zum schlechtesten Gewissen zu treiben, welches dieser nicht nur alle Tage verhageln sollte, ihr zudem den Schlaf zu rauben hatte. Stürzte doch mit ihrer Hilfe ihr eigen Fleisch und Blut ins Unglück. So sollte doch der Gerechtigkeit zuliebe die Mutter ein Stück dieser Hölle tragen, die ihrer Tochter nun zum Daueraufenthalt werden sollte.
Deswegen nahm das junge Fräulein weder Anteil beim Aufmaß des Schneiders, noch bei den Anproben der Entwürfe. Stoisch ließ sie alles mit sich geschehen, und es wäre ihr nur Recht gewesen, wenn sich die Maße und die Schnitte als fatal und falsch erweisen sollten, sie schief und krumm gekleidet der Belustigung aller anwesenden Damen dienen würde. So zog sie nur ganz minimal den Bauch ein, denn Taille wollte sie nicht zeigen. Und mit vorgezogenen Schultern, leicht nach vorn in sich gekippt ließ sie den Schneidermeister gänzlich falsch das Aufmaß nehmen, um hiernach sicher gehen zu können, dass dieses Werk von ihm nur Spott einbrächte.
Und als die Frau Mama sie instruierte, um das Verhalten auf der Soiree, ihr nach besten Sitten das Verlangen der Gesellschaft um Proporz herum kundzutun, da lächelte sie in sich hinein und dachte, ein bess´res Lehrbuch könnt´ es gar nicht geben, zum Zwecke der Umkehrung des Guten in das Peinliche studieren zu können. Und so hörte sie die Worte, sah aufmerksam den empfohlenen Bewegungen zu, um sich nur das Gegenteil einzuprägen, damit es genügend Fettnäpfchen geben sollte, in die sie hineinzutreten sich vornahm.
Und für die anstehenden Sonntage, die allesamt nun für einen sittsamen Empfang des künftigen Gatten reserviert waren, hatte sie sich vielerlei zurecht gelegt, um entweder gar nicht zugegen sein zu müssen, oder wenn, dann nur für möglichst kurze Zeit. Migräne, Unpässlichkeit, Übelkeit, Kopfsausen waren dabei die naheliegenden Optionen. Sie erwog aber tatsächlich auch den Sturz vom Pferde mit anschließender Bewusstlosigkeit und notwendig werdenden Ruhe über mehrere Tage. Sie überdachte auch die Wahrscheinlichkeit sich böse zu erkälten, sofern sie dann des nachts lang genug am offenen Fenster stünde, sich den kalten Wind auf Kopf und Brust wehen zu lassen, damit sie das Fieber niederstreckte. Doch war es derzeit noch ein warmer Sommer, der im Kalender stand. Und die Nächte waren mitnichten kalt, so dass sie dieses Vorhaben ad acta legte.
Und Fieber war auch anders zu erhalten. So fiel ihr ein, dass der Verzehr von Seife recht schnell und eindrücklich zu höheren Temperaturen im Körper führen sollte, und so nahm sie auch einen solchen Akt in ihr inneres Programmheftchen auf. Sie kannte zudem reichlich Heidesträucher mit Beeren, deren Genuss zur Übelkeit beim Konsumenten führten, und es war ihr dabei ganz unwichtig, ob sie durch derlei Geschehen sich selbst ganz böse Pein verursachte. Was war denn diese im Vergleich zu all den Schrecklichkeiten, die ihr die Zukunft bereitzuhalten gedachte?
Und alles aber stand unter einem festen Vorsatz: Dem Freier, dem siegesversichertem Gockel, nicht den kleinsten Ansatz liefern zu wollen, dass dieser sich der Illusion einer bevorstehenden Harmonie und Zuneigung hingeben mochte. Als Gegenstand des Geschäftsvertrages zwischen diesem und dem Vater war sie doch förmlich einem Getreidesack gleichgesetzt. Und so sollte es den künft´gen Gatten dann nicht wundern, wenn es eben einen solchen dann zu lieben galt. Nicht mehr, nicht weniger. Und wenn der liebe Gott es milde mit ihr halten sollt´, dann wird der Kindersegen ausbleiben. Und dafür würde ihr in Zukunft dann so mancher Taler für den Klingelbeutel recht sein.
Ganz nebenbei, es geriet ihr zumindest anfänglich nur ganz oberflächlich zur Überlegung, hatte sie darüber zu sinnieren begonnen, worin der Grund wohl bestand, dass es Krottenkamp mit Verlobung und Vermählung so eilig hatte. Waren doch ihre seltenen und wenigen Begegnungen bisher nicht nur von kürzester Dauer, es mangelte diesen vor allem an Substanz und Liebelei. Kaum waren mehr als die üblichen Höflichkeitsworte gewechselt, nie Blicke ausgetauscht, kein Lächeln geschenkt, welches selbst minimalste Hoffnung auf Glückseligkeit aufkeimen ließ. Sie musste sich zwar eingestehen, dass es durchaus einer Einseitigkeit unterlegen sein konnte, sich der ältere Herr Medizinalrat in der Irrigkeit seiner Wirkung in sie verguckt haben mochte, doch so sehr sie sich auch anstrengte, ihr fiel partout nicht ein, bei welch einer der Gelegenheiten sie seinen Vulkan hätte entfachen können. Sie selbst hatte den dicken Herrn mit dessen fetten Fingern nur kurz einmal betrachtet, dies um sich sogleich abzuwenden und zu beschließen, diesen Arzt auch dann nicht zu konsultieren, wenn ihr das Leben davon abhänge. Hiernach vermied sie es erfolgreich, ihm in die Augen zu blicken oder gar in seiner Nähe zu stehen. Das war dann auch der eigentliche Grund, denn das offenkundig fortgeschrittene Alter, die glänzende Glatze und der Umstand, dass sie ihm doch einen ganzen Kopf überwachsen war, nahm sie schon deshalb gar nicht wahr, weil sich bei ihr zu keiner Zeit auch nur der Hauch eines Gedankens entwickelt hatte, in diesem Herrn mehr zu sehen, als einen der Familie flüchtig bekannten Mediziner, der darüber hinaus nichts weiter war, als ein fettleibiger Widerling.
Auch täuschte sie sich selbst mitnichten über die Tatsache hinweg, dass es ihr für eine Ausstellung als zu freiende Jungfrau an vielerlei Notwendigen fehlte, zumindest, wenn der Maßstab allein an weiblichen Insignien ausgerichtet war. Schließlich schaute sie tagtäglich selbst in den Spiegel, sah ihre blasse Haut, die Augenringe, die Dürre ihrer Statue. Und wüsste sie es selbst nicht am besten, so hätte auch sie sich die Schwindsucht attestiert, ganz so, wie es ihr häufig nachgesagt wurde. Nach dem Ausritt, ja, nach frischer Luft und vergnüglichen Stunden in der Natur, nach dem Schauen in die Wolken, nach stundenlanger Beobachtungen des Fluges von Bussard und Falke, da zeichneten sich farblich Vitalität und Frische auf ihrem Gesicht ab, und ihre Schönheit kam für diese Momente unübersehbar und fast auf magische Weise zum Vorschein. Doch da es ihr nicht zu eigen war, laufend prüfend ihr Spiegelbild zu betrachten, mangelte es ihr an jedweder Eitelkeit und Überzeugung. Sie verstand sich als ein hässlich Entlein, zu dürr um noch ein Schwan zu werden, zu dünn die Haut um Begehrlichkeiten zu entfachen, und auch die häufigen Bekundungen ihrer Frau Mutter um das vermeintliche Gegenteil und dem Verweis auf noch fehlende Reife sowie die Zuversicht, dass sich jedes Manko in naher Zukunft von allein in wahre Schönheit wandelt, wog sich im gleichen Teil mit den nicht selten gehässig klingenden Wertungsnoten ihres Herrn Vaters auf.
Schon am Kindsbett hatte dieser seinen Unmut nicht für sich behalten, dass ihm statt eines Sohnes nur ein Mädchen geboren war. Und dieses, mickrig und mit wenig Gewicht, auch noch das einzige in der Reihe seiner Nachkommen bleiben sollte, da es der Mutter fortan versagt wäre, nach der Schwere der Geburt ein weiteres Mal eine Leibesfrucht entwickeln zu können. So schien Gott ihm also keinen Stammhalter gönnen zu wollen, und er musste sich mit einem Mädel abfinden, was ihm all diese Zeit nie recht gelang. Und da ihm sein Selbstmitleid allzu häufig näher lag, als Einsicht und Gerechtigkeit, zürnte er so manche Stunde um das Ausbleiben eines Sohnes, den er gewiss zur rechten Reife geführt haben würde.
Was sollte er sich auch einem Töchterchen hingeben? Ein Kontor würde dieses nie betreten, ein Geschäft nie unter Dach und Fach bringen können, und all die jahrelange Arbeit ein Handelshaus mit bestem Ruf und anschaulicher Finanzkraft zu etablieren, war am Ende für die Katz, wenn sich der Deckel über ihm schließen sollte, nur der Verkauf des Erbes dann zur Debatte stehen würd´. Zu allem Übel addierte sich für den Kaufmann schnell auch der Umstand, dass neben der Unfähigkeit des Kindes, in den Stand des ehrbaren Kaufmannes gelangen zu können, auf diese Art dann für die Mehrung des Erfolges zu sorgen, ein Mädel ja sogar gegenteilig kostet, und jede Aufwendung in Bildung und Anstand es nur noch zur Folge hätte, dass sich als Brautwerber eben bess´re Herren der Gesellschaft einfinden würden, wodurch eine immer kräftigere Mitgift aufzubringen wär´.
Gewürze aus Indien, Safran aus Persien, Pelze aus Russland, Seide aus China, Teppiche aus Levantinien, Silberwaren aus England, Marmor aus Italien, Parfüme und Essenzen aus Frankreich oder auch nur Käse aus Holland – all diese Waren hatten einen Preis im Handel. Mit Geschick und guter Kenntnis war stets mit Gewinn bei Weiterverkauf zu rechnen. Doch ein dürres Mädel musste schon mit teuerstem Geschmeide behangen werden, um das Auge des Interessenten von der Mangelhaftigkeit der Trägerin abzulenken. So war es für ihn bald schon klar, das Kind, das ihm die Mutter schenkte, ihm ein sicheres Minusgeschäft bedeuten werde.
Und ganz obendrauf kam ihre Widerspenstigkeit hinzu, ihr allzu eigner Kopf, der sich nicht selten spürbarer Opposition hingab und es immer wieder nötig werden ließ, dass an Respekt erinnert werden musste, es diesen dann auch häufig tatkräftig einzufordern bedurfte. Statt sittlich Nähzeug zu gebrauchen, statt weiblich´ Tugenden zu lernen, hielt es das Fräulein gerne mit dem Vertun von Zeit und Energie, in dem sie den Flug von Federvieh, vom Huhn bis auch zur Gans und Ente, dann später Spatz und Amsel, seit Kurzem auch den Bussard und den Falken zu beobachten pflegte, um hiernach in dümmlichster Weise vom Traum eines Menschenfluges zu schwadronieren, was gewisslich nah des Irrsinns liegen würd´. Wenn Gott es gern gesehen hätte, dass Menschen fliegen sollten, dann hätte er diesem Flügel verabreicht, und es wären wohl die Vögel, die dann erdgebunden verweilten.
So hielt er es denn für durchaus denkbar, dass das Kind im Zuge der schweren Geburt einen Schaden davongetragen hatte, und es wurde ihm immer wieder schwer um die Vorausschau, sie dennoch passabel unter den Hut bringen zu können, wohlgemerkt ohne dabei zu viele Taler vor des Pastors Ehesegnung an den künft´gen Schwiegersohn berappt zu haben.
All das war der jungen Frau bekannt. Zum Teil weil´s offen ausgesprochen längst wie ein aufgeblättertes Kartenspiel zu Tische lag, zum anderen war ihr zwar die Schönheit nach eigenem Bemessen nicht in gleicher Üppigkeit gegeben wie´s ihr wohl zum Ausgleich mit Verstand gegeben ward. So hörte, sah nicht alles. Doch spürte sie zuhauf, was an Wertung ihr zuteil ward, trotz mannigfaltiger Vorsicht der Flüsterer es im Verborgenen zu halten. Und klares Wissen, Gefühltes in Ergänzung, ließ mit der Zeit ein treffendes Päckchen schnüren, welches das Gesamtbild über sie als Sendung trug.
Auch sah sie schon als junges Ding den Vorteil in der Täuschung. Dies nicht aus Hinterlist oder zur Erfüllung schlechter Absichten. Derlei Züge wies ihr Charakter gar nicht auf. Hingegen aber hatte sie zu lernen verstanden, dass es ihr leichter dann erging, wenn and´re sie für dümmlich hielten, für träge im Gehirn. Vor allem galt die Taktik einem Zwecke, den Vater von dessen Neigung zu allzu harter Strafe abzuhalten, denn als strafbar konnte nur der Vorsatz oder gröbere Fahrlässigkeit bemessen werden, die pure Dummheit ja auf ganz natürliche Weise zum Freispruch führt. Sie musste nämlich nicht selten des Vaters Neigung zum Jähzorn spüren, und erst mit dem Älterwerden legte sie Zug um Zug das Bildnis einer geistig Trägen zugunsten einer langsam eingestellten Verständigkeit ab, die nun aber von großer Kindlichkeit und Träumerei getragen wurde, und somit es auch noch nicht zuließ, sie ernster zu nehmen, als es ihr im Geheimen zustand.
Mit dem Vater war nicht gut Kirschenessen. Auch schlug er gern und häufig. Sie war damit nicht allein, denn auch die Dienstschaffenden im Hause spürten so manches Mal die Gerte, den Stock oder die flache Hand. So geriet es auch stets dazu, dass sich das Personal die Klinken in die Hände reichte, beim Gehen wie beim Kommen, und nur die Köchin war geblieben, was Viktoria darin zu begründen vermochte, dass die Mamsell wohl an die 250 Pfund zur Waage brachte und stets ein Messer in der Küchenschürze trug.
Ganz fern, sie war noch sehr jung, und es lag fast in Gänze im Dunklen, wähnte sich die Tochter einiger Besuche ihres Vaters in ihrem Bettchen. Und es war ihr heut noch so, als schmuste dieser ganz allerliebst mit seinem Töchterlein, gab Küsschen, führte streichelnd die Hände auf und ab. Doch schien´s der Mutter nicht zu behagen, denn was Viktoria noch im Gedächtnis trug, war ein heftiges Wortgewitter unter dem der liebende Vater aus dem Bette sprang und es fortan unterließ, sein Bedarf am Kindesschmusen noch einmal anzumelden.
Und was den Schulverlauf anbelangte, so war dieser von größtmöglicher Ambivalenz zu beobachten, was Viktoria beflissen verstand, den Eltern im Verborgenen zu halten. Doch Fächer, die nach ihrer Ansicht bar von Substanz, ließ sie an sich vorüberzieh´n, mit äußerlicher Geduld und gelegentlicher Teilnahme, doch innerlich die Langeweile bekämpfend. So sträubte sie sich nicht in Offenkundigkeit des Erlernens von Flöte und Geige, doch ward es dem Lehrer recht schnell klar, dass dieses Kind kein Paganini werde, es ihr auch einfach nur ein Handfeger hätte überlassen werden können, denn dieser erzeugte in ihren Händen wohldenn tatsächlich bess´re Töne fürs Gehör. Im Chor des Lyzeums schnöde Liedchen zu trällern ward ihr sogar zum Graus geworden, drum sang sie schnell mit Absicht schief, um fortan in diesen Stunden nur noch beizusitzen oder die Notenheftchen zu sortieren, was ihr bald auch genommen werden sollte, da sie mehr Chaos produzierte als dem Unterfangen Sinn zu geben vermochte.
Sentenzen, Prosa, Poesie brachten das Kind stets zum Gähnen. Und während die anderen Schüler allesamt das Schulfach Malen und Gestaltung als Herzerfrischung verstanden, hielt es Viktoria nach ein paar hingeschmierten Pinselstrichen nicht selten lieber damit, die stets mitgeführte Lupe zu verwenden, um Farben, Papiere, Hölzer oder Kreiden in Vergrößerung besser auf Zusammensetzung zu betrachten, um Eigenschaft und Verhalten des untersuchten Objektes zu ergründen. So war es denn auch nicht verwunderlich, dass sie ihr sonstiges Verhalten mit flugs entfachter Leidenschaft und höchster Beteiligung bei Stoffen wechselte, die im Zusammenhang mit den Phänomenen der Natur zu stehen schienen. Und sie hörte besonders gut zu, sobald es um derlei Gesetzmäßigkeiten ging, die es ihr ermöglichten, ihre zuvor und fürderhin gemachten Beobachtungen mit Gesetzmäßigkeiten zu erklären, geriet ins Schwärmen bei den Theorien um Raum und Zeit, dann aber war doch vor allem ihr Interesse schier unermesslich, wenn es um Materien oder Energien ging.
Gern verbrachte sie, natürlich stets im Geheimen, mit der Einschau in das Räderwerk der großen Standuhr. Dort überlegte sie lange Stunden, was es wohl die Anzahl der Zähne auf einem großen Rad mit der Übersetzung auf die kleinen, sich zum Teil dann gegensätzlich drehenden Rädchen, auf sich hatte. Und der Antrieb durch Ketten und Gewichte, mit Federn, Schlagwerk, Glockenspiel waren ihr Freude und ließen sie die Funktionen bedenken, denn am Ende stünde die Zeit in ebensolcher Richtigkeit auf dem Ziffernblatt zu lesen, wie der Stand des Mondes. Dagegen nun die süßlichen Gedichte, schmalzig und schwülstig in Worten und Sinnen verdreht, als Genuss für Verstand und Seele zu empfinden, ward ihr einfach nicht gegeben, und es düngte ihr als große Nutzlosigkeit und sinnentfremdetes Zeitvertun sich derlei hinzugeben.
Und dennoch wiesen ihre Zeugnisse durchgehend recht passable Benotungen auf, die zwar nicht auf den ersten Plätzen lagen, doch auch nicht sehr viel schlechter daherkamen. Dem Vater hatte es deshalb einmal dazu bewogen, dem Lehrkörper große Nachsicht und auch sicher Mitleid zu konstatieren, denn nach seinem väterlichen Dafürhalten waren die guten Benotungen nicht anders zu erklären, da sein Töchterlein gewiss nicht mit überschüssig vorhandenem Verstand ausgestattet war, was er ja selbst, nebst seiner Gattin, ganz zum Bedauern ihrer selbst schon früh zur Feststellung gebracht hatten. Doch wär´s ihm nie in den Sinn geraten, sich nun über derlei gut gemeinte Zugeständnisse zu beklagen, vielleicht noch der Gerechtigkeit geschuldet. Stets nahm er gern den angebotenen Bonus, nur ein Kretin derlei pro bono auszuschlagen gedenken würde.
So traf dann etwas bisher ganz Außergewöhnliches zusammen, dass nämlich ein Entscheid des Vaters auf Wohlgefallen seiner Tochter stieß. Dieses Ereignis lag nun ein glattes Jahr und etwas mehr zurück, als der Kaufmann beschloss, es wäre nun nicht mehr nötig, das Kind dem Lernen weiter auszusetzen, denn besser sollte sie doch nunmehr von der Mutter auf das Leben in der Praxis vorbereitet werden. Es fände schließlich kein Mann mit eigner Ehre und guter Profession daran Wert, wenn das geehelichte Frauenzimmer mit allzu großer Bildung prahlte, und dafür wenig Eignung für Haus und Küche, Gesellschaft oder die strenge Kontrolle des Gesindes, nebst Dienstpersonen und Mamsells aufwies. Die Mutter sollte nunmehr Sorge für eine brauchbare und passable Ausbildung sorgen, und es wäre nun ganz und gar seiner Gattin überlassen, auf welche Weise sie dem Wunsche dann gerecht zu werden gedachte.
Viktoria selbst war einverstanden, trug ihre Meinung jedoch nicht offenkundig vor. Denn es stand zu befürchten, dass der Vater den für sie doch vorteilhaften Beschluss gleich wieder deshalb überdenken würde, weil er dem ungewohnten Einverständnis seiner Tochter mit Misstrauen begegnen würde, welches ihn gewiss zur Umkehr seiner Order bewegt hätte. Das Ende ihres Schulbesuches kam einer Befreiung gleich. Zwar würde sie es missen, die Naturwissenschaften nicht weiter zu ergründen, doch war die Last der anderen Fächer, die Fatigantien wie sie derlei zu bezeichnen pflegte, mit deren elend Langeweile ein guter Tausch dagegen. Und letztlich hatte sie sehr wohl bemerkt, dass es in ihrem Lieblingsfach kaum mehr an dieser Schule zu vermitteln gab, als sie ohnehin bereits schon wusste.
Frau Mama war in dieser Frage mitnichten ebensolcher Meinung, dass es nun die bess´re Bildung sei, statt das Französische zu komplettieren, statt Literaturen zu studieren, nun der Mamsell beim Schälen der Kartoffeln auf die Finger zu schauen oder die missratenen Bügelfalten in der Schürze des Dienstmädchens zu monieren. Das war gewisslich auch dem Umstand geschuldet, dass Katharina Kohlhasse, als sie noch Sonnenberg hieß, jugendlich und mitunter noch ebenso verträumt war, wie es denn heute ihre Tochter zeigte, in ebensolcher Weise recht früh das Lernen beendete und dieses so manches Mal danach reuig betrachtete. Doch ganz entgegen des Motives, welches nun ihr eigenes Kind zu akzeptieren hatte, lag ein anderes dem Vater ihrer selbst im Kopfe. Als Händler und Fabrikant besten Rums verschlug es ihn über die Jahrzehnte auf so manche Reise über die große See in Länder mit Palmen und Zuckerrohr. Und so entschied der liebe Vater, das Töchterlein an seiner Seite auf eine solche große Fahrt mitzunehmen, um dieses ein trefflich Abenteuer erleben zu lassen, zudem für´s Leben gut zu lernen. Das blieb zwar nicht ohne Tadel anderer, denn derlei Unterfangen wäre doch eher den Männern zu überlassen, was ihn aber nicht sonderlich zu stören vermochte. Und schließlich gab es gar kein Söhnchen, so lief derlei Kritik ins Leere.
Die junge Katharina Sonnenberg verbrachte eine wunderbare Zeit mit ihrem Vater, sah ferne Länder, lernte viel über Zucker, Melassen, Destillen und Rums. Sie war dabei, als ihr Vater Qualitäten prüfte, feilschte, Handschläge vergab, Kontrakte zeichnete und Geschäfte im Kreise der Verkäufer begoss. Sie hörte fremde Rhythmen, sah exotische Tänze, versuchte sich an Bongos und sah den kleinen knopfäugigen Kindern auf den Dorfplätzen beim Spielen zu. Kurzum, es war ganz außerordentlich gefüllt mit Allerlei an Abenteuern und eben damit eine wunderbare Zeit, an welche sie sich zuweilen noch recht intensiv zu erinnern pflegte, meist dann, wenn ihr Dasein an der Kohlhaas´schen Gattenseite trist und häufig auch betrüblich war.
Dann schwebte sie im Kopf und auch im Herzen zurück an jene Orte, sah alles wieder ganz wie neu, vernahm die schönen Rhythmen und wog sich in Gedanken dazu im Takt. Als sie zur Heirat schreiten sollte, war´s ihrem Vater weder bös damit, noch suchte er den Vorteil. Er sah nur das Wohl in allem, und so entschied er aus Fürsorge die Vergabe der Hand seiner Tochter an einen ehrbaren Kaufmann, mit dem ihn schon gute und ehrliche Geschäfte verbunden hatten. Und sein Teil zum Gelingen sollte ihn nicht als Knauser sehen lassen. So nahm er einen Partner ins Geschäft, der hierfür einen kräftigen Zuschuss einzubringen hatte. Und diesen reichte der Vater an den neuen Gatten und Schwiegersohn durch, damit es schnell möglich werden sollte, dass beide, Eidam und Tochter, sich nun als Familie in bester Lage und Sicherung empfinden konnten.
Doch zum großen Unglück aller war es dem Vater nicht gegeben, das Aufgehen seines Plans mit eigenem Aug´ zu sehen. Kurz nach der Vermählung, noch vor der Geburt seiner Enkelin, verfiel der alte Sonnenberg urplötzlich dem Wahn. In einem Irrsinnsanfall nahm er den Feuerhaken vom Kamin, zerschlug mit kräft´gen Hieben den Schädel seiner Gattin, und mit blutig Händen bestieg er sodann den Kirchturm, um sich von diesem in die Tiefe und zu Tode zu stürzen.
Entsetzen und Trauer grassierte in vielen Herzen. Der neue Partner im Rumhaus der Sonnenbergs aber heimste sich mit linkisch Advokatenhilfe flugs auch den and´ren Teil des Handels ein, und es war der einz´gen Erbin nur noch gegeben, ein kläglich Almosen zur Abfindung zu erhalten, denn des toten Vaters Kontrakt mit dem neuen Partner war für´s Gute nur verfasst, und schlechte Optionen fehlten in der Vorausschau gänzlich, was sich der vom Partner vorsorglich dazu gerufene Advokat galant zunutze machte, womit dieser gewisslich ein hübsches Honorar dafür kassierte.
Und der sonst doch so erhabene Franz-Joseph, ihr Göttergatte und ehrbarer Kaufmann im Hanseatischen, wurde glatt ängstlich und scheu dem frechen Tun dieser Gauner durch Führung eines vehementen Händels vor dem passenden Gericht entgegen zu treten. Wie sehr doch lamentierte er, und zeigte sich dann kampfbereit, um hiernach umzuschwenken. War mutig bei leerer Karaffe und zaghaft wie ein Kind am nächsten Morgen. Geschickt verstand es der Herr Advokat, dem Kaufmann Kohlhaase die Sendung zu vermitteln, dass es das gute Recht der Erbin sei, sich bei gegenteiliger Auffassung gegen unterzeichnete Dokumente dem Geiste des Kontraktes widersetzen zu wollen, es dafür nun einmal Gerichte und die Richter gab. Doch wär´s dann unvermeidlich, dass die Spektakularität des Verfahrens im Kreise der Kaufmannschaft, sicher auch über diesen hinaus, in die Münder und Köpfe der Interessierten geraten würde, und es somit dem Kaufmann Kohlhaase nicht zur Garantie geriete, dass Ruf und Ansehen ganz unbeschadet blieben. Denn was der Irre in seinem Wahn vollbracht hat, zeugte schließlich nicht von Ehrenwertigkeit und Solidität, auch wenn es eine derbe Krankheit war, die ihn zum Irren machte. Und wer würde jetzt nicht auch darauf wetten wollen, dass die Erbin, als leiblich Tochter, nicht ebenso erkranken kann, und auch das Enkelkindchen nicht bar solch schlimmer Bürde wär. So wär es, wenn ein Kunde vor der Wahl stünde, bei ähnlich Angebot den einen oder anderen Verkäufer zu wählen, dem Zahlenden nicht zu verdenken, der Ehre folgend doch nur verbindlich mit einem Partner dann zu kontraktieren, der frei von Tuschelei und Fingerzeig geblieben war.
Auch wenn die Boshaftigkeit, gewiss auch das Unverfrorene, das ganz ohne sittlichen Schleier in dem Advokatenwort steckte, von großer Impertinenz und mit ebensolcher Chuzpe einer Erpressung nahe kam, so war es Kohlhaase dann aber auch nicht uneinleuchtend, und er wog nun innerlich ganz halbschlächtig das Pro und Kontra ab. Ein Gerichtsstreit konnte lange dauern, und in jeder Sitzung säßen viele Ohren und Münder. Und am Ende dann auch Recht zu bekommen, war nicht gewisslich zu garantieren. Das angebotene Almosen war zwar mickrig, doch es sollte dann auch unter Zins und Zinseszins gerechnet werden. Und es war nicht ohne Sinn, das kluge Menschen vom Vorteil des Spatzen in Händen sprachen. Und forthin in Einheit mit solch Gaunern das Geschäft zu führen, war mitnichten noch Option. So geschah es dann auch, dass Katharina als geborene Sonnenberg für ein Almosen um ihr Erbe gebracht war, den warme Regen aus künft´gem Vermächtnis damit für immer ausbleiben sollt´. Zumindest war die Mitgift sicher eingestrichen, und so sollte er nicht mehr greinen, denn unterm Strich war die Bilanz für ihn nicht übel, auch wenn diese zuvor noch ein besseres Ergebnis versprach.
Katharina Kohlhaase war weder bemächtigt noch befähigt, den Schlamassel zu überblicken und ihrem Gatten vielleicht sogar Paroli zu bieten. Zudem kam die Trauer. Natürlich auch die Scham. Sie trug auch noch ein Kind unter dem Herzen und so war es dann auch nicht unverständlich, dass sie die Angelegenheit dem Gatten zur Entscheidung überließ, zudem dieser ihr ohnehin nicht viel Mitsprache zubilligen wollte. Doch im Nachgang, gesät ward dieser Gedanke bereits früh, gedachte sie so manches Mal das Handeln ihres Gatten dann als das eines Zögerlings und Hasenfußes, dem das Affrontieren lästig war. Und dass ihm der eigne Vorteil doch am nächsten lag, besonders wenn es andernfalls noch Mühsal versprach, er oft die kleineren Kirschen von den unteren Zweigen den prallen in der Baumeskrone vorzog, Beharrlichkeit und Strategie oft missen ließ, der Oberflächlichkeit von Vorteilen zu gern den Zuschlag gab, ließ sie, ganz insgeheim natürlich, zu einer nur noch bedingt vorteilhaften Referenz über ihn geraten.
Und schlussendlich hielt sie es deswegen wohl auch nicht für ausgeschlossen, dass sie mit dieser Wertung nicht alleine war, ihn kluge Geschäftemacher sicher ähnlich durchschaut hatten, es ihnen aber – ganz im Gegenteil zu ihr selbst – dann zum eigenen Vorteil gereichte.