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Kapitel 2

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In das Örtchen hinunter zu marschieren, was Leon problemlos gelungen. Der Weg zurück hingegen, hinauf die Wege bis zur „Villa Theissen“, war dann doch etwas beschwerlicher, als er es vermutet haben könnte. Zudem hatte sich die beschwingte Laune, die sich nach und nach mit jedem weiteren Glas noch weiterhin probierter Jahrgänge der „Liebeswölkchen“ bei ihm eingestellt hatte, nunmehr in seine Beine verschlagen. Er war zwar nicht betrunken, doch auch die besten Rieslinge vermögen ihren Konsumenten in die Glieder zu fahren und den unbeschwerten Gang zumindest ein wenig einzuschränken. Und bei einem, wenn auch nicht allzu fordernden Anstieg hinauf zum Plateau, kam sicher nicht nur ihm die Einsicht, die nächste Probierstunde entweder mit weniger gefüllten Gläsern zu absolvieren, oder eben die Anzahl der Jahrgänge vorausschauend zu minimieren.

Doch die Mühsal des Rückweges wurde Leon dadurch versüßt, da er mit einem durchaus angenehmen Empfinden, welches vor allem der Bekanntschaft mit Isabella geschuldet zu sein schien, vor sich hin stampfte. War diese junge Frau nicht nur apart, im Alter zu ihm sogar passend, es waren vor allem ihre Fröhlichkeit, die Unbeschwertheit, eine Unbekümmertheit, die sie umstrahlte, wie eine Corona die heilige Madonna. Selbst die Tatsache, so wie sie es Leon erzählte, dass das über Generationen in der Familie befindliche Weingut vor einigen Jahren fast gänzlich verloren gegangen war, sie als Letzte der Familie nun nur noch einige wenige Rebstöcke ihr Eigen nennen konnte und sich mit der Lese, dem Keltern und Verkauf eines eigentlich winzigen Volumens so gerade noch über Wasser halten konnte, nahm sie ihre Situation mit einer sonnigen Selbstverständlichkeit, die so positiv ausstrahlte, dass es Leon mehr als imponierte.

Und natürlich hatte er sich vorgenommen, Isabella in ihrem Lädchen sobald es ging wieder zu besuchen. Das hatte er ihr sodann auch versprochen, jedoch mit eine vorsichtigen Betonung auf den Umstand, dass ihr kleiner Verkaufsladen, das puppenhafte Häuschen, das eigentlich ja nur ein halbes war, so angenehm abseits der Touristenrouten lag, auch die Sonne dort recht günstig einzufallen schien, und ihm natürlich der Wein ganz exzellent mundete. Und als sie ihm daraufhin ein besonders warmes Lächeln schenkte, da wurde Leon tatsächlich etwas rot im Gesicht, und er war sich auf einmal unsicher, ob er vielleicht nicht ein wenig zu offensichtlich sein Wohlbefinden bekundet haben würde.

Als er die Villa erreichte und durch den Vorgarten zum Eingang kam, vernahm er Frau Theissen in ihrer Küche handwerkeln. Das Abendessen wäre demnach wohl auch in Kürze bereit, und so ging Leon schnell in sein kleines Appartement, um sich frisch zu machen und auch das Hemd zu wechseln. Kurz darauf nahm er bereits wieder die Stufen nach unten, schlenderte durch die immer noch leere Lobby in den großen Raum, den Frau Theissen mit einer leicht bebenden Feierlichkeit in ihrer Stimme als „Speisesaal“ bezeichnet hatte.

Er war der erste Gast, der den Raum betrat. Der Tisch – vielmehr hätte diesem jedoch der Begriff `Tafel´ zugestanden - war gedeckt, die Gardinen zur zweiflügeligen Terrassentüre aufgezogen, und die gerade hinter den Weinbergen versinkende Sonne warf ihr letztes Licht in den Raum, welches diesen in einen warmen roten Ton tauchte, in dessen Lichtstrahlen ein paar schwebende Staubkörner zu entdecken waren. Die Decke des Raumes war mit einer alten Täfelung aus Eichenkassetten verziert, die dem Ganzen ein tatsächlich fürstlich wirkendes Ambiente verlieh. Inmitten des prächtigen Zimmers hing ein Leuchter aus Kristall, nicht allzu pompös, gerade der Größe des Raumes angemessen, ohne dabei aber zu bescheiden zu wirken. Die Tafel, die, wie es Leon nun abzählen konnte, für sechs Personen gedeckt war, war mit einem brokatenen Tischläufer belegt, in der Mitte erhob sich ein schwerer Kerzenleuchter, der gewiss aus massiven Silber gefertigt war. Das Porzellan war elfenbeinfarben, kunstvoll mit einem leichten Blumendekor verziert, an den Rändern mit einem Goldkranz veredelt. Das akkurat beigelegt Besteck musste sicher einhundertfünfzig Jahre alt sein, ebenfalls aus Silber, und jedes Teil mit einem Monogramm graviert. Wein- und Wassergläser, beide mit einer leichten Rauchfärbung, waren aus Bleikristall und das ganze Arrangement hätte ebenso gut in das Landgut eines Edelmannes gepasst, so gediegen und wertig sah alles aus.

In einer Ecke stand eine glänzende Mahagoni-Kommode, deren Schellackversiegelung das letzte Sonnenlicht zu spiegeln vermochte. Auf dieser thronte ein altes Grammophon, dessen metallener Schalltrichter in den Raum gerichtet war, und Leon hätte sich jetzt nicht gewundert, wenn blecherne Musik aus den goldenen Zwanzigern, ein Charleston zum Beispiel, jetzt ertönen würde.

Daneben lag der Kamin, dessen Umrahmung in grauem und geschliffenen Felsstein gefasst war, ganz wie es in dieser Region wohl in besseren Häusern üblich war. Darüber hing ein großes Ölgemälde, auf dem ein bunter Fliederstrauß in Spachtelarbeit abgebildet war, mit weißen und lila Blüten, in einer Vase, die Leon der Epoche des Art-Deko zuordnen konnte.

Und nun sah er auch die beiden schweren Ohrensessel, zwischen denen ein Tischchen platziert war, auf dem eine kleine hübsche mit Intarsien verzierte Holzkiste stand. Er vermutete sogleich, dass hierin wohlmöglich einmal Zigarren gelagert waren, die sich der Herr des Hauses mit seinem Besuch nach dem Essen anzuzünden pflegte.

Seine Blicke wanderten noch einmal im Raum herum. Fast ein wenig Ehrfurcht erfasste Leon dabei, und ein wohliges, dann aber zugleich auch wieder unbehagliches Empfinden ergriff seine Magengrube mit einem Mal.

„Gefällt Ihnen unser Speisesaal nicht?“ Frau Theissen hatte unbemerkt den Raum betreten und stand nun im knappen Abstand hinter Leon.

„Oh, doch!“ rief dieser unmittelbar. „Ganz und gar ein wunderbares Zimmer!“ bekundete er aufrichtig. „Es ist nur …“

„… ein wenig Respekt einflößend, nicht wahr?“ ergänzte Frau Theissen wissend.

Leon zögerte. Doch ja, sie hatte damit wohl Recht. Irgendwie nahm man sich respektvoll zusammen, der Raum wirkte mit einer Erhabenheit, die sich seinen Besucher ein wenig klein fühlen ließ.

Frau Theissen lächelte nun wieder. Sie nahm ihren neuen Gast kurzerhand am Arm und führte ihn zu dem für ihn vorgesehenen Platz an der Tafel. „Bitte, lieber Herr Renatus, ist Ihnen dieser Platz angenehm?“

„Absolut, Frau Theissen.“ Leon hatte zudem ohnehin keine Chance auf Widerspruch. „Ein wunderbarer Platz, vielen Dank!“ Und mit einer kleinen Verzögerung fügte er hinzu: „Offensichtlich haben Sie heute eine voll besetzte Tafel.“

Frau Theissen war bereits schon wieder auf dem Weg in ihre Küche. Doch beim Herausgehen antwortete sie Leon noch kurz: „Ja, ist das nicht wunderbar?“

Als Leon sich an den Tisch setzte, fühlte er sich recht alleine und verlassen. Da saß er nun, in einem prächtigen Raum, vor all diesen herrlichen Sachen aus längst vergangener Zeit. Hier waren sie aber noch fast lebendig, hier war die Zeit für sie stehen geblieben, hier konnten sie ihre ganze Würde und Eleganz noch ungeachtet moderner Vorlieben zeigen.

„Guten Abend der Herr!“ Leon wurde mit diesem Gruß aus seinen Gedanken gerissen und er erhob sich unwillkürlich von seinem Platz. Ein alter Herr, Leon schätzte ihn sofort auf Anfang Siebzig, hatte den Raum betreten und stand nun neben dem neuen Mitbewohner. „Mein Name ist Schilling.“ Er reichte Leon die Hand. „Marius Schilling.“ ergänzte der Herr. „Langzeitbewohner dieser schönen Villa und bekennender Nutznießer der fulminanten Hospitalität der Eignerin, der von mir überaus verehrten Frau Theissen.“

Leon schüttelte sichtlich beeindruckt die Hand seines Gegenübers. „Leon Renatus.“ retournierte er höflich. „Seit gestern Abend neuer Dauermieter und somit wohl Ihr Nachbar.“ Er schaute dem alten Herrn nun freundlich aber durchaus fest ins Gesicht. „Dann irre ich mich wohl nicht, wenn ich davon ausgehe, dass Sie der werte Herr `Professor´ sind, von dem Frau Theissen in so vorzüglicher Weise mir gegenüber bereits geschwärmt hat?“

Ein Lächeln kam über sein Gesicht. „Es ist wohl an dem, dass die liebe Frau Theissen mitunter einmal zur Übertreibung neigt. In meinem Falle, so gut es auch immer von ihr gemeint sein mag, so sehr es mir auch zur Ehre geneigen sollte, ist ein überschwängliches Lob weder angebracht noch in meinem Sinne.“ Nun erwiderte der Alte den Blick seines jüngeren Gegenübers in ebensolcher Festigkeit. „Es wäre mir demnach das Liebste, junger Mann, wenn Sie meine Habitulation einfach außer Acht ließen und mich mit meinem Namen ansprechen, der recht einfach und sich somit auch leicht merken lässt. Wie gesagt: Schilling. Marius Schilling. Das sollte zwischen uns genügen.“

Daraufhin setzte sich der Ältere an den Tisch, an den Platz direkt gegenüber von Leon, der höflich abwartete, bis Herr Schilling, der Professor, sich den Stuhl zurecht geschoben hatte, um sodann selbst wieder Platz zu nehmen.

„Wie ich vernommen habe, wurden Sie durch Vogelgesang geweckt. Von Sperlingen und wohlmöglich auch Finken? Dann waren es ja vielleicht Letztere, die Ihnen rieten, Ihren ersten Tag in diesem Städtchen mit dessen Erkundung zu verbringen. Und ich hoffe doch sehr, dass Ihnen das Erlebte einen positiven Ersteindruck vermitteln konnte, Sie sich Ihres Zugegenseins nicht gleich schämten, schlimmer noch, sich gar grämten.“

„Es war ein wirklich schöner Tag.“ antwortete Leon schnell. Und er meinte es ja sogar ernst. „Wenngleich es mir die vielen Touristen nicht unbedingt angetan haben, man diesen ja nur sehr schwer aus dem Weg gehen kann, so war doch meine Exkursion in die Gässchen und Lädchen am Rande der Routen von erhellenden Entdeckungen geprägt, über die sich ein Jemand wie ich, dann doch recht freuen kann.“

Seine freundliche Antwort täuschte aber über etwas hinweg, das Leon selbst zwar nicht in ganzer Tiefe so empfand, es ihm dennoch ansatzweise im Gemüt saß. Die Art und Weise zu fragen, der Sprachgebrauch, auch die spürbare Neugier, welche sicher nicht ausgeprägt daher kam, dennoch unterschwellig mitschwang, war irgendwie nicht nach seinem Geschmack. Dazu fühlte er sich, obwohl auch hierzu kein evidenter Ansatz bestand, beobachtet und auf dem Prüfstand sitzend.

Herr Schilling strich sich nachdenklich mit einer Hand durch sein längeres graues Haar, welches er offensichtlich gern nach hinten gebürstet trug, es auf diese Weise vermochte, den Ausdruck eines gelehrten Mannes zu unterstreichen. Seine blauen Augen zeugten von großer Leidenschaft und blitzten fast neckisch unter den dicken und ebenfalls ergrauten Brauen hervor. Seine runde, in Silber gefasste Brille sorgte für die Komplettierung des Eindruckes, dass der nun vor einem Sitzende gewiss jemand sein würde, dessen Studien und die Wissenschaft ihn zum Gelehrten gemacht haben werden. Er war mit einer braunen, leicht ausgebeulten Cordhose, einem sauberen Hemd, über dem er eine wollene Weste trug, die sorgsam von unten bis oben zugeknöpft war, bekleidet, und Leon fielen die Manschettenknöpfe auf, die Herr Schilling sich angelegt hatte. Es waren zwei Geschmeide, die jeweils einen großen geschliffenen Rubin inmitten schweren Goldes aufwiesen.

Der Alte schmunzelte. „Ja, mein lieber Junge, es wird Ihnen gewiss nicht an schönen Impressionen mangeln. Und ich meine dabei nicht nur die herrlichen Weinberge, den so wunderbaren Fluss, auch nicht die Architektur oder die vorzüglichen Weine, die wir hier kredenzt bekommen.“ Er blickte mit einer liebevollen Listigkeit auf sein Gegenüber. „Und nicht alles, was zu uns zu stören geeignet erscheint, ist gleichsam zu umgehen. Mitunter ist es erst die Konfrontation, die Klarheit schafft, und das Ausweichen eine solche nur ungesund verzögert.“

Der Alte machte eine nachdenkliche Pause, nicht aber ohne sein Gegenüber aus dem Blick zu nehmen. „Natürlich ist man geneigt, sich von Unbequemen frei zu halten, lieber den reizvollen Augenfälligkeiten zu widmen. Besonders geeignet erscheint dabei die Anmut und Schönheit der hiesigen Damenwelt, und wachen Auges kommt man nicht umhin, diese recht schnell auch zu bemerken. Wie ich vernommen habe, ist Ihnen das ja bereits schon gleich am ersten Tag trefflich gelungen.“

Leon war sichtlich beeindruckt, und der Anflug seines vorangegangenen Eindrucks verstärkte sich soeben. Wie in Gottes Namen war es seinem Nachbarn zur Kenntnis gelangt, dass er Isabella in ihrem Lädchen kennengelernt hat? Zudem ging es diesen alten Herrn doch auch wirklich nichts an. Aber nun Ausflüchte zu suchen, etwa leugnen oder beschwichtigen zu wollen, schien ihm nicht nutzbringend. Dazu war die Lage zu klar: Herr Schilling, der Professor, schien Fakten zu kennen, warum und wieso auch immer.

Das Schweigen von Leon bemerkte sein Gegenüber sogleich. Und er lachte seinen jungen Nachbarn fröhlich an: „Touchez?!“ Und nach einer minimalen rhetorischen Pause fügte er hinzu: „Nun machen sie sich mal nichts daraus, lieber Herr Renatus. Erkennen Sie lediglich, wie klein und überschaubar dieses Städtchen sich darstellt. Geheimnisse haben hier nur eine sehr kurze Halbwertszeit. Und jeder, der einen kleinen Stadtbummel nach einem guten Mittagsmahl von Frau Theissen zur Förderung seiner Verdauung unternimmt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch einen Blick in die weniger belebten Gassen wagen. Und als ich dieses heute tat, sah ich einen jungen Herrn, beim Genuss eines sicher vorzüglichen Rieslings, in freundschaftlicher Geste mit einer jungen Dame, die ihm ganz unübersehbar die Röte ins Gesicht steigen ließ. Und Chapeau, junger Freund! Guten Geschmack kann man nicht lernen, er liegt einem im Blut.“

Leon hatte erneut einen roten Kopf bekommen, diesmal jedoch war es allein die Scham, denn er fühlte sich ertappt und das vollkommen zu Unrecht. So überlegte er fast schon ein wenig krampfhaft, wie er nun zu antworten hätte, um den völlig falschen Eindruck zu korrigieren. Doch sollte er gar nicht mehr dazu kommen, denn mit einem Mal waren weitere Menschen getreten, die restlichen Gäste, für die die Tafel schließlich ja auch gedeckt war. Und so war es jetzt viel eher angebracht, dass sie sich gegenseitig alle vorstellten, soweit es zumindest Leon anging, denn er war der Einzige, der neu in der Runde zugegen war.

Da war zunächst Johann Richter, ein reisender Vertreter eines großen Weinhandels, dessen hervorstechendsten Merkmale zunächst sein ungeheuer dicker Bauch, sodann seine glänzende Glatze waren. Untersetzt, die Hosen ein wenig zu kurz, hing sein Bauch ein gutes Stück über den Hosengürtel und folgte damit ganz unübersehbar den Kräften der Gravitation. Er war um die sechzig Jahre alt, sein Blick listig und seine Nasenspitze zeigte eine Rötung, die mit großer Sicherheit nicht auf die junge Maisonne zurück zu führen war. Einher ging mit der gegenseitigen Vorstellung für ihn als Verkaufsgetriebener das obligatorische Überreichen seiner Visitenkarte. Man konnte schließlich nie wissen, ob das Gegenüber nicht irgendwann einmal ein lukrativer Kunde werden könnte. ´Weinhaus und Großhandel Eduard Knittlich´ war auf dem Kärtchen mit goldener Prägung zu lesen, darunter der Hinweis `150 Jahre Tradition und Expertise´. Johann Richter war nach eigenem Bekunden nun für einige Tage vor Ort, um Geschäften nachzugehen.

Der zweite Herr, dessen hagere Statue, gepaart mit einer ungewöhnlichen Größe, so ausgeprägt war, dass zu vermuten stand, seine Anzüge wären nur durch Maßarbeit zu erstehen, jeder der üblichen Herrenausstatter an ihm ein berufliches Waterloo erfahren müsste, hieß Hermann Göhring. Diesem Umstand war es denn wohl auch geschuldet, dass er bei seiner Vorstellung unmittelbar folgen ließ: „… mit `H´, Göhring mit `H´, bitte sehr.“ Und Leon schoss es sofort durch den Kopf, ihn sogleich fragen zu wollen, ob er es denn schon einmal überlegt haben würde, sich amtlich umtaufen zu lassen, denn es müsste schon eine Last bedeuten, mit diesem Namen durchs Leben zu laufen. Er verkniff es sich jedoch, und so vernahm er von Herrn Göhring, dass dieser für einige Tage in der Gegend sei, um Fledermäuse zu beobachten. In den schroffen Schieferfelsen der Region würden verschiedene und zudem auch seltene Populationen dieser Spezies leben, die er als Hobbyforscher und Privatgelehrter gerne beobachten wollte.

Der dritte Gast war eine Dame, zudem von adligem Geschlecht. Sie bestand ganz offensichtlich auf die Anrede `Fräulein´, was angesichts ihres fortgeschrittenen Alters von etwa fünfundsechzig Jahren ein wenig grotesk anheimelte. Mächthild Freifrau von Remberg war ihr Name, wie gesagt, mit einem vorangestellt und deutlich betontem ´Fräulein´. Der Grund für ihr Zugegensein war ein Kindheitswunsch, wie sie es nannte. Sie buchte nun täglich verschiedentliche Schiffstouren mit der weißen Flotte, flussauf- und flussabwärts, mehrfach hin und her, mit immer neuen Ausstiegsstationen in den vielen kleinen Weinorten entlang des großen Flusses. Was in ihrer Kindheit schief gelaufen war, damit ein solches Unterfangen in die Traumwelt eines Kindes geraten konnte, behielt sie jedoch für sich, und niemand wird es wohl jemals ergründen. Die Frage nach einer Begleitung erübrigte sich bei ihr, und ohnehin erschien sie eher wortkarg und wenig kommunikativ. Sie saß vielmehr mit gefalteten Händen am Tisch und es wäre wohl niemand verwundert gewesen, wenn sie ein Gebet gesprochen hätte.

Der noch freie Platz war natürlich für Frau Theissen selbst. Denn es war für sie eine Selbstverständlichkeit, die Produkte ihrer Kochkunst nicht nur selbst zu verzehren, sondern vor allem mit ihren Gästen gemeinsam zu dinieren. In der Rolle des servierenden Personals sah sie sich mitnichten. Als Dame des Hauses dagegen ganz sicher. Und dass es zu dieser Zeit, sowie schon längerer Zeit davor, keine Köchin und auch keinen Hausdiener mehr gab, hatte ihr Selbstverständnis in keiner Weise beeinträchtigt. Die Zeiten haben sich geändert. Das war aber auch alles.

Das also waren nun die aktuellen Gäste und Mitbewohner von Leon. Neben der Dame des Hauses ein Professor, dessen fakultative Zuordnung Leon derzeit noch im Verborgenen lag, einem schnapsnasigen Reisenden in Sachen Wein, einem Fledermausforscher und einer alten Adelsjungfer mit wohlmöglich traumatisierter Kindheit. Erwartungen an ein lebendiges Abendprogramm konnte er somit wohl begraben, und selbst, als Frau Theissen einen ungemein süffigen Riesling offerierte, vermochte Leon nicht umhin zu kommen, sich insgeheim ein wenig zu ärgern, dass er Isabella nicht einfach gefragt haben würde, ob sie an diesem Abend doch mit ihm zum Essen gehen würde.

Am anderen Ende der Sehnsucht

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