Читать книгу Politisch motivierte Kriminalität und Radikalisierung - Stefan Goertz - Страница 44
2.1.1 Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus (Jihadismus) als religiös-politische Ideologie
ОглавлениеJede Religion, damit auch der Islam, kann durch die folgenden fünf Funktionen Einfluss auf das Individuum, eine Gruppe und ganze Gesellschaften ausüben: Sie (1) wirkt identitätsbildend, (2) sie ist ein Glaubenssystem, das das Verhalten von Individuen und Gruppen beeinflusst, (3) sie produziert Doktrinen, allumfassende Sichtweisen und Regeln, (4) sie produziert Legitimität und (5) sie institutionalisiert sich.[1] Aus anthropologisch-kulturtheoretischer Perspektive kann argumentiert werden, dass religiöse Deutungsmuster, verstanden als kulturelle Vorgabe für das Verständnis der Legitimität von Gewalt, besonders dazu geeignet sind, Gewaltbereitschaft hervorzurufen bzw. zu steigern.[2]
Religionen können, sozialwissenschaftlich erklärt, Gewalt hervorrufen bzw. bestärken, weil sie die Fähigkeit besitzen, bei ihren Anhängern äußerste Verpflichtung zu erzeugen, indem sie eine spirituell-religiöse Sprache und Geschichte kreieren, die Gewalt einem höheren Zwecke dienlich erscheinen lässt, weil sie Gewalt in Form von religiösen Riten und Opfern kontrollieren, wodurch eine Art von Gewaltkontrolle entsteht, das dem Gewaltmonopol moderner Staaten ähnelt. Darüber hinaus können Religionen in besonderen psychologischen und gesellschaftlichen Krisen sowie in Kriegen im Rückgriff auf die (gewaltsame, kriegerische) Entstehungsgeschichte der eigenen Religion Gewalt als Impuls wecken.[3]
Religiöser Fundamentalismus erschafft zum einen Strategien zur Bewahrung einer Gruppenidentität durch die Betonung selektiver Dogmen, Glaubenssätze, Normen und Praktiken zur Abgrenzung nach außen. Darüber hinaus strebt religiöser Fundamentalismus zum anderen eine religiöse, spirituelle, gesellschaftliche Erneuerung an und ist dadurch innovativ. Indem religiöser Fundamentalismus seinen Anhängern absolute und exklusive Dichotomien und Wahrheiten präsentiert, erschafft er eine ontologische, psychische Sicherheit für seine Anhänger.[4]
Durch ihren weltlichen, politischen Ordnungs- und Deutungsanspruch entwickeln Religionen das Potenzial, aus einem (weltlichen, politischen) Chaos eine Ordnung nach den Prinzipien der eigenen Religion zu schaffen. Dieser Prozess wird als ein „kosmischer Kampf“ beschrieben, an dessen Ende die Ordnung über das Chaos siegt. „Kosmischer Kampf“ daher, weil im Mittelpunkt des Kampfes der metaphysische Konflikt zwischen Gut und Böse, „Wir gegen die Anderen“, steht. Aus diesem Konflikt heraus entwickeln Religionen eine religiöse, moralische Legitimierung für Gewalt. Fundamentalismus, bzw. im Fall von Islamismus, Salafismus und Jihadismus auch Literalismus und (salafistischer) Neofundamentalismus, ist ein wesentlicher Faktor für die militante Ideologie und Theologie des Jihadismus.[5]