Читать книгу Im Netz der Gedanken - Stefan Heidenreich - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеUnser Weg führte uns von der alten City am Kurfürstendamm in die neue Geschäftswelt am Potsdamer Platz. Viele große Unternehmen hatten diesen Platz nach der politischen Wende und dem Zerfall der ehemaligen DDR als neuen Standort auserwählt. Für viele Verkehrsteilnehmer diente er jahrelang als Wegweiser durch die Stadt, weil seine Kräne, die sich scheinbar in den Himmel bohrten, schon von Weitem erkennbar waren. Nachts wurden sie in den verschiedensten Farben ausgeleuchtet, um zu zeigen, dass hier etwas ganz Besonderes entsteht. Gleichermaßen stellte der gesamte Platz durch sein sich immer änderndes Aussehen ein Verkehrsproblem dar, dessen Straßenführung sich in dieser Zeit fast täglich veränderte.
Inzwischen sind die Bauarbeiten abgeschlossen, und das Ergebnis kann sich wirklich sehen lassen. Die Geschäfte, die sich hier etablierten, laden zum Bummeln ein, und selbst Deutschlands größter Musicalveranstalter ließ es sich nicht nehmen hier eines der modernsten Theater Europas aus dem Boden zu stampfen. Ich kannte diesen Teil Berlins schon einigermaßen, weil der Konzern dort seine Büros hat, und ich mindestens einmal im Monat hier war, um Prospektmaterialien abzuholen.
Natürlich hätte es auch die Möglichkeit gegeben, die Unterlagen auf dem Postweg zu erhalten, aber ich mochte das Flair der Kantine im Glaspalast des Konzerns, genauso wie die Fahrt mit dem gläsernen Fahrstuhl bis in die 24. Etage, von wo aus die Telefonistin mit der lieblichen Stimme vor meinen Augen mitsamt ihrem Empfangstresen in einem ungeheuren Tempo zu schrumpfen schien.
Oftmals traf man auch den einen oder anderen Geschäftsfreund, mit dem man sich bei einem Mittagessen austauschen konnte.
Allerdings fuhren wir diesmal nicht in das Parkhaus des Konzerns, sondern in ein anderes, welches ziemlich uNscheinbar hinter den Arkaden lag. (Für alle, die sich nicht in Berlin auskennen, sei angemerkt, dass der Name Arkaden in diesem Fall für eine in sich abgeschlossene mehrgeschossige, überdachte Einkaufspromenade steht, die zum Bummeln einladen soll.) Das Parkhaus, in dem wir uns an diesem Tag befanden, war viel kleiner und unscheinbarer als das, was ich kannte.
Das Parkhaus der Firma war auf jeder Etage hell erleuchtet, und man schien jede Möglichkeit zu nutzen, auf die Großartigkeit der Firma und ihrer Produkte hinzuweisen. Ich weiß noch, wie mich Klaus, anlässlich meines ersten Besuchs in der Zentrale, auf die unzähligen Werbetafeln und Leuchtkästen hinwies, die überall hingen und einem das Gefühl vermittelten, dass es auf der ganzen Welt nichts Wichtigeres als den Konzern gäbe.
Er sagte mir, dass ihn diese Plakate immer an die Werbetafeln der nächsten Bundestagswahlen erinnern, und er schon oft mit dem Gedanken spielte dieser freundlich lächelnden Dame, welche auf der ersten Ebene neben der Ampelanlage dargestellt war, ein kleines Bärtchen anzumalen. (Ja, Klaus war schon ein wahrer Revoluzzer.) Allerdings hinderten ihn die Überwachungskameras daran, diesen teuflischen Plan in die Tat umzusetzen. Und es wäre auch nicht Klaus seine Art gewesen. Er war immer jemand, der entweder seine Meinung direkt sagte oder dezent schwieg.
Aber wie gesagt, das war nicht das Parkhaus, in dem ich mich nun befand. Dieses hier hatte einen ganz anderen Charakter. Es war erheblich dunkler und privater. Und doch schien Birnbaum es dem anderen vorzuziehen. Er steuerte seinen Wagen auf einen Platz neben einer Tür, mit der Aufschrift >Privat Betreten verboten<, durch die wir zu einem Fahrstuhl gelangten, der in Form und Größe auch wesentlich einfacher war als die gläserne Kanonenkugel, mit der ich normalerweise meine Reise über die Dächer Berlins antrat.
Irgendwie war ich ein bisschen enttäuscht, mich am Potsdamer Platz zu befinden, ohne das immer kleiner werdende Dekolleté von Frau Wieland beobachten zu dürfen. (Nur wer dieses Schauspiel einmal miterlebte, kann es wirklich nachvollziehen)
Ein Blick auf die Schalttafel verriet mir, dass das Gebäude, in dem wir uns befanden, 20 Stockwerke hoch war, und ich dachte mir, dass Birnbaum eine der 21 Tasten drücken würde. Aber stattdessen zog er sein Handy aus der Tasche und drückte dort einen Zahlencode ein, der den Fahrstuhl veranlasste seine Arbeit aufzunehmen.
Beinah hätte ich den Halt unter den Füßen verloren, als ich merkte, dass unsere Fahrt abwärts statt aufwärtsging. Wenn man in einem Fahrstuhl steht, dann richtet man instinktiv seinen Körper auf die bevorstehende Fahrt ein. Man weiß genau, in welche Richtung man seinen Körper verlagern muss.
Erst jetzt erkannte ich, was Birnbaum mir vorhin zu erklären versuchte. Diese Menschen findet man weder auf Werbetafeln noch im Internet. Na klar. Wer stellt schon eine Werbetafel in den Keller? Aber wer war dieser Birnbaum? Und mit was für abscheulichen Menschen hatte er zu tun, die sich in irgend-einem dunklen Keller verstecken müssen?
Dunkel?
Glaubte ich wirklich dunkel?
Nachdem sich die Tür wieder öffnete, stellte ich fest, dass es sich um alles andere als um dunkle Kellerräume handelte. Wer sich schon einmal im Fernsehen die Serie ‚Stargate‘ angesehen hat, der würde das, was sich mir hier bot, für den großen Bruder halten.
Wir befanden uns auf einem Gang, der über seiner Brüstung völlig verglast war. Unterhalb dieser Brüstung gab es eine Art Blende, hinter der eine indirekte Beleuchtung den Teppichboden, auf dem wir standen, aufhellte. Hinter der Glasfront, die eine der Seitenwände bildete, befand sich ein Saal, der sich etwas unterhalb unseres Standortes befand und von Form und Größe an einen Tennisplatz mitsamt den dazugehörigen Auslaufzonen erinnerte. Von der Decke hingen an langen Ketten Leuchtstoffröhren herab. Alle säuberlich zueinander ausgerichtet. Ich zählte insgesamt zwölf Reihen dieser Leuchtkörper, die alle mit zwei Röhren bestückt waren. Durch ihre Anordnung entstanden Lichtkegel, sodass sie über jede der darunterstehenden Tischreihen ein Dach aus Licht bildeten. An der uns gegenüberliegenden Stirnseite des Raumes erhob sich eine Leinwand, die offenbar zu dem unter der Decke montierten Videoprojektor gehörte.
Die Anzahl an Monitoren und Computern, auf die wir herabschauen konnten, erinnerten mich an meinen Besuch im Kennedy Space-Center vor drei Jahren. Nur dass hier die Leute fehlten, die lautstark ‚Go! Go! Go!‘ riefen, um ein Spaceshuttle in der Startphase anzufeuern.
Für solche Gefühlsausbrüche waren alle viel zu sehr in ihre Arbeit vertieft. Ich hörte mich leise zu mir selbst sagen:
„Houston wir haben ein Problem.“
Birnbaum sah mir meine Verwunderung sofort an und quittierte meine verwirrten Blicke mit einem schelmischen Grinsen.
„So da sind wir nun. Diese Räumlichkeiten wurden von einer mir befreundeten Baufirma entdeckt, als die Projektierung des Platzes nur aus ein paar Bleistiftzeichnungen bestand. Niemand weiß genau, wann und wofür dies hier geschaffen wurde. Und offensichtlich weiß auch niemand mehr, dass dieser Ort überhaupt existiert. Wir haben es lediglich etwas erweitert und unseren Bedürfnissen angepasst, wobei das größte Problem damals die Trockenlegung der Anlage war. Das alte Gemäuer hier unten ist nach all den Jahren leider nicht mehr ganz dicht. Auch heute noch laufen die Pumpen rund um die Uhr, damit wir nicht absaufen. Aber machen Sie sich keine Gedanken deswegen. Wir sind hier auf dem modernsten Stand der Technik. Alle lebenserhaltenden Maßnahmen sind hoch technisiert und computergesteuert.“
Dass in diesem Hightechtempel alles computergesteuert war, das hätte er nicht extra erwähnen müssen, denn dies war selbst für mich nicht zu übersehen.
„Wenn Sie sich das Ganze ansehen wollen, dann haben wir dafür bestimmt später noch die Gelegenheit dazu. Aber jetzt gehen wir erst einmal zu unseren Gastgebern, die schon darauf brennen sie kennenzulernen.“
Dann ging er einfach in eine Richtung los und forderte mich auf ihm zu folgen. Ich griff ihm mit einer Hand auf die Schulter, drehte ihn mit einem Ruck zu mir um und sah ihm fest in die Augen.
„Was ist das hier? Habt Ihr vor euer eigenes Raumfahrtprogramm hier zu betreiben? Ist das eine militärische Einrichtung? Sie wollen mir doch nicht immer noch weismachen, dass dies eine Philosophierstube ist. Also, raus mit der Sprache.“
Trotz dieses Überraschungsangriffs erlangte er unglaublich schnell seine Fassung zurück. Er schaute kurz in eine der unzähligen Überwachungskameras und seine Mimik und Gestik verriet mir, dass er gerade irgendjemand zur Ruhe mahnte. Anscheinend musste er der Person am anderen Ende der Übertragungsleitung mitteilen, dass er die Situation im Griff hat und keine Hilfe benötigt.
„Wenn Sie antworten wollen, dann müssen Sie mir schon folgen. Ich versichere Ihnen, dass weder das Militär noch die NASA oder irgendeine andere Organisation dieser Art hiermit etwas zu tun hat.“
Abermals wandte er sich von mir ab und lief einfach los. Und diesmal folgte ich ihm.
Erst jetzt fiel mir auf, dass niemand der Männer und Frauen, die hier vor den Monitoren saßen, sich für diese kleine Szene, die ich ihnen bot, interessierte. Alle arbeiteten so konzentriert, dass sie anscheinend nicht einmal unsere Anwesenheit bemerkten.
Wie würden die wohl reagieren, wenn ich Birnbaum auf den Händen folgte? Oder wenn ich mit einer Partygesellschaft hier eine Polonaise veranstaltete und laut singend zwischen ihnen hindurch tanzte? Was musste man tun, um diese Leute aus der Ruhe zu bringen?
Der Einzige, der uns anscheinend wahrnahm, das war ein Mann, der hastig an uns vorbeilief und hinter einer Stellwand gleich neben der großen Projektionsleinwand unten im Saal verschwand. Ich kannte sowohl diesen Blick wie auch diese Gangart nur zu gut. Genauso sah auch ich jedes Mal aus, wenn ich mich aus irgendeiner Veranstaltung heimlich verdrückte, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen.
Schön dachte ich so bei mir. Wenigstens ein menschliches Wesen scheint es hier noch zu geben.
Birnbaum lief in der Annahme, dass ich ihm folgte, weiter und ich tat es ihm gleich. Gerade hatte ich diesen Lungenpieper aus den Augen verloren, da steuerte Birnbaum bereits auf eine Tür mit der Aufschrift >kleiner Konferenzraum< zu.
Noch bevor wir sie erreichten, um sie zu öffnen oder wenigstens anzuklopfen, wurde dies mit einem kleinen Summen scheinbar von innen erledigt.
Mir war sofort klar, dass unser Weg vom Fahrstuhl bis zu diesem Raum von jemandem Schritt für Schritt verfolgt worden war, der uns nun auf diese Art Einlass gewährte.
„Also, doch so eine Stargategeschichte.“ murmelte ich vor mich hin. Allerdings in einem schien Birnbaum Recht zu haben. Niemand der fünf anwesenden Personen machte auf mich einen militärischen Eindruck.
Beim Betrachten des ovalen Konferenztisches in der Mitte des Raumes hätte ich beinahe salutiert und ein lautstarkes ‚Guten Morgen Mr. Präsident‘ in den Raum gerufen. Schließlich sah der Mann am anderen Ende des Raumes tatsächlich so aus, wie der Präsident der Vereinigten Staaten im Allgemeinen gerne dargestellt wird.
Ordentliche dunkelblaue Bundfaltenhose, Polohemd und darüber eine Strickjacke, die anscheinend nicht aus demselben Geschäft stammte, in dem ich meine Kleidung normalerweise kaufe. Alle hier im Raum waren locker und leger gekleidet. Das heißt, alle außer Birnbaum und meiner Wenigkeit.
Birnbaum trug seinen maßgeschneiderten Manageranzug, so wie es sich für einen Mann in seiner beruflichen Position gehört. Und ich trug meinen guten blauen Anzug, von dessen Anschaffungskosten Klaus ungefähr drei bis vier Malzeiten bestritten hätte.
Der Raum maß laut der vorhandenen Deckenplatten ca. sechs mal fünf Meter, war aber mit Ausnahme von Tisch und Stühlen gänzlich unmöbliert. Die Wände waren glatt und in einem grünen Pastellton gestrichen und das warme Licht, welches den Raum erhellte, schien dezent unter einer Blende knapp unterhalb der Decke hervor, die alle vier Wände nach oben abgrenzte.
Außer dem kleinen im Tisch eingelassenen Monitor, der anscheinend unser Kommen ankündigte, und dem Taster für die Tür zierte nicht ein einziges weiteres Utensil den Raum. (Wenn die wussten, dass ich komme, dann hätten sie wenigstens an einen Aschenbecher denken können.)
Der ‚Präsident’ begrüßte Birnbaum mit einem freundlichen Schulterklopfen und mich mit einem festen Händedruck. Für seine ca. 1,70 m und seine eher zierlich wirkende Erscheinung konnte dieser Mann, den ich auf ca. 60 Jahre schätzte, erstaunlich fest zupacken. Sein Gesicht zeigte die Spuren einer frühen Akne, die kleine Narben und Pocken als Zeugen einer vergangenen Zeit in die ansonsten faltenfreie Haut zeichnete.
„Ich freue mich, dass Sie hier sind.“ Sagte er mit einem väterlichen Lächeln auf den Lippen. „Ich möchte Ihnen kurz die anderen vorstellen, und dann sind wir gespannt, Sie und Ihre Ansichten kennenzulernen. Herrn Birnbaum kennen Sie ja bereits. Also fangen wir bei den Damen an.“
Die rundlich wirkende Frau neben mir wurde als Frau Kerner vorgestellt, welche vor drei Jahren ihren Lehrstuhl für Theologie aufgab, um mit der Gruppe hier zu arbeiten. Es war eine recht große Frau, der man aufgrund ihrer Körpergröße zutraute, dass sie in ihrem Leben mehr als einmal ihren Mann gestanden hatte. Vom Alter her müsste sie irgendwo zwischen 50 und 70 Jahre anzusiedeln sein. Von ihrem Kopf hingen lange weiße Haare herunter, die sie mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz formte. Ich wusste nicht, ob ihre Erscheinung etwas Gutmütiges oder eher etwas Respekt Einflößendes mit sich brachte. Zumindest begrüßte sie mich mit einem herzlichen Händedruck.
Frau Kaluga kam erst vor ein paar Monaten zur Gruppe. Sie hatte bis dahin Mathematik studiert und den besten Abschluss der letzten drei Jahre hingelegt. Sie wirkte mit ihrer kleinen Brille und ihrer sehr knabenhaften Figur erstaunlich jung und hätte genauso gut auch noch auf der Schulbank sitzen können.
Die anderen beiden Männer im Raum hatten geholfen das Projekt aus der Taufe zu heben. Sie stammten beide aus der Wirtschaft, wo sie beide keine Herausforderung mehr fanden und nach neuen Tätigkeitsbereichen suchten.
Es waren Herr Scholz, ein Mittfünfziger, 1,80 m, mit Brille, Vollbart und Bauchansatz und Mr. Janson aus den Vereinigten Staaten, der mich stark an Sean Connery erinnerte. Allerdings hatte Mr. Janson noch seine Haare.
Zu guter Letzt stellte sich der Präsident selbst als Reiner Schwarzenbeck, der Leiter des Projektes, vor und bat uns darum alle Platz zu nehmen. Ich saß zwischen Birnbaum und dem jungen weiblichen Mathematikgenie.
„Nun mein Lieber“, begann er das Gespräch, während er die Hände vor sich wie zu einem Gebet faltete. „Sie fragen sich bestimmt, was wir hier tun und warum sie hier sind!“
„Nun ja,“ begann ich vorsichtig „Herr Birnbaum sagte mir, dass Sie sich hier Gedanken über das Leben an sich machen.“
„So ungefähr könnte man es formulieren“, erwiderte Schwarzenbeck. „Doch zuvor gestatten Sie uns noch ein paar Fragen. Schließlich wollen wir Sie etwas näher kennenlernen.“
―Also, doch ein Vorstellungsgespräch― dachte ich bei mir. ―Ein Glück, dass du den richtigen Anzug angezogen hast.― Ich legte meine Hände vor mir auf den Tisch und versuchte so interessiert wie möglich auszusehen.
Schwarzenbeck gab mir zu verstehen, dass Birnbaum ihm schon viel von mir erzählt hatte, aber die anderen noch nicht so viel über mich wussten. Sie waren lediglich davon unterrichtet, dass ich ein selbstständiger Kaufmann sei, der in einer Geschäftsbeziehung zu dem Unternehmen steht, dem Birnbaum angehört. Nun wollte man sich aber ein genaueres Bild von mir und meinen Ansichten machen. (Wenn ich es nicht leid gewesen wäre, permanent Lebensläufe zu schreiben bzw. zu kopieren, dann hätte ich mich nicht selbstständig machen müssen.)
Ich erwartete also die üblichen Fragen, die ich früher oft genug bei Einstellungsgesprächen beantworten musste und inzwischen selbst stelle, wenn ich auf der Suche nach einem neuen Mitarbeiter bin. Dieses kam zum Glück in den letzten Jahren nur sehr selten vor. Ich war stolz darauf, eine Crew zu haben, die inzwischen in der Lage völlig selbstständig zu arbeiten und mich z. B. in Urlaubszeiten eine Zeit lang zu vertreten.
Und so saß ich da und erwartete mit Ungeduld die erste Frage.
„Glauben Sie an Gott?“ Fragte ausgerechnet Frau Kerner die Ex–Theologin.
Ich glaube, dass ich auf so ziemlich alle möglichen Fragen vorbereitet war, aber um hierauf zu antworten, brauchte ich einen kleinen Moment. Ich musste völlig umdenken und meine Worte mit Bedacht wählen. Alle sahen mich erwartungsvoll an.
„Ich denke, dass wir das alle auf die eine oder andere Art tun.“ Erwiderte ich.
„Darf ich also davon ausgehen, dass sie ein gläubiger Mensch sind?“ Wollte sie als Nächstes von mir wissen.
Also versuchte ich ihr zu vermitteln, was ich unter Gott verstehe: „Wie gesagt, ich glaube, dass es etwas gibt, das sich mithilfe unserer Physik nicht mehr erklären lässt. Etwas, das über den Dingen steht. Allerdings personifiziere ich den Begriff Gott nicht so, wie es üblicherweise in unseren Kirchen gepredigt wird. Sie wissen schon. Alter Mann, weißer Bart und so.“
Scholz, der bis dahin nicht einmal den Mund öffnete, sah mich aus seinen tiefen Augenhöhlen heraus an, und sprach dann so ruhig, dass ich Schwierigkeiten hatte, die Bewegungen seiner Lippen hinter seinem Bart zu erkennen. „Nein wissen wir nicht. Und genau darum sind wir hier. Um zu erfahren, aus welchem Blickwinkel man Gott noch sehen kann. Oder genauer gesagt, zu welchen Erkenntnissen Sie für sich gekommen sind.“
Ich schaute mich genauso hilflos wie auch neugierig in der Runde um. Ich hatte den Eindruck, als ob sie alles viel genauer wissen wollten, als jeder andere, dem ich bisher versuchte meine Standpunkte zu diesem Thema klarzumachen.
Ich begann also sehr zögerlich die Wissbegierde meines Gegenübers zu stillen und meine Ansichten in Worte zu fassen.
„Na, im Allgemeinen ist es doch so, dass man, wenn man an Gott denkt, einen Menschen vor sich sieht, der etwas vom liebenswerten Großvater hat. Oder zumindest vom Weihnachtsmann, an dem man nur als Kind glaubt. Aber wo soll dieser Gott leben? Etwa im Himmel, so wie meine Oma es mir weismachen wollte?“
Ich erzählte einfach drauf los. Wenn denen das, was ich sagte, nicht passte, dann könnten sie mich ja immer noch vor die Tür setzen.
„Nein, daran kann ich irgendwie nicht glauben. Natürlich kenne ich das Gefühl, zu irgendetwas zu beten. Dies hat bestimmt jeder Mensch schon einmal getan. Allerdings bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass das was wir Gebet nennen, unsere Umwelt oder die Umstände die uns dazu führen direkt beeinflusst und sie sogar verändern kann. Nicht eine fremde Macht, sondern wir selbst sind es, die mit ihren Gedanken Einfluss auf die Ereignisse nehmen, für die wir beten. Ich weiß, dass dies für die meisten Menschen zu unglaubwürdig, zu abstrakt klingt. Denn wenn das so wäre, dann wären wir in der Lage, alles was wir sehen, hören und sogar das was wir ertasten können, direkt zu steuern und zu verändern. Also gehe ich auf meine Art schon mit der Theologie konform, die uns sagt, dass Gott in uns allen ist.“ Sagte ich so ruhig, wie ich es überhaupt vermochte.
„Haben Sie schon mal gezielt versucht, dies zu tun? Bestimmte Ereignisse bewusst zu beeinflussen?“
Diesmal kam die Frage von Birnbaum und ich wusste auf was er hinauswollte. Höchstwahrscheinlich hatte ich ihm am Abend im Hotel davon erzählt.
„Sicherlich werden Sie mich für völlig durchgeknallt halten“, erwiderte ich, „aber es gibt Situationen, in denen ich mich für den Auslöser bestimmter Umstände halte. Alle meine Ver-wandten und Bekannten belächeln mich dafür, können mir aber keine plausible Erklärung dafür geben. Selbst diejenigen, die es schon selbst erlebt haben, erklären mir jedes Mal, dass dies reiner Zufall wäre. Wissen Sie, ich behaupte von mir, dass ich, wenn ich mit dem Auto irgendwo hinfahre, mir meinen Parkplatz dadurch sichere, dass ich einfach genügend viel Willenskraft aufbringe.“
Da keiner meiner Zuhörer mit den Zähnen fletschte oder die Augen verdrehte, noch aufstand, um ein Taxi für mich zu rufen, fuhr ich einfach mit meiner Geschichte fort.
„Ich besuchte z. B. mit meinem Freund Klaus ein Straßenfest am Kurfürstendamm. Klaus wollte bereits mehrere Querstraßen entfernt einen Parkplatz suchen, als ich ihm mitteilte, dass er bis zum Kurfürsten Damm fahren könne, weil dort bei unserem Eintreffen eine Parklücke frei werden würde. Klaus sah mich kurz skeptisch an, tat aber wie ihm geheißen. Es sah so aus, als ob bei unserem Eintreffen, der andere Autofahrer nur auf uns gewartet hatte, um seine Parklücke für uns zu räumen. Natürlich sprach Klaus von einem glücklichen Zufall. Als wir jedoch eine Woche später auf dem Parkplatz am Messegelände eintrafen, um dort eine Ausstellung zu besuchen, und sich die Situation wiederholte, wurde selbst Klaus nachdenklich. Denn schließlich teilte ich ihm nach unserer ersten Inforunde über den überfüllten Parkplatz mit, dass ich diesmal direkt vor dem Haupteingang parken würde. Es waren außer uns zu diesem Zeitpunkt noch ca. 30 weitere Fahrzeuge auf der Suche nach einem freien Platz. Unmittelbar bei unserem Eintreffen vor dem Haupteingang leuchteten bei dem vor uns stehenden Fahrzeug die Rückfahrscheinwerfer auf, und der Fahrer räumte, wie auf Kommando, den Parkplatz. Es gibt noch unzählige dieser Ereignisse.“ Beendete ich meine Parkplatzgeschichte, die im Übrigen auch von Klaus inzwischen gerne zum Besten gegeben wird.
„Sie sind also davon überzeugt, dass man mit Willenskraft nicht nur Gedanken oder Materie beeinflussen kann, sondern auch beides gleichzeitig?“ Fragte jemand.
„Ja! Genau das will ich damit sagen.“ Stimmte ich zu.
„Wissen Sie, was ein Dejavue ist?“ Frau Kerner sah mich an, als ob sie mich mit dieser Frage in Verlegenheit bringen wollte.
„Nun das, was ich darunter verstehe, ist das Gefühl oder besser die Gewissheit, eine momentane Situation schon einmal erlebt zu haben. Oftmals sind es nur kurze Augenblicke, in denen man genau weiß, was als Nächstes passiert. So ziemlich jeder Mensch, den ich kenne, hatte schon einmal Erlebnisse dieser Art. Aber niemand vermag dafür eine logische Erklärung abzugeben. Es gibt Leute, die hierbei von Hellseherträumen sprechen, in denen einem die Situation im Voraus bereits begegnet ist.“
„Und für was halten Sie es?“ Diesmal schienen mich ihre Blicke zu durchbohren.
„Um hierauf zu antworten, muss ich etwas ausholen. Kann ich einen Schluck zu trinken bekommen?“
Mit dieser Frage erhoffte ich etwas Zeit zu gewinnen, um mir die passenden Worte zurechtlegen zu können. Birnbaum verließ wortlos den Raum und kam wenige Augenblicke später mit einer Karaffe Eistee zurück. (Den Aschenbecher hatte er wieder vergessen.)
Ich nahm einen kräftigen Schluck und bat die letzte Frage noch einmal zu wiederholen.
Frau Kerner folgte meiner Aufforderung, und in ihrer Stimme glaubte ich eine gewisse Ungeduld zu erkennen. „Was glauben Sie, hat es mit dem Phänomen des Dejavue auf sich?“ Erneuerte sie ihre Frage und nun hatte ich keine Bedenkzeit mehr.
„Richtig, das Dejavue.“ Begann ich. „Was wäre, wenn Raum und Materie nur für uns in unseren Gedanken existieren? Sie kennen doch die alte Frage: ‚Wo endet unser Universum und was befindet sich außerhalb?‘ Früher hat diese Frage niemanden ernsthaft interessiert. Wir waren zu sehr beschäftigt, uns auf der Erde zurechtzufinden. Bisher waren wir oder unsere Wissenschaftler immer in der Lage uns jede Frage zu beantworten, die auftauchte. Wenn es auf eine Frage einmal keine Antwort gab, dann wurde eine von unserem Geist kreiert und zwangsläufig zur Realität. Doch wie verhält es sich mit der Frage, wo ist das räumliche Ende?
Wenn unsere Vorstellung von Raum und Materie richtig ist, dann muss es ein räumliches Ende geben. Doch wie sieht dieses Ende aus? Eine Wand? Das unheimliche Nichts? Niemand war bisher in der Lage, dieses Rätsel zu lösen. Stattdessen arbeitet man seit einiger Zeit an einer Theorie vom gekrümmten Raum und ist anscheinend bereit, die bisherigen physikalischen Gesetze soweit zurechtzubiegen, bis auch diese Theorie für uns zur Realität wird. Unsere Wissenschaftler krümmen nicht nur den Raum, wie sie in ihren Erklärungen immer wieder beteuern, sondern meiner Meinung nach sogar die vorhandenen Naturgesetze. Oder sie krümmen, bzw. verbiegen einfach nur unsere Vorstellungen.
Aber was wäre nun, wenn unsere Vorstellungen von Raum und Materie nicht stimmen?
Wenn alles, was wir sehen und alles, was wir sind, nicht mehr ist, als das Produkt einer Gedankenkette, der wir alle angehören? Eine Gedankenkette, die erschaffen wurde oder von selbst entstand, als bestimmte Fragen noch nicht formuliert wurden. Wäre es möglich, dass in diesem Stadium eine Realität geschaffen wurde, die einfach bestimmte Dinge nicht berücksichtigt hatte? Nicht berücksichtigen konnte? Wenn das so wäre, dann würden unsere Gedanken alles selbst produzieren. Selbst das Glas Eistee, was ich getrunken habe, wäre nicht mehr als ein real gewordener Gedanke. Wenn ich also ein Dejavue erlebe, dann könnte ich es in meinen Gedanken im Voraus geplant haben. Dies würde auch erklären, warum diese Erlebnisse nur immer von kurzer Dauer sind. Einzelne Gedanken, die aus der eigentlichen Kette ausbrechen, hätten einfach nicht die Kraft, sich über längere Zeit zu halten.
Denken wir doch einmal zurück. Die meisten von uns sind in einem Alter, dass sie den Auftritt von Uri Geller in einer Fernsehshow 1972 live miterlebt haben. Ich glaube, dass so ziemlich jeder Mensch den Mann noch in Erinnerung hat, der mit seinen Gedanken Löffel verbog und Uhren reparierte. Es war doch völlig nebensächlich, ob er vor der Kamera mit Tricks oder Chemikalien agierte, wie er später selbst zugegeben haben soll, oder nicht. Das wirklich Interessante daran war die Tatsache, dass die Menschen zu Hause daran glaubten. Wie viele von Ihnen haben entweder an diesem Abend selbst ein reales Erlebnis gehabt, was in direktem Zusammenhang mit dem Gesehenen stand, oder jemanden gekannt, der ein solches Erlebnis hatte?
Wenn ich für jeden verbogenen Löffel, und für jede wieder tickende Uhr, die am darauf folgenden Tag in Deutschland herumlag, fünf DM bekommen hätte, dann hätte ich wahrscheinlich für immer ausgesorgt.
Wurde hier nicht Materie und gleichzeitig Geist durch eine unbekannte Kraft beeinflusst? Und war diese Kraft eventuell nichts anderes, als die Gedanken derer die daran glaubten? Jeder, der sich für solche Dinge interessiert, stieß unweigerlich auf diese russische Hausfrau, die in der Lage war, Dinge mit ihrer puren Willenskraft zu bewegen. Nina Ku.....“
„Kulagina“ vervollständigte Schwarzenbeck ihren Namen.
Ich sah die Mathematikabsolventin ungläubig an. Sie lächelte kurz und teilte mir mit, dass es ihre Großmutter war, die sie selbst leider nie kennengelernt hat. Sie hätte als Kind zwar die Möglichkeit gehabt, aber da sie in Deutschland aufwuchs und ihre Eltern sie nie nach Russland mitnahmen, kam es nie dazu. Später hatte sie keine Möglichkeit mehr, weil ihre Großmutter im April 1990 verstarb. Aber warum war sie hier? Erhofften sich die anderen, dass irgendetwas von der Kraft der Großmutter auf die Enkelin übergegangen war?
Ich konnte mir das nur schwer vorstellen, als Mathematikerin gehörte sie eindeutig zu den logisch denkenden Menschen. Aber Logik und die Dinge, die ihre Großmutter tun konnte, standen meiner Meinung nach im kompletten Gegensatz zueinander.
Nach einer kleinen Verschnaufpause und den Bemühungen jetzt möglichst cool zu bleiben fuhr ich fort.
„Und da gab es auch noch diesen Mann, ich glaube ein Amerikaner, der eine Glasscheibe zum Zerspringen brachte, indem er sich einfach darauf konzentrierte.
Von den unzähligen Geschichten, die mir meine Oma über sogenannte Hexen erzählte, die den Tod eines Menschen oder ähnliche Dinge vorhersagen konnten, ganz zu schweigen. Wenn man der Literatur glauben schenken darf, dann waren all diese Dinge und Erscheinungen früher verbreiteter als heute. Aber warum? War vielleicht unsere Realität zu früheren Zeitpunkten weniger verfestigt als heute? Heute gibt es für alles eine logische Erklärung. Und wenn dies einmal nicht der Fall ist, dann basteln wir uns eine. Denn Hexenverbrennungen sind inzwischen ziemlich out.“
Nach diesem letzten Satz herrschte einen Augenblick lang Schweigen. Ich versuchte aus den Blicken, die sich die anderen zuwarfen, eine Reaktion zu erkennen.
„Nun ungefähr so hatte uns Herr Birnbaum Ihre Ansichten oder sollte ich sagen Ihre Weltanschauung geschildert.“
Mir fiel auf, dass Schwarzenbeck, genauso wie ich, den Doktortitel wegließ. Schlagartig wurde mir bewusst, dass mir keiner der Anwesenden mit einem akademischen Titel vorgestellt worden war. Dabei musste mindestens Frau Kerner, die einen Lehrstuhl für Theologie hatte, ein Anrecht auf die Anrede „Frau Professor“ für sich beanspruchen können.
Ich hob mir diese Frage für einen späteren Zeitpunkt auf und wollte nun endlich mehr über diese Menschen erfahren. Immer noch quälte mich die Frage: ‚Warum bin ich hier? ‘
Nun brauchte anscheinend auch Schwarzenbeck einen Schluck Eistee, bevor er mit seinen Ausführungen begann. Und er nahm einen besonders großen Schluck davon.
„Wir alle hier im Raum haben uns in unserem bisherigen Leben ausschließlich mit der Realität befasst, die Sie soeben infrage gestellt haben. Und auch wir stellen vieles, was eigentlich immer so klar und eindeutig erschien, ebenfalls infrage. Früher hätte jeder von uns wahrscheinlich über das, was Sie sagten, geschmunzelt oder wäre einfach eingeschlafen. Aber wie Sie sehen, sind wir alle immer noch hellwach. Denn wir haben uns entschieden, den Sachen auf den Grund zu gehen. Darum sind wir hier. Und wir sind inzwischen recht gut ausgestattet. In unserer Bibliothek zum Beispiel werden Sie so ziemlich alles finden, was jemals über Telepathie, Telekinese und Parapsychologie geschrieben wurde. Ich meine keine Romane oder Science Fiktion, sondern wissenschaftliche Dokumentationen und Abhandlungen. Darunter auch Aufzeichnungen über Nina Kulagina. Wir verfügen sogar über einige Videoaufzeichnungen verschiedener Experimente, die in ihrer Gesamtheit sicherlich die umfangreichste Sammlung sein dürfte, die jemals zusammengetragen wurde. Ich wette, dass Sie diese Sammlung als echte Bereicherung würdigen werden.“
Das war mein Stichwort:
„Ich bin mir immer noch unsicher, warum Sie mich hierher gebracht haben und was Sie genau von mir wollen. Was interessiert Sie an Jemandem, der nicht mehr als eine normale Schule besucht hat und nur eine einfache Berufsausbildung genoss? Und genauso frage ich mich, warum ich mich in dieser unterirdischen Festung befinde, von der offensichtlich nicht ein Mensch da oben weiß, dass sie überhaupt existiert.“
Ich griff instinktiv in meine Tasche und holte meine Zigarettenschachtel heraus. Im letzten Moment hielt ich allerdings inne und lies sie wieder in meine Tasche zurück gleiten.
„Wir wissen, dass Sie das, was hier passiert, noch nicht so recht verstehen“ sagte Schwarzenbeck. „Ich würde Ihnen gerne erlauben, sich jetzt eine Zigarette anzuzünden. Aber leider haben wir in der kompletten Anlage ein unwiderrufliches Rauchverbot.“
Ich musste an den Lungenpieper denken, der uns vorhin in der Halle entgegen kam. Der arme Kerl sah genauso aus, wie jetzt wahrscheinlich auch ich.
Ja ich könnte jetzt gut eine Zigarette rauchen. Oder einen Cognac trinken. Aber zum einen hatte ich heute schon einen Cognac und zum anderen wäre es nicht gut jetzt meine Übersicht zu verlieren.
Ich muss ausgesehen haben wie ein Höhlenbewohner in Disney–World. Und um ehrlich zu sein, fühlte ich mich in diesem Augenblick auch so.
„Wenn Sie möchten, dann kann ich sie ins Parkhaus bringen lassen.“ sagte Birnbaum. „Dort können Sie dann ein bisschen Ihre Lunge ruinieren. Wenn Sie dann so weit sind, lassen Sie es uns wissen, und wir reden weiter. Okay?“
Ich nickte. Birnbaum verließ den Raum und kam mit einer jungen Frau zurück, die mich zum Fahrstuhl begleiten sollte, der mich wieder an die Oberfläche des Planeten bringen würde. (Ich sollte wirklich nicht so viele Science-Fiction-Filme sehen. Meine Wortwahl leidet bereits darunter.)
Ich folgte der jungen Frau in einem kurzen Abstand und hatte Schwierigkeiten, mich zu entscheiden, ob ich mich mehr für die mit Hightech gefüllte Halle oder doch für die bemerkenswerte Rückansicht meiner Führerin interessieren sollte. Ich entschied mich für das Zweite.
Wenn sich vorhin niemand für die kleine Szene interessierte, die ich mit Birnbaum veranstaltete, dann würde es auch niemanden interessieren, wenn ich meine Blicke auf diese herrlichen Rundungen richtete. Ich hätte an mir selbst ge-zweifelt, wenn ich es nicht getan hätte. Nicht zuletzt brauchte ich das Gefühl, immer noch ich selbst zu sein.
Im Fahrstuhl fragte mich die junge Frau, die sich als Yvonne vorstellte, ob ich neu hier wäre. Ich brauchte einen Moment, um zu antworten. Schließlich war ich zu sehr in meine Gedanken vertieft, um ihre Frage zu hören. (Um welche Gedanken es sich handelte, möchte ich nicht näher beschreiben, denn diese waren nicht unbedingt jugendfrei.)
„Bitte?“ Forderte ich sie auf ihre Frage zu wiederholen.
„Ich fragte, ob Sie neu in der Gruppe sind“ sagte sie mit einem Lächeln, als ob sie genau wusste, aus welchen Träumen sie mich gerade gerissen hatte. Ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. (Es gibt tatsächlich noch Situationen, in denen ich rot werde.)
„Oh. Ich weiß nicht“ stotterte ich.
„Sie wissen nicht?“ Fragte sie mit einem mitleidigen Lächeln.
„Ich weiß nicht, ob ich überhaupt in der Gruppe bin. Aber Sie haben recht. Ich bin heute zum ersten Mal hier. Kennen Sie denn jeden, der dazugehört? Es scheinen mir unheimlich viele zu sein.“
Sie lachte diesmal laut. „Da Sie offensichtlich nicht zum Führungsstab gehören, aber dennoch einen Anzug tragen, war es nicht schwer zu erraten.“
Na klar entweder man trägt einen Armani – Anzug oder gar keinen. Und Anzüge tragen offensichtlich nur Leute wie Birnbaum, die zum Führungsstab gehören, aber sich trotzdem noch in der Welt da draußen bewegen und dort ihre Rolle zu spielen haben.
Ich glaube in diesem Moment wurde mir klar, dass dort unten eine andere Welt existierte als oben. Dass diese Formulierung genau das beschrieb, worum es ging, sollte ich erst später erfahren.
Endlich stoppte der Fahrstuhl und wir stiegen aus. Yvonne schaltete das Licht im Parkhaus an, während ich bereits die erste Camel aus der Schachtel fingerte und sie hastig zwischen meine Lippen schob.
„Ich glaube die da unten sind ganz zufrieden, mich für ein paar Augenblicke losgeworden zu sein“ versuchte ich ein Gespräch zu beginnen.
„Warum? Haben Sie etwas gesagt, was die verärgert haben könnte?“ bekam ich als Reaktion zu hören.
„Ich weiß nicht. Aber sicherlich werden sie jetzt über mich reden. Was macht Ihr da unten eigentlich?“ Ich hoffte so endlich zu erfahren, was dort unten überhaupt vor sich ging.
Yvonne wollte in dem Moment etwas sagen, als eine kleine Gruppe von Geschäftsleuten, die offensichtlich aus den oberen Etagen kamen, das Parkhaus betrat, um es mit ihren Autos zu verlassen. Das Licht ging aus und sie eilte erneut zum Schalter, um ihn zu betätigen. Als sie wieder bei mir stand, hingen meine Augen förmlich an ihren Lippen.
„Heißt das etwa, Sie wissen nicht was wir hier tun?“
„Nein, ich weiß es wirklich nicht“ erwiderte ich und hätte auf den Knien um eine Antwort flehen können.
„Es tut mir leid,“ sagte sie „aber das darf Ihnen nur einer der Sechs aus dem Konferenzzimmer erklären.“
Hastig drückte ich die inzwischen dritte Zigarette aus und bat sie, mich wieder zu ihnen zu bringen. Also machten wir uns wieder auf den Weg nach unten. (Wo haben die nur diese bemerkenswerten Handys her?)
Kaum dort angekommen, teilte mir Schwarzenbeck mit, dass er sowie auch seine fünf Mitstreiter davon überzeugt war, mit mir eine passende Ergänzung für ihr Projekt gefunden zu haben. Wenn ich also bereit wäre mit ihnen zusammenzuarbeiten, dann würde er sich freuen mich an Bord Willkommen zu heißen.
Selbstverständlich hätte ich noch Gelegenheit, meine persönlichen Vorbereitungen zu treffen, denn ich würde mich für eine unbestimmte Zeit fast ausschließlich in der Anlage aufhalten. Birnbaum fügte noch hinzu, dass er kein Problem darin sah, meine dadurch entstehenden beruflichen Einschränkungen für die Außenwelt darzustellen. Schließlich wäre es mehr als ein glücklicher Zufall, dass ich im weitesten Sinne für den Konzern arbeitete, in dem er eine bescheidene Rolle spiele.
Bei der Umschreibung ‚bescheidene Rolle‘ mussten unweigerlich alle schmunzeln. Und auch ich konnte mich dem nicht entziehen.
Ich hatte zwar immer noch keine Ahnung, was hier genau gespielt wurde, aber der Gedanke an die von Schwarzenbeck beschriebene Bibliothek alleine reichte aus, um die Waagschale meiner Entscheidung ein Stück in Richtung ‚Pro‘ zu beschweren.
Trotzdem setzte ich mein kühlstes Pokerface auf und fragte tollkühn. „Wissen Sie, was Sie da von mir verlangen? Wissen Sie, welche Einbußen ich habe, wenn ich mich selbst für unbestimmte Zeit beurlaube? Gut meine Mitarbeiter haben in der Vergangenheit mehr als einmal bewiesen, dass sie in der Lage sind, den Laden über eine kurze Zeit hinweg alleine zu schmeißen. Aber auf unbestimmte Zeit?“
Schwarzenbeck stand nun vor der Aufgabe, mich zu beruhigen, was er auch ganz gut hinbekam.
„Sie können mir glauben, dass wir diese Überlegungen kennen und nicht die geringsten Schwierigkeiten haben, alles passend zu regeln. Und über Ihre eigene finanzielle Lage müssen Sie sich am wenigsten Gedanken machen. Hier haben Sie die einmalige Möglichkeit, Ihren persönlichsten Interessen nachzugehen. Und nebenbei würden sie für ihre Mitarbeit noch entlohnt werden, als ob sie gegen Mike Tyson im Ring stünden.“
Nun, dasselbe Honorar wie ein Tyson-Gegner zu erhalten, ohne dafür zu Brei geschlagen zu werden, war bestimmt eine verlockende Herausforderung.
Aber mal ehrlich, hätte ich in diesem Moment wirklich Nein sagen können, ohne mir gleichzeitig eine Mütze mit der Aufschrift
‚D O O F‘ über den Kopf zu ziehen?
Dieses Angebot konnte ich wirklich nicht ausschlagen. Birnbaum hatte mir bereits vor Stunden klargemacht, dass ich mich nur einmal entscheiden könne. Ich hatte also keine andere Wahl.
Ich hätte niemals hinausgehen und vergessen können was ich gesehen habe. Ich wäre ewig der Frage hinterhergelaufen, was ich da unten verpasst hätte.
Ich hörte Birnbaum bereits fragen, ‚Von welchem Keller sprechen Sie? Ich weiß nicht, was Sie meinen.‘ Das hatte er versucht mir klarzumachen, während ich im Mövenpick meine Überraschung mit einem Cognac runterspülte.
Also willigte ich ein.
„Schön“ erwiderte Schwarzenbeck „Sie werden feststellen, dass es die richtige Entscheidung war. Ich schlage vor, dass wir uns morgen früh um 9.00 Uhr wiedersehen. Dann werden wir auch die Gelegenheit haben, Ihnen die komplette Einrichtung zu zeigen.“
Er wandte sich zu Birnbaum und fragte „Reinhard würdest du unseren Gast bitte wieder zu seinem Auto bringen?“
Birnbaum schaute auf die Uhr. „Ja, ich glaube es wird langsam Zeit für uns.“
Auch mein Blick ging in Richtung meines Handgelenks, und ich stellte fest, dass es inzwischen 16.30 Uhr war. Gleichzeitig mit meinem Magen fiel mir ein, dass ich seit heute früh noch nichts gegessen hatte.
Wir waren bereits an der Tür, als sich Schwarzenbeck noch einmal an mich wandte. „Ich brauche sicherlich nicht zu erwähnen, dass alles was Sie heute gesehen und erlebt haben, dieses Gebäude nie verlassen darf.“
‚Der muss mich wirklich für blöd halten‘ dachte ich bei mir, wie er mich fast schon mitleidig aufforderte.
„Und bitte lassen sie morgen diesen scheußlichen Anzug weg. Wir bevorzugen hier alle etwas Lockeres.“
„Ich weiß was Sie meinen“, erwiderte ich und musterte Birnbaum in seinem Managerzwirn demonstrativ. Diesmal hatte ich die Lacher auf meiner Seite. Also, es ging doch 1:1.
Auf dem Weg zu meinem Auto, welches ich an diesem Morgen in einer Tiefgarage am Kurfürsten Damm zurückließ, sprachen wir nicht ein einziges Wort.
Ich betrachtete die Fußgänger, die es anscheinend alle eilig hatten nach Hause zu kommen. Wie immer zu dieser Uhrzeit waren die Straßen wieder einmal restlos verstopft, sodass wir nur langsam vorankamen.
Ich genoss in diesem Moment unser Schweigen genauso, wie ich es verabscheute. Ich hatte noch so viele Fragen, aber konnte sie nicht stellen. Noch nicht. Morgen würde ich sie stellen, schwor ich mir. Morgen würde ich mich nicht länger vertrösten lassen.
Unsere Fahrt dauerte volle 30 Minuten. Endlose 30 Minuten. Ich ertappte mich dabei, dass ich bereits zum vierten Mal mein Bargeld überprüfte und hoffte, dass es für die aufgelaufene Parkgebühr reichen würde. (Man sollte diese Parkhaus-Betreiber für ihre Preise alle vor Gericht stellen und der Wegelagerei bezichtigen. Ein paar Jahre als Galeerensklaven würde denen bestimmt guttun.)
Ich hatte Glück. Offensichtlich war wieder einmal die Schranke an der Ausfahrt defekt. Ein Umstand, der mir bereits auffiel, bevor mich Birnbaum ein paar Meter davon entfernt aussteigen ließ und mir mitteilte, dass er mich am nächsten Tag um 8:45 Uhr vor den Arkaden treffen wollte.
Ich stieg in mein Auto und stellte fest, dass die Schranke immer noch senkrecht stand. ‚Nun, heute sind diese Wegelagerer noch einmal ungeschoren davon gekommen‘, dachte ich so bei mir und verließ die Garagen mit einem fröhlichen Pfeifen auf den Lippen.
Ich fuhr direkt in meine Firma, in der Hoffnung noch jemanden anzutreffen. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass es bereits kurz nach 18:00 Uhr war, sollte sich dieser Wunsch nicht erfüllen. Ich ging in mein Büro und riss im Vorbeigehen noch ein paar Notizen von der Wand, die für mich neben der Tür platziert worden waren.
Der erste Zettel enthielt eine Auflistung von Arbeitsmaterialien, die dringend benötigt wurden, die zweite Notiz betraf die Schulungsunterlagen der letzten Woche, die ich normalerweise immer sofort meinen Mitarbeitern zur Verfügung stellte, wenn ich frisch geschult (und endlos motiviert) von einem Seminar kam.
Diesmal hatte ich sie mit nach Hause genommen, um sie dort zu studieren. Lieber hätte ich an ihrer Stelle ein spannendes Buch gelesen, aber zurzeit war nichts Interessantes auf dem Markt, und mein vermeintliches Gespräch mit Birnbaum hatte Vorrang.
Als Letztes las ich eine Mitteilung, der ich entnahm, dass Klaus den ganzen Tag über versuchte mich zu erreichen. Ich nahm den Hörer ab und begann seine Nummer zu wählen. Kurz vor der letzten Zahl fiel mir auf, dass ich eigentlich nicht wusste, was ich ihm überhaupt sagen sollte.
Ich legte den Hörer zurück, um mir eine passende Geschichte für ihn auszudenken. Ich wusste, es wäre das erste Mal, dass ich ihn belügen würde. Aber ich hatte immer noch das Bild vor Augen, wie ich mit beiden Händen voller Banknoten lachend um den am Boden liegenden Mike Tyson tanzte.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon und die Realität holte mich wieder ein. Noch, bevor ich mich melden konnte, hörte ich den vorwurfsvollen Ton von Klaus.
„Wo hast du dich den ganzen Tag herumgetrieben? Ich versuche schon seit Stunden dich zu erreichen. Was war nun? Was wollte Birnbaum?“
Ich entschied mich dafür, mich mit Klaus in einem Restaurant zu verabreden, und hoffte bis dahin eine passende Geschichte für ihn parat zu haben.
„20:00 Uhr in dem Restaurant mit den Mammut-Eisbeinen. Ich kann dir dann erzählen, was so los war.“
„OK Du zahlst“, drang es in mein Ohr. Klaus hatte bereits wieder aufgelegt.
‚Was bildet der sich ein? Der lässt sich diese Woche schon zum zweiten Mal einladen. Hält der mich für Krösus? ‘
Ich hinterließ meinen Mitarbeitern eine Liste mit Anweisungen für die nächsten Tage und versprach, ihnen die Schulungsunterlagen zukommen zu lassen. In besonderen Fällen könnten sie sich auch an Klaus wenden. (Wir hatten oft genug die Situation erlebt, dass Mitarbeiter des einen, in der Firma des anderen anriefen und um Hilfe baten, wenn sie ein Problem hatten, und der jeweilige Chef nicht erreichbar war. Und das war auch gut so. Ich glaube jeder von uns braucht seinen Klaus. Im Gegenzug wusste er, dass ich im umgekehrten Fall auch immer bereit war, mein Bestes zu geben.)
Ich selbst hätte ein paar persönliche Dinge zu erledigen, schrieb ich und sie sollten die Zeit ohne den ‚Alten‘ einfach genießen. Ich streute noch ein paar Begriffe wie ‚vollstes Vertrauen‘, ‚Zuverlässigkeit‘ usw. mit ein und verließ das Büro in Richtung Heimat.
Dort eingetroffen führte mich mein erster Weg zum Spiegel neben dem Telefon. (Ich möchte mal wissen, was die alle gegen diesen Anzug haben.) Dann ging es ins Bad, ins Schlafzimmer und nach 20 Minuten fühlte ich mich wie ein neuer Mensch.
Na sagen wir mal wie ein gut gebrauchter.
Wie sagte Schwarzenbeck? Lockere Kleidung. Da ich nur zum Essen gehen wollte, wählte ich eine einfache Stoffhose und ein Sweatshirt.
Immer noch grübelte ich darüber nach, was ich Klaus erzählen sollte. Aber wahrscheinlich gab es nichts, was meine lange Abwesenheit vor ihm zu rechtfertigen in der Lage wäre.
‚Na mal sehen, wie der Abend so läuft.’ Dachte ich mir.
Schließlich bin ich seit Jahren in meinem Bekanntenkreis als kreativer Mensch bekannt. Da sollte es mir möglich sein, eine entsprechende Story zu entwerfen. Außerdem war ich auch immer derjenige, der zu irgendwelchen Anlässen auf Kommando ein kleines Gedicht in den Raum warf, oder die lose Kegeltruppe, in der wir uns einmal monatlich trafen, mit einer selbst gemachten Kegel-Zeitung überraschte.
Eines Tages, so nahm ich mir schon damals vor, werde ich ein Buch schreiben. Aber ob es tatsächlich jemals dazu kommt?
Jetzt war erst einmal ein Abendessen mit Klaus angesetzt und ich hatte einen Bärenhunger. Autoschlüssel gegriffen und ab ins Restaurant.
Klaus war bei meinem Eintreffen, bereits durchs Fenster hindurch zu erkennen, wo er gerade wild mit dem Ober lamentierte.
Ich hatte mir auf der Fahrt dorthin, die lediglich von einem kurzen Stopp am Geldautomaten unterbrochen wurde, eine Geschichte ausgedacht, wonach Birnbaum sich nur erkundigen wollte, ob er sich an dem Abend im Hotel nicht daneben benommen hätte, und wenn dies der Fall gewesen wäre, sich vorsichtshalber dafür entschuldigen wollte.
Ich wusste genau, dass Klaus die Kinnlade herunterklappen würde, wenn ich ihm erzählte, dass ein Mann wie Birnbaum sich bei mir zu entschuldigen gedenke.
Für den Rest des Tages hatte ich mir einen alten Freund ausgedacht, mit dem ich mehrmals telefoniert hätte, um ihn daran zu hindern, eine Dummheit zu begehen. Ich wollte ihm erzählen, dass dieser Freund von seiner Frau verlassen wurde, und ich nun nach Lindau am Bodensee fahren müsste, um mich um ihn zu kümmern. (Da soll noch mal einer sagen ich hätte keine Phantasie!)
Tatsächlich hatte ich Freunde am Bodensee. Es waren Ralf und Elke, die ich damals in Sri Lanka kennengelernt hatte.
Wir hatten zusammen eine Rundreise über die Insel mit all ihren Buddhastatuen überstanden und anschließend noch 10 Tage gemeinsamen Badeurlaub genossen. Zu jeder Malzeit gab es Reis, sodass wir uns damals ausmalten, welches europäische Gericht wir in Deutschland als Erstes genießen würden. Für mich stand die Antwort wie immer fest. Es würde meine selbst gemachten Bratkartoffeln sein.
Wie so oft am Ende eines gemeinsamen Urlaubs tauschten wir damals unsere Heimatadressen aus. Normalerweise landen die kleinen Kärtchen, welche man mit der Adresse des anderen ins Reisegepäck mit nach Hause nimmt, entweder sofort im Papierkorb, oftmals aber erst nach dem ersten Besuch beim Anderen.
Urlaubsbekanntschaften halten selten länger als die ersten Liebesbeziehungen eines Teenagers.
Mit Ralf und Elke lief es tatsächlich mal anders. Wir sind auch heute noch miteinander befreundet und telefonieren regelmäßig.
Allerdings lernte Klaus, diese meine Freunde niemals kennen, sodass ich ihm diese haarsträubende Geschichte auftischen konnte.
Klaus erklärte dem Ober bei meinem Eintreffen gerade, wie man ein Filet Stroganoff zubereite, und verlangte, als dieser sich weigerte, das komplette Rezept als Diktat aufzunehmen, umgehend den Koch zu sprechen.
Der Ober verließ daraufhin wutschnaubend den Tisch und marschierte unter lautem Getöse in die Küche. Ich nutzte diese Pause um Platz zu nehmen und meinen Freund zu begrüßen.
Demonstrativ öffnete ich mein Portemonnaie und fragte Klaus, ob das Restaurant seinen Ansprüchen genüge. Schließlich hätte ich gegebenenfalls noch eine Kreditkarte dabei.
Klaus lachte und erklärte mir, dass es immer dasselbe wäre mit diesen ausländischen Obern. Kaum ein Wort Deutsch sprechen, aber nicht dazu bereit etwas dazuzulernen.
Ich pflichtete ihm bei und wies mit Nachdruck darauf hin, dass ein deutsches Nationalgericht wie Filet Stroganoff selbstverständlich nur von deutschen Köchen zubereitet werden sollte.
Ich rief den Ober zu uns, um mir etwas zu trinken zu bestellen, musste aber mit seinem Kollegen vorlieb nehmen, weil der Erste leider dringend nach Hause musste, um sich um seine Familie zu kümmern.
„Wie viel benötigst du so pro Abend?“ fragte ich Klaus, der schlagartig zu seinem Humor zurückfand und mit einer Gegenfrage konterte.
„Wie viel was? Meinst du Ober, Köche oder Restaurants?“
Wir lachten beide so laut los, dass selbst die Damenrunde am Nebentisch uns mit pikierten Blicken strafte.
„Nun aber zu dir“, begann Klaus diesmal im gemäßigten Ton. „Was war nun los?“ Dabei beugte er sich erwartungsvoll nach vorn, als ob nun ein Erfahrungsbericht folgen würde, so wie ihn Leute nach einem Blind Date bei ihrem besten Freund abliefern.
Ich erzählte ihm meine vorbereitete Geschichte und hatte das Gefühl, dass er mir jedes Wort glaubte.
An der Stelle mit Birnbaums Entschuldigung ging ich in Deckung, um dem Bier auszuweichen, welches Klaus, beim Versuch in diesem Moment etwas zu trinken, quer über den Tisch prustete.
Wir saßen bis ca. 23:30 Uhr zusammen und schwelgten wieder einmal in gemeinsamen Erinnerungen.
Beim Thema, Birnbaum malten wir uns die tollsten Situationen aus. Klaus hätte ihn nur zu gerne mit gesenktem Haupt und einer Entschuldigung auf den Lippen, vor seinem protzigen Schreibtisch gesehen. Ich gab noch eins drauf und sah mich in der Situation ihn zu degradieren, indem ich ihm öffentlich seine Krawattennadel abriss und sie vor der ver-sammelten Mannschaft des Vorstandes auf den Boden warf.
Ob ich ihm jemals die Wahrheit über diesen Tag erzählen werde?
Klaus erklärte mir dann irgendwann zwischen dem Hauptgang und der Nachspeise, dass dies sein Lieblingsrestaurant sei und niemand anders in der Lage wäre, einen Gourmet wie ihn so hervorragend zu bedienen. Allerdings müsse man das Personal ab und zu auch mal etwas fordern.
Und da für Klaus zur Qualität des Essens auch eine genauso hohe Quantität an Verdauungsschnäpsen gehört, war es immer wieder ein Spektakel, die Veränderungen der Hautfarbe, wie auch der Gesichtsmuskulatur bei diesem Mann miterleben zu dürfen, welche die richtige Balance aus Essen und Alkohol erzeugte. (Wer 1983 das Glück hatte, das von André Heller inszenierte Feuerwerk vor dem Reichstagsgebäude in Berlin zu erleben, der weiß genau was ich meine.)
Ich selbst hielt mich an diesen Abend bei den Getränken etwas zurück, weil ich am nächsten Tag noch eine sehr anstrengende Autofahrt nach Lindau zu absolvieren hätte.
Als guter Freund ließ ich es mir jedoch nicht nehmen, Klaus im Anschluss an diesen gelungenen Abend nach Hause zu fahren, wofür er mich unterwegs mit seinem selbst gesungenen Repertoire aus drei verschiedenen Musicals mehr als reich-haltig entlohnte.
Ich hatte meine Gründe dafür, dass ich den seit Jahren von Klaus geforderten gemeinsamen Besuch in einem Karaoke–Lokal immer wieder hinauszögerte. Irgendwann trafen wir vor seiner Haustür ein und ich wartete so lange, bis diese hinter ihm ins Schloss fiel.
Zu Hause angekommen zappte ich noch für die Dauer einer Zigarettenlänge durch das Fernsehprogramm und ging nach der ca. fünfzehnten 0190......-Werbung ins Bett. Ich wusste, dass der Wecker mich um 6:30 Uhr aus dem Schlaf reißen würde.