Читать книгу Libri Cogitati - Stefan Heidenreich - Страница 4
1. Kapitel
ОглавлениеStefan war eigentlich ein ganz normaler Durchschnittsmensch.
Inzwischen 48 Jahre alt und von Beruf ein Handwerksmeister, der es zu einer kleinen Handelsvertretung eines Großkonzerns gebracht hatte, lebte und arbeitete er am Stadtrand von Berlin. Trotz seiner bescheidenen beruflichen Erfolge fand er jedoch nie die innere Ruhe, die sich bei den meisten Menschen irgendwann einstellt, wenn sie die magische Altersgrenze von 40 Jahren überschritten haben. Anscheinend hatte Stefan Angst davor, dass sein Leben zu Ende sein könnte, ohne dass er alles irgendwann wenigstens einmal ausprobiert hätte.
So entdeckte er neben zahlreichen anderen Hobbys, denen er nachging, eines Tages auch seine Leidenschaft für das Schreiben. Und so begann für ihn irgendwann eine der glücklichsten Zeiten seines Lebens. Nachdem er lange Zeit nach einem Weg gesucht hatte sein erstes Buch zu verlegen, fand er endlich eine Möglichkeit es zu veröffentlichen. Es handelte sich bei diesem Buch um einen Roman oder das, was man heutzutage unter dem Begriff Belletristik versteht.
Eine Geschichte, die er sich selbst erdacht hatte (zumindest glaubte er es zu der Zeit noch), und die erst während des Schreibens zu einem kompletten Buch heranwuchs. Es gab während seiner Entstehung Zeiten, in denen sich seine Finger und sein Denken in totalem Einklang befanden. Er schrieb einfach alles so auf, wie es ihm gerade in den Sinn kam. In seinem Kopf lief dabei alles wie in einem Film ab, den er nur noch auf Papier oder, besser gesagt, in den Computer bringen musste. Vor seinem geistigen Auge hatte er damals Orte und Personen, die er, so gut er es vermochte, beschrieb, um sie künftigen Lesern möglichst nahe zu bringen. Die Handlung entstand quasi, während er sie niederschrieb. Dabei erschien ihm das, was er schrieb, wesentlich realer zu sein, als es normalerweise bei Schriftstellern der Fall war.
Doch woran lag es, dass er nie das Gefühl loswurde, die Geschichte irgendwann selbst erlebt zu haben?
Immer wieder gingen ihm Bilder durch den Kopf, die eigentlich nur seiner Fantasie entstammen konnten, sich aber gleichzeitig real anfühlten.
So auch an jenem Tag, an dem der Verlag, den er inzwischen für sein Werk gewinnen konnte, den Versand seines ersten Musterbuchs bestätigte.
Wieder einmal tauchte er gedanklich darin ein.
In der Geschichte, die Stefan seinerzeit schrieb, versetzte er sich selbst in die Rolle der Hauptfigur, die eine komplette Handlung ausschließlich aus der eigenen Perspektive erzählte. (Wenn er schon eine Geschichte erfand und niederschrieb, dann wollte er selbstverständlich auch persönlich die Hauptrolle darin spielen.)
Er erzählte die komplette Story aus der Sicht von jemandem, der mit seinen, für viele Menschen exotisch anmutenden esoterischen Ansichten eher zufällig in ein geheimes wissenschaftliches Forschungsprojekt unter den Straßen von Berlin geriet. In diesem Projekt ging es um die Erforschung von Gedanken und deren Einfluss auf unser Sein sowie um die Welt, so wie wir sie erleben und wahrnehmen.
Zugegeben, so ganz frei erfunden kam ihm die ganze Story schon damals nicht vor.
Tatsächlich glaubte er seinerzeit, dass unsere eigenen Gedanken unsere komplette Welt mit allem was dazugehört für uns entstehen lassen, was allerdings gegen jede bekannte Schöpfungstheorie sprach.
Nachdem er als Romanfigur die verschiedensten paranormalen Phänomene betrachtet und für sich selbst ausgewertet hatte, stellte er fest, dass die Leiter des Projekts in Wahrheit nur ein Ziel verfolgten. Sie wollten die absolute Macht. Hierfür erschufen sie eine eigene Welt in einem eigens dafür entwickelten Computer, in der dann auch tatsächlich virtuelle Menschen lebten. Menschen, die von unserer Existenz und unserer Realität nicht die geringste Ahnung hatten.
Es war die vollkommene Umsetzung der oft zitierten künstlichen Intelligenz. Bei Computerprogrammen bedarf es nur einer einzigen Veränderung an der richtigen Stelle, um den kompletten weiteren Ablauf zu beeinflussen. Diese besonderen Ansatzpunkte wollte man in einem Computermodell aufspüren und anschließend nach vorhandenen Parallelen zu unserer Welt suchen. Tatsächlich gelang es den Wissenschaftlern der Geschichte, diese Parallelen ausfindig zu machen. An den so entdeckten gedanklichen Knotenpunkten wäre, mittels telepathischer Eingriffe, eine direkte Beeinflussung vieler Menschen und vor allem ihrer Handlungen realisierbar gewesen. Als Auftraggeber dieses Projekts erdachte er sich die in unserer Welt existierenden Großkonzerne. Das Ziel dieser Konzerne war die emotionelle Massenbeeinflussung, um noch mehr Macht auf uns auszuüben, als unsere Politiker ihnen ohnehin schon gestatten. Eine mächtige Waffe, von der die Menschheit nie etwas erfahren würde.
Wer unsere Gedanken beeinflusst, der macht uns zwangsläufig zu seinen Marionetten.
Wir kaufen, was wir kaufen sollen und stärken so diejenigen, die uns manipulieren. Doch wie weit würde es noch führen? Letztendlich würden wir Kriege führen, weil wir einfach davon überzeugt wären. Eine Überzeugung, die andere in unsere Köpfe pflanzen. Wir wären nicht mehr frei in unseren Entscheidungen. Denn alles, was wir tun würden, hätte jemand anders für uns vorbestimmt.
Eine weltweite geistige Versklavung wäre das Endresultat.
Nachdem der Protagonist diese Absicht erkannt hatte, suchte und fand er im letzten Moment einen Weg, um das Projekt zu stoppen. Alles war vorhanden. Selbst eine dramatische Flucht gehörte zu seiner Geschichte, um die von vielen Lesern erwartete Spannung zu erzeugen.
Fast schon im letzten Moment gelang es dem Helden ungeschehen zu machen, was niemals hätte passieren dürfen. Ausgerechnet etwas, das vom Projektleiter Reiner Schwarzenbeck und seinen Experten selbst erschaffen worden war, kam ihm gerade noch rechtzeitig zu Hilfe. Es war die erste virtuelle Intelligenz „WILLI“. Benannt nach dem Chefprogrammierer Williams. Ein körperloses Wesen, welches seine Leser sofort ins Herz schlossen. WILLI hatte einen eigenen Charakter und den Wissensdurst eines Kindes.
Zusammen mit ihm, den der Erzähler via Internet kontaktierte, setzte er die komplette unterirdische Einrichtung unter Wasser, indem er die computergesteuerten Systeme lahmlegte, und somit jagten sie gemeinsam die Bösen dann letztendlich in die Flucht.
Doch war diese Hauptfigur seines Romans tatsächlich ein Held?
Völlig egal. Es gab ein paar Freunde, die seine Geschichte vorab lasen und ihn über dies nun auch noch ermutigten, sie zu veröffentlichen.
Nie fragte ihn jemand, warum er die ganze Story in der ersten Person geschrieben hatte.
Nie fragte er sich selbst, warum es dies tat. Es war wie ein innerer Zwang es so zu erzählen, als ob er alles selbst erlebt hätte.
Eines Tages, nach endlosen Absagen der renommiertesten Verlage des Landes, und allen Widersachern zum Trotz war es also endlich so weit.
Er holte das Paket nach einer schriftlichen Benachrichtigung, die er in seinem Briefkasten vorgefunden hatte, von der Post ab und eilte damit nach Hause. Noch bevor er sich seiner Jacke entledigt und seine Wohnungsschlüssel an ihren Platz gehängt hatte, wickelte er den Inhalt des Pakets aus und öffnete den darin befindlichen Karton.
Da war es nun also. Nach vielen Monaten des Wartens und der Hoffnung lag es tatsächlich vor ihm auf dem Tisch.
Sein Werk.
Von Experten gebunden und in Hochglanzkarton gehüllt. Nun sollte er den Lohn seiner Bemühungen erhalten. Er traute sich kaum es anzufassen.
Seinem Buch wurde sogar eine eigene ISBN-Nummer zugewiesen, unter der es ab sofort weltweit bestellbar sein sollte. ›Weltweit‹ Schon allein das Wort ließ ihn in Ehrfurcht erstarren und ab und zu auch schmunzeln. Immer wieder stellte er sich vor, wie ein Asiat sein Buch verkehrt herum vor sich halten würde und damit nichts anfangen könnte, nur, weil er sich während der Bestellung bei der ISBN-Nummer verschrieben hätte.
Eine alte chinesische Weisheit sagt, dass ein Mann in seinem Leben drei Dinge tun muss.
Ein Haus bauen, ein Kind zeugen und einen Baum pflanzen.
Nun, da er sich nie so richtig entscheiden konnte, in welcher Reihenfolge man dabei vorgehen musste, verzichtete er einfach darauf, diese Weisheit in ihrem vollen Umfang zu erfüllen. Was das Kinderzeugen betrifft, da war er sich jedoch etwas unsicher. Schließlich war auch er einst ein junger Mann gewesen, der keinem Flirt aus dem Weg gegangen war. Stattdessen setzte er sich eines Tages vor ein eigens dafür ausgeliehenes Laptop und begann seine Geschichte zu schreiben.
Noch bevor er auf die Idee kam, sein Werk einem Verlag vorzustellen, versuchte er sich sogar in der Kunst der Buchbinderei.
Alles, was er dazu wissen musste, lernte er aus den verschiedensten Anleitungen, die er dem Internet entnahm und in eine für sich realisierbare Form abwandelte. Er nähte damals vier Exemplare, von denen er drei an Menschen verschenkte, die ihm besonders nahe standen. Wie gesagt, handgenäht, so, wie es von den alten Buchbindern früher einmal praktiziert wurde.
Eine Ausgabe behielt er für sich selbst zur Erinnerung. Erstaunlicherweise wurden alle vier Bücher besonders vorsichtig behandelt. Es machte ihn glücklich zu erkennen, dass Menschen sie wie etwas behandelten, das man nicht in jeder Buchhandlung zu kaufen bekam. Zumindest nicht die von ihm handgebundene Version. Sie existieren alle vier heute noch und enthalten alle Fehler, die er sich während des Schreibens erlaubt hatte. Und das waren zu seiner Schande sehr viele. Aber wozu gibt es schließlich Lektoren? Ja! Seine Art zu schreiben unterstrich die Existenzberechtigung von Lektoren in besonderem Maße.
Und er war stolz. Warum auch nicht? Wenn man ein Buch schreibt und weiß, dass dieses noch existieren würde, wenn man selbst irgendwann das Zeitliche gesegnet hätte, dann war dies nun mal ein ganz besonderes Gefühl. Allein die Tatsache, dass zwei Pflichtexemplare an die deutsche Staatsbibliothek gingen, gab ihm dieses Gefühl.
Für ihn bedeutete es, dass er quasi seinen Steinmetz bereits zu Lebzeiten selbst beauftragt hatte. Er mietete sogar Speicherplatz bei einem Internetprovider, um sein Werk der Öffentlichkeit auf einer eigenen Internetseite vorzustellen. Genauso wie bei seiner ersten Fassung des Buchs legte er auch hierbei größten Wert darauf, die Internetseite alleine zu gestalten.
Selbst eine Kontaktadresse für interessierte Leser hatte er mit eingebunden. Dort konnte und kann man ihn auch noch heute erreichen, indem man ihm eine E-Mail schickt. Natürlich wurde diese Seite anfänglich nur von Leuten angewählt, die sich von ihm persönlich dazu genötigt fühlten. Aber nachdem die E-Mail-Adresse in seinem Buch veröffentlicht worden war, fand er dort immer häufiger eine kleine Nachricht vor. Geschrieben und an ihn verschickt von Menschen, die sein Buch gelesen hatten. Menschen, mit denen ihn nur sein Roman verband. Fremde Menschen, denen er im Normalfall nie begegnet wäre. Und denen er wahrscheinlich auch nie begegnen würde.
Unter den Zusendungen befand sich so ziemlich alles, was man sich nur vorstellen kann. Angefangen bei Bittbriefen, weil einige Leser glaubten, dass er nun Reichtum erlangt hätte, über Lob und Tadel bis hin zu Beschimpfungen aller Art und Güte. Selbstverständlich war er nicht in der Lage alle E-Mails zu beantworten. Auf Beschimpfungen war er übrigens auch nicht geneigt zu reagieren. Er gehörte eher zu den Menschen, die Abfälligkeiten oftmals mit Sarkasmus begegneten. E-Mails dieser Art häuften sich zunehmend.
Es gab sie inzwischen in größeren Mengen. Im Allgemeinen handelte es sich dabei nur um kurze Briefe, in denen ihm Leute meist anonym mitteilten, dass er keinerlei Ahnung vom Schreiben hätte und besser die Finger davon lassen solle. Andere Verfasser waren vermutlich einfach nur geistig verwirrt. Teilweise enthielten diese Anschreiben nur ein einziges beleidigendes Wort. Wenn der Schreiber besonders fleißig war, sogar einen ganzen Satz.
Ein solcher Absender stellte sich allerdings als besonders hartnäckig heraus.
Seine ersten E-Mails löschte Stefan jedes Mal, nachdem er sie damals gelesen hatte. Später allerdings fand er Freude daran, sie zu sammeln und zu archivieren. Er legte ein Verzeichnis unter dem scherzhaft gemeinten Namen „Der besondere Fan“ an, in dem sich im Laufe der Zeit über fünfzig Zusendungen befanden.
Alle enthielten nur einen sehr knappen Text, der sich in seiner Art immer wiederholte. Meist handelte es sich um einen kleinen Einzeiler.
„Sie ahnungsloser Narr. Sie wissen nicht, was Sie getan haben“,
stellte sich als Lieblingssatz des Absenders heraus. Dieser Satz befand sich inzwischen 39 Mal in seiner Sammlung. Wenigstens war der Verfasser der E-Mails in der Lage zwei ganze Sätze zu formulieren und gehörte damit, laut den letzten PISA-Studien, bereits zu den Intellektuellen unseres Landes.
Irgendwann hatte Stefan einfach das Bedürfnis „dem besonderen Fan“ zu antworten.
Es war ein Tag, an dem er sich wieder einmal über die vielen Unwegsamkeiten des Lebens geärgert hatte. Die neuesten Nachrichten des Tages beschäftigten sich mit einem Tsunami, der zur größten Katastrophe geführt hatte, die jemals die Anrainerstaaten im Indischen Ozean heimgesucht hatte. Die Zahl der gefundenen Todesopfer erhöhte sich dabei fast stündlich. Die Welt war erschüttert. Und auch Stefan fühlte mit denen, die in dieser Region lebten und ihre Angehörigen verloren hatten. Es war einer der schwärzesten Tage der Menschheit.
Ein Brief vom Finanzamt tat ein Übriges, um seine Laune an diesem Tag maßgeblich negativ zu beeinflussen. Draußen regnete es, wie bereits fast den kompletten Sommer lang, seit den frühen Morgenstunden anscheinend unaufhörlich. Dementsprechend ließ Stefan seine durchnässte Kleidung einfach im Badezimmer fallen, sodass sie wenigstens nicht den Fußboden der restlichen Wohnung ruinieren konnte. Dann ließ er sich ein heißes Schaumbad ein und genoss die Ruhe nach einem anstrengenden Arbeitstag. Schnell hatte er die Hausbekleidung angezogen und das Fernsehprogramm studiert, was ihn schlagartig davon überzeugte, den restlichen Abend vor seinem Computer zu verbringen.
Obwohl es erst 16.00 Uhr war, musste er sogar das Licht in seinem Büro zu Hause einschalten, um überhaupt etwas erkennen zu können.
Bei diesem kleinen Büro handelte es sich um einen Raum, der aus zwei Computern auf einer vor dem Fenster montierten Arbeitsplatte, einem selbst gebauten Schrank mit Schiebetüren und natürlich einem Aschenbecher bestand. Es war allerdings kein Arbeitszimmer im herkömmlichen Sinne, sondern diente vorrangig einem seiner Hobbys, dem Computer.
Früher versuchte er sich eine Zeit lang im Programmieren. Später baute er sich einen speziellen Computer zusammen, um damit Urlaubsfilme zu schneiden und zu bearbeiten. Und wie das nun einmal mit guten Vorsätzen so ist, so würde er dies bestimmt auch tun, sobald er die nötige Zeit dafür fände. Also irgendwann zwischen dem Ruhestand und seinem Tod.
Seitdem er einen Internetanschluss besaß, surfte er jedoch meist durch das Netz oder spielte auch schon einmal mit anderen Internet-Usern eine Partie Fernbillard oder andere Spiele, in denen er eine Chance sah, als Sieger daraus hervorzugehen.
Das Einzige, was ihm in diesem Büro bisher noch nie gelungen war, war das konzentrierte Schreiben. Das Schreiben war nur ein weiteres Hobby. Und dass sein erstes Werk inzwischen tatsächlich in einigen Buchläden feilgeboten wurde, sollte ihm als Lohn völlig ausreichen.
Zwar hatte er nie die Hoffnung, dadurch reich zu werden, aber wenigstens wurden bereits ein paar Exemplare tatsächlich verkauft. Am liebsten saß er im Urlaub in einem fremden Land vor einem einfachen Holztisch.
Nur sein Laptop und er.
An solchen Orten fühlte er sich dann wie Ernest Hemingway mit seiner alten kleinen Schreibmaschine. Losgelöst von den Sorgen des Alltags verlieh er in dieser Atmosphäre seinen Gedanken Flügel. Während andere ihre Haut in der Sonne brutzelten, saß Stefan unter einer Palme vor dem Laptop und schrieb. Hin und wieder stand er sogar mitten in der Nacht auf, weil ihm gerade ein weiterer Teil der Handlung in den Sinn kam und sofort niedergeschrieben werden musste.
An diesem Abend befand er sich jedoch nicht im Urlaub und seine nächsten Gehversuche als Autor würden noch einige Zeit warten müssen.
So saß er also in seinem Büro und schaltete seinen Rechner ein. Während der Computer das Betriebssystem noch startete, zündete er sich eine Zigarette an und war nun bereit, seine elektronische Post zu lesen und ggf. zu beantworten.
Und da war er wieder. ‚Mein besonderer Fan’, dachte er bei sich. Er erkannte ihn inzwischen bereits an der Überschrift seiner Nachricht. „Narr“. Anscheinend wollte er Stefan damit provozieren. Ihn zu einer Reaktion bewegen. Also öffnete Stefan die E-Mail sofort, in der Hoffnung einen neuen Text zu lesen. Doch Fehlanzeige. Auch diesmal wieder zierten seine Lieblingsworte den Bildschirm. Inzwischen Nr. 40. offensichtlich kopierte der Absender diesen Satz nur immer wieder in seine Briefe, die er schrieb.
„Sie ahnungsloser Narr. Sie wissen nicht, was Sie getan haben.“
Diesmal jedoch befand sich Stefan gerade in der richtigen Stimmung, um sich über solche Zeilen zu ärgern.
Also klickte er mit der Computermaus die Option „Antworten“ an und begann zu schreiben.
„Hallo, wer immer dies liest.
Ich weiß zwar nicht, was Sie mir seit Monaten sagen wollen, aber ich bin es einfach leid, Ihre Briefe noch länger zu erdulden. Ich bin mir keinerlei Schuld bewusst.
Wenn Sie nicht in der Lage sind, mir deutlich mitzuteilen, was Sie eigentlich von mir wollen, dann unterlassen Sie bitte ab sofort diese ständigen Belästigungen.
PS: Wenn Sie wieder so ein Verrückter sind, der glaubt, dass ich ihm seine Frau ausspannen will, dann rate ich Ihnen dringend einen Psychiater aufzusuchen.“
An dieser Stelle endete Stefans Brief.
Schnell beantwortete er noch ein paar andere E-Mails, bevor er seinen Computer ausschaltete und sich dann doch in sein Wohnzimmer vor den Fernseher zurückzog.
Eine Zeit lang zappte er ziellos durch die Programme, die fast alle über die neueste Naturkatastrophe berichteten.
Die offizielle Zahl der Todesopfer im Indischen Ozean hatte sich seit den Morgenstunden verdreifacht. Naturschützer gaben wie immer der Großindustrie die Schuld daran, welche mit ihren Schadstoffen und sonstigen Eingriffen in die Natur das Wetter maßgeblich beeinflussten.
Wie schon so oft in der Vergangenheit schlief er während des darauf folgenden Spielfilms ein, um pünktlich bei Sonnenaufgang mit den ihm inzwischen gut bekannten Rückenschmerzen wieder aufzuwachen.
Giovanni saß, wie an jedem Morgen, mit einem Espresso vor sich im Büro seines Reisebüros. Er genoss diese Zeit alleine im Büro. Bis zum offiziellen Dienstbeginn hatte er noch fast 45 Minuten für sich ganz alleine.
Als Geschäftsführer legte er den größten Wert darauf, morgens als Erster zu kommen und abends als Letzter zu gehen. Seine täglichen Geschäftsberichte hatte er wie üblich bereits am Vorabend zur Zentrale geschickt.
Als Spezialist für Reisen in die südlichen Regionen der Erde fing die Saison in diesem Jahr ungewöhnlich früh an.
Der Sommer in Mitteleuropa war kühl, weshalb viele Leute ihren verdienten Jahresurlaub erst im Herbst antraten.
Teilweise arbeitete Giovanni bis in die späten Abendstunden. Zu Hause wartete niemand auf ihn, weshalb er vor einem Jahr beschloss, sein Geschäft künftig bis 20.00 Uhr geöffnet zu halten. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte 8.45 Uhr.
Seine beiden Mitarbeiterinnen Frau Hellwich und Frau Waldmann erwartete er erst gegen 9.30 Uhr.
Dann wäre es mit der Ruhe erstmal vorbei, und er würde wieder den kompletten Tratsch der beiden über sich ergehen lassen müssen. Sie würden wieder über ihre Männer und ihre Kinder reden. Die Nachbarn sowie die Schwiegereltern. Giovanni hasste es, wenn Menschen in seiner Gegenwart über ihre Verwandtschaft herzogen.
Wäre es nach ihm gegangen, so würden im Betrieb ausschließlich Männer arbeiten. Aber dies lag nicht in seinem Entscheidungsbereich.
Als sein Vorgänger, der alte Herr Schönemann, den Betrieb vor nunmehr drei Jahren aufgab, wurde dieser von Giovannis Firma übernommen und er selbst in diese Stellung gehoben. Es war die einzige Zweigniederlassung in Berlin.
Weitere deutsche Filialen existierten in München, Hamburg, Frankfurt und Dresden, die jedoch alle mit Geschäftsführern deutscher Abstammung besetzt wurden. Nur in Berlin wollte man jemanden aus dem Stammhaus haben. Jemanden, dem die Geschäftsleitung in jeder Hinsicht vertrauen konnte.
Für seine Arbeitgeber war er der perfekte Mann für diese Position. Schließlich hatte er als Einziger in der Firma als Kind eine deutsche Schule in Italien besucht und das Geschäft des Reisekaufmanns von der Pike auf gelernt.
War das wirklich schon 25 Jahre her? Damals gab es mehr als 50 Bewerber um die ausgeschriebene Ausbildungsstelle. Dass man seinerzeit ausgerechnet ihn, einen Jungen, der gerade eine Jugendstrafe wegen Autodiebstahl abgesessen hatte, auswählte, überraschte nicht nur ihn. Aber so war diese Firma nun mal. Das komplette Firmenkonzept basierte auf dem Wissen und den Erfahrungen einer einzigen Familie, und wurde seit mehreren Generationen immer wieder vererbt. Es gab in der ganzen Geschäftsleitung keine Manager, die eine Universität besucht hatten oder sich mit Diplomen schmücken konnten.
Drei Jahre nach der Ausbildung wurde Giovanni von der Firma fest übernommen, und seitdem gehörte ihr seine ganze Loyalität.
Inzwischen war es ihm nur noch einmal im Jahr vergönnt, seine Familie zu Hause zu besuchen, aber das war ihm so ziemlich egal. Er gehörte schon lange nicht mehr dazu. Mit seinem durch Krafttraining gestählten Köper und seiner kriminellen Vergangenheit war er zum Außenseiter seiner eigenen Familie geworden.
Die Menschen in der Firma, die ihm damals eine Chance gegeben hatten, bildeten seitdem den einzigen Halt, den das Leben für ihn bereithielt.
So saß er, in eine Tageszeitung vertieft, im teuren maßgeschneiderten Anzug wieder einmal am Schreibtisch und wartete auf seinen ersten Kunden, als ihn das Telefon unsanft aus seinen Gedanken riss.
„Reisebüro Südseeträume! Mein Name ist Giovanni. Was kann ich für Sie tun?“
Sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung meldete sich nicht namentlich, sondern kam direkt zur Sache.
„Es gibt Neuigkeiten aus Berlin, die in dein Ressort fallen. Es geht um die alte Domenico-Sache. Du weißt, was zu tun ist.“
Giovanni kannte diese Stimme nur zu gut und wusste genau, was eine so klare Anweisung bedeutete. Er hatte damals alles über die Angelegenheit eingehend studiert. Auch wenn er nie verstanden hatte, warum man der Sache so viel Bedeutung beimaß, wusste er genau, dass er sofort handeln musste.
Das Ganze lag inzwischen so viele Jahre zurück, dass kaum noch jemand existierte, der damals dafür zuständig war.
Trotzdem kam der Seniorchef persönlich am Abend vor Giovannis Abreise nach Berlin in die Hauptzentrale, um ihn noch einmal darauf hinzuweisen, wie sehr ihm die Angelegenheit am Herzen lag.
„Ich kümmere mich um die Sache“, war das Einzige, was er erwidern konnte, bevor der andere wortlos auflegte.
Heinz saß wie an jedem Morgen aufrecht in seinem Bett und sah sich die ersten Nachrichten des Tages an.
Zu jener Zeit war der Fernseher 24 Stunden am Tag eingeschaltet. Die Berichte über die wohl größte Naturkatastrophe seit Menschengedenken bewegten den alten Mann. Inzwischen hatte er das stolze Alter von 86 Jahren erreicht, was ihn aber nicht daran hinderte, sich täglich über die Welt, die da draußen schon lange ohne ihn existierte, zu informieren.
Sein Pfleger hatte ihm vor 15 Minuten seinen Saft sowie ein paar wie immer ungenießbare Brote gebracht und wieder entsetzt den Kopf geschüttelt, weil er genau wusste, dass sein Schutzbefohlener wieder mal zu wenig Schlaf bekommen hatte. Erst am Abend zuvor hatte ihn der alte Mann gemaßregelt, weil er das Gerät abschalten wollte.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als Heinz mit dem Fernseher alleine zu lassen.
Die Nachrichtensendungen im Fernsehen waren das Einzige, was Heinz nie versäumte. Weder Spielfilme noch die vielen anderen Sendungen, die gezeigt wurden, interessierten ihn noch.
In den letzen 35 Jahren, die er an diesem Ort verbracht hatte, gab es nur seine Bücher, den Fernseher, seinen Pfleger, der inzwischen wie ein Sohn für ihn war, und ihn.
Als dieser Pfleger 1982 hier eigentlich nur seinen Zivildienst ableisten wollte, lebte Heinz dort schon. Eine ältere Pflegerin, die inzwischen ihren Ruhestand genoss, berichtete ihm, dass er sich bereits seit Ende der 70er in einem ähnlichen Zustand befunden hatte wie heute. Er wurde eines Nachts dorthin gebracht und anfangs durften nur die Ärzte zu dem alten Mann. Damals sollten nur die Eigentümer der Residenz selbst ihn besucht haben. Jedoch bekamen sie auch zu der Zeit niemand vom Personal zu sehen.
Anscheinend gab es ein Geheimnis, das mit Ausnahme von Heinz nur die Besitzer kannten und das wohl niemals ein Außenstehender erfahren würde.
‚Aber was soll’s?’, dachte sich der Pfleger. Solange die Menschen hier gut versorgt wurden, sollte es ihm völlig egal sein, wer dahinter steckte.
Er selbst war ausschließlich für Heinz und dessen Wohlergehen zuständig.
Seit einem Schlaganfall, den Heinz 1977, also fünf Jahre, nachdem er hergekommen war, erlitten hatte, fragten sich alle Ärzte, die ihn jemals behandelten, wie es möglich war, dass dieser Mann überhaupt noch lebte. Der Pfleger hatte inzwischen mehrfach erlebt, dass die Ärzte alle lebenserhaltenden Maßnahmen einstellten, um ihn in Ruhe sterben zu lassen. Doch selbst unter diesen Bedingungen konnte er das Leben einfach noch nicht loslassen.
Heinz erzählte ihm irgendwann einmal, dass er noch nicht gehen könne. Es gäbe da etwas, das er unbedingt noch erledigen müsse.
Damals fragte sich der Pfleger, was ein alter gebrechlicher Mann wie Heinz noch tun wollte. Warum konnte er nicht einfach einschlafen und seine Ruhe finden?
Erst vor ein paar Monaten war es wieder einmal so weit gewesen. Er hatte Heinz wie jeden Abend zu Bett gebracht. Heinz schien bereits den ganzen Tag über in einer Art von Tagtraum zu leben, aus dem ihn niemand erwecken konnte. Nichts, was man zu ihm sagte, schien zu ihm durchzudringen.
Der Pfleger musste diesen schwachen alten Körper damals quer durch die halbe Anlage bis in sein Zimmer tragen.
Sie hatten gemeinsam den ganzen Nachmittag im Garten verbracht und die Frühlingsluft genossen. Es gab da eine Stelle im Garten, die der Alte besonders mochte, und wo er, wie er selbst sagte, am besten nachdenken könne. Sie lag etwas abseits der Wege, wo nur selten jemand vorbeikam. Mehrmals pro Woche setzte man ihn in einen Rollstuhl und fuhr ihn dorthin.
An besagtem Tag war der Pfleger gerade einen Kaffee holen, und bei seiner Rückkehr entdeckte er, dass während seiner kurzen Abwesenheit anscheinend etwas passiert war. Die Augen des Greises waren zwar geöffnet, aber sie starrten völlig leblos ins Nichts. Im ersten Augenblick sah es so aus, als sei er tot. Erst als der Krankenpfleger dann näher kam, stellte er fest, dass sein väterlicher Freund noch atmete.
Sofort trug er ihn in sein Zimmer und rief Dr. Mangold, den Oberarzt, der vor seiner Zeit in dieser Institution lange Jahre als Chefarzt in einer renommierten Münchner Privatklinik tätig war, und national, sowie international hohes Ansehen genoss. Dieser Mann war einfach unglaublich. Egal, mit welcher Krankheit man ihn konfrontierte, Dr. Mangold wusste immer Rat. Kein Mensch konnte sagen, wie viele Menschen ihm inzwischen ihr Leben verdankten. Wahrscheinlich bereits ein großer Teil der Bewohner dieser Einrichtung.
Nur Heinz zeigte ihm bisher die Grenzen seines medizinischen Fachwissens auf.
Schließlich, einen Tag, nachdem man Heinz so vorgefunden hatte, waren alle messbaren Funktionen schon auf der berühmten Nulllinie angekommen. Dr. Mangold wollte Heinz bereits für tot erklären, als ihm irgendetwas merkwürdig vorkam. Sofort nahm er ihm Blut ab und stellte fest, dass es immer noch mit Sauerstoff versorgt wurde. Er musste also davon ausgehen, dass noch Hirnaktivitäten vorhanden waren. Weder Herz noch Lunge schienen zu arbeiten.
Trotzdem lebte etwas in Heinz weiter und niemand konnte sich erklären warum.
Der Doktor beteuerte, dass ihm in nunmehr 38 Jahren Berufserfahrung kein ähnlicher Fall bekannt war, und forderte einen Spezialisten aus den USA an, der bereits zwei Tage später eintreffen sollte.
Man erwartete also einen dieser Halbgötter in Weiß, so wie sie im Fernsehen immer wieder präsentiert wurden. Einen Arzt, der mit seinem Team anreisen, die komplette Anlage für sich beanspruchen und alle Ärzte und Schwestern beschäftigen würde.
Stattdessen tauchte jedoch drei Tage später ein einzelner Rastafari auf, der nach vielen Jahren im Ausland inzwischen wieder in seiner Heimat auf Jamaika lebte und dort auch wirkte.
Anders als bei uns, wo Ärzte ihre Macht über unser Wohlbefinden immer in weißen Kitteln zur Schau tragen, erschien dieser Mediziner im farbenfrohen Gewand, welches aus einer schwarzen Hose und einer Art buntem Umhang bestand. Sein Bart hatte eine Länge aus der man Zöpfe hätte flechten können, hing aber in einzelnen, verfilzten Strähnen bis auf die Brust, während er seine komplette Haarpracht unter einer riesigen Häkelmütze versteckte.
Trotz seines unbestrittenen guten Rufs wusste aber auch er sich keinen Rat. Er trat damals ans Krankenbett und schlug sofort seine Hände über dem Kopf zusammen.
Heinz lag inzwischen schon fast eine komplette Woche mit halb geöffneten Augen in seinem Bett und nahm die Welt um sich herum nicht mehr wahr. Genauso wie ein Autist.
Der Jamaikaner, der sich allen nur als Geoffrey vorstellte, sah aus, als ob ihm der Allmächtige selbst begegnet wäre, und stieß kleine, für alle völlig unverständliche Gebete aus. Nach ca. zwei Stunden, die er im Anschluss daran allein bei Heinz am Krankenbett verbracht hatte, erklärte er, dass weder Medizin noch irgendeine andere ihm bekannte Kraft in der Lage wäre, etwas für den Patienten zu tun. Heinz befände sich irgendwo in einer Welt, die weder im Leben, so wie wir es kennen, noch im Tod, so wie wir ihn vermuten, zu finden sei.
Er sprach noch völlig unverständliches Zeug über Voodoo und seine Vorfahren, wobei er sich keinerlei Mühe gab, sein Zittern sowie seine Hilflosigkeit vor den anderen zu verbergen. Etwas hatte Geoffrey eine Höllenangst bereitet, was man auf seiner schweißbedeckten Stirn deutlich ablesen konnte.
Ohne die Unterzeichnung der Papiere, die für seine Honorarrechnung erforderlich waren, abzuwarten, verließ er die Anlage und fuhr mit einem Taxi direkt zum Flughafen. Der Pfleger ging zurück ans Krankenbett, sah Heinz an und fragte sich, womit dieser dem Jamaikaner einen solchen Schrecken in die Glieder hatte fahren lassen, dass er nur noch den Wunsch verspürte so schnell wie möglich auf seine Insel zurückzukehren.
Der Alte befand sich anschließend noch über zwei Wochen in diesem Zustand, den sich kein Mensch auf der Welt erklären konnte. Dr. Mangold schaltete nach einer Woche und unzähligen Telefonaten mit Spezialisten auf der ganzen Welt alle lebenserhaltenden Geräte mit Ausnahme der künstlichen Ernährung ab. Er und auch der Pfleger sowie der Rest des Personals hatten längst schon Abschied von einem alten Freund genommen und alle warteten darauf, dass Dr. Mangold offiziell den Tod erklären würde.
Doch dann öffnete Heinz eines Tages einfach die Augen, tat einen tiefen Seufzer, als ob ihm gerade eine zentnerschwere Last von den Schultern genommen wurde, und fragte, was es zu essen gäbe. Und so geht es inzwischen schon seit vielen Jahren.
Seinen medizinischen Befunden nach zu urteilen, müsste dieser alte Mann schon seit über 20 Jahren tot sein und niemand hatte eine Erklärung, warum er immer noch unter den Lebenden weilte.
Wer jedoch glaubte, dass er nur noch leidend auf seinen Tod wartete, der irrte.
Heinz wusste sehr genau, was um ihn herum passierte. Er verfolgte alle Nachrichten und informierte sich ständig über das Weltgeschehen. Selbst in Zeiten, in denen er nicht ansprechbar war, musste sein Pfleger Nachrichten wie auch wissenschaftliche Berichte für ihn sammeln oder auch aufzeichnen.
Heinz war der wohl intelligenteste Mensch, dem der Pfleger jemals begegnet war.
Im Laufe der vielen Jahre waren es mehrere Hundert Bücher, die er sich regelmäßig aus der Bibliothek holen ließ und die er alle las. Teilweise saß er tagelang in seinem Zimmer, las und schrieb an irgendwelchen Dokumenten, die jedoch nie ein Mensch zu sehen bekam.
Irgendwie war es ein komisches Gefühl für den Pfleger, sich ein Leben vorzustellen, in dem er sich nicht mehr um Heinz kümmern würde. Gott allein würde wissen, wann dieser Tag käme.
Stefans Kleidung, welche noch immer als Knäuel auf dem Boden des Badezimmers lag, war aus unerklärlichen Gründen nach 12 Stunden immer noch nicht getrocknet, weshalb er nicht in die Versuchung kam, sie ein zweites Mal anzuziehen.
Also ab an das Bügelbrett, um wenigstens ein Hemd und eine Hose für den Tag zu bügeln. Als ordentlicher Hausmann bügelte er immer genau so viel Kleidung, wie er grad benötigte. Also jeweils ein Stück von jeder Sorte. Wenn es mal wieder besonders schnell gehen sollte, dann wurde auch schon mal ein Hemd von Hand gewaschen und anschließend mit dem Haarföhn getrocknet.
Er frühstückte eine Tasse Kaffee sowie zwei Zigaretten und fuhr anschließend in seine kleine Firma, wo ihn bereits ein Mitarbeiter mit einer weiteren Tasse Kaffee und einem freundlichen „Guten Morgen“ empfing.
Eine Geste, die er zwar nie von seinen Mitarbeitern verlangt hatte, aber die ihm dennoch täglich ein angenehmes Gefühl bereitete. Ein gutes Betriebsklima, das wurde ihm schon während seiner Ausbildung klar, war einfach durch nichts zu ersetzen. Wie so oft ärgerte er sich über die mehr oder weniger kleinen Sorgen, die einen Geschäftsmann plagten und sich im Allgemeinen in der täglichen Post manifestierten.
Aber genauso freute er sich über die Annehmlichkeiten, die einem als Geschäftsmann das Gefühl von Unabhängigkeit vermitteln konnten. Schließlich konnte man als beruflich Selbstständiger bestimmte Termine, wie zum Beispiel einen Friseurbesuch auf den Vormittag legen, während sich die anderen am Nachmittag mit den dafür bereitgelegten Illustrierten die Wartezeit verkürzen mussten.
Nur dass er viel zu selten Gebrauch davon machte. Deshalb mussten meistens der Haarföhn und die Haarbürste das ausgleichen, was ein regelmäßiger Friseurbesuch überflüssig gemacht hätte.
Einer seiner fünf Mitarbeiter kam an diesem Tag mit einer ungewöhnlichen Bitte zu ihm. Er hatte erfahren, dass am Abend eine Sondersendung im Fernsehen angesetzt war, um für die vielen Opfer und Hinterbliebenen der Naturkatastrophe zu sammeln.
Das Team der Mitarbeiter hatte bereits 130,00 € dafür aufgebracht und nun sollte auch der Chef seinen Teil dazu beitragen. Stefan rundete den Betrag auf 300,00 € auf, damit Frau Janke ihn am Abend, sobald die Spendentelefone geschaltet waren, unter Angabe des Firmennamens als Spende zur Verfügung stellen konnte.
Neben der guten Tat würde Stefan mit seinem Anteil sogar noch etwas Fernsehwerbung machen. Doch dies stand nicht im Vordergrund. Es waren die Notleidenden und Hinterbliebenen, die es zu versorgen galt.
Normalerweise war Stefan in solchen Dingen eher zurückhaltend, doch die persönliche Opferbereitschaft seiner Leute überzeugte auch ihn. Alle Zeitungen waren vollgestopft mit Bildern, die rund um den Erdball gingen und denen sich niemand, in dessen Brust ein Herz schlägt, entziehen konnte.
Dabei teilten sich Stefans private Gedanken an diesem Tag zwischen der Anteilnahme der vielen traurigen Schicksale und seinem mysteriösen besonderen Fan auf.
Wahrscheinlich war es genau das, was ihn dazu bewog, an diesem Vormittag seine private E-Mail-Adresse auch auf dem Firmencomputer einzurichten. Sofort nach dem Starten des Programms wurde ihm die Reaktion auf seinen Brief vom Vortag angezeigt.
Er klickte mit der Computermaus auf die zuständige Stelle und las, was sein besonderer Fan ihm schrieb.
„Endlich“
Mehr als dieses eine Wort war nicht zu lesen. Jetzt wurde er allerdings neugierig. Sofort machte er sich daran, eine Antwort zu verfassen. Stefan überlegte lange, was er darauf erwidern würde, bis er einen ebenfalls sehr knappen Text verfasst hatte.
„Warum, endlich?“
Nur diese beiden Worte waren es, die er als Antwort verschickte.
Irgendwie begann ihm dieses Spiel Spaß zu machen. Wer war der Verfasser der Briefe?
Was wollte er mit seinen Briefen erreichen?
Diese Frage beschäftigte Stefan für den Rest des Tages und noch drei weitere Tage.
Egal, ob er morgens in seinem kleinen Betrieb oder abends zu Hause eintraf, seine erste Tätigkeit war das Abrufen seiner elektronischen Post.
Nach ein paar Tagen fühlte er sich in seiner Vermutung bestätigt, es offenbar mit jemandem zu tun zu haben, der ihn einfach nur belästigen wollte. Von Menschen dieser Art wimmelte es geradezu im Internet. Leute, die sich daran labten andere zu belästigen und zu verunsichern. Egal, ob diese Leute E-Mails verschickten oder sich in sogenannten Chatprogrammen aufhielten, ihr einziges Ziel war es offensichtlich, anderen Menschen auf die Nerven zu gehen. Zumindest hatte ihr Handeln genau diesen Effekt.
Irgendwann wurde die Welt des Internets inzwischen zu einer komplett eigenen Welt mit immer mehr Bewohnern. Menschen nahmen in ihr eine völlig neue Identität an, die sie dort ausleben konnten. Man fragte sich, wie lange das wohl gut gehen konnte. Wie lange waren Menschen in der Lage, unsere tatsächlich vorhandene Realität von der virtuellen Realität eines Chatprogramms zu trennen?
So saß Stefan wieder einmal vor seinem Monitor und suchte nach einer Nachricht vom „besonderen Fan“, doch auch diesmal entdeckte er keine Reaktion auf seine eigene letzte E-Mail.
Jeder normale Mensch hätte die Sache einfach vergessen. Aber war er ein solcher normaler Mensch? Wahrscheinlich nicht. Er erwischte sich selbst dabei, dass er häufiger als sonst seine Nachrichten abrief. Teilweise mehrmals innerhalb einer Stunde.
Warum meldete er sich nicht? Eine innere Unruhe machte sich breit. Egal wer dieser anonyme Absender war, er schaffte es, Stefan neugierig zu machen. Zumindest beherrschte er etwas, das man „die Macht des Schweigens“ nannte.
Dann, am vierten Tag, war es endlich so weit. Stefan hatte gerade den ersten Schluck aus seiner Kaffeetasse genommen und das E-Mail-Programm in seinem Computer gestartet.
Aus unerklärlichen Gründen wartete er mit dieser Prozedur seit Tagen immer, bis er sich allein im Büro seiner kleinen Firma befand. Es gab ihm ein Gefühl, als ob er sich heimlich an seinen Briefkasten schleichen würde. Da er noch nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte, schien es ihm einfach das Richtige zu sein. Schließlich brachten die letzten Tage keine weiteren Erkenntnisse über den Absender der vielen Briefe.
War er einfach nur ein Spaßvogel?
Ein Freund, der ihm einen Streich spielte?
Zumindest war derjenige in der Lage Stefans Interesse zu wecken.
Paolo zog sich zum ersten Mal seit vielen Jahren allein in seine Bibliothek zurück, und jeder im Haus wusste, was dies zu bedeuteten hatte. „Der Alte will nicht gestört werden“, teilte sein persönlicher Sekretär dem restlichen Personal mit.
Es war ein sehr großes Haus mit einem gewaltigen Anwesen, in dem nur Paolo mit seiner Familie wohnte. Obwohl es bereits vor über 200 Jahren erbaut worden war und Platz für viele Generationen bot, waren es immer nur höchstens acht Familienmitglieder, die es beherbergte. Wie bereits jeder seiner Vorfahren achtete auch Paolo darauf, dass niemand in der Familie mehr als zwei Kinder zeugte. Auch er hatte sich damals daran gehalten, und so existierte nur ein einziger männlicher Nachkomme. Trotz des Reichtums, den die Familie in all den Jahren erlangt hatte, achtete man darauf, dass alles überschaubar blieb.
Paolo hatte die alten Briefe, die ihm sein Vater damals übergeben hatte, herausgeholt und studierte sie gerade, als es an der Tür klopfte.
„Ich sagte, dass ich nicht gestört werden will!“
„Er ist jetzt da“, vernahm er durch die dicke Eichentür.
Schnell verbarg Paolo die Briefe in seinem Schreibtisch. „Dann führe ihn herein.“
Die Tür öffnete sich, und der Sekretär wies Giovanni den Weg zu ihrem gemeinsamen Chef.
„Ich freue mich, dass du so schnell kommen konntest.“ Freundlich, aber dem Ernst der Situation bewusst, reichten sich die beiden Männer die Hände. „Wie hast du dich in Berlin eingelebt?“ „Eigentlich ganz gut, aber ich glaube, Sie haben mich nicht herbeordert, um mich dies zu fragen.“
„Das ist richtig. Auch wenn niemand von uns überhaupt noch damit gerechnet hatte, aber da hat jemand in Berlin Kontakt aufgenommen. Du musst der Sache auf den Grund gehen. Ich will auf jeden Fall wissen, was da los ist. Da du die Akten kennst, weißt du auch, dass ich es meinem Vater damals versprochen habe. Und wir pflegen unsere Versprechen zu halten.“
Giovanni wusste genau, wie jeder, der die Familie kannte, was sein Chef damit sagen wollte. Versprechen waren in diesen Kreisen höher einzuschätzen als Gesetze.
„Ein Ehrenwort ist Gesetz. Du weißt, wie ich darüber denke.“ Giovanni nickte kurz.
„Ich habe hier ein paar Zugangscodes, die dir alle nötigen Türen öffnen sollten. Wahrscheinlich ist die Sache ganz harmlos, aber solange wir das nicht wissen … … …“ Giovanni nahm seinem Gegenüber den Umschlag wortlos aus der Hand.
„Guten Rückflug nach Berlin. Und halte mich auf dem Laufenden!“
Wie auf Bestellung öffnete der Sekretär die Tür und Giovanni folgte ihm.
Paolo öffnete seinen Schreibtisch, um weiter in den alten Briefen zu lesen.
Es war ein Gefühl der Erlösung, das Stefan übermannte, als er seinen unbekannten Brieffreund endlich unter den Absendern entdeckte. Hastig öffnete er seine Nachricht.
„Wissen Sie wirklich nicht, was Sie getan haben? Dann sollten Sie sich mit Herrn Steinberg treffen. Denken Sie aber darüber nach, ob Sie wirklich dazu bereit sind. Mehr darf ich Ihnen an dieser Stelle nicht verraten.
Mit freundlichen Grüßen
Bernd Heider“
‚Wunderbar’, dachte Stefan bei sich. Jetzt war er endgültig verunsichert. ,Wer war Herr Steinberg und was wollte er von ihm? Warum diese Andeutungen?‘ Stefan wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.
Entgegen seiner Angewohnheit Briefe sofort zu beantworten, druckte er die Nachricht erst einmal aus, faltete sie fein säuberlich zusammen und steckte sie in seine Brieftasche.
Die Auftragslage in seiner Firma war gut. Es gab viel zu tun. Und im Allgemeinen stürzte er sich in solchen Fällen in seine Arbeit. Die Wirtschaftslage in Deutschland hatte wieder einmal eine neue Talsohle erreicht, und die neuesten Veröffentlichungen darüber ließen nur wenig Spielraum für Hoffnungen.
Er hatte also allen Grund, dafür dankbar zu sein, dass seine Branche weniger betroffen war als andere. Diese Zeit galt es zu nutzen. Schließlich hatte er auch eine Verantwortung gegenüber seinen Mitarbeitern.
Trotzdem gelang es ihm an diesem Tag nicht, sich auf seine ausreichend vorhandene Arbeit zu konzentrieren. Er musste ununterbrochen an den Brief in seiner Tasche denken. Frau Janke, eine seiner Mitarbeiterinnen, bekam wieder einmal ein paar Sonderaufgaben zugewiesen.
Sie war inzwischen seit vier Jahren für ihn tätig und hatte sich während dieser Zeit für ihn unentbehrlich gemacht. Wie hätte er zu jener Zeit ohne ihre Mitarbeit überhaupt mit der vielen Arbeit klarkommen sollen? Diese zierliche Frau mit ihrem unscheinbaren Wesen und der völlig unmodischen, von grauen Haaren durchzogenen Kurzhaarfrisur war inzwischen die Seele des Geschäfts.
Egal, wer vor ihr stand und wie groß sein Problem auch sein mochte. Sie lächelte aus einem fast ungeschminkten Gesicht ihr Gegenüber freundlich an, und im selben Moment gab sie jedem das Gefühl, ihr alles anvertrauen zu können.
Auch an diesem Tag trug sie ein graues Kostüm und die rote Bluse, die ihre Kollegen ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatten. Alles in einem einwandfreien Zustand, so, als ob sie die Sachen erst am Morgen gekauft hätte.
Mehr als einmal nahm Stefan ihre Eigenschaft, Menschen mit ihrer Freundlichkeit auf Anhieb in ihren Bann zu ziehen, in Anspruch. Man bekommt im Laufe der Jahre ein Gespür dafür, wann man selbst mit jemandem reden musste oder eine andere Person besser dafür geeignet war. Und Stefan musste sich selbst eingestehen, dass es oft Frau Janke war, die Menschen mit ihrer inneren Ruhe besser überzeugen konnte als er.
Sie war damals auch die erste Person, der er das Manuskript seines ersten Buchs zu lesen gab. Damals noch nicht lektoriert und mit allen von ihm dekorativ angerichteten Rechtschreibfehlern. Was würde er wohl tun, wenn sie eines Tages in ihren wohlverdienten Ruhestand gehen würde. Sie war inzwischen 61 Jahre alt und er wusste, dass dieser Tag immer näher rückte.
Auch zu jener Zeit konnte er sich wie immer auf ihren Fleiß verlassen. Mehrmals fasste er sich an seine Brusttasche und überlegte, ob er ihr den Brief zeigen sollte. Jedoch tat er es an diesem Tag nicht. Der Brief und sein Absender würden bis zum Abend warten müssen.
Um 17.00 Uhr verabschiedete sich Frau Janke, und auch Stefan hatte seine Arbeit für diesen Tag irgendwie hinter sich gebracht. Also beschloss er, Feierabend zu machen. Er stieg in sein Auto, fuhr auf dem Heimweg noch an einem Imbissstand vorbei, wo er eine Currywurst mit Pommes frites hastig in sich hineinstopfte. Sofort nach dem Eintreffen in seiner Wohnung schaltete er seinen Computer ein.
Dann zog er den ausgedruckten Brief aus seiner Tasche, legte ihn neben seine Tastatur und erging sich in den verschiedensten Spekulationen.
„Wer war wohl Herr Steinberg und wer dieser Bernd Heider.“
Er kam zu dem Entschluss, dass es sich um jemanden handeln musste, der sich in irgendeiner Form von ihm angegriffen fühlte. Wahrscheinlich war einer der beiden der vermeintlich Angegriffene selbst und der andere sein Anwalt.
Sollte es etwas mit seinem Buch zu tun haben, dann konnte er sich beim besten Willen niemanden vorstellen, den er mit seiner Geschichte verletzt haben könnte. Die einzigen realen Personen, die in seiner Geschichte von damals auftauchten, waren Dr. Birnbaum und Klaus.
Bei Doktor Birnbaum handelte es sich dem Charakter nach um Dr. Winfried Teichmann, einem Vorstandsmitglied des Konzerns, dessen Produkte er seit Jahren verkaufte, und der Stefan laut seinem Roman damals in das Projekt eingeführt hatte. Allerdings konnte Stefan davon ausgehen, dass Winfried Teichmann seinen Roman nicht kannte, weil dieser bereits über ein Jahr vor dem Erscheinen des Buches nach Italien versetzt worden war, um dort eine Niederlassung des Konzerns zu leiten.
Stefans Freund Klaus gab ihm seine ausdrückliche Zustimmung und erklärte damals: „Klasse, wenn du jetzt Schriftsteller wirst, dann kann ich ja deine Kunden mit übernehmen.“ Dabei lachte er schelmisch.
Sie malten sich im Scherz die tollsten Dinge aus.
Nach dem Buch sollte zunächst erst einmal ein Film dazu erscheinen. Selbstverständlich dürfte kein geringerer als Steven Spielberg oder Roland Emmerich Regie führen. Anschließend würden natürlich diverse Merchandising-Produkte den gesamten Weltmarkt überschwemmen. Und zu guter Letzt würde man Disneyworld abreißen und an seiner Stelle einen Themenpark zu Stefans Buch errichten.
Sie lachten damals, während sie sich diesen ganzen Blödsinn ausdachten, laut los und bestellten sich noch ein paar weitere Drinks.
Es war einer dieser Tage, an denen sie sich den Luxus gönnten, gemeinsam zu Mittag zu essen. Aus diesem Anlass traf man sich wechselseitig einmal in einem von Klaus bevorzugten Restaurant und beim nächsten Mal in einem, das Stefan aussuchte.
Sie hatten den ganzen Nachmittag zusammengesessen und darüber fast die Zeit vergessen.
Frau Janke erklärte sich bereit, zum Feierabend die Computer herunterzufahren, und so konnte sich Stefan den ganzen Nachmittag über freinehmen. Klaus, der ohnehin eher der berufliche Einzelkämpfer war, hatte sämtliche Routinearbeiten an drei freischaffende Mitarbeiter delegiert und sein Büro bereits vor Jahren im Keller seines Hauses eingerichtet.
Klaus, – sein großer dicker Freund –, wie Stefan ihn oft nannte, hatte wie immer ausgiebig gespeist, und so konnten sie sich bis in die Abendstunden ungestört den verschiedensten geistigen Getränken widmen. Leid tat Stefan an diesem Abend nur der Taxifahrer, der zunächst Klaus und dann ihn zu Hause absetzte.
Klaus hatte genau das richtige Pensum an Alkohol konsumiert, um in Sangeslaune zu sein. Während Stefan die eigenwilligen Interpretationen der verschiedensten Musicals bereits kannte, wurde der arme Taxifahrer mit ein paar kulturellen Leckerbissen bombardiert, die er sicherlich noch tagelang in den Ohren hatte.
Stefan dachte immer wieder mit Freuden an die gemeinsamen Abende mit Klaus zurück, an denen sie sich stundenlang ernsthaften Themen widmeten und im nächsten Augenblick bereits dabei waren, sich in den verschiedensten Facetten des Humors zu verlieren. Oftmals reichte bereits eine einzelne Randbemerkung oder eine kleine Geste, um diesen Stimmungswechsel herbeizuführen.
Doch mit wem hatte Stefan es diesmal zu tun?
Eben noch an Klaus denkend, galt sein Interesse schlagartig wieder der Anwalt/Mandantentheorie.
Nur so ergab es einen Sinn, dass er es offensichtlich mit zwei Personen zu tun hatte. Doch wer war nun wer von den beiden? Wahrscheinlich würde er die Antwort auf diese Frage, wie so oft, auch diesmal im Internet finden.
Zu einer früheren Zeit gaben Menschen Unmengen an Geld dafür aus, um sich innerhalb mehrerer Jahre eine Lexikothek auf Abzahlung zuzulegen. Inzwischen nutzte kaum noch ein Mensch Lexika, es sei denn, er besaß keinen Internetzugang.
Die Informationen, die man dort erhalten konnte, waren im Allgemeinen wesentlich aktueller und mindestens genauso schnell verfügbar. Selbst das Lesen der Tageszeitung war inzwischen via Internet möglich. Online Radio hören und auch fernsehen. Firmenadressen, Telefonbücher. Egal, was jemand suchte, das Internet hielt die meisten Antworten für uns bereit.
Also gab Stefan beide Namen in eine Suchmaschine ein. Er begann mit dem Namen Steinberg und drückte im Anschluss die Eingabetaste.
Sofort füllte sich eine Suchergebnisseite und kündete mit ihren Links (so nennen Internetbenutzer ein Feld, welches sie mit der Maus anklicken, um weitere Seiten zu erreichen) 14 weitere Seiten als Auswahl an.
„Zeit, mir eine Zigarette anzuzünden“, befand er und machte sich umgehend an die Arbeit jede angebotene Seite zu durchsuchen.
Nebenher verkündete der Lautsprecher eines kleinen Radios in einer Ecke des Raumes die neuesten Zahlen über die Ausmaße der Katastrophe im Indischen Ozean. Nach jedem Musikstück wurden verschiedene Kontonummern genannt, auf die man eine Spende einzahlen konnte. Doch darum hatten sich die Mitarbeiter seiner Firma bereits tagsüber gekümmert.
Frau Janke saß inzwischen mit Gewissheit bei sich zu Hause vor dem Fernseher, um mit den zusammengetragenen 300,00 € eine gute Tat zu vollbringen.
Auf Stefans Bildschirm war der Name Steinberg jeweils besonders hervorgehoben und ein paar Stichworte stellten einen Zusammenhang zum Themengebiet der zu erwartenden Seite her.
Die meisten Einträge, welche er im Internet fand, verwiesen auf einen Soft- und Hardwarehersteller, der verschiedene Produkte zur professionellen Musikbearbeitung anbot. Nach kurzer Zeit erkannte er die Einträge dieser Firma auf Anhieb, sodass er sich auf die restlichen konzentrieren konnte.
Da gab es einen Heinrich Steinberg, über den eine Münchner Tageszeitung einen Artikel veröffentlicht hatte, weil er fünf Monate zuvor einen Räuber in die Flucht gejagt hatte. Es handelte sich bei dem Mann um einen ehemaligen Postbeamten, der eines Morgens auf dem Heimweg von einem Jugendlichen überfallen worden war, nachdem er seine Pension von der Postbank abgeholt hatte. Sicherlich war diese Geschichte einen Artikel in der besagten Tageszeitung wert, konnte aber unmöglich etwas mit Stefan tun haben.
Dann stieß er auf einen Manfred Steinberg, der als Fachanwalt für medizinische Kunstfehler diverse Artikel in Fachzeitschriften veröffentlichte und ein eigenes Internetforum unterhielt, in dem sich Opfer der Medizin öffentlich zu Wort melden konnten.
Auch dieser Steinberg konnte unmöglich derjenige sein, mit dem er sich laut Heider unterhalten sollte.
Er erfuhr, dass Sven Steinberg, ein 14-jähriger Fußballspieler, mit seinem Verein in die Merseburger Kreisliga aufgestiegen war, und fand noch eine Familie Steinberg, die sich auf verschiedenen Seiten als eine deutsche Musterfamilie in Szene setzte. Selbst der für seinen Geschmack ausgesprochen hässliche Haushund der Familie wurde, für diese Darstellung eines trauten Heims, ganze 13 Mal abgelichtet.
Er schickte den Namen Steinberg noch zusammen mit Begriffen wie „Anwalt“ und „Rechtsanwalt“ auf eine Reise durch das Netz, aber mehr als den medizinischen Fachanwalt gab das WWW nicht her.
Also musste es sich bei Steinberg um den Mandanten und bei Heider um seinen Anwalt handeln, mutmaßte er.
Er wiederholte die ganze Prozedur noch einmal mit dem Namen Heider. Doch auch diese Suche verlief erfolglos.
Bei Heider kannte er durch die E-Mail den Vornamen, was die Suche wesentlich verkürzte. Nun war er um die Erkenntnis reicher, dass weder Anwalt noch Mandant berühmt genug waren, um im Internet Erwähnung zu finden.
Trotzdem war er davon überzeugt, dass ihm mit Gewissheit ein Rechtsstreit bevorstand. In diesem Punkt war er sich ganz sicher. Zu gern hätte er gewusst, welcher der beiden der Anwalt und welcher der Mandant war. Auch was er dem Mandanten angetan haben sollte, hätte ihn im Vorfeld brennend interessiert. Denn so hätte er wenigstens die Möglichkeit gehabt, sich auf ein Gespräch mit diesem ominösen Steinberg vorzubereiten.
„Wann wollte er hier sein?“ Dennis sah sich in der Runde um und stellte fest, dass nicht nur Caroline, sondern auch die restlichen fünf Kommilitonen eine Antwort auf ihre Frage erwarteten. „Eigentlich sollte er schon seit einer Stunde hier sein. Ich verstehe das nicht. Es wäre das erste Mal, dass er einen Termin versäumt. Und ihr wisst ja, wie er immer sagt …“ Alle sieben stimmten mit ihm im Chor ein: „Pünktlichkeit ist eine Zier …“ Sie lachten schallend los, bis Jenny plötzlich ganz ruhig wurde. „Ungewöhnlich. Das passt gar nicht zu ihm.“
Alles war vorbereitet, und jeder der Anwesenden hatte sich auf diesen Abend gefreut.
Es sollte der Abschlussabend des Projekts sein, und heute wollten sie dem Professor ihre Arbeiten übergeben. Alle sieben studierten an der Universität in Marburg Philosophie im vierten Semester.
Auf das Projekt, an dem sie seit drei Monaten arbeiteten, wurden sie aufmerksam, als Patrick damals das Buch „Im Netz der Gedanken“ gelesen und im Anschluss den anderen von der darin enthaltenen Theorie erzählt hatte.
Sofort teilten sich die Ansichten der Studenten in zwei Lager auf. Während die einen eine solche Theorie begrüßten, lehnten die anderen diese vehement ab.
Der Professor, ein Verfechter von Arbeitsprojekten, stellte es seinen Studenten frei, sich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen. Übrig blieben die sieben Anwesenden, die ihre Ergebnisse an diesem Abend ihrem Professor vorstellen wollten. Caroline war die erste der Gruppe, die herausfand, dass ähnliche Denkansätze bereits in alten chinesischen Weisheiten existierten, und forschte auf diesem Gebiet.
Die restlichen sechs erarbeiteten ein Konzept, in dem sie alles zusammentrugen und in komprimierter Form niederschrieben. Dabei kamen sie zu folgenden Ergebnissen:
Menschen sind für die meisten von uns nicht mehr als biologische Maschinen, in denen ein zufällig entstandener Computer, den wir Gehirn nennen, als Leitzentrale fungiert. Es war alles im Grunde ganz einfach. Ein kleiner elektrischer Impuls von dieser Leitzentrale an die richtige Stelle ausgesandt, und wir öffnen unsere Finger. Ein weiterer Impuls, und wir schließen sie wieder.
Einen Kippschalter betätigte man, und im Zimmer ging das Licht an. Eine weitere Betätigung löschte es wieder.
Alles war erklärbar. Jede Kraft war kontrollierbar oder würde es durch unser technisches Verständnis eines Tages sein. Immer größere und komplizierter werdende Maschinen wurden entwickelt. Man arbeitet seit Jahren daran, selbst Naturgewalten nicht nur vorher zu erkennen, sondern sie sogar zu beeinflussen. Eines Tages wären wir in der Lage, selbst einen Tornado in seine Schranken zu weisen. Wir erforschten den Weltraum und landeten auf dem Mond. Wir wussten inzwischen sogar, dass es auf dem Mars vor langer Zeit einmal Wasser gegeben haben musste. Wasser, der Ursprung des Lebens, wie wir vermuteten.
Alles folgte den uns bekannten physikalischen Gesetzen. Alles war, wie gesagt, erklärbar.
Alles, außer den sogenannten Psi-Kräften.
Die Gruppe kam zu der Erkenntnis, dass auch diese schon seit Anbeginn der Welt existierten. Oder bereits vor unserer Welt existiert hatten. Was aber, wenn wir selbst nur die Produkte dieser Kräfte waren? Wenn alles um uns herum nicht mehr war als eine gemeinsame Illusion? Erschaffen von uns – für uns.
Wissenschaftler der ganzen Welt versuchten diese Kräfte immer wieder zu untersuchen, und wenn sie keine Erklärung für ihre Existenz abgeben konnten, dann wurde derjenige, der offensichtlich über diese Kräfte verfügte, als Betrüger abgestempelt. Sei es Uri Geller, Nina Kulagina oder viele andere, die irgendwann scheinbar aus dem Nichts auftauchten und meist genauso schnell wieder verschwanden.
Einem Bericht zur Folge soll zum Beispiel Uri Geller seine Gabe von einer außerirdischen Macht erhalten haben, die ihn in Israel, wo er damals geboren wurde, im Alter von acht Jahren heimsuchte. Der Verfasser dieses Berichts legte den größten Wert darauf die Geschichte dermaßen zu übertreiben, dass man als Leser zum Schluss nur noch an Betrug und Scharlatanerie glauben konnte.
Nina Kulagina wurde laut einem anderen Bericht nur von den Wissenschaftlern der UDSSR untersucht. Die westliche Welt war damals ohnehin nicht bereit, irgendetwas aus diesem Land anzuerkennen. Also konnte man auch sie und ihre Fähigkeiten ohne Angabe von Gründen einfach ablehnen.
Es gab noch unzählige dieser Menschen, die entweder Materie durch ihren Geist bewegen, den Herzschlag anderer Lebewesen beeinflussen oder sich sogar ohne fremde Hilfe selbst in die Luft erheben konnten.
Da unsere Physik diese Dinge nicht erklären kann, musste man diesen Phänomenen anders begegnen. Wo kämen wir denn hin, wenn unsere Wissenschaftler zugeben müssten, Dinge nicht zu verstehen? Wenn unsere großen Denker und Vorbilder nicht mehr wären als neugierige Kinder, denen die Antworten auf unsere vielen Fragen einfach fehlten?
Nein, das durfte nicht sein. Was wir nicht verstanden, das gab es nicht. Wir lehnten es einfach ab. Und das taten wir inzwischen schon, seitdem Adam und Eva vom verbotenen Baum der Erkenntnis aßen.
Wir logen und betrogen uns selbst, um unsere eigene Existenz zu schützen. Wir strebten seit Anbeginn unseres Seins danach, im Mittelpunkt der Welt zu stehen. Für die meisten von uns war es schon unvorstellbar, dass alles, einschließlich uns selbst, laut Darwin durch eine Abfolge von Zufällen entstanden sein soll. Da wäre es doch ein viel schöneres Gefühl, an eine Schöpfungstheorie zu glauben, in der wir von einer höheren Macht zum Mittelpunkt des Seins erschaffen worden waren. Wir wären wichtig. Zu diesem Thema teilte sich die Menschheit inzwischen in zwei Lager auf, die ihre Ansichten offen verteidigten. So fand zum Beispiel im Januar 2006 in Harrisburg (Pennsylvania) eine Gerichtsverhandlung der besonderen Art statt. Das Gericht sollte klären, ob ›Intelligent Design‹ kurz ›ID‹ genannt, eine religiöse Vorstellung war oder aber eine Wissenschaft. Also auf Fakten und Versuchen gegründet und experimentell überprüfbar.
Der Grundgedanke dieser neuen Theorie (oder sollte man Religion sagen?) bestand darin, dass eine perfekte Welt wie die unsere nicht zufällig entstanden sein konnte. Der einzige Unterschied zur bisherigen Schöpfungstheorie bestand lediglich darin, dass kein Gott personifiziert und mit einem Namen versehen wurde.
Dass eine solche Gerichtsverhandlung ausgerechnet in den USA stattfand, hing mit Sicherheit damit zusammen, dass sich die amerikanische Verfassung auf den Glauben an Gott stützte. Dieser Glaube fand sich, für alle sichtbar, selbst auf der Ein-Dollarnote wieder, die die Worte „In God we Trust“ zierten. (wir vertrauen auf Gott!)
Dieser Glaube und die Evolutionstheorie standen also im direkten Widerspruch zueinander und führten bei vielen Menschen zu einer Desorientierung, mit der sie nicht mehr umgehen konnten. Solange Menschen eine Religion verfolgten, glaubten sie an eine höhere Macht. An jemanden, der über allem wachte und uns für unsere Verfehlungen zur Rechenschaft ziehen würde. Dabei war es völlig egal, welcher der verschiedenen Religionen man angehörte und an welchen Gott oder welche Götter man glaubte. Früher wurde Menschen während ihrer Kindheit mehr oder weniger der Glaube an Gott und seine Allmächtigkeit vermittelt.
Dieser Glaube geriet allerdings mit Verbreitung der Evolutionstheorie immer mehr ins Abseits. Zunehmende Kriminalität als Folge mangelnder Moralbegriffe war eine Entwicklung, die man immer wieder beobachten konnte.
Es stellte sich die Frage, ob dies auch eine mögliche Ursache für die Ziellosigkeit war, die wir bei nachfolgenden Generationen immer häufiger feststellen konnten, und die so manche Eltern oftmals bis an den Rand der Verzweiflung führte. Kein Wunder also, dass die Anhänger der ID um ihre Anerkennung kämpften. Und vielleicht würde eine solche Anerkennung wenigstens einen Teil der einst vorhandenen Moral in unser Leben zurückbringen. Doch, wie gesagt, machten uns übersinnliche Phänomene, die weder mit dem Glauben noch mit der Wissenschaft im Einklang standen, einfach Angst. In früheren Zeiten löste man bestimmte Probleme auf eine andere Weise. Im Mittelalter wurden Menschen, die nicht in die allgemeine Logik oder Glaubensvorstellung passten, kurzerhand verbrannt. Heute beschränkten wir uns lediglich darauf, sie zu verleugnen. Die Medien dienten uns dabei als geeignetes Werkzeug. Ein kleiner Hinweis hier, eine kurze Verleugnung dort, und schon verlor ein Mensch über Nacht alles, was er war und hatte. Nicht zuletzt sogar seine Ehre.
In jedem Fall jedoch seine Glaubwürdigkeit.
Wem nützte da ein kleines Dementi als Einzeiler auf Seite sieben, wenn der Ruf eines Menschen bereits über mehrere Tage lang in den Schlagzeilen öffentlich hingerichtet wurde?
Nun, wo war er also geblieben, der Unterschied zur Hexenverbrennung?
Es galt die Devise, was wir nicht erklären konnten, das gab es auch nicht. Für sogenannte übersinnliche Dinge diente in unserer Vorstellung der Computer in unseren Köpfen als Energiequelle. Schließlich wussten wir seit der Erfindung der Ätherwellen, dass es möglich war, bestimmte Energien durch die Luft zu transportieren, auch wenn diese für das menschliche Auge nicht sichtbar waren.
Um diese Wellen und die damit transportierten Informationen wie zum Beispiel die neuesten Nachrichten, den Wetterbericht oder auch nur Musik auffangen zu können, bedurfte es teilweise nicht einmal eines Empfangsgerätes. Wenn man nah genug an der Quelle dieser Information wohnte, dann war es oftmals sogar möglich starke Sender in der heimischen Küche zu empfangen, wo die elektrische Herdplatte als Wiedergabegerät fungierte.
Alles bestand also nur aus Physik. Sender und Empfänger.
Doch lagen unsere Wissenschaftler damit wirklich richtig?
Funktionierte unsere Welt wirklich so einfach?
Im Laufe der letzten drei Monate kamen der Gruppe immer mehr Zweifel. Alles begann mit der Frage, wo endet eigentlich unsere Welt. Von der Erde hatten wir uns längst erhoben, und laut einer amerikanischen Fernsehserie sollten wir nun in fremde Welten aufbrechen, die nie zuvor ein Mensch gesehen hatte. Nachdem wir uns selbst über viele Jahrtausende als Zentrum des Seins verstanden, machten wir uns auf einmal ganz klein.
Die Erde wurde in unseren Köpfen, fast über Nacht, kleiner als ein Stecknadelkopf im Heuhaufen. Es gab zu viel zu entdecken. Und auch die Studenten fragten sich, wie wohl jeder von uns, was uns da draußen erwarten würde.
Wo befand sich das Ende? Und wie sah es aus? Befand sich unser Weltall in einer Kuppel? Oder in einer Glaskugel?
Man konnte es mit den kleinen Glaskugeln vergleichen, die einem Schweizer Erfinder zu Reichtum verhalfen. Die Idee dazu hatte er, nachdem er während eines Schneesturms mehrere Stunden in seinem VW-Käfer eingeschlossen war.
Es handelt sich um die Kugeln, in denen sich eine kleine Landschaft, eine Flüssigkeit und ein paar weiße Krümel befanden. Man nahm sie in die Hand, schüttelte sie kurz durch und beobachtete, wie sich der Schnee in der Kugel langsam über die bunte Landschaft in ihrem Inneren legte.
Befanden wir uns in einer ähnlichen Kugel? Gab es jemanden, der uns kurz schüttelte und dann beobachtete, wie wir darauf reagierten?
Nach einiger Zeit erschien den angehenden Philosophen auch diese Vorstellung unglaubwürdig. Denn in welcher Kugel sollte sich derjenige befinden, der unsere Kugel schüttelte, und so weiter.
Für sie wurde es zu einer Frage, auf die es niemals eine Antwort geben konnte. Es musste etwas anderes sein, woraus unser Leben bestand.
Was wäre also, wenn alles nur für uns existierte?
Was wäre, wenn wir uns unsere Welt, wie wir sie kannten, selbst erschaffen hatten, so wie der Buchautor es andeutete?
Wir wären nicht mehr als das Produkt einer geistigen Energie, die weder Raum noch Zeit bräuchte. Alles, was wir erlebten, wäre nur vorhanden, weil wir etwas brauchten, das wir verstehen könnten. Aus jener geistigen Energie erschaffen, die uns selbst ausmachte.
Waren diese Gedanken vielleicht der nächste logische Schritt?
Dachten wir einmal zurück. Versetzten wir uns zurück in unsere Kindheit. Lange bevor man uns die Welt, wie wir sie kannten, erklärt hatte. Damals war etwas anders.
Das Stichwort hieß Fantasie. Das größte Gut, welches wir besaßen. Nur in der Fantasie waren wir frei von sämtlichen Zwängen des Lebens.
Man sprach dabei oft von dem schlichten Gemüt eines Kindes. Man konnte behaupten, dass Kinder freier waren als Erwachsene. Kinder konnten in ihren Träumen über unsere Welt fliegen. Sie frei von allen Regeln erfassen. Vielleicht konnten sie unsere Welt sogar neu entstehen lassen. Michael Ende versuchte genau das in seiner unendlichen Geschichte zu beschreiben. Ich denke, also bin ich.
Es gab unzählige Seiten, die die sieben jungen Leute zusammengetragen und für sich ausgewertet hatten.
Sie sprachen den ganzen Abend über die verschiedensten Für und Wider ihrer Arbeit.
Was der Professor wohl dazu sagen würde?
Es war inzwischen 22.00 Uhr und er schon drei Stunden überfällig.
Gerhard saß gerade mit seiner Tochter Julia am Tisch und wartete auf das warme Abendessen, welches Marlis seit einer Stunde in der Küche vorbereitete. Er hatte Julia, nachdem sie ihn wieder einmal in ihrem Lieblingsspiel an der Playstation besiegt hatte, ins Badezimmer geschickt, damit sie sich vor dem Essen noch die Hände wusch.
Marlis hatte inzwischen den Tisch gedeckt und der aus der Küche strömende Duft bestätigte ihm wieder einmal, dass er eine Köchin der Extraklasse geheiratet hatte. Eigentlich hatte er seit damals ein schlechtes Gewissen. Für ihn hatte sie ihr Studium aufgegeben und sich, seitdem sie damals schwanger geworden war, völlig ihren häuslichen Aufgaben hingegeben. Sie war einfach eine fantastische Mutter und Ehefrau. Seit einigen Jahren die Ehefrau eines Anwalts, der oftmals bis in die späten Abendstunden arbeitete.
Marlis war gerade wieder auf den Weg in die Küche, als das Telefon klingelte.
„Bleib sitzen Schatz, ich werde mal hören, wer uns heute stört“, rief sie ihrem Mann zu.
Nach einem kurzen Wortwechsel, in dem sie dem Anrufer versicherte, dass Gerhard ihn gleich nach dem Essen zurückrufen würde, beendete sie das Gespräch und widmete sich wieder ihrer Familie.
Gerhard war ein Freund von Klaus, der ihn und Stefan vor einigen Jahren anlässlich einer kleinen Firmenparty, die er damals veranstaltet hatte, miteinander bekannt machte.
Stefan wusste nicht besonders viel über Gerhard. Er war der Anwalt, dem Klaus sein Vertrauen schenkte, und gegen den sich Stefan bei einem weiteren Treffen nur mit Mühe im Billard zur Wehr setzen konnte. Er erledigte noch zwei Mahnsachen für Stefan und war die Adresse, an die auch er inzwischen sämtliche Strafmandate schickte, die er im Laufe der Zeit erhielt.
Drei Stunden und, aus Stefans Sicht, genau vier verlorene Billardpartien später stand er mit Gerhard am grünen Tisch und baute gerade wieder die Kugeln für die nächste Runde auf.
„Der Verlierer muss die Kugeln neu aufbauen, vorher aber noch die nächsten Drinks bestellen“, waren die letzten Worte von Gerhard. Dass er dabei schelmisch grinste, ärgerte Stefan etwas, aber das würde er sich niemals anmerken lassen.
Gerhard hatte sich an diesem Abend nach dem Essen im Kreise seiner Familie sofort bereit erklärt, sich mit Stefan auf ein paar Spielchen zu treffen. Zwar hatte ihn Stefan bereits am Telefon vorgewarnt, dass er bei dieser Gelegenheit auch gern Gerhards Meinung zu einem Rechtsthema hören wollte, aber das machte ihm überhaupt nichts aus. Schließlich war Stefan bei dieser Begegnung ein willkommenes Opfer am Billardtisch, und das sollte für den Queue schwenkenden Juristen Lohn genug sein.
Gerhard war wesentlich kleiner und auch schlanker als ihr gemeinsamer Freund Klaus. Anwalt wurde er auf dem zweiten Bildungsweg, was wahrscheinlich zur Wirkung hatte, dass er als Jurist nie seine gesellschaftliche Bodenständigkeit aufgegeben hatte. Seine Oberlippe zierte ein kleiner Schnauzbart, den alle als optimale Ergänzung zu seiner schwarzen, immer perfekt gestylten Haarpracht empfanden. Rein optisch war Gerhard der Inbegriff eines Südländers, was ihm, im Gegensatz zu Stefan und natürlich auch zu Klaus, erhebliche Pluspunkte in der Gunst der Damenwelt einbrachte.
Selbst die damals noch neue Bedienung seines italienischen Stammlokals soll ihn, bei seinem ersten Besuch, für einen Landsmann gehalten und ihn in der vermeintlich gemeinsamen Landessprache angesprochen haben.
Gerhard nutzte diesen Umstand nur zu gern schamlos aus, wenn er wieder einmal mit Freunden und ohne Ehefrau am Arm unterwegs war. Seine Wortgewandtheit beim Flirten verfehlte nie ihr Ziel. Er machte sich einen Spaß daraus, die Auserwählte erst im letzten Moment mit Bildern von Frau und Kind zu schockieren.
Während die beiden an diesem Abend auf die vom Verlierer bestellten Getränke warteten, fragte Gerhard, was er denn juristisch für seinen Gegenspieler tun könnte. Es war gerade eine günstige Zeit, kurz über Stefans Anliegen zu sprechen, denn das Lokal hatte sich inzwischen gut gefüllt, was mit einer verlängerten Wartezeit einherging. Schließlich vertrat Gerhard die Auffassung, dass sie ohne die, wie er es nannte, Beute aus Stefans letzter Niederlage unmöglich das nächste Spiel beginnen könnten.
Also erzählte Stefan ihm von den E-Mails und seinem Verdacht, dass ein Anwalt dahinter stecken könnte. Jetzt war Gerhard in seinem zweiten Element, welches er neben dem Billardspiel über alles liebte.
Er war zwar mit Leib und Seele Jurist, aber da er zuvor als Polizist gearbeitet hatte, betrieb er zugleich leidenschaftlich gern Recherchen jeglicher Art. Schließlich hatte er früher als Polizeibeamter eine Karriere als Ermittler bei der Kriminalpolizei angestrebt, bis er eines Tages mit ansehen musste, dass Recht zu haben und Recht zu bekommen in Deutschland nicht immer dieselbe Bedeutung hat. So musste er als Zeuge einer Gerichtsverhandlung beiwohnen, in deren Verlauf ein eindeutig Schuldiger wegen eines Formfehlers, den er selbst bei der Verhaftung begangen hatte, ohne Bestrafung die heiligen Hallen von Justitia verlassen durfte.
Nur zwei Wochen später wurde derselbe Mann wegen Totschlags an drei Menschen verhaftet, wobei er unter Drogeneinfluss zwei Polizisten so schwer verletzte, dass einer der beiden noch in derselben Nacht verstarb, und der zweite, ein persönlicher Freund und Kollege von Gerhard, seit diesem Tag im Rollstuhl saß.
Seitdem versuchte Gerhard auf seine Art der blinden Justitia wenigstens zeitweilig das Sehen zu ermöglichen.
Kurz vor Mitternacht saßen die beiden immer noch mit leeren Gläsern vor sich am Tisch. Die beiden Namen, die Stefan dem Anwalt nannte, so erklärte Gerhard, seien ihm zwar noch nicht beruflich untergekommen, aber das habe absolut nichts zu bedeuten. Schließlich wusste man nicht einmal, ob es sich um einen in Berlin zugelassenen Juristen handelte. Er warf noch mit ein paar lateinischen Redewendungen um sich, um keinerlei Zweifel an seiner Reputation als Anwalt und Detektiv aufkommen zu lassen.
So ziemlich der einzige lateinische Begriff, den Stefan damals kannte, war die scherzhaft gemeinte Abstammung des Wortes „EHE“. Errare humanum est. Was so viel bedeutet wie „irren ist menschlich“.
Zwar brachte ihm das auf Partys einige Lacher ein, aber an diesem Abend hatte er ganz andere Sorgen.
„Hast du es schon mal im Internet versucht?“, fragte Gerhard. „Dort findet man häufig Namen, Daten und Fakten viel schneller als in unseren Bibliotheken.“
Stefan unterrichtete ihn von seinen erfolglosen Versuchen, die er bereits auf diesem Gebiet unternommen hatte und fragte bei dieser Gelegenheit, wie er sich in der bevorstehenden Angelegenheit am besten verhalten sollte.
„Auf keinen Fall solltest du zu viel von dir selbst preisgeben und auch keine unnötigen Fragen stellen, die man später gegen dich verwenden könnte.“
Einem Treffen mit Steinberg stünde zunächst einmal nichts im Wege, wenn er sich an ein paar Spielregeln hielte, welche ihm Gerhard alle mit auf den Weg gab. Es war in gewisser Hinsicht ein Kurzseminar für Kriminelle, ohne dass sich Stefan einer Schuld bewusst war.
Über ihrem Gespräch hatten die beiden inzwischen das Billardspiel völlig vergessen und saßen an einem kleinen runden Tisch neben dem immer noch beleuchteten grünen Tuch mit den 16 bunten Kugeln, die danach verlangten, endlich wieder bewegt zu werden.
Anders als Klaus gehörte auch Gerhard, genau wie Stefan, zur aussterbenden Rasse der Raucher, sodass ihm dessen Zigarettenkonsum an diesem Abend nichts ausmachte. Er selbst durfte zu Hause zwar nicht rauchen, nutzte aber jede sich bietende Gelegenheit dazu, bei der seine Frau nicht anwesend war.
Sie sprachen noch viel über ihren gemeinsamen Freund Klaus und seine liebenswerten schrägen Eigenarten, bevor sie um 2.00 Uhr morgens zusammen das Lokal verließen.
Stefan wusste nun was er zu tun hatte, und bereits am nächsten Tag wollte er alle dazu nötigen Schritte unternehmen.
Den folgenden Tag über schloss Stefan sich in seinem Büro ein und versuchte die vielen Erkenntnisse und Hinweise des Vortages zu ordnen und diese stichpunktartig festzuhalten. Wie immer benutzte er dazu einen Computer und sicherte die so entstandenen Notizen anschließend auf seinem Memorystick, um sie jederzeit und an jedem anderen Rechner zur Verfügung zu haben.
Neben seiner anderen Arbeit, die er ebenfalls zum großen Teil an der Computertastatur erledigen konnte, hielt er den ganzen Tag über eine Textdatei offen, in der er alle Dinge notierte, die ihm für das bevorstehende Treffen mit Herrn Steinberg wichtig erschienen. Zum Feierabend nahm er seinen Memorystick mit nach Hause und druckte dort die so entstandene Liste von Stichpunkten aus.
Gerhards viele Warnungen waren unmissverständlich. Er durfte sich auf keinen Fall auf irgendeine Art von Diskussionen einlassen. Die Anweisungen, die ihm Gerhard mit auf den Weg gegeben hatte, betrafen nicht nur das Gespräch, welches er mit dem ihm noch unbekannten Steinberg führen würde, sondern bereits Inhalt und Stil der dazu erforderlichen schriftlichen Verabredung.
So saß er also wieder einmal an seinem Computer und verfasste eine dritte E-Mail an Bernd Heider. – War er nun der Anwalt oder der Mandant? – Selbst nach der von ihm gemachten Erfahrung, ein komplettes Buch zu schreiben, übermannte ihn eine Unsicherheit, wie er sie seit den schriftlichen Aufgaben seiner Schulzeit nicht mehr kannte.
Ein guter Freund, der seinen ersten Roman damals gelesen hatte, fragte ihn eines Tages, ob er das Setzen der vielen Kommas bezahlt bekäme. Entgegen den allgemeinen Regeln, die es für unsere Rechtschreibung gab, ging er nun mal sehr großzügig mit der Verteilung von Kommas um. Er setzte sie einfach gemäß seinem Gefühl, welches sich in diesem Punkt allerdings als ziemlich unzuverlässig erwies. Aber das war nur ein Teil seines eigenwilligen Umgangs mit der deutschen Sprache.
Laut seinem Billard spielenden Rechtsberater hätte er bereits in dieser Phase viele für einen späteren Zivilstreit gravierende Fehler machen können. Gerhard hatte zwar angeboten, ihn beim bevorstehenden Treffen zu begleiten, aber gleichzeitig auch zu bedenken gegeben, dass bereits die Gegenwart eines Juristen als Schuldeingeständnis gewertet werden könnte.
Diesem Rat folgend saß er also vor seiner Tastatur und verfasste den nächsten Brief.
Er entschied sich für einen knappen Text, den er mehrmals korrigierte, bis er ihn schließlich für gut befand.
„Hallo Herr Heider,
bitte teilen Sie mir mit, wann und wo ich mit Herrn Steinberg zusammentreffen kann.
Mit freundlichen Grüßen“
Gerhards Anregungen folgend, verzichtete Stefan darauf, das Schreiben mit seinem Namen zu unterzeichnen. Er sollte sich, einem weiteren Rat zur Folge, generell angewöhnen, immer dann auf eine Unterschrift zu verzichten, wenn es um Dinge ging, die eines Tages gegen ihn verwendet werden könnten.
Stefan drückte auf den Button „Senden“ und schickte seinen Brief elektronisch auf die Reise. Seinen Computer ließ er eingeschaltet und erhöhte die Lautstärke so weit, dass er eine eintreffende E-Mail in jedem Raum seiner Zwei-Zimmerwohnung hören könnte.
Dann setzte er sich im Wohnzimmer auf sein Sofa und schaltete den Fernseher ein. Es lief eine der zahlreichen Quiz-Sendungen und er versuchte, sich auf die gestellten Fragen zu konzentrieren.
Die Kandidatin, eine ca. 35-jährige Frau, die ihr überdimensioniertes Hinterteil erst vor 10 Minuten in den Stuhl gegenüber dem Quizmaster gepresst hatte, war immer noch damit beschäftigt, die erst zweite gestellte Frage zu verstehen. Der Moderator der Sendung hatte sichtbare Schwierigkeiten, seine Empörung darüber mit der erforderlichen Höflichkeit zu überspielen. Gerade als die von Gottes Laune zum molligen Modell erkorene Hausfrau Luft holte, um eine Antwort zu formulieren, meldete der Computer im Nebenraum das Eintreffen einer E-Mail an. Sofort rannte Stefan ins Nebenzimmer und konnte gerade noch hören, wie diese dumme, dicke Frau den Bolero von Ravel Julio Iglesias zuordnete.
Auf dem Monitor blinkte die Nachricht:
„Sie haben Post.“
Eiligst öffnete er die Mail und las ihren Inhalt.
„Herr Steinberg erwartet ihren Besuch morgen um 10.30 Uhr in der Clayallee 52 in Berlin-Zehlendorf.
Mit freundlichen Grüßen
Bernd Heider“
Weil es noch nicht sehr spät war, rief er Frau Janke zu Hause an und bat sie, den für den nächsten Tag erwarteten Kunden für ihn zu übernehmen. Da sie den Kunden, einen der Ersten, seitdem er in der Branche tätig war, sehr gut kannte, erklärte sie sich sofort bereit, ihm diese Gefälligkeit zu erweisen. Irgendwie mochten sich die beiden, und wenn sich Stefan nicht irrte, hatten sie sogar mehr als nur berufliches Interesse aneinander. Und wer weiß?
Vielleicht spielte er mit dieser beruflichen Programmänderung sogar ein bisschen Schicksal für die beiden.