Читать книгу Libri Cogitati - Stefan Heidenreich - Страница 5

2. Kapitel

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Nachdem er alle Pläne des Vormittags kurzfristig gestrichen und einige der anstehenden Aufgaben neu verteilt hatte, saß Stefan also mit seiner ausgedruckten E-Mail und der selbst erstellten Hinweisliste über mögliche taktische Fehler in der Tasche im Auto und fuhr ohne Umwege von seiner Wohnung aus zur genannten Adresse.

Gemäß Gerhards Anweisungen wählte er eine unscheinbare Kleidung, die aus einer einfachen Stoffhose, Oberhemd und Pullover sowie einem leichten Blouson bestand. Sein ursprüngliches Vorhaben, zu diesem Anlass einen Anzug zu tragen, verwarf er, als Gerhard darauf hinwies, dass viele Leute bereits anhand der Kleidung eine zu erwartende Schadenersatzforderung festmachen.

Die Morgenstunden erwiesen sich inzwischen als kühl, aber bereits nach wenigen Kilometern hatte sich die Sonne durch die dünne Wolkendecke gekämpft.

Wie der gesamte Berliner Ortsteil Zehlendorf, in den sein Weg ihn führte, gehört auch die Clayallee zu den vornehmeren Gegenden der Stadt.

Bereits beim Einbiegen in die Straße konnte er erkennen, dass sich die Gehwege und Grünanlagen, die diese säumten, in einem wesentlich besseren Zustand befanden als der größte Teil des restlichen Stadtbildes. Der gesamte Baustil zeigte bis auf nur wenige Ausnahmen ein kostspieliges Niveau. Ein paar Gebäude, die man als Stadtvilla bezeichnen könnte, schmückten sich im Eingangsbereich mit prunkvollen, meist weißen Säulen.

Die Hausnummern, die er passierte, verrieten ihm, dass er sein Ziel jeden Moment erreichen würde, und der schmiedeeiserne Zaun, der das Grundstück mit der Nummer 52 umgab, ließ ihn in Ehrfurcht regelrecht erstarren.

Entschlossen lenkte er sein Auto in eine Parklücke, die bei seinem Eintreffen (wieder einmal) direkt vor dem Grundstück frei wurde und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Eingangstor.

Von welcher Güte die Arbeit des darin lebenden Anwalts sein mochte, darüber bestand inzwischen kein Zweifel mehr.

Zumindest wusste dieser Anwalt offensichtlich sich seine Leistungen mehr als ordentlich honorieren zu lassen. Zudem verstand er es meisterlich, seine Besucher bereits beim Eintreffen mit kostspieliger Eleganz zu beeindrucken.

Anders als erwartet, existierte jedoch nirgends eine goldene Namenstafel, die auf eine Anwaltskanzlei schließen ließ. Diese Namenstafeln gaben im Allgemeinen bereits erste Hinweise auf die zu erwartende Gebührenrechnung.

Das Hauptgebäude befand sich auf dem hinteren Teil des Anwesens, während eine akkurat gepflegte Rasenfläche den erforderlichen Rahmen dazu bildete. An zwei Bäumen konnte man Überwachungskameras entdecken, die offensichtlich zum Schutz der gesamten Anlage installiert worden waren. Schnell ging Stefan seine Checkliste noch einmal im Kopf durch.

,Wollte er dieses Grundstück tatsächlich betreten? Sich wirklich dem Gespräch mit jemandem aussetzen, der gesellschaftlich so deutlich in einer höheren Liga spielte, von der er eigentlich so gut wie nichts wusste?‘

In dem Moment, als er darüber nachdachte, bemerkte er den ins Mauerwerk eingelassenen Klingelknopf, der in der Sonne glänzte. Immer noch zögerte er, ihn zu betätigen. Nach einer eingelegten Zigarettenpause und genauer Inspizierung des Grundstücks drückte er ihn dann doch und harrte der Dinge, die da kommen würden. Bereits nach wenigen Sekunden kam eine Frau in Schwesterntracht ans Tor und fragte freundlichst, was sie denn für ihn tun könne.

Völlig verwirrt von diesem Anblick teilte Stefan ihr mit, dass er einen Termin mit einem gewissen Herrn Steinberg hätte.

„Einen Moment bitte. Ich hole Herrn Heider.“

Noch bevor Stefan auch nur ein Wort sagen konnte, verschwand sie mit ihren Stöckelschuhen, deren Absätze rhythmisch auf den Gehwegplatten trommelten, wieder im Gebäude. Stefan wartete geduldig, und noch während er darüber nachdachte, wie Absatzschuhe und Schwesterntracht zusammenpassten, tauchte ein kräftiger, fast hünenhafter Mann von ca. 40 Jahren auf, der ihn mit den Worten „Hallo, ich bin Bernd Heider. Ich freue mich, dass sie hier sind“, empfing.

Er trug genau wie Stefan eine Stoffhose und dazu ein grünes Poloshirt, dessen kurze Ärmel sich um den Bizeps eines Bodybuilders spannten. Die zur Begrüßung entgegengestreckte Hand erinnerte Stefan allerdings eher an die Pranke eines Bären, und er konnte nur noch mit ansehen, wie seine eigene komplett darin verschwand, um augenblicklich den Kräften eines Schraubstocks ausgesetzt zu werden.

„Entschuldigung, aber ich weiß immer noch nicht, was ich hier überhaupt suche“, erwiderte Stefan schüchtern, während er krampfhaft versuchte, das Blut durch eine gezielte Massage wieder in seine Hand zurückzuführen.

„Das erklärt Ihnen am besten Herr Steinberg selbst“, entgegnete Heider, und so folgte Stefan dem Riesen ins Gebäude. ‚Ein Anwalt mit einem eigenen Leibwächter?, dachte Stefan bei sich. ‚Ich muss irgendjemandem doch ziemlich auf den Schlips getreten haben.?

Was er jedoch kurze Zeit später beim Betreten des Gebäudes erblickte, führte sämtliche Theorien der letzten Tage auf einen Schlag ad absurdum.

Noch während die schwere Tür hinter ihm ins Schloss fiel, entdeckte er fast ausschließlich alte Menschen, die sich, teils allein, teils mit einer jüngeren Person an ihrer Seite, durch die Eingangshalle bewegten. Viele saßen in Rollstühlen, während andere die verschiedensten Gehhilfen in Anspruch nahmen.

Stefan fragte Herrn Heider, was das Ganze zu bedeuten habe und wo er sich überhaupt befände.

Heider sah ihn aus seinen riesigen braunen Augen mit einem Ausdruck der Verwunderung an, bevor er antwortete.

„Dies hier ist die Seniorenresidenz ´Preußen´. Haben Sie die Tafel am Eingangstor nicht gesehen?“

„Da war keine Tafel“, erwiderte Stefan, wobei er nervös stotterte.

„Natürlich!!!“, entgegnete der Hüne „Sie haben natürlich vollkommen recht. Ich hatte völlig vergessen, dass sie im Moment gerade erneuert wird. Wissen Sie, wenn man, wie ich, bereits seit über 20 Jahren hier lebt, dann achtet man auf so etwas nicht mehr. Bevor wir uns jedoch auf den Weg zu Herrn Steinberg machen, müssen wir Ihren Besuch bei uns noch registrieren lassen. Haben Sie Ihren Ausweis dabei?“

Wortlos zückte Stefan seinen Personalausweis und übergab ihn einer Frau in einem schlichten grauen Kostüm, die bereits neben ihnen stand und Heider streng ansah. Heider nahm ihr ein Klemmbrett ab, auf dem er den Namen Heinz Steinberg sowie die genaue Uhrzeit notierte.

Mit diesen Unterlagen bewaffnet hastete die dienstbeflissene Mittvierzigerin an ihren Computer, um alle Daten ordnungsgemäß zu erfassen. Bereits nach wenigen Augenblicken, in denen ihm Bernd Heider die Notwendigkeit dieser Sicherheitsmaßnahme erklärte, bekam Stefan nicht nur seinen Personalausweis, sondern auch noch eine Chipkarte in die Hand gedrückt, die er auf jeden Fall beim Verlassen der Anlage wieder abgeben sollte, um ordnungsgemäß auszuchecken. Nur wer sich auscheckte, hatte auch eine Chance, die Anlage später wieder zu besuchen, erfuhr er.

Zwar fand Stefan diese Maßnahme für ein Altersheim etwas übertrieben, ließ aber alles artig über sich ergehen. Schließlich wollte er immer noch erfahren, wer ihn auf welchen Schadenersatz verklagen wollte. Immer noch hatte er die Anwaltstheorie im Kopf.

Verwirrt lief er im Schatten des Hünen an den anwesenden Bewohnern vorbei. Immer wieder drehte sich dieser zu Stefan um und versicherte sich seiner Begleitung.

Die gesamte Residenz war, wie Stefan feststellen musste, noch viel größer als er es von der Straße aus erkennen konnte. Nachdem sie durch unzählige Flure gelaufen waren, öffnete Herr Heider eine kleine Tür, die sie wieder ins Freie führte.

‚Anscheinend doch kein so vermögender Anwalt, sondern einer der sich in einem Altersheim einmieten musste?, mutmaßte Stefan. Sie befanden sich inzwischen in einer Grünanlage, die offensichtlich den hiesigen Bewohnern als Erholungsort diente. Überall saßen Senioren auf Bänken und genossen die letzten Sonnenstrahlen, die der späte Sommer für sie bereithielt. An einem kleinen Tisch, um den vier gusseiserne Stühle standen, saßen alte Männer und spielten Skat, während sich die Damenwelt offensichtlich an dem großzügig angelegten Rosengarten erfreute. Alle hatten einen mehr oder weniger zufriedenen Ausdruck in ihren Gesichtern.

Beim Anblick dieser Bilder verflüchtigte sich auch die gerade erst entstandene Theorie des zur Untermiete lebenden Anwalts rasch. Dieses Heim oder Seniorenresidenz, wie man heutzutage sagte, beherbergte ausschließlich alte Menschen, die der Pflege bedurften.

Stefan fragte sich, ob einer der Männer wohl Herr Steinberg wäre. Oder gehörte er vielleicht zum Personal? War es vielleicht sogar der Chefarzt oder Leiter dieser Einrichtung? So ein Professor Dr. Dr. Irgendwie?

Inzwischen wusste er absolut nicht mehr, woran er war, und was für Überraschungen ihn hier noch erwarten würden.

Herr Heider führte Stefan mit riesengroßen Schritten, denen der kaum folgen konnte, zu einem kleineren Gebäude, bei dem es sich, laut einer im Rasen platzierten Hinweistafel, um die „Pflegestation IIIb“ handelte.

Sofort nach dem Betreten dieser Abteilung konnte Stefan den unverkennbaren Geruch eines Krankenhauses wahrnehmen. Sie gingen an einer, als solche ausgewiesene, Intensivstation vorbei und kamen schließlich zu einer Art Privatwohnung. Laut Herrn Heider sei dies die einzige ihrer Art in diesem Gebäude. Er schob einen Schlüssel ins Schloss und öffnete behutsam die Tür. Dann bat er Stefan herein.

Sie standen beide in einem kleinen Flur mit weißen Wänden. Aus einer Küche, die gut aufgeräumt, ja fast unbenutzt aussah, kamen ein paar Lichtstrahlen, die den Eingangsbereich etwas erhellten. Hinter den Wänden der Wohnung wich der unangenehme Krankenhausgeruch dem frischer Blumen, der die Atmosphäre auflockerte. Sie standen, als Herbststrauß gebunden, dekorativ auf einer halbrunden Glaskonsole, die aus einer der vier Wände ragte. Neben der geöffneten Küchentür zählte Stefan noch drei weitere. Heider öffnete eine davon, diesmal jedoch ohne Schlüssel. Er steckte seinen Kopf kurz ins Zimmer, zog ihn wieder heraus und bat seinen Besucher, einen Moment zu warten, weil Herr Steinberg gerade schliefe.

‚Eine Unverschämtheit?, entschied Stefan. ‚Erst Besuch einladen und dann einfach schlafen.?

Ein paar Minuten später wurde er dann aber doch in das Zimmer gebeten.

Nun musste er allerdings erst einmal tief durchatmen, weil das, was er zu sehen bekam, ihn endgültig verblüffte. Sie standen vor einem Bett, in dem ein knochiger alter Mann lag, den Stefan auf mindestens 90 Jahre schätzte.

Sein weißes Haar war schon sehr dünn und anscheinend bewusst sehr kurz gehalten.

In seinem Gesicht waren ausgeprägte, tiefe Furchen, und man konnte selbst in dem schwachen Licht, das eine einzelne Nachttischlampe spendete, die feinen gerissenen Adern eines Greises erkennen.

Die Jalousien an den Fenstern waren heruntergelassen, um das Tageslicht auszusperren. Wahrscheinlich hätte der Alte sie nicht mehr vertragen. Stefan bemerkte ein paar offensichtlich wertvolle Gemälde an den Wänden, sowie ein von Hand geschnitztes Kruzifix über dem Bett. Der gesamte Raum war spartanisch eingerichtet, ohne dabei jedoch kalt zu wirken. In einer Ecke stand ein Fernsehgerät auf einer fahrbaren Kommode. Auf dem Nachttisch lag neben ein paar Tablettenpackungen eine Bibel, außerdem ein kleiner Schreibblock und ein Füllfederhalter. Stefan hatte seit Jahren keinen richtigen Federhalter mehr gesehen.

Er selbst war damals über die Erfindung des Kugelschreibers nur allzu dankbar, weil er als Linkshänder immer Probleme mit Tintenfüllern hatte. Die Tinte trocknete bei seinen Versuchen, ein solches Schreibgerät zu benutzen, immer langsamer als er sie mit seiner linken Hand wieder verwischte.

Da lag er nun also vor ihm. Der Mann, den er seit Tagen fürchtete, und wegen dem er sogar einen teuren Anwalt konsultiert hatte. Immerhin hatte er als Verlierer am Billardtisch die gesamte Zeche allein beglichen, was man einem anwaltlichen Spitzenhonorar gleichsetzen konnte.

Heider beförderte noch rasch ein Kissen in den Rücken des alten Mannes, damit dieser seinen Gast, halb sitzend, halb liegend, sehen konnte. Der Alte musterte Stefan mit großen wachen Augen, bevor sich sein Gesicht zu einem freundlichen Lächeln verzog.

Dann sprach er so leise, dass man Mühe hatte, ihn zu verstehen, aber mit einem deutlichen Ausdruck der Erleichterung.

„Endlich!!!“

Es war dasselbe einzelne Wort, welches Stefan vor einigen Tagen in der E-Mail gelesen hatte, die er als Antwort auf seine eigene bekam.

„Darf ich vorstellen, Herr Steinberg“, Heider hinter sich sagen. Nur zögernd ging Stefan einen Schritt auf das Bett zu und reichte Herrn Steinberg zur Begrüßung seine Hand. Steinberg hatte Mühe, seinen rechten Arm zu heben, um ihm seine bis auf die Knochen abgemagerte, von dicken Adern durchzogene Hand entgegenzustrecken.

Dann legte er seine zweite Hand auf die nun zur Begrüßung vereinten Hände und flüsterte:

„Auf diesen Augenblick musste ich sehr lange warten – manchmal glaubte ich schon – viel zu lange.“

Herr Heider eilte ans Kopfende des Bettes und sah die beiden an. Er blickte in Steinbergs Augen, und man konnte erkennen, dass er, genauso wie der alte Mann, große Mühe hatte, sich der Gefühle zu erwehren, die beide ganz offensichtlich in diesem Moment empfanden.

Nur Stefan stand da und brachte keinen Ton heraus. Weder kannte er den alten Mann, noch wusste er, warum er überhaupt bei ihm war.

Der Alte hielt seine Hand immer noch fest, als ob er einen guten Bekannten oder ein lang vermisstes Familienmitglied nach vielen Jahren endlich wiedergefunden hätte.

Doch wer war er?

Warum brachte er einem Fremden dieses tiefe Gefühl entgegen. Weder der Name Steinberg noch dieses Gesicht war Stefan je zuvor in seinem Leben begegnet.

Erst jetzt konnte Stefan feststellen, dass Herr Heider, der ihn zunächst an einen Holzfäller oder Gewichtheber erinnerte, in Wahrheit ein sehr warmherziger und gefühlsbetonter Mensch war. Heider richtete erneut seinen Blick auf Steinberg und sagte so leise und fürsorglich er es vermochte:

„Heinz, du solltest jetzt schlafen. Ich bin mir sicher, dass ihr beide euch bestimmt bald wiedersehen werdet. Du weißt, was der Arzt gesagt hat: Nicht alles auf einmal erwarten.“

Er drehte sich zum Nachttisch neben dem Bett um und legte ein paar Tabletten, die er einem Rosenholzkästchen entnahm, zurecht. Dann füllte er ein Glas am Waschbecken hinter Stefan mit Wasser und verabreichte Steinberg, dessen Kopf er behutsam mit einer Hand unterstützte, seine Medizin.

Noch immer fühlte Stefan die alten knochigen Hände, die während der ganzen Zeit die seine festhielten.

„Versprechen Sie mir, dass Sie mich so bald wie möglich wieder besuchen. Wir haben so viel zu bereden“, flüsterte er mit heiserer Stimme. Die Bewegungen seiner Lippen waren kaum wahrnehmbar.

Stefan versprach es, ohne zu wissen warum eigentlich. Erst dann ließ der Alte seine Hand wieder los und schloss die Augen.

Bernd Heider deutete Stefan das Zimmer zu verlassen, was dieser auch sofort dankbar tat. Allerdings verließ er nicht nur das Zimmer, sondern auch das Gebäude, um sich draußen im Freien eine Zigarette anzuzünden. Diesen unerwarteten Anblick galt es erst einmal zu verdauen.

Seine Blicke wanderten draußen durch die warme Spätsommerluft hinüber zu alten Leuten und hastig vorbeieilenden Menschen, die offensichtlich zum Personal gehörten. Einige der Jüngeren waren wahrscheinlich Besucher oder Verwandte der Bewohner. Nur die wenigsten trugen Krankenhauskleidung, weshalb es unmöglich erschien, Besucher und Pflegepersonal voneinander zu trennen.

Während er die Szene beobachtete, kam auch Herr Heider wieder aus dem Gebäude und gesellte sich zu ihm.

„Er schläft jetzt“, sagte er genauso leise, als ob sie sich immer noch am Krankenbett befänden.

„Würden Sie mir bitte erklären, was das Ganze hier zu bedeuten hat?“, bat ihn Stefan, wobei er ebenfalls sehr leise sprach.

„Kommen Sie bitte mit in die Cafeteria. Dort werde ich, soweit wie ich es vermag, versuchen Ihnen zu erklären, warum Sie hier sind.“

Wissbegierig folgte Stefan dem Riesen über die durch Steinplatten gekennzeichneten Wege. Immer noch vorbei an mehr oder weniger glücklich wirkenden alten Menschen, die, wie er vermutete, hier den Rest ihres Lebens verbringen würden.

Nach ungefähr 200 Metern des Weges, der sich durch einen herrlichen Garten schlängelte, erreichten die beiden ein weiteres Gebäude, in dem sich die Cafeteria befand. Sie sah von außen aus wie ein Sommerpavillon. Achteckig, vollständig aus Holz gefertigt, inmitten einer Idylle, die Stefan vergessen ließ, dass er sich immer noch in Berlin befand. Das Dach war mit ihm unbekannten schwarzen Steinplatten bedeckt, die in der Mittagsonne in den verschiedensten Farben schimmerten. Neben den Stufen, die zum Eingang führten, entdeckte er eine flach ansteigende Betonfläche, die auch den vielen Rollstuhlfahrern, die hier lebten, die Benutzung der Einrichtung ermöglichte, und von denen vor jedem Gebäude eine zu finden war.

Er erwartete einen dieser karg eingerichteten Räume, wie sie im Allgemeinen in Krankenhäusern vorzufinden waren. Eine Art Fließbandkantine, in der ein genervtes Personal unwirsch seiner Arbeit nachging. Doch auch diesmal sollte er sich irren. Völlig überrascht betrat er hinter Herrn Heider einen stilvoll eingerichteten Gastraum, den man in Art und Ausstattung viel eher in einer Ferienanlage oder einem dieser vielen Ferienclubs in Südeuropa vermutet hätte. Schlagworte wie „Urlaub unter Freunden“, mit denen diese Orte allgemein warben, kamen ihm in den Sinn. Sein Blick fiel neben dem für eine Cafeteria weit ausladenden Tresenbereich sofort auf die großzügige Terrasse mit ihren vielen Sonnenschirmen. Keiner der Schirme trug einen Werbeaufdruck, sondern alle waren aus buntem bedrucktem Tuch mit südländischem Motiv bespannt. Obwohl der Herbst noch nicht sehr weit vorangeschritten war, zierten bunt schillernde Ahornblätter den mit Mosaiksteinen verzierten Fußboden im Freien. Hier gab es keine einfachen weißen Tische und Kunststoffstühle, wie man sie selbst in teuren Ausflugslokalen heutzutage antraf. Zum Ambiente passende Teakholzstühle mit farbenfrohen Kissen und breiten Armlehnen forderten zum Verweilen auf. Nichts konnte daran erinnern, dass es sich um die moderne Form eines Altenwohnheims handelte.

Heider suchte einen Tisch etwas abseits des lebhaften Geschehens aus und forderte seinen Gast auf, Platz zu nehmen. Höflich fragte er, was er ihm zu trinken besorgen könne, und Stefan entschied sich in Anbetracht der Uhrzeit für einen Kaffee, obwohl er in diesem Moment auch einen kräftigen Cognac vertragen hätte. Dann zog Heider mit dem freundlichen Gesichtsausdruck eines Kellners, der sich ein großzügiges Trinkgeld erhoffte, los und verschwand im Gastraum, durch den sie gerade gekommen waren.

Neben den vielen alten Leuten, die dort verweilten, fiel Stefans Blick auf den einzigen Menschen, der optisch wohl am ehesten in diese künstlich erschaffene südländische Oase passte. Er saß am Nebentisch, schaute mit leerem Blick in eine Zeitung und war Stefan bereits beim Reinkommen aufgefallen, weil er sich anscheinend mehr für die anderen Gäste als für seine Lektüre interessierte. Circa 40 Jahre alt, schwarzes lockiges Haar und braun gebrannte Haut. Die kurzen Ärmel spannten sich straff über muskelbepackte Oberarme, wie Stefan sie zuvor nur einmal am Strand von Miami Beach beobachtet hatte. Nur dass der Kerl damals einen unappetitlichen Stringtanga getragen hatte, während der Mann am Nebentisch eine ordentliche Bundfaltenhose sowie ein modisches weißes Poloshirt sein Eigen nannte. Stefans neugierige Blicke erwiderte dieser, wie man annehmen könnte, südeuropäische Krankenpfleger mit einem stummen Kopfnicken, was wie eine Begrüßung wirkte. Gleichzeitig schien ihm dieser kurze Blickkontakt jedoch unangenehm zu sein. Sofort widmete er sich wieder seiner Zeitung, und auch Stefan wandte sich von ihm ab, um die gesamte Exklusivität der Restauration zu erfassen.

Während er seit ein paar Sekunden einer Rommé spielenden Seniorengruppe zusah, nahm er auch schon den Duft von frischem Kaffee wahr. Herr Heider stellte zwei große französische Kaffeetassen sowie ein Sahnekännchen und eine Zuckerdose auf den Tisch und lächelte Stefan breit an.

Er erkannte, dass dieser von dem, was er hier zu sehen bekam, immer noch völlig irritiert war.

Voller Stolz erzählte Heider von noch drei weiteren Restaurants, die sich ebenfalls auf dem Gelände befänden. Das erste existiere nahe dem Haupthaus und fühle sich der deutschen Küche verpflichtet. Es habe alles zwischen Aal und Zwiebelrostbraten auf der Speisekarte.

Obwohl der Letztere nach Stefans Wissen ursprünglich aus Österreich stammte, benutzte Heider diese Formulierung, die er offensichtlich dem abendlichen Werbefernsehen entnommen hatte. Entgegen seinem Naturell verzichtete Stefan darauf, ihn auf diesen Fauxpas hinzuweisen. Stefan glaubte zwar zu wissen, dass der Zwiebelrostbraten aus Österreich stammt, verzichtete aber darauf, Heider auf seinen Irrtum hinzuweisen.

Ein weiteres Restaurant habe sich den Liebhabern der italienischen Kost verschrieben und befände sich weiter hinten auf dem Grundstück, welches eine Gesamtgröße von 14.000 Quadratmetern umfasse. Zu guter Letzt gäbe es noch ein sogenanntes internationales Restaurant, in dem die Speisekarte täglich zwischen verschiedenen Ländern wechsele.

Egal, ob griechisch mit viel Ouzo zur Verdauung oder französisch mit einem milden Rotwein zur Abrundung eines Gourmetabends, werde dort den Gästen alles geboten, was die internationale Küche hergebe. In einer Woche könne man dort eine kleine gedankliche Rundreise an die schönsten Urlaubsorte der Welt unternehmen, fügte Heider stolz hinzu.

Auf die Frage, wie viele Bewohner es in der Anlage gäbe, erfuhr Stefan, dass es insgesamt 1.442 Betten gab, von denen zurzeit ca. 1.350 belegt waren.

Dazu kämen noch 420 Privatwohnungen für das medizinische und sonstige Personal.

Herr Heider versorgte Stefan mit einigem Hintergrundwissen zur Anlage, ohne jedoch auf den alten Mann zu sprechen zu kommen. „Viele Leute reißen sich heutzutage das Erbe ihrer Eltern oder Großeltern unter den Nagel und schieben diese dann in Einrichtungen wie diese ab. Viel zu selten kommt es dabei vor, dass jemand in der Lage ist, seinen Anverwandten wenigstens den Luxus zu ermöglichen, den er selbst eines Tages genießen möchte. Ob Sie es glauben oder nicht, aber nur ca. 40 % der hier lebenden alten Menschen verfügen über gut situierte Angehörige. Die sind naturgemäß viel zu geizig für Einrichtungen wie diese. Bei den restlichen 60 % der Leute, die hier untergebracht sind, sparen sich die Familien die monatlichen Kosten hierfür buchstäblich vom Munde ab, nur um sich ihrer Alten zu entledigen. Einen nicht unerheblichen finanziellen Anteil steuern die Initiatoren und Eigentümer der Anlage selbst bei. Alles, was Sie hier sehen, wurde aus privaten Mitteln finanziert.“

Heider rührte, während er dies erzählte, die ganze Zeit mit abwesendem Blick in seinem Kaffee herum, ohne auch nur einen einzigen Schluck davon zu trinken.

Stefan machte diese Ansprache in dem Moment sehr betroffen, und er schwor sich, noch am selben Abend seine Mutter anzurufen. Er wollte nur kurz Hallo sagen und ihre Stimme hören. Sie einfach wissen lassen, dass er an sie dachte, und sich bei dieser Gelegenheit auch nach ihrem Befinden erkundigen.

„Zu welcher Gruppe gehört die Familie von Herrn Steinberg?“, fragte Stefan, ohne zu zögern.

„Zu keiner der beiden“, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. „Herr Steinberg hat keine Familie, die sich um ihn kümmern könnte. Er war nie verheiratet und infolge dessen hat er auch keine Kinder. Es gab, soweit ich weiß, in sehr frühen Jahren nur einmal eine Frau, die er sehr liebte. Aber die wurde zu einem der vielen Opfer, die der Zweite Weltkrieg gefordert hat. Er spricht nicht gerne über sie.

Eines Tages jedoch, wir glaubten wieder einmal, dass sein langes Leiden ein Ende finden würde, tat er es doch und vertraute sich mir an. Sie hieß Annelie und war jüdischer Abstammung. Damals übermannte ihn sein schlechtes Gewissen, weil er nicht in der Lage war zu verhindern, was zu jener Zeit nicht zu verhindern war. Während er für die bösartigsten Mächte, die jemals unser Land regierten, als Sanitäter irgendwo in Italien täglich um sein eigenes Leben fürchten und andere Leben retten musste, wurden sie ihrer habhaft. Sie versteckte sich seit seiner Einberufung damals in der Wohnung seiner Mutter, deren Mann, also der Vater von Heinz, bereits im Ersten Weltkrieg als Flieger über der Nordsee abgeschossen wurde. Annelie und die Mutter sollen sich sehr nahegestanden haben. Also versuchte diese alles, um die zukünftige Schwiegertochter zu schützen. Bis irgendein wahnsinniger SS-Offizier einen Grund dafür fand, sie gemeinsam mit Annelie nach Majdanek in Polen zu verfrachten, wo beide die verheerenden Massenvernichtungsanlagen dieses Konzentrations- und Arbeitslagers nicht überlebten.“ Nach diesem kurzen Einblick in Steinbergs Vergangenheit versuchte Stefan einen weiteren Anlauf. „Wer finanziert dann Herrn Steinbergs Anwesenheit hier?“ Heider lächelte durch einen schmalen Schlitz seines Mundes, wobei man seine strahlend weißen Zähne bewundern konnte. „Niemand! Gerüchten zufolge soll er selbst einst die Wege für diese Residenz geebnet haben. Inwiefern dies tatsächlich der Wahrheit entspricht, habe ich nie herausgefunden. Die Leitung der Seniorenresidenz obliegt seit Anfang an einer freundlichen, inzwischen älteren Dame. Die eigentlichen Eigentümer sollen, wie gesagt, in Italien zu Hause sein. Ich habe meines Wissens jedoch nie einen von denen hier gesehen. Und wenn Sie mich fragen, dann hat auch niemand der Führungsebene hier in Berlin diese Leute je zu Gesicht bekommen.

Es wird gemunkelt, dass nur Heinz wüsste, wer dahinter steckt, aber niemand, mich eingeschlossen, würde ihn jemals danach fragen.“

„Wie lange lebt er selbst schon hier?“, wollte Stefan wissen.

„Seit 1972 soll er bereits in der Anlage wohnen.“

Heider erzählte davon, dass der alte Steinberg der Medizin immer wieder neue Rätsel aufgäbe und es ihm einfach nicht vergönnt wäre seinen Frieden zu finden.

„Heute jedoch war etwas anders als in all den Jahren, in denen ich ihn jetzt schon betreue“, erklärte er.

„Es ist das erste Mal, dass ich glaube, etwas wie einen Hoffnungsschimmer in seinen Augen gesehen zu haben. Etwas, das bisher immer fehlte. Auch in den Zeiten, in denen es scheinbar wieder mit ihm zu Ende ging.“

Heiders Stimme wurde immer leiser, während er von Steinbergs endlosem Kampf zwischen Leben und Tod berichtete. Stefan konnte an seinem Kehlkopf ablesen, mit welchen tiefen Gefühlen die Worte über seine Lippen kamen.

Auch wenn Heider versuchte, es zu verbergen, erkannte Stefan, dass er den Tränen nahe war.

Er erfuhr noch, dass Heider hier ursprünglich nicht mehr als seinen Zivildienst ableisten wollte, und nur die Verbundenheit zu Steinberg ihn damals hier hielt. Seitdem war die Pflege von Steinberg oder Heinz, wie er ihn inzwischen nannte, seine einzige Aufgabe, die er bis zu dessen letzter Minute erfüllen wollte. Und mit welcher Hingabe er sich dem Wohl dieses Menschen widmete, das konnte man in seinen Augen deutlich lesen.

Bevor sich Stefan an jenem Tag von Heider verabschiedete, musste er ihm noch versprechen, den alten Mann wieder zu besuchen. Stefan gab ihm seine Handynummer und sagte, er solle ihn am nächsten Tag anrufen, damit sie einen Termin dafür vereinbaren könnten.

Noch völlig benommen von diesem Besuch verließ Stefan die Residenz und machte sich auf den Weg zum Eingangstor, wo eine hilfsbereite Dame Stefans Chipkarte in ein Lesegerät schob, das den Ausgang freigab. Dann fuhr er nach Hause.

Die morgendliche Begegnung mit Heinz Steinberg beschäftigte Stefan noch den kompletten Tag und auch die anschließende Nacht hindurch.

Gegen ca. 15.00 Uhr rief Gerhard an und fragte, ob er ihn in die Liste seiner Mandanten aufnehmen und auf welchen Streitwert er sich einrichten solle. Doch wie Stefan inzwischen herausgefunden hatte, hatte niemand vor, ihn zu verklagen. Wenn er Gerhards Hilfe benötigte, dann allenfalls um ein paar Strafzettel für ihn zu regeln.

Stefan fasste sich am Telefon kurz, teilte Gerhard mit, dass sie auf der völlig falschen Fährte gewesen waren und er ihm irgendwann, wenn er wüsste, woran er wäre, die ganze Geschichte in Ruhe erklären würde.

Selbstverständlich würde er sich bis dahin einen eigenen Billardqueue zulegen und intensiv trainieren.

Unentwegt fragte er sich, wer dieser Heinz Steinberg war. Warum wollte er ausgerechnet ihn sehen? Und was hielt diese arme Seele in unserer Welt gefangen, das ihn so lange hinderte, endlich seinen weltlichen Frieden zu finden.

Die E-Mails von Heider trafen alle an der elektronischen Adresse ein, die Stefan ausschließlich für sein Buch und für seine Leser eingerichtet hatte. Bestand ein Zusammenhang zu diesem Buch, den er nur nicht erkannte?

Er entschied sich dafür etwas zu tun, das jedem normalerweise völlig unsinnig erschienen wäre, aber von dem er sich trotzdem so etwas wie eine Erleuchtung erhoffte. Eine Erkenntnis, die ihm bis dahin verborgen geblieben war.

Er klappte sein Laptop auf und begann sein eigenes Buch zu lesen.

Was hatte er damals geschrieben, das ihn in eine solche Situation brachte? Warum wollte ihn dieser alte Mann unbedingt sehen?

Obwohl niemand sein Buch besser kannte als er selbst, begann er es Zeile für Zeile noch einmal durchzugehen. So absurd es auch schien, versuchte er seine eigene Geschichte zu verstehen. Es ging dabei um seine esoterischen Ansichten, die sich wie ein roter Faden durch eine fiktive Geschichte ziehen sollten. Ein ganz normaler Roman, von einem ganz normalen Menschen geschrieben.

Eigentlich wollte er damals nur irgendetwas schaffen, was noch da sein würde, wenn er selbst schon lange das Zeitliche gesegnet hätte.

Es war schon merkwürdig, wie sich Menschen im Laufe eines Lebens entwickelten. Er selbst entwickelte seine Interessen von der Logik immer weiter weg zu den esoterischen und paranormalen Phänomenen.

Wie die meisten von uns versuchte er schon als Kind die Welt verstehen zu lernen.

Mechanische Logik, physikalische Grundgesetze und erklärbare mathematische Zusammenhänge waren für ihn alles, was das Leben ausmachte.

Alles, was man zusammenbauen, auseinandernehmen und verstehen konnte, übte auf ihn eine unglaubliche Faszination aus. Zum Leidwesen seiner Eltern wollte er viele Sachen einfach ganz genau wissen. Er zerlegte Plattenspieler oder Radiogeräte, um herauszufinden, wie diese funktionierten. Alles, was Menschen entwickelten und zusammenbauten, konnte man auch wieder auseinandernehmen und feststellen, wie alles zusammenspielte.

Als Autor seiner Geschichte war er an diesem Abend allen anderen ein kleines Stück voraus. Er wusste, welche Stellen er lesen musste und welche er einfach überspringen konnte. Schon sehr früh wurde ihm klar, dass es nicht besonders viele Leser gab, die in der Lage sein würden, dem roten Faden der Esoterik, den er in seine Story eingewebt hatte, zu folgen.

Anders als in der legendären Fernsehserie „Raumpatrouille“ rund um das Raumschiff Orion, bei der sich die außerirdischen Bösewichte sogenannter Telenose-Strahlen bedienten, baute seine Geschichte auf einer erweiterten Form der Logik auf.

Wenn unsere Welt tatsächlich nur aus einer Form der Illusion bestünde, dann gäbe es zwangsläufig, wie bei jeder Illusion, bestimmte Punkte, die für alle Menschen gleich wären. Unsere modernen Magier sowie auch die des alten Ägyptens machten sich diese Punkte immer wieder zunutze. Wenn sich alle im selben Augenblick auf dem gleichen Punkt konzentrierten, dann war es möglich die Richtung gezielt vorzubestimmen.

Die Bösewichte in seiner Geschichte suchten diese Knotenpunkte in einer Computersimulation und übertrugen ihre Erkenntnisse auf unsere reale Welt. Sie standen zwar noch am Anfang ihrer Arbeit, aber die von ihnen ausgehende Gefahr war bereits deutlich zu erkennen.

Ein dafür eingesetzter Telepath musste also nicht komplette Abläufe in die Gedanken der Menschen implementieren, sondern nur leichte Veränderungen an den Knotenpunkten vornehmen.

Stefan wusste, dass diese Geschichte von vielen seiner Leser fast genauso belächelt wurde, wie das Bügeleisen auf der Steuerkonsole der Orion, aber ihm bereitete die Erfahrung, ein Buch zu schreiben, zunehmend Spaß. Gleichzeitig folgte er einem inneren Zwang, was er jedoch niemals einem Menschen erzählt hatte.

Und wer weiß? Was, wenn wir alle wirklich nicht mehr sind als das Produkt unserer eigenen Gedanken? Würden wir es überhaupt wissen wollen?

Unwillkürlich stellte er sich die Frage, ob Steinberg, der mit Gewissheit nicht mehr in der Lage war ein Buch selbst zu halten, geschweige es zu lesen, „Im Netz der Gedanken“ überhaupt kannte. Gehörte er zu den wenigen, die es verstanden, zwischen den Zeilen zu lesen? Wenn ja, warum wollte er den Autor unbedingt kennenlernen?

Alles, was Stefan damals geschrieben hatte, war schließlich frei erfunden und entstammte lediglich seiner Fantasie. Seine Gedanken waren zwar nicht so frei wie die Fantasie eines Kindes, aber die Story war wenigstens ein Produkt dessen, was er aus seiner Kindheit in die Welt der Erwachsenen hatte mitnehmen können..

Irgendwann schlief er beim Lesen seiner Geschichte ein.

Paolo saß in seinem Büro in der Villa und studierte den ersten Bericht aus Berlin.

Giovanni hatte das Reisebüro für ein paar Tage geschlossen und seine beiden Mitarbeiterinnen beurlaubt.

Auf dem Schild der Eingangstür stand: „Wegen Krankheit geschlossen.“

Frau Hellwich und Frau Waldmann hatten anfangs protestiert, weil sie glaubten, diese freien Tage vom Urlaub abgezogen zu bekommen, aber nachdem Giovanni ihnen mitgeteilt hatte, dass dies nicht der Fall sei, hatten sie es plötzlich eilig nach Hause zu fahren.

Der Bericht in Paolos Händen war sorgfältig erstellt und war als verschlüsselte E-Mail vor einer Stunde ein getroffen.

Es schien zwar noch kein akuter Handlungsbedarf zu bestehen, aber Giovanni sollte weiterhin auf der Hut sein.

Von jeder Kleinigkeit, auch wenn sie noch so unscheinbar war, wollte sein Chef informiert werden.

Ein Desaster wie damals durfte nicht noch einmal passieren.

Nachdem es Jahrzehnte lang ruhig in Berlin gewesen war, tat sich zum ersten Mal wieder etwas und das beunruhigte ihn.

Damals, als ganz junger Mann, hatte er seinen Vater nach Berlin begleitet. Es war sein erster Besuch in der zerstörten geteilten Stadt gewesen. Deutschland hatte die Folgen des Krieges hinter sich gelassen, und das viel zitierte Wirtschaftswunder zeigte deutlich seine Erfolge.

Zu gerne hätte er sich damals die ganze Stadt angesehen, aber der Anlass seines Besuchs hatte das nicht zugelassen. Sein Vater hatte etliche Vorbereitungen zu treffen gehabt und dafür jede Menge Beziehungen spielen lassen, während Paolo alleine in einer fremden Wohnung eines ihm Unbekannten gewohnt hatte. Einmal täglich war ein Mitarbeiter der Firma gekommen, um ihn mit Lebensmitteln zu versorgen.

Stand ihnen jetzt wieder Ähnliches bevor? Er hoffte, nicht noch einmal korrigierend in die Geschicke anderer Menschen eingreifen zu müssen.

Natürlich gehörten Eingriffe dieser Art oft genug zum Geschäftsleben der Firma. Aber damals wie auch diesmal ging es um eine rein private Angelegenheit. Um ein Versprechen, das seine Familie einem alten Mann vor langer Zeit gegeben hatte.

Sein Sekretär kam mit dem Telefon ins Büro und teilte ihm mit, dass Giovanni ihn sprechen mochte.

„Hallo Giovanni. Ich lese grad deinen Bericht von gestern. Was ist passiert, dass du dich um diese Uhrzeit schon meldest?“

Es war erst 10.00 Uhr, als der Anruf von Heider am nächsten Tag auf Stefans Handy eintraf. Er hatte gerade damit begonnen seine Post zu öffnen und Frau Janke die Rechnungen, die zu überweisen waren, in die Hand gedrückt. Sie stand mit dem Stapel Papier in ihren Händen noch im Raum, als Stefan sie leise bat, ihn bitte zu entschuldigen, weil es sich um ein Privatgespräch handelte.

Heiders Stimme vibrierte und selbst die folgende knappe Begrüßung wurde durch seine Kurzatmigkeit immer wieder unterbrochen.

Es war also so weit, dachte Stefan bei sich. Der alte Steinberg hatte es sicher endlich geschafft und seinen Frieden gefunden. Nun würde Stefan allerdings nicht mehr erfahren, was der alte Mann von ihm wollte.

„Geht es um Herrn Steinberg?“, fragte Stefan und hatte plötzlich einen trockenen Hals, obwohl er ihm nur ein einziges Mal begegnet war.

„Sie werden es nicht für möglich halten. Dr. Mangold spricht von einem Wunder.“ Jetzt überschlug sich Heiders Stimme regelrecht und Stefan musste sich auf jedes seiner Worte konzentrieren.

„Ich kam wie immer heute Morgen in das Zimmer von Heinz, um ihn zu wecken. Er saß jedoch schon aufrecht in seinem Bett und verlangte lautstark nach einem Frühstück. Er war bereits selbst aufgestanden und hatte die Jalousien hochgezogen.

Ich dachte, mich trifft der Schlag und stotterte, dass ich ihm sofort etwas zu Essen bringen würde. Doch Heinz lehnte dankend ab. Es wäre an der Zeit, sich endlich den neuen Speisesaal anzusehen und ich sollte ihm lieber eine Kleidung besorgen, die nicht diesen abscheulichen Krankenhausgeruch hätte.

Sofort holte ich Dr. Mangold, dem es nicht viel anders erging als mir. Heinz ist inzwischen der einzige Gesprächsstoff in der gesamten Residenz.

Ein älterer Bewohner aus einer der Privatwohnungen stellte sofort ein paar Kleidungsstücke zur Verfügung. Ein anderer half mit einem Gehstock aus.

Sie hätten unsere Ankunft im Speisesaal erleben müssen. Es war wie im Film. Alle Pfleger und sogar die meisten der alten Menschen standen nacheinander auf und bedachten Heinz mit einem tosenden Applaus.

Dr. Mangold ist seit einer Stunde damit beschäftigt, Heinz zu einer Computertomografie zu bewegen. Doch der wehrt sich vehement. Er hat bereits schon heute früh nach Ihnen verlangt. Sie müssen unbedingt so schnell wie möglich herkommen.“

„Ich werde versuchen es einzurichten, und wahrscheinlich gegen 15.00 Uhr bei Ihnen sein“, erwiderte Stefan nach einem kurzen Blick auf seinen Terminkalender.

An diesem Tag war in der Firma nicht besonders viel los, und ein paar von den Dingen, die er sich eigentlich vorgenommen hatte, würden noch etwas warten müssen. So auch die Geschäftspost, von der er erst ein Drittel abgearbeitet hatte.

Schließlich wollte er endlich wissen, warum und in welcher Angelegenheit ihn Heinz Steinberg so dringend sprechen wollte.

Die Straßen von Berlin waren wie immer vom einsetzenden Feierabendverkehr verstopft, und der Nachrichtensprecher, dessen Stimme sich durch die kleinen Lautsprecher des Autoradios zwängte, berichtete von den jüngsten Selbstmordattentaten in Bagdad sowie über Bin Laden, von dem ein weiteres Video aufgetaucht war, in dem er den Vereinigten Staaten wie immer drohte.

Irgendwo braute sich wieder einmal ein Hurrikan zusammen und nahm Kurs auf Südamerika.

Anschließend wurden noch die neusten Opferzahlen aus dem Indischen Ozean bekannt gegeben. Dann folgte der Wetterbericht und im Anschluss sollte ein Bericht über die derzeit stattfindende Weltklimakonferenz folgen.

Nun, es gab an diesem Tage wieder einmal nichts Erfreuliches auf der Welt außer Steinbergs Genesung. Stefan steuerte seinen Mazda in eine freie Parklücke und machte sich zu Fuß auf den Weg zur Residenz.

Am Tor erwartete ihn bereits eine rundlich wirkende Dame in einem dunkelgrünen Kostüm, während der kräftige Zeitungsleser vom Vortag etwas abseits stand und offensichtlich versuchte, dem nun folgenden Gespräch zu lauschen.

Irgendwie fühlte sich Stefan von diesem Mann beobachtet.

Unmittelbar, nachdem er Stefans Aufmerksamkeit erweckt hatte, machte sich der Fremde schnellen Schrittes schon wieder aus dem Staub. Stefan war bestimmt kein ängstlicher Mensch, spürte aber ein gewisses Unbehagen.

Seine Empfangsdame schien von alledem nichts mitbekommen zu haben und fing sofort zu erzählen an.

„Haben Sie schon gehört?“, fragte sie. „Wir können es alle immer noch nicht fassen. Der alte Steinberg ist heute zum ersten Mal seit über 30 Jahren ein paar Schritte gelaufen. Bislang musste Bernd ihn immer im Rollstuhl schieben. Und heute, wie durch ein Wunder konnte ich mit meinen eigenen Augen mit ansehen, wie er mit Bernds Hilfe die ersten Schritte gehen konnte.

Oh Gott, ich bin so aufgeregt, dass ich mich noch nicht einmal vorgestellt habe. Mein Name ist Gerda. Ich bin hier für die Diät-Kost zuständig. Ich wusste allerdings nicht, dass der alte Mann einen Sohn hat.“ Ihre Stimme überschlug sich regelrecht.

„Einen Sohn?“, fragte Stefan ungläubig „Ich weiß nicht, ob er einen hat. Ich habe ihn selbst erst gestern kennengelernt.“

„Oh, ich glaube, da bin ich jetzt mächtig in ein Fettnäpfchen getreten.“ Gerdas Gesicht verfärbte sich in ein tiefes Rot.

„Aber egal wer Sie auch sind, Bernd und Herr Steinberg sind gerade im Garten. Sie müssen der Besucher sein, den die beiden erwarten. Ich bringe Sie zu ihnen.“

Wieder kamen sie an der Dame vorbei, die bereits mit ihrem Klemmbrett wedelte, auf dem Gerda die nötigen Einträge vornahm, bevor sie in ihren Stöckelschuhen vor Stefan durch die Grünanlage stapfte.

Wenige Augenblicke später fanden sie den alten Steinberg mit geschlossenen Augen inmitten eines gepflegten Gartens vor. Er saß, mit einer für ihn viel zu großen Strickjacke bekleidet, auf einer Bank und ließ sich die warme Herbstsonne ins Gesicht scheinen.

Heider befand sich etwas abseits und war gerade mit einer kleinen Gruppe älterer Bewohner in ein Gespräch vertieft. Immer wieder wurden Hände geschüttelt.

„Ist das sein Sohn?“, hörte Stefan eine weißhaarige Frau im pinkfarbenen Jogginganzug flüstern, die dabei auf ihn deutete.

Heider drehte sich augenblicklich zu ihm um und kam, ohne sich von der Gruppe zu verabschieden, auf ihn zu.

„Ich bin nicht der Sohn!“, rief Stefan den Leuten über Heiders Schulter hinweg zu.

„Warum glauben hier alle, dass ich ein Verwandter bin?“

Heider lachte nur.

„Ich weiß es nicht. Aber ich freue mich, Sie zu sehen. Er hat schon den ganzen Tag nach Ihnen gefragt.“

„Habe ich nicht!“, murmelte eine entrüstete Stimme hinter den beiden. Steinberg war aus seinem Schlaf erwacht und lächelte verschmitzt.

Stefan ging auf ihn zu, unsicher, ob er ihm jetzt zur Begrüßung die Hand schütteln sollte oder nicht.

„Bernd, bitte besorge unserem Gast einen Stuhl. Ich möchte nicht die ganze Zeit zu ihm aufsehen müssen. Das habe ich früher schon immer gehasst.“

Heider verschwand augenblicklich hinter ein paar Büschen, während Steinberg seinen Gast aus großen gesunden Augen ansah und ihm seine Hand entgegenstreckte.

Es war eindeutig nicht derselbe Mensch, an dessen Krankenbett er am Vortag gestanden und der seine Hand gehalten hatte. Zumindest befand er sich nicht im gleichen Zustand.

Heider kam mit einem weißen Plastikstuhl und einem Tablett, welches er geschickt jonglierte, zurück.

„Ich wusste nicht, ob jemand einen Kaffee wollte, habe aber vorsichtshalber welchen für euch mitgebracht“, sagte er, während er das Tablett neben dem Alten auf der Bank abstellte.

„Und wo ist der Kuchen?“, fragte Steinberg unwirsch, wobei er abermals schelmisch lächelte.

Sein Lachen steckte nicht nur Heider, sondern auch Stefan mit an. Normalerweise war es immer Stefans Aufgabe seine Mitmenschen durch einen Witz zum Lachen zu bringen. Aber diesmal genügten ein paar Worte aus dem Mund eines mindestens 90-Jährigen, um dieselbe Wirkung zu erzielen.

„Ich gehe sofort noch mal los und hole welchen“, erbot sich Heider hilfsbereit.

„Das hat keine Eile“, erwiderte Steinberg. „Aber du solltest vielleicht einen Aschenbecher für unseren Gast besorgen und uns dann alleine lassen. Wir beide haben eine Menge zu besprechen.“

Wieder flitzte Heider los, drückte dem Besucher nur wenige Augenblicke später wortlos einen Aschenbecher in die Hand und ließ die beiden so ungleichen Männer allein.

Woher wusste der Alte, dass Stefan in genau diesem Moment eine Zigarette rauchen wollte?

Da der Sommer schon fast vorbei war, trug Stefan einen Blouson, sodass die Schachtel Camel in seiner Hemdtasche ihn unmöglich als Raucher entlarven konnte. Weil er in diesem Punkt sehr eitel war, waren seine Finger auch nicht, wie bei anderen Rauchern, vom Nikotin verfärbt, und da er im Auto immer noch nicht rauchte, lutschte er noch am Eukalyptusbonbon aus seinem Handschuhfach.

„Tun Sie sich keinen Zwang an. Das bisschen Rauch wird mich nicht gleich umbringen.“

Stefan zündete sich eine Zigarette an, pustete den Rauch in die von Steinberg abgewandte Richtung und hörte zu, was ihm dieser zu sagen hatte.

Der Alte sprach sehr leise, aber so eindringlich, dass Stefan sich seiner Worte beim besten Willen nicht entziehen konnte.

„Sie fragen sich immer noch, warum Sie hier sind. Habe ich recht?“

Stefan nickte zustimmend.

„Gut, dann lassen Sie mich beginnen, es Ihnen zu erklären. Vorweg erlauben Sie mir bitte eine Frage, auch wenn ich die Antwort bereits kenne.“

Abermals gab ihm Stefan mit einem kurzen Blick seine Zustimmung zu verstehen.

„Sie sind der Verfasser eines Buchs mit dem Titel ›Im Netz der Gedanken‹. Liege ich damit richtig?“

Seine komplette Ausdrucksweise sowie seine Intonation ließen in Stefan keinen Zweifel aufkommen, dass er vor einem hochgebildeten Menschen saß.

„Ja, das ist richtig“, stotterte er.

„Nachdem ich vor ein paar Monaten, es war in diesem Garten, von meinem Rollstuhl aus mit anhörte, wie jemand aus Ihrem Buch vorgelesen bekam, ließ ich es mir von Bernd beschaffen. Bernd ist zwar kein besonders guter Vorleser, aber dieser Mangel legte sich bereits am zweiten Tag.“

‚Ups?, dachte Stefan bei sich. ‚Ein wirklicher Fan.’

„Sie werden bald verstehen, dass ich Sie unbedingt kennenlernen musste. Und wenn ich Ihnen alles erzählt habe, dann wissen Sie auch warum. Was hat Sie dazu bewegt, diese Geschichte zu schreiben?“

Ein leichter Hoffnungsschimmer in seinen Augen war zu erkennen, während er dies fragte.

„Nun!“, begann Stefan fast flüsternd, „Ich bin halt ein Mensch mit einer ausgeprägten Fantasie, der einfach auf die Idee kam eine selbst erdachte Geschichte aufzuschreiben. Ich denke, dass die meisten Bücher auf diese Art entstehen.“

Der Alte sah ihm tief in die Augen und fragte mit plötzlich kräftiger Stimme:

„Sind Sie sich dessen ganz sicher?“

„Ich glaube, ich verstehe die Frage nicht. Natürlich bin ich mir ganz sicher. Alle Namen sowie die komplette Handlung meiner Geschichte sind frei erfunden.“

Nervös drückte er nach seinen Worten die Zigarette im Aschenbecher aus, den er in seiner Hand hielt.

Die Augen von Steinberg schienen ihn förmlich durchbohren zu wollen.

„Vielleicht haben Sie es damals, als sie die Geschichte geschrieben haben, wirklich so empfunden. Genau deshalb habe ich Bernd die vielen Briefe, die ihr jungen Leute heutzutage E-Mail nennt, schreiben lassen. Aber glauben Sie mir bitte.

Nichts geschieht auf dieser Welt ohne einen Grund.

Wir müssen nur lernen, dies zu verstehen. Und ich weiß jetzt, da Sie vor mir sitzen, dass Sie inzwischen bereit sind zu lernen.

Bereit zu verstehen.

Ich sehe in Ihren Augen, dass mein Warten nach all den Jahren endlich ein Ende hat.“

Auch an diesem Tag sollte Stefan noch nicht erfahren, was Steinberg ihm zu sagen versuchte.

Bernd Heider kam zurück, um seinen alten Freund zum Doktor zu bringen. Stefan verabschiedete sich von beiden und sah zu, wie sich der alte Mann mit einem Gehstock zu seiner Linken und seinem Pfleger zu seiner Rechten auf den Weg zu einer weiteren medizinischen Untersuchung machte.

Dass dies nicht sein letzter Besuch in der Seniorenresidenz sein würde, wusste Stefan nur zu genau. Das kurze Gespräch mit Steinberg hatte ihn neugierig gemacht.

War er nur ein alter Mann, der sich nach jemandem sehnte, der ihm seine letzten Tage verkürzte?

Oder steckte mehr dahinter?

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