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Das Leid wahrnehmen

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Ob man Leiden wahrnimmt – bei sich selbst, beim Nächsten, beim Fernen –, hängt an der Aufmerksamkeit dafür. Aufzumerken, achtsam zu sein ist die Grundhaltung des spirituellen Menschen, die wir ein Leben lang einzuüben und zu pflegen haben.

Leiden wegzuschieben oder ihm zu entfliehen ist ganz einfach. Die moderne Welt bietet eine unglaubliche Vielfalt von Mechanismen dafür, platte und subtile, direkte und indirekte, verlogene und ehrliche, sinnliche und geistige, kleinkarierte und großspurige, teure und billige und kostenlose. Was hilft zum Verdrängen? Konsum und Kommerz, die schöne heile Welt der Medien und das Wohlgefühl des Rausches; das Plappern und das Bloggen und das Twittern, das Simsen und das Surfen, das Schaffen und das Shoppen, das Essen und der Sex und das Hetzen, das Schönsein und das Wichtigsein; das abgeschottete Eigenheim oder der Luxusurlaub, die Flucht in ästhetischen Genuss oder die in spirituelle Sonderwelten; bisweilen auch – ganz subtil – die Flucht in Ressentiments und ins Rechthaben oder das Baden in Verletztheit oder umgekehrt – und manchmal zugleich – in Schuldgefühlen. Allerdings: Ein gewisses Maß an Verdrängung brauchen wir, sonst könnten wir den Alltag nicht bestehen; die Seele kennt hierfür selbsttätige und gesunde Wege. Würde jedoch alle dunkle Wirklichkeit verdrängt, wäre das Leben eine Lüge. Menschen mit Anlage zum Depressiven schaffen es zu wenig, das Leiden zu verdrängen, sie lassen sich durch jedes Übel »runterziehen«, dann jammern sie und klagen, manche nur nach innen, zu ihrer eigenen Qual, andere nach außen, zum Verdruss der Mitmenschen. Hingegen schaffen narzisstisch Veranlagte das Verdrängen des Leids umso besser, denn sie nehmen vor allem sich selbst wahr und kümmern sich sehr effizient darum, dass ihre Schmerzen minimiert und ihre Bedürfnisse gestillt werden; doch leiden sie danach selbst unter den Folgen ihres Narzissmus – unsere modern-postmoderne Lebenskultur ist in hohem Maß narzisstisch geprägt. Das Leiden wahrzunehmen heißt, es in Wahrheit zu nehmen: ehrlich die dunklen Gefühle anschauen, betroffen und verwirrt und hilflos sein dürfen, dunkle Fragen nicht gleich beantworten, schmerzhafte Wahrheit zulassen und annehmen. Um Leiden wahrzunehmen, sollten wir gelegentlich eine gute Zeitung lesen, im Bekanntenkreis den Gescheiterten und Kranken und Verzweifelten eben nicht aus dem Weg gehen, über die offene Drogenszene am Hauptbahnhof nicht hinwegschauen, eine arme, im Heim abgestellte alte Frau besuchen, die Fernsehreportage über den Südsudan nicht wegzappen, die Karfreitagsliturgie nicht überspringen, die Angst vor dem Sterben nicht mit coolen Sprüchen wegschieben, die manchmal in uns schreiende Stille nicht zudecken – das Leiden wahrzunehmen heißt meist, nicht wegzuschauen.

Meist sind Gut und Böse ja nicht so klar durchschaubar, nicht so einfach getrennt. Meist ist die Wirklichkeit vielschichtig, ambivalent: Was sich oben als gut und heilsam präsentiert, ist darunter doch gefährlich, doppelbödig, es kann leicht kippen in Unheiles und Krankes und Böses; das Gute hat oft eine Rückseite des Üblen. Umgekehrt hat manches, das wir als böse oder nur als langweilig bekämpfen, einen guten Kern, den wir nicht vorschnell entsorgen dürfen. Oft durchschauen wir dies nicht oder zu spät und laufen ins offene Messer, also wirft uns das Übel oder Böse umso stärker nieder. Wer sich aber getäuscht fühlt, ist in seiner Ehre verletzt, also gedemütigt; nun wird er argwöhnisch und misstrauisch, jähzornig und bitter. Aufmerksam sein müssen wir auf das Ambivalente und auf das Hintergründige, auf das zu Grobe und auf das zu Feine, auf das zu Sture und auf das zu Wachsweiche, auf die Verschiedenheit der Geister und auf die Strategie des Abergeistes: sein Täuschen und Blenden, sein Verführen und Kränken …

Jugendliche sind oft idealistisch: Sie stören sich am Leiden und stürzen sich voll Eifer in die Welt, um diese zu verändern und zu verbessern, auf dass Schmerzen und Leiden weniger werden. Dieser Idealismus ist gut und heilsam. Er treibt die Menschen an, sich nicht abzufinden mit dem Bösen und sich zu engagieren gegen das Leiden. Und doch: Zum Erwachsenwerden gehört, dass man im Weltverbessern gelegentlich auf die Nase fällt, dass man einige Male Ohnmacht, Hilflosigkeit, Trauer durchleidet, dass man bestimmte Verluste als unwiederbringlich und bestimmte Mängel als nicht überwindbar akzeptiert, dass der Idealismus geerdet wird. Eine zerbrochene Liebe, eine schwere Krankheit, der Tod eines nahen Menschen, ein Scheitern beruflicher Pläne …, solche Erfahrungen helfen, in der realen Welt anzukommen, nüchtern zu werden, auf letzte Fragen zu stoßen. Doch stellt sich die Frage: Brauchen wir Krisen und Schmerzen, um zu reifen? Und warum ist das so? Warum gibt es kein schmerzfreies Reifen? Wer so erwachsen wurde, kann in Resignation und Bitterkeit verfallen – oder er lernt, neu und anders auf die Welt zuzugehen. Wem schon als Kind schweres Leid zugefügt wurde, hat es besonders schwer: Misstrauen, Angst und Verletzung sitzen tief und sind oft kaum heilbar. Manches Opfer des Bösen wird später schnell zum Täter des Bösen. Warum diese fatale Abfolge? Liegt da eine Absicht in der Schöpfung? Sicher dürfen wir Leid nicht rein pädagogisch verstehen – aber wie dann?

Der Glaube thematisiert das Leiden. Kann er es erklären? Will er es erklären? Wie hilft er, das Leiden zu bewältigen? Darf oder soll das Leiden in die gelebte Beziehung zu Gott einfließen? Bewirkt dies etwas und was? Manchmal wird auch im Glauben das Leiden zu schnell weggeredet, wegspiritualisiert, wegästhetisiert – in tiefer Predigt, in stimmungsvoller Meditation, in schöner Liturgie und Musik. Schnelle Formeln und angenehme Gefühle sind jedoch schwache Trostpflästerchen – die Wunde bricht wieder auf, und dann sieht man sich getäuscht, legt die Religion gleich ganz beiseite, denn sie sei ja doch nur Opium für das leidende Volk. Auch lastet auf dem Glauben der schwere Vorwurf, er vertröste auf das Jenseits: Hier auf Erden müsse man das Leiden erdulden, Gott wolle das so, im Jenseits gibt es dafür ewigen Lohn – im Verlauf des Buches werden diese Fragen aufgegriffen.

Wer Leid nie wahrnimmt, lebt in der Lüge, nicht in der Wirklichkeit; folglich kann er diese nicht gestalten und seinem Auftrag nicht gerecht werden. Leid wahrzunehmen erfordert Mut und Kraft, Ehrlichkeit und Geduld, Hellsicht und Unterscheidung der Geister. Als Christen haben wir den Auftrag, Leid wahrzunehmen, denn Gott will das Leid nicht. Gott selbst nimmt Leid wahr und engagiert sich dagegen.

Warum leiden?

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