Читать книгу Das verschleierte Tor - Stefan Kraus - Страница 5
Namensgebung
ОглавлениеDas Wesen wusste nicht was kommen würde, aber es wusste, dass etwas kam. Wie mit angehaltenem Atem lauerte es auf die kommende Veränderung, eine Veränderung, die sich durch das Zittern und Beben angekündigt hatte. Und dann kam die Veränderung. Die Erlösung nahte in Form von rot glühender Lava und sie schob sich langsam über die Steine, die das goldene Drachenei rund herum berührten. Erst langsam und dann immer schneller wurden diese Steine erhitzt, bis sie selbst fast rot glühten. Die Hitze übertrug sich auf das Ei, bis auch dieses glühend heiß wurde.
Endlich. Endlich meine Geburt.
Mit einer Explosion kleiner als der Vulkanausbruch und doch in seinen Auswirkungen für die Welt viel entscheidender, brach die Schale auseinander und in einer Fontäne aus Felsbrocken und heißem Gestein wurde der Drache geboren.
Einen Moment lang war er von seiner Geburt selbst so überwältigt, dass er wie benommen da saß. Das Feuer aus der Lava züngelte an dem Geschöpf hoch, das etwa die Größe eines kleinen Pferdes hatte. Die Flügel hingen ihm an den Seiten herunter wie Fremdkörper. Langsam hob er einen der Flügel empor. Er drehte seinen großen Kopf und schaute ihn verwundert an. Dann, als er verstand, streckte und dehnte er beide Flügel zu ihrer vollen Größe aus, faltete sie sorgfältig und legte sie voller Stolz und Genugtuung an seinen lang gezogenen Körper an, sodass sie sich perfekt seitlich anpassten.
Er sog mit einem tiefen Atemzug die glühend heiße Luft, die um ihn herum waberte, in seine Lungen, und dann schrie er all seinen Hass, all seine erlittenen Qualen und eine unbändige Genugtuung aus sich heraus, schrie sie heraus als Herausforderung an die Welt, die ihm all die Jahrhunderte so viel Leid angetan hatte. Und mit dem Schrei kam aus seinem tiefsten Inneren die Glut, die ihn so oft und so lange gequält hatte, sie kam heraus und wurde zu einer Flamme, heißer als die Glut der ihn umgebenden Lava. In einem großen tödlichen Strahl schoss sie aus seiner furchterregenden mit langen spitzen Zähnen gespickten Drachenschnauze hervor. Dort wo die Flamme auf die Steine traf, begannen die Steine Blasen zu schlagen. Und als der Schrei beendet und der Strahl aus Feuer verebbt war, verkündete er der Welt seinen Namen.
Ich bin Schtarak. Ich bin geboren.
Dann stieß er sich mit seinen kräftigen mit scharfen Krallen bewährten Hinterbeinen ab, breitete die Flügel aus und erhob sich mit gewaltigen Flügelschlägen majestätisch in die Lüfte.
Alle Flüsterer der Welt hatten den Ruf gehört und sie wussten, dass ein Drache geboren war.
...
Hanrek war gerade dabei, im Garten seinen neugeborenen Sohn in den Armen zu wiegen, als die gewaltige Stimme in seinem Kopf zuschlug. Fast hätte er seinen Sohn fallen lassen. Alexo fing an zu schreien. Fahrig legte Hanrek sein Kind auf eine Decke, die auf dem Boden ausgebreitet lag.
Diese grausame Stimme. Sie war fremd und doch war sie Hanrek beängstigend vertraut, wenn auch nicht willkommen. Er hörte sie fast jede Nacht in seinen Albträumen, die ihn seit der Zeit quälten, als er das Drachenei zum ersten Mal berührt hatte. Augenblicklich war die Angst wieder da und Hanrek brach der Schweiß aus. Aber woher kam diese Stimme jetzt?
Und dann erinnerte er sich an den Namen. Schtarak. Nicht nur die Stimme auch den Namen hatte er schon einmal gehört und einen Geistesblitz später hatte sich alles in seinen Gedanken geordnet, die geheime Geschichte, das goldene Drachenei, der Drache im Ei. Es überspülte Hanrek förmlich. Der Drache war geschlüpft. Aber es konnte nicht sein, es durfte nicht sein. Er hatte das Drachenei doch sicher in die Berge gebracht. Niemand war in der Lage, das Ei zu finden. Es war nicht möglich. Das Ei lag sicher in einem Grab, dicht umgeben von Steinen, gut versteckt an einer kaum zugänglichen Stelle in den Bergen. Niemand kannte diese Stelle außer ihm. Nein. Die Stimme musste einen anderen Ursprung haben. Es konnte, es durfte nicht dieselbe Stimme aus dem Drachenei sein. Hanrek atmete ein paar Mal beruhigend ein und aus. Er ließ seine Gabe strömen und nahm den Frieden der Bäume im Garten in sich auf. Langsam verließ ihn die Panik und wurde zu einer ertragbaren Angst. Jetzt konnte er wieder einigermaßen klar denken.
Er zwang sich, die geheime Geschichte noch einmal durchzugehen und in Gedanken zitierte er die Geschichte an der entsprechenden Stelle.
... Lasst mich ein paar Hintergründe erklären. Es ist acht Jahre vor der Herrschaft von Schtarak dem Schrecklichen, doch wann genau die Herrschaft von Schtarak beginnt, wird durch das Handeln von Hanrek und seiner Kameraden bestimmt werden ...
Er kannte den Namen Schtarak aus der geheimen Geschichte.
Gedankenverloren streichelte Hanrek seinen Sohn, der laut weinte. Eigentlich weinte Alexo in seinen Armen nie. Hanrek wusste immer, was der Grund war, wenn er weinte. Aber im Moment konnte Hanrek sich nicht auf ihn konzentrieren. Er hatte den Kopf voll mit einem schrecklichen Namen und mit einem noch schrecklicheren Verdacht.
Alarmiert durch das Weinen kam Miria in den Garten. Sie schaute ihren Mann fragend an.
„Hanrek.“
Es kam keine Antwort, so versunken war Hanrek in seine Gedanken.
„Hanrek!“
Diesmal rief Miria ihn mit lauter Stimme und ihr Mann schreckte hoch.
„J ... Ja.“
Jetzt war Miria wirklich alarmiert. Ihr Sohn schrie nun aus Leibeskräften und Hanrek saß abwesend dabei. Was ging hier vor? Hanrek merkte plötzlich, dass Alexo schrie und er nahm ihn vorsichtig von der Decke hoch in seine Arme. Sofort hörte der Säugling auf zu weinen. Ein paar Schluchzer, die aus dem tiefsten Innern kamen, schüttelten ihn noch und dann hatte er sich wieder beruhigt.
Nach wie vor war Miria beunruhigt.
„Hanrek.“
Hanrek drehte sich zu ihr um und das Gesicht, dem Miria entgegensah, trug nicht dazu bei, sie zu beruhigen. Er sah blass und angespannt aus und eine tiefe Sorgenfalte hatte sich in seine Stirn eingegraben.
Miria ging zu ihrem Mann und nahm ihm den Säugling aus den Händen.
„Hanrek, was ist los?“
Nachdem er jetzt die Hände frei hatte, schlug Hanrek sie vors Gesicht.
„Hanrek, was ist los?“
Mirias Stimme klang jetzt panisch.
„Hanrek, sprich mit mir. Was ist passiert?“
Hanrek zog die Hände herunter, sodass er seine Frau mit einem gequälten Blick ansehen konnte.
„Miria. Ich fürchte ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht. Der Drache ist aus dem Ei geschlüpft.“
...
In den Gehegen der Exzarden herrschte Chaos. Schull fühlte sich an den Eroberungszug im Königreich vor fast acht Jahren zurück erinnert. Damals waren Flammen aus dem Fluss Boon geschlagen, Flammen, die die Form von Drachen gehabt und alle Exzarden fast in den Wahnsinn getrieben hatten.
Doch das Chaos, das er jetzt hier erlebte, war noch um einiges größer als das, was er damals im Königreich erlebt hatte. Die Exzarden gebärdeten sich wie wild und Schull wusste warum. Er hatte wie alle anderen Flüsterer auch die Stimme in seinem Kopf gehört.
Ich bin Schtarak. Ich bin geboren.
Seit diesem Moment versuchten alle Reiter verzweifelt, die Tiere von ihren mörderischen Ketten zu befreien. Die Ketten führten an eine kurze dicke Stange. Und diese Stangen waren so stark befestigt, dass keiner der Exzarden in der Lage war, sie mit Gewalt aus dem Boden zu reißen. Aber das wussten die Exzarden nicht. Jeder Einzelne von ihnen hatte das Weiße in den Augen, den Augen, die sonst so wissend und fast menschlich schauen konnten. Und sie kämpften gegen ihre Ketten an ohne Sinn und Verstand. Die Panik hatte sie vollständig im Griff. In ihren Köpfen war nur noch Platz für die Flucht. Kurz hatte Schull versucht zu Carmeon durchzudringen und Einfluss auf ihn zu nehmen, aber er hatte es sogleich wieder aufgegeben. Es war zwecklos.
Schull lauerte auf seine Gelegenheit, um die Kette von der Stange zu lösen. Carmeon sprang mit aller Macht in die Kette, und wurde fast mit der gleichen Kraft wieder zurückgeschleudert. Doch der Fluchtinstinkt sorgte dafür, dass sein Exzard sofort wieder auf den Beinen war und erneut Anlauf nahm. Schull blieb keine Zeit, die wenigen Schritte vorwärts zu stürmen und den dicken Sicherungsbolzen herauszuziehen. Mit Schrecken sah Schull, dass die Kette, die um Carmeons Hals gelegt war, sich durch die zahlreichen verzweifelten Fluchtversuche zwischen zwei der Panzerplatten geschoben hatte. An einer der Platten war ein Stück der Panzerung heraus gebrochen, sodass der Spalt wahrscheinlich groß genug war für die Kette. Er musste handeln, denn langsam wurde es für das Tier lebensgefährlich. Wenn die Kette zwischen der Panzerung durchkam, läge sie direkt auf dem empfindlichen Fleisch am Hals. Dort verliefen große Blutgefäße, und wenn diese verletzt wurden, würde Carmeon verbluten.
Erneut sprang der Exzard gegen die Kette an und wurde zurückgeschleudert. Diesmal wartete Schull nicht ab. Er schaute nicht, ob sich Carmeon erneut zum Sprung bereit machte. Er schaute nicht, ob sich die Kette noch weiter zwischen die Platten geschoben hatte. Er würde den Bolzen jetzt herausziehen. Mit einigen schnellen Schritten war er bei der Stange. Noch war die Kette locker, sodass er den Sicherungsbolzen würde herausziehen können. Mit fahrigen Fingern zerrte er an der Kette herum und legte den Bolzen frei. Er führte seine Hand in die Lederschlaufe, mit der man den dicken Bolzen herausziehen konnte, und zog mit aller Kraft daran. Nichts geschah. Das Metall hatte sich durch die Fluchtversuche verbogen und ließ sich nicht so einfach herausziehen. Aus den Augenwinkeln sah Schull, dass Carmeon wieder auf die Beine gekommen war. Einen kleinen Moment stand der Exzard benommen da, dann schüttelt er sich und nahm erneut Anlauf. Zwei schnelle Sprünge, dann war er am Ende der Kette. Die Wucht, mit der die Kette gespannt wurde, war riesig. Schull erkannte seinen Fehler, denn er hatte die Hand noch in der Schlaufe. Es gab ein hässliches Geräusch, als ihm das Handgelenk brach.
Der Schmerz nahm ihm den Atem. Es wurde dunkel vor seinen Augen. Nein. Er durfte nicht ohnmächtig werden. Nein. Er durfte nicht nachgeben. Er kämpfte, versuchte nicht an seine Hand und an die Schmerzen zu denken sondern konzentrierte sich auf alltägliche Dinge, den Sand auf dem Boden, das Klirren der Kette, das Schreien der Tiere um ihn herum. Langsam drückte Schull die Dunkelheit vor seinen Augen an die Ränder seines Blickfelds machte sie zu schmalen drohenden dunklen Schatten, die sein Blickfeld einschränkten. Deshalb sah er nicht, wie Carmeon erneut auf die Beine gekommen war, sah nicht, wie knapp der gefährliche Schwanz des Exzarden an seinem Kopf vorbei rauschte und er sah auch nicht, dass er wieder zum Sprung ansetzte. Dann riss die gleiche Wucht wie schon zuvor an dem bereits gebrochenen Handgelenk.
Diesmal hatte Schull dem Schmerz nichts mehr entgegen zu setzen, und es wurde schwarz um ihn herum.
...
Der schwarze Schatten, der durch den Körper am Himmel hinunter auf den Wald geworfen wurde, huschte schnell vorüber. Er verdeckte nur kurz die Sonne und gab dann den Blick auf den strahlend blauen Himmel wieder frei. Urplötzlich stieß dieser Schatten hinab und aus dem Schatten, der aus der Entfernung wie ein großer Raubvogel gewirkt hatte, wurde ein Drache. Der Hirsch, den er auf der Waldlichtung im Blick hatte, spürte die Gefahr nicht, die ihm aus der Luft drohte, denn ein Hirsch hatte von einem Raubvogel nichts zu befürchten. Er scharrte im Schnee und äste dann das freigelegte grüne Gras ab. Dabei bewegte er sich langsam auf der Lichtung voran. Sein riesiges Geweih schob er dabei wie einen Besen vor sich her.
Als er einen eigenartigen Wind hörte, hob er verstört den Kopf und blickte sich um. Im nächsten Moment krallten sich die scharfen Klauen in sein Fell, und der Aufprall des Drachen schleuderte ihn zu Boden. Der Todeskampf des geschockten Hirschs dauerte nicht lange, und Schtarak hatte seine erste Beute gerissen.
Als sein Hunger gestillt war, machte Schtarak sich auf die Suche nach Wasser, um auch seinen Durst zu stillen. Mit schnellen kräftigen Flügelschlägen schwang er sich in die Luft und ließ einen großen roten Fleck auf der ansonsten weißen Waldlichtung zurück. Als der Drache einen Aufwind unter seinen Flügeln spürte, schraubte er sich elegant und Kraft sparend höher und höher in die Luft. Von dort oben sah er schon von Weitem das schmale Band des Flusses Boon, sein nächstes Ziel.
Erneut stieß er hinunter, bis er dicht über dem Fluss dahinglitt. Dann sah er sein Spiegelbild im Wasser des ruhig dahin ziehenden Flusses. Er sah den lang gezogenen Körper, die zu diesem Körper passende Größe seiner weiten Flügel, den langen Schwanz, den er beim Fliegen als Ruder benutzte, die Drachenschnauze mit seinen vielen scharfen spitzen Zähnen. Er bewegte seine noch blutigen Klauen und sah fasziniert, wie sich die Klauen seines Spiegelbildes im Wasser ebenfalls bewegten. Und erst da wurde ihm richtig bewusst, wer er war, wer er bald sein würde, und Stolz machte sich in seinem Inneren breit.
Aber es wuchs auch der Hass auf die, die verhindert hatten, dass er all die vielen Jahrhunderte als der leben durfte, der er tatsächlich war. Wie hatten sie ihm all die Jahre seine Macht, die er in jeder Faser seines Körpers spürte, verwehren können? Aber nicht nur sein Körper war stark, auch sein Geist war mächtig. Er ließ seinen Geist schweifen, erfasste alles rund um ihn herum, kam dann zurück zu seinem Körper und bemerkte die vielen schlecht verheilten übereinander liegenden Schichten von Narben in seinem Gemüt. Die Narben, die er im Ei davon getragen hatte, bei seinen ungezählten Versuchen, seinen Geist schweifen zu lassen.
Er wusste, dass die Narben ihn verändert hatten, dass er anders war, als er sein sollte. Er wusste, dass ihn die Narben verdorben hatten, aber es war ihm egal. Jetzt endlich war er frei. Er war frei, und seine Rache würde fürchterlich sein.
Mit einem letzten grimmigen und verächtlichen Blick auf seine Umgebung zog Schtarak die Flügel an den Körper und stieß stromlinienförmig, wie er jetzt war, in den Fluss hinab. Der Schwung brachte ihn tief unter Wasser.
Seinen Schwanz benutzte er jetzt als Ruder, und mit einigen kräftigen Schlägen erreichte er den Grund des Flusses. Dort stillte er mit dem eiskalten Wasser in gierigen langen Zügen seinen Durst.
Als er sich satt getrunken hatte, spürte er, was er in Zukunft immer spüren würde, wenn er mit Wasser in Berührung kam. Er spürte die Glut in sich, spürte, wie sie sich in seinem Inneren zusammenzog. Einen Moment lang drohte ihn Panik zu überwältigen. Die Glut würde ihn wie schon so oft von innen heraus verbrennen. Aber dann breitete sich Erleichterung in ihm aus, denn es wurde ihm bewusst, dass er die Glut jetzt nicht mehr länger fürchten musste. Immer noch unter Wasser sammelte er die verbliebene Luft in seinen Lungen und entfachte die Glut noch mehr, bis sie explodierte.
Der Strahl, der aus seiner Drachenschnauze katapultiert wurde, verdampfte das Wasser über ihm und schoss als Mischung von Feuer und Dampf wie die weithin sichtbare Fontäne eines Geysirs aus der Oberfläche des Flusses heraus. Und direkt hinter den letzten verdampfenden Tropfen der Fontäne schoss Schtarak aus dem Wasser, breitete die Flügel aus und gewann rasch an Höhe.
Seine Flügel trugen Schtarak jetzt nach Süden. Er flog tief über der Erde und Wälder, Wiesen, Felder, Wege und Dörfer zogen schnell unter ihm dahin, ohne dass er halt machte. Und dann kam er an eine Stadt. Schtarak wusste nicht, dass die Stadt Platef hieß, aber das war ihm auch egal. Einen Moment lang hielt er inne und schraubte sich kreisend nach oben. Von dort hatte er einen guten Überblick über die beträchtliche Anzahl an Häusern auf einem Fleck.
Noch war Schtarak gefährdet, noch war er zu klein, um allen Gefahren trotzen zu können. Auch jetzt war er schon fast jedem Gegner gewachsen, aber es würde noch einige Monate dauern, in denen er sich einen Unterschlupf suchen musste, in denen er sich verstecken musste wie ein gejagtes Raubtier. Er musste erst noch zu seiner vollen Größe heranwachsen. Doch dann würde er diese und andere Städte wieder besuchen. Dann endlich würde seine Rache beginnen.
...
Tagelang hatte Hanrek vor sich hin gebrütet. Nichts hatte ihn ablenken, nichts hatte ihn aufmuntern können. Seine Kinder waren verstört, Miria war ratlos. Keiner hatte ihn bisher so erlebt.
Er hatte einen großen Fehler gemacht und er machte sich Vorwürfe. Immer und immer wieder hörte er die Stimme in seinem Kopf. „Ich bin Schtarak. Ich bin geboren.“
Wieder und wieder sagte er sich in seinem Gedächtnis die geheime Geschichte an der Stelle auf, wo sie von Schtarak dem Schrecklichen berichtete.
Auch mit Miria sprach er darüber und mit Dresson. Beide versuchten ihn davon zu überzeugen, dass er nicht anders hätte handeln können, dass er nur das Beste gewollt hatte, und dass er sich nicht die Schuld für die Geburt des Drachen geben sollte. Woher hätte er wissen sollen, dass das Versteck, das er so sorgfältig ausgewählt hatte, nicht sicher war.
„Ich muss etwas tun.“
„Was willst du denn tun? Du kannst gar nichts tun.“
„Ich weiß. Aber ich muss einfach etwas tun, irgendetwas. Irgendetwas muss mir einfallen.“
„Ich fürchte, Miria hat recht.“, warf Dresson ein.
„Es gibt nichts, was du oder ich oder irgendwer sonst tun könnte. Hanrek, wir reden von einem Drachen. Die Geschichten in den alten Sagen erzählen, dass ein Drache riesig ist, dass er gepanzert ist und dass er einfach unbezwingbar ist.“
Hanrek stöhnte gequält auf und schloss die Augen, als ob er damit die Wirklichkeit ausschließen könnte.
„Du selbst hast gesehen, wie groß und Furcht einflößend ein Exzard ist. Ein Exzard ist gegen einen Drachen wie ein Schoßhündchen. Und er speit Feuer.“
„Ja. Aber bis er so groß ist, wird es vielleicht noch eine Zeit lang dauern. Wenn ich jetzt nichts unternehme, wird alles nur noch schlimmer. Vielleicht besteht jetzt noch die Chance, etwas viel Schlimmeres zu verhindern.“
Miria, Dresson und Hanrek saßen vor dem Haus und redeten sich die Köpfe heiß. Die Kinder schliefen schon seit Stunden.
„Außerdem, irgendeinen Schwachpunkt muss auch ein Drache haben. Er muss einen haben.“
Miria und Dresson schauten sich resigniert in dem schwachen Licht der Nacht an. Sie wussten, warum Hanrek so verzweifelt auf seinem Standpunkt beharrte. Er machte sich schlimme Vorwürfe.
Eine Weile sagte niemand etwas. Dann brach Hanrek die Stille.
„Dresson. Was mir nicht aus dem Kopf geht, ist die geheime Geschichte. Sie hat zum ersten Mal Schtarak erwähnt. Sie hat ihn erwähnt, da war er noch gar nicht aus dem Ei geschlüpft. Die Geschichte erzählte von „der Herrschaft von Schtarak dem Schrecklichen“. Sie hat es gewusst, oder wenn man es genau nimmt, hat sie es sogar erst ermöglicht, dass wir das Ei stehlen konnten, sodass Schtarak am Ende aus seinem Ei schlüpfen konnte.
Dresson nickte.
„Du hast die Geschichte damals nicht zu Ende lesen können. Was hätte die Geschichte erzählt? Ich zermartere mir den Kopf, was als Nächstes gekommen wäre. Hätte sie von Schtarak berichtet, hätte sie davon berichtet, dass ich das Drachenei in der Nähe eines Vulkans verstecken würde, hätte sie uns gewarnt?“
Mittlerweile wurde im ganzen Königreich von einem gewaltigen Vulkanausbruch im nördlichen Gebirge berichtet.
Dresson schüttelte den Kopf.
„Ich weiß es nicht. Aber du kannst dir sicher sein, dass ich mich das auch schon unzählige Male gefragt habe. Die Geschichte war sicher nochmal so lang wie der Teil, den ich lesen konnte. Aber vielleicht war der weitere Teil nicht für mich bestimmt.“
Es wurde wieder still. Keiner sagte ein Wort. Die Zikaden zirpten in der Nacht.
Dann brach es aus Hanrek heraus.
„Ich muss den Rest der Geschichte lesen. Vielleicht steht darin, worin die Schwachstelle eines Drachen besteht und wie ich ihn besiegen kann.“
Miria zog erschrocken die Luft ein und Dresson lachte nervös auf.
„Nein. Das ist unmöglich. Ich schätze, das ist ungefähr so einfach, wie einen Drachen zu erlegen. Du kommst nie und nimmer in die Bibliothek. Sie ist zu gut bewacht. Außerdem bist du ein Fremder in Narull. Du würdest in Narull sofort auffallen.“
Hanrek starrte vor sich hin, dann sagte er leise.
„Ich hatte gehofft, dass du mir helfen würdest. Du kennst dich in Narull aus.“
Eine Weile sagte niemand etwas, während die Frage im Raum hing.
„Ja, in Narull kenne ich mich aus und Deserteure sind da immer willkommen.“, Dresson klang ziemlich bitter.
„Das kannst du nicht von ihm verlangen, Hanrek. Wenn er gefasst wird, droht ihm die Todesstrafe. Außerdem kennt man ihn in der Bibliothek und zudem möchte ich dabei auch ein Wörtchen mitreden.“, meldete sich Miria hitzig zu Wort.
„Schließlich redest du gerade darüber, dass der Vater meiner Kinder sich in Lebensgefahr begibt.“
Hanrek blickte sie gequält an.
„Das ist für mich das Schlimmste daran, dass ich euch verlassen müsste. Dich, Finella, Franzisko und Alexo. Die Kinder sind alle noch so klein.“
Es herrschte wieder lange Stille.
„Lass mich darüber nachdenken ...“, bat Dresson, „... vielleicht findet sich ja doch noch ein anderer Weg.“
Hanrek nickte, aber er glaubte nicht daran.
...
In den nächsten Tagen formte sich ein Plan in Hanreks Kopf. Damit man einen Feind bezwingen konnte, brauchte man Wissen über ihn. Das hatte Lucek, wie es Hanrek schien, vor sehr sehr langer Zeit zu ihm gesagt. Damals waren es die Drachenkrieger aus Narull gewesen, die er gemeint hatte. Aber das Gleiche galt auch für den Drachen. Wie sollte man ihn besiegen, wenn man nichts über ihn wusste? Daher musste Hanrek unbedingt in diese Bibliothek in Narull. Vielleicht gab es dort neben der geheimen Geschichte auch noch andere Informationen beispielsweise über Drachen.
Außerdem brauchte man Waffen und Schutz gegen das Ungeheuer. Waffen, die gegen Feuer und rohe Gewalt gefeit waren und da kannte Hanrek nur ein Material. Es mussten Waffen aus Heronussbaum sein, und er wusste schließlich, wie man Gegenstände aus Heronuss herstellte. Er hatte es wahr gemacht, hatte sein Versprechen eingehalten, und war zusammen mit Miria nach Fissool zurückgekehrt. Binderer hatte ihn wie einen Sohn bei sich aufgenommen. Miria und Hanrek hatten im Haus von Meister Binderer gewohnt und der Heronussbaumdrechsler hatte Hanrek fertig ausgebildet. Hanrek war jetzt selbst ein echter Heronussbaumdrechsler, natürlich kein Meister aber ein Geselle.
Und dann war Hanrek zusammen mit seinen Freunden Mico und Jorgen nach Haffkef gereist. Sie hatten Lucek besucht, der zu dieser Zeit Tef gewesen war. Mit Luceks Hilfe hatten sie ihn gefällt, den alten abgestorbenen Baum, das weiße Gerippe, das im Garten der Bruderschaft des Baums stand. Natürlich nachts und heimlich, denn Hanrek und seine Freunde waren nach wie vor gesuchte Verbrecher im Königreich, und manche hätten das Fällen des toten Baumes als ein weiteres großes Verbrechen bezeichnet. Und selbst wenn sie das Fällen selbst nicht als Verbrechen bezeichnet hätten, so doch sicher, dass Hanrek das wertvolle Holz des Baums mitgenommen hatte.
Hanrek wusste es besser. Er hatte den Baum nicht gefällt, um sich an dem Holz zu bereichern, sondern um den kleinen jungen Baum von der Last des alten toten Gerippes zu befreien. Dies war etwas gewesen, was er sich von Anfang an vorgenommen hatte. Hanrek hatte es geschafft, die Nuss unter dem alten toten Heronussbaum zum Keimen zu bringen, hatte damit die Prophezeiung des Baums erfüllt und er fühlte sich nun dem neuen Baum gegenüber verantwortlich. Durch das Fällen des alten Baums hatte er dem jungen Heronussbäumchen die Möglichkeit gegeben, sich nach oben hin frei zu entfalten und darauf war Hanrek stolz.
Und da er durch die Erfüllung der Prophezeiung nun einmal der oberste Bruder der Bruderschaft des Baums war, hatte Hanrek auch keine Skrupel, das Holz für sich zu beanspruchen, denn der Garten, in dem der Baum gestanden hatte, gehörte der Bruderschaft und Hanrek hatte vor, es zum besten Nutzen der Bruderschaft einzusetzen. Auch wenn Hanrek zu Beginn nicht dieser oberste Bruder hatte sein wollen, so war er nun doch froh, Teil der Bruderschaft zu sein. In den letzten Jahren war er enger Bestandteil des Netzes geworden, das die Bruderschaft über Jahrhunderte hinweg gewoben hatte. Er hatte oft die Hilfe der Bruderschaft in Anspruch genommen und er hatte genauso oft seine Hilfe gewährt. Gerade in der Zeit nach dem Überfall der Drachenkrieger waren Hanrek und seine Freunde gesuchte und verfolgte Verbrecher, die sich eine neue geschützte Existenz aufbauen mussten. Das ging nicht ohne Hilfe durch andere.
Das weiße Holz lagerte jetzt in einem großen unterirdischen Lagerraum unter seinem Schuppen, verborgen vor neugierigen Blicken. Nur einige wenige Menschen wussten, dass dieser Schatz in dem unscheinbaren Schuppen vorhanden war.
Es waren ereignisreiche Jahre gewesen. Nicht ganz so ereignisreich wie der Krieg gegen die Drachenkrieger selbst, aber es hatte gereicht, um die Zeit als echtes Abenteuer zu bezeichnen. Und nun drohte ihm ein weiteres Abenteuer. Ein Abenteuer, auf das er gerne verzichtet hätte, um stattdessen in Frieden seine Kinder wachsen zu sehen.
...
Warum kam bei einer Quelle das Wasser langsam und gemütlich aus dem Boden gesprudelt, und wenn man sie abdeckte oder besser gesagt, wenn man es versuchte, warum spritzte das Wasser dann in alle Richtungen und zwar mit einem Druck, dass es viele Schritt weit spritzte?
Er grübelte, schrieb seine Schiefertafel voll, löschte sie und säuberte sie sorgfältig. Auf die jetzt leere Tafel kritzelte er erneut voller Eifer, beschrieb sie mit Zeichnungen und Berechnungen, doch nach einer Weile löschte er auch diese Seite. Geistesabwesend reinigte er die Tafel.
Er wusste, die Lösung war ganz nah, greifbar, in Reichweite, er musste sie nur festhalten, sie nagte an seinem Verstand, wollte gefunden werden. Vielleicht wenn er es noch einmal von der anderen Seite betrachtete. Ja, das sah gut aus. Da war ein Zusammenhang mit dem Platz, den das Wasser hatte. Er wünschte, er könnte nochmal wie schon Jahre zuvor die Quelle in der Wüste sehen, nochmal die Hand darauf pressen, selbst wenn er dabei tropfnass würde, das wäre ihm egal. Oder was wäre, wenn er einen schweren Stein darauf legen würde?
Er fühlte es, er war der Lösung ganz ganz nah. Er entspannte sich und streckte seine gedanklichen Fühler aus. Ja, jetzt, das war der richtige Weg, der richtige Gedanke, ein Hochgefühl begann sich einzustellen, er wusste, er würde das Problem jetzt lösen, wenn er nur noch ...
Ein scharfes Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken und alles war verflogen, alles war weg, der ganze schöne Gedankengang, alles war ihm entfallen.
Wo gerade noch ein Hochgefühl gewesen war, breitete sich jetzt Frust aus. Er war so nah gewesen.
Es klopfte erneut.
Energisch schob Binno seinen Stuhl zurück. Wenn es nicht wirklich wichtig war, dann würde er dem Störenfried den Kopf abreißen. Irgendjemand musste für den Frust bezahlen.
Binno ging zur Tür und riss sie wütend auf.
Davor standen seine Freunde Hanrek und Dresson und sofort war sein Ärger vergangen.
Sie fielen sich in die Arme.
In Ventef kannte man Binno nur als den Erfinder, der gegen Auftrag Maschinen baute. Maschinen, die noch niemand hatte oder kannte. Man kam mit einem Problem zu ihm, und Binno versuchte es zu lösen. Neben großartigen Erfolgen gab es dabei leider auch immer wieder Misserfolge.
Mico wohnte ebenfalls in dem verträumten Städtchen Ventef, und Binno hatte sich mit ihm zusammengetan. Mico verkaufte Ideen und Binno sollte sie verwirklichen. Der ehemalige Dieb und Stallbursche Mico ging wie üblich sehr geschickt vor, verkaufte wortgewandt, was der Kunde haben wollte, und stellte dabei Binno ein ums andere Mal vor schier unlösbare Aufgaben.
Und heute kam Hanrek mit einer solchen Aufgabe zu ihm. Nach kurzer Begrüßung kam Hanrek gleich zur Sache.
„Binno, ich brauche deine Hilfe.“
Nachdem ihn seine beiden Freunde nach einem langen Abend und einer kurzen Nacht am nächsten Morgen verlassen hatten, hatte Binno sein Problem mit dem Wasser vergessen. Viel größere Probleme hatten sich in den Vordergrund geschoben, Aufgaben, die ihn die nächsten Monate beschäftigen würden. Aber nachdem sie Mico gleich mitgenommen hatten, bestand nicht die Gefahr, dass dieser ihm auch noch von seinen Kunden Aufträge anschleppte.
Als seine Freunde fort waren, setzte er sich an seinen Arbeitstisch und dachte über diese neuen Aufgaben nach und, wie so oft, vergaß Binno die Zeit und lebte statt dessen in seiner eigenen Welt voller Möglichkeiten und ungelöster technischer Probleme. Er vergaß zu essen und zu trinken, und erst als spät in der Nacht sein Magen unüberhörbar knurrte, erwachte er aus seinen Gedanken, und merkte, dass über den Aufgaben der Tag vergangen war. Als er ausgehungert und durstig, wie er war, ein Stück Brot und dazu etwas Käse hinunter schlang, und das Essen mit einer Kanne kalten Wassers herunter spülte, wurde ihm klar, dass er in der nächsten Zeit häufiger solche Tage haben würde. Hanrek hatte ihm Aufgaben gestellt, die ihn fesselten, die anspruchsvoll waren und zudem waren sie wichtig. Wichtig für seine Freunde und wichtig für das ganze Königreich.
...
Stonek döste vor sich hin. Er konnte nicht schlafen. Das lag aber nicht daran, dass sein Lager unbequem war, unbequem und außerdem kalt war es zweifellos, sondern es lag daran, dass er den ganzen vergangenen Tag schon vor sich hin gedöst hatte. Genau wie die Nacht und den Tag davor und wie die vielen Tage und Nächte zuvor, seit ihn dieser verdammte Tom ins Gefängnis geworfen hatte. Stonek wusste nicht, warum er hier war. Bis auf ein stundenlanges Verhör vor Wochen, in dem man ihn dazu befragt hatte, wie er hieß, wo er herkam, was er die letzten Jahre gearbeitet hatte, wie sein Bruder hieß, wo dieser jetzt war und was er tat, was Stonek im Krieg getan hatte und vielen anderen Fragen, hatte man ihn einfach schmoren lassen. Kein Wort über den Grund, kein Wort darüber, wie lange er hier bleiben sollte, wann man ihn vor Gericht stellte, ob man seine Eltern benachrichtigt hatte oder sonst irgendetwas. Die einzige Begründung, die sie ihm für sein Hiersein gegeben hatten, war: „Der Tom hat es befohlen.“
Die Wärter waren stumm wie Fische und das Essen war widerlich. Es gab nichts zu tun, außer zu warten und zu hoffen oder zu verzweifeln. Er hatte schon tausend Mal die kleine Zelle von vorne bis hinten abgeschritten, jeden Zentimeter der Wand auf eine Möglichkeit für eine Flucht untersucht und tausend Mal geschrien, seine Unschuld beteuert, bis er heiser war, alles ohne jede Reaktion. Sonst gab es nichts zu tun.
Manchmal beobachtete er einen halben Tag lang den Sonnenstrahl, der durch die winzige fensterähnliche Öffnung oben an der Mauer hereinkam, beobachtete, wie der Strahl langsam durch den Raum wanderte, von der Mitte des Fußbodens bis zur Mitte der Mauer ihm gegenüber. Und wenn eine Wolke die Sonne verdeckte und ihm damit die einzige Ablenkung des Tages genommen wurde, dann stieg ein unbändiger Zorn in ihm auf, ein Zorn auf die Ungerechtigkeiten des Lebens, der Ungerechtigkeiten der Welt ihm gegenüber. Bei einer dieser Gelegenheiten hatte er sich die linke Hand gebrochen, als er seiner Wut Luft machen musste und gegen die Wand geschlagen hatte. Seitdem schmerzte ihn die Hand. Oft wachte er nachts auf, weil er sich aus Versehen auf die Hand gelegt hatte.
Er war verlaust und verdreckt. Sein Bart war mittlerweile struppig und ungepflegt, sein in Strähnen herunter hängendes Haar hatte dringend einen Haarschnitt nötig, seine Kleider wurden mehr und mehr zu Lumpen. Aufgrund des schlechten Essens hingen sie ihm sowieso nur noch am Leib herunter. Was tat er hier, was wollten sie von ihm, was warf man ihm vor, er hatte keine Ahnung, er hatte wirklich keine Ahnung. Es gab kein stilles kleines Geheimnis, das diese Behandlung rechtfertigte, er war sich absolut keiner Schuld bewusst. Sein Vater war Tof in Hallkol und damit ein angesehener Bürger, wie konnten sie den Sohn eines angesehenen Bürgers des benachbarten Dorfes einfach einsperren ohne Grund, nur weil es der Tom so befohlen hatte? Er war ratlos und döste weiter vor sich hin.
Stonek schreckte hoch, anscheinend war er jetzt doch eingenickt. Was hatte ihn geweckt? Dann hörte Stonek, was ihn geweckt hatte, es waren schwere Stiefelschritte auf dem Gang zu hören und gerade jetzt hörten die Schritte auf, genau vor seiner Tür. Er setzte sich auf und war hellwach. Das war sehr ungewöhnlich, das war kein einziges Mal in den letzten Wochen vorgekommen. Was ging da vor? Der Schlüssel wurde in das Schloss gesteckt und Stonek hörte, wie das schwere Schloss zurück schnappte, dann wurde der Riegel zurückgeschoben.
Stonek stellte fest, dass er aufgestanden war. Er war bis in die Haarspitzen alarmiert. Dass man ihn mitten in der Nacht aufsuchte, nach all der langen Zeit, war höchst verdächtig, was gab es, das nicht noch bis zum Morgen hätte warten können?
Instinktiv schaute sich Stonek nach etwas um, mit dem er sich verteidigen konnte, aber in diesem Raum gab es nichts als den festgeketteten stinkenden Eimer, seinen Essnapf und den Löffel, beides aus Blech. Das Bett war so befestigt, dass es sich nicht von der Wand lösen ließ. Es gab nichts, was er zur Verteidigung hätte benutzen können. Trotzdem nahm er den Löffel an sich und steckte ihn sich rasch in die Tasche. Man konnte nie wissen. Stonek zog sich zurück an die Wand und brachte zwischen sich und die Tür so viel Abstand wie möglich, viel war es nicht.
Die Tür schwang quietschend auf. Vorsichtig spähte Stonek hinaus in den Gang, konnte aber aufgrund der Dunkelheit rein gar nichts erkennen. Dann hörte er ein schleifendes Geräusch und ein leises Fluchen. Die Tür, die ganz langsam wieder zu geschwungen war, wurde mit einem starken Ruck aufgestoßen, sodass sie erneut quietschend aufschwang und an die Mauer knallte. Stonek hatte die ganze Zeit den Atem angehalten, sein Herz raste, er fühlte hinten den Druck der Wand in seinem Rücken und vorne den Druck der Angst auf seiner Brust, den Löffel hatte er krampfhaft in der Tasche umklammert. Er zwang sich auszuatmen und sich ein klein wenig zu entspannen. Was ging da vor?
Jetzt wurde eine gebückte Gestalt sichtbar, die rückwärts in die kleine Zelle kam. Sie flüsterte.
„Schnell hilf mir mal. Ich denke auf das Bett wäre gut.“
Stonek starrt die Person an, drückte sich noch mehr an die Wand und rührte sich nicht.
Seufzend richtete sich die Gestalt auf und drehte sich um. Dabei konnte Stonek erkennen, dass eine zweite Gestalt zu Boden sank.
Als sich die Person ganz aufgerichtet hatte, erkannte Stonek, dass es sich um einen Mann handeln musste. Der Mann war ungefähr so groß wie er selbst und wirkte muskulös. Einen Moment suchte ihn der Mann mit den Augen in der Dunkelheit, vermutete ihn an der Wand und tastete dann mit seiner Hand nach ihm. Als er ihn tatsächlich berührte, flüsterte er.
„Na, Stonek. Mit mir hast du scheinbar nicht gerechnet“
Stonek sagte nichts, er war zu erstaunt und hatte an dem Flüstern immer noch nicht erkannt, wer der Mann war.
„Stonek. Ich bin es, dein Bruder Hanrek. Was ist los? Erkennst du mich nicht?“
„Ha ... Hanrek. Du. Aber ...“
Und dann war er Hanrek um den Hals gefallen und stammelte wild auf seinen Bruder ein und alles klang ungefähr wie „... ich habe es immer gewusst, dass du mich hier raus holen wirst. Ich habe es immer gewusst ...“
„Ist ja gut. Ist ja gut. Wir müssen uns beeilen. Komm Stonek. Hilf mir den Kerl auf dein Lager zu hieven. Er ist ganz schön schwer.“
Stonek löste sich endlich von seinem Bruder und half ihm den ohnmächtigen Wärter, um den es sich handelte, auf sein Bett zu heben. Hanrek fesselte den Wärter und knebelte ihn. Dann verließen sie die Zelle, nachdem Hanrek seinen Bruder unnötigerweise warnte, ja leise zu sein.
Hanrek verschloss die Tür sorgfältig, steckte den Schlüssel ein, schob den Riegel vor und nahm dann seinen Bruder an der Hand. Er zog ihn mit sich. Es war stockdunkel, aber Hanrek wusste anscheinend, wohin er gehen musste. Sie bogen um drei Ecken, ehe sie in einen größeren Raum kamen, scheinbar der Aufenthaltsraum der Wachen.
Hier war es etwas heller, da durch ein Fenster etwas Mondlicht hereinfiel. An der Wand lehnte lässig ein Mann. Stonek meinte ihn zu kennen, auch wenn er ihn nur zweimal gesehen hatte. Er wusste, dass es ein Freund seines Bruders war, nur an den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern.
„Alles in Ordnung, Mico?“
„Alles bestens. Aber es wird Zeit, dass wir hier herauskommen. Es fängt an, mir zwischen den Schulterblättern zu jucken, genau dort wo man mit den Fingerspitzen gerade nicht mehr hinkommt. Und das ist normalerweise ein schlechtes Zeichen.“
Mico reichte Stonek eine Waffe. Es war ein Stab. Gut, das war besser als ein Schwert und noch viel besser als ein Blechlöffel. Genau wie sein Bruder kämpfte Stonek lieber mit einem Stock als mit dem Schwert. Stonek umklammerte den Stab mit aller Kraft und genoss das Gefühl, auch wenn ihm die linke Hand dabei heftig schmerzte, dann ließ er die Hand in seine Tasche gleiten, holte den Löffel heraus und legte ihn verschämt auf den nächsten Tisch.
Erst jetzt sah Stonek, dass in einer Ecke des Raums zwei reglose Gestalten an der Wand lehnten. Sie waren ebenfalls geknebelt und gefesselt. Es waren Wärter, die Stonek zwar sicherlich kannte, aber jetzt nicht erkannte, da es zu dunkel war. Es war ihm auch egal, nichts wie raus hier.
Seine beiden Befreier gingen voraus, Stonek folgte ihnen. Es ging noch um einige Ecken und eine Treppe hinunter immer in tiefer Dunkelheit und sehr leise, dann waren sie an einer Tür. Vorsichtig und leise öffnete Mico sie und lugte durch den Spalt. Dann öffnete er sie ganz und schlüpfte nach draußen. Hanrek und Stonek folgten ihm.
Der Hof, in den sie kamen, wurde durch den Mondschein in silbriges Licht getaucht. Auch hier wartete eine Gestalt auf sie. An diesen Freund Hanreks konnte sich Stonek besser erinnern. Auch ihn hatte er zweimal gesehen, aber an Dressons Namen konnte er sich sofort erinnern, da er den Namen als sehr ungewöhnlich empfand. Außerdem hatte Dresson die Geige des Wirts repariert, da er Instrumentenbauer war. Die Geige des Wirts war das einzige Instrument im Dorf, und sie wurde bei jedem größeren Ereignis gespielt. Dresson hatte also dem ganzen Dorf einen Gefallen getan.
Nun zu viert verließen sie leise den Hof. Sie kamen am Eingang zum Hof an zwei weiteren bewusstlosen geknebelten und gefesselten Körpern vorbei. Seine drei Befreier hatten ganze Arbeit geleistet. Endlich standen sie im Freien. Mit schnellem aber nicht zu auffälligem Schritt gingen die Vier die Straße entlang. Stonek nahmen sie in die Mitte. Schnell bogen sie in kleinere Seitenstraßen ab. In einer dieser Straßen wurden sie von einem Mann erwartet, mit dem Hanrek leise einige Worte wechselte. Dann gingen sie weiter und schlugen eine Richtung ein, die sie eindeutig in eine Gegend führte, in die Stonek sich alleine nie getraut hätte. Herunter gekommene Spelunken, alte verfallene Häuser, merkwürdige Gestalten auf den schmutzigen Straßen. Aber als merkwürdige Gestalten konnte man Stonek, Hanrek und seine beiden Freunde auch bezeichnen. Stoneks Erscheinung, blass von den Wochen ohne Sonne, sein langes strähniges und dreckiges Haar, der Bart lang und ungepflegt, die Kleider mehr Lumpen als alles andere, alles Merkmale, die nach Gefängnis schrien. Ja, zumindest eine Gestalt der kleinen Gesellschaft konnte man ebenfalls als sehr merkwürdig bezeichnen.
Aus einem Gebüsch unter irgendeinem Brückenabsatz klaubte Mico plötzlich einen Sack hervor und drückte ihn Stonek in die Hand.
„Wenn du nachher etwas Zeit hast, zieh dich um. Ich denke die Kleider darin werden dir passen. Sie gehören Hanrek und ihr habt ungefähr die gleiche Statur.“
Er klopfte Stonek auf den Rücken.
„Zumindest, wenn du einige Tage wieder richtige Nahrung zu dir genommen hast. Übrigens findest du darin auch eine Kleinigkeit zu essen.“
Das hätte er Stonek nicht sagen sollen. Sofort öffnete dieser den Sack und stöberte darin nach dem Essen. Gierig verschlang er im Gehen die Wurst, die er fand. Als Nächstes beschäftigte er sich mit einem Apfel und dann mit einem Stück Brot, das er zusammen mit einer halben Flasche Bier verzehrte. Daher merkte Stonek erst, als Hanrek ihn ansprach, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Es handelte sich um ein verfallenes Haus, das alle vier durch eine große Tür betraten. Sie folgten einem langen Gang, an dessen Ende sie von einer dunklen, in einen schwarzen Mantel gewickelten Gestalt erwartet wurden. Stonek merkte, dass das Haus nur von außen verfallen aussah, von innen machte es einen ganz anderen Eindruck. Die Gestalt in dem Mantel streckte eine weiße Hand aus einem großen Ärmel. Alles andere an der Gestalt war dunkel, wahrscheinlich künstlich mit Ruß geschwärzt.
Mico zog einen Beutel aus einer seiner Taschen und legte ihn auf die weiße Hand. Die Hand wurde zurückgezogen und der Beutel wanderte in eine der Taschen des Mantels.
Die dunkle Gestalt trat beiseite und gab den Weg frei auf eine Tür. Ein wortloses Kopfnicken wies sie an, durch die Tür zu gehen.
Es dauerte nicht lang, da hatte eine ähnliche Gestalt sie durch ein Gewirr von Gängen sicher auf die andere Seite der Stadtmauer geführt. Sie verließen den letzten Gang und die dunkle Gestalt in einem kleinen Wald weit von der Mauer entfernt. Von der Stadtwache hatten sie keine Spur gesehen.
Stonek war mittlerweile sehr erschöpft. So anstrengende Dinge wie in der Stadt und durch dunkle Abwasserkanäle zu laufen hatte er seit Wochen nicht mehr gemacht. Er schätzte, dass es mittlerweile kurz vor Sonnenaufgang war, da der schwarzen langsam eine graue Dunkelheit wich.
„Was meinst du Stonek, bist du in der Lage in deinem Zustand noch etwas zu reiten? Wir sind noch nicht in Sicherheit. Dazu müssen wir erst über den Fluss, bis dahin ist es aber noch ein Stück.“
Stonek nickte. Er würde alles tun, nur um möglichst weit von diesem Gefängnis weg zu kommen.
Sie fanden die vier Pferde, die angepflockt in einem Gebüsch auf sie gewartet hatten. Sie saßen auf und ritten los, und obwohl Stonek zu Tode erschöpft war, genoss er jeden Moment der wiedererlangten Freiheit. Wieder und wieder strich er seinem Pferd über das glatte Fell, er lauschte der erwachenden Natur, den Vögeln, die mit ihrem Lied den Tag begrüßten. Wochenlang hatte er in diesem stinkenden Loch gelebt, hatte nur eckige Steine und Langeweile um sich herum gehabt, doch jetzt genoss er den Ritt durch den Wald. Er genoss den Schritt der Pferde auf dem weichen Waldboden, den Geruch der Blumen und der Bäume. Er sog alles in sich auf und das, obwohl es sich bei diesem Ritt um eine Flucht handelte.
Und jetzt hatte er auch endlich Zeit sich mit seinem Bruder zu unterhalten.
„Danke Hanrek, danke euch allen, dass ihr mich befreit habt.“
Hanrek schüttelte den Kopf.
„Du brauchst dich bei mir nicht zu bedanken. Ich weiß, du hättest das Gleiche für mich getan.“
„Ja natürlich, aber trotzdem hast du riskiert, dass man dich, dass man euch erwischt und ebenfalls einsperrt.“
„Ja. Darauf war es angelegt. Es war eine Falle. Sie ist nur nicht zugeschnappt.“
Stonek schaute Hanrek verwirrt an.
„Eine Falle?“
„Ja, eine Falle. Der Tom hat sie gestellt, aber seine Gefängniswärter waren zu dumm, und sie haben wohl nicht wirklich geglaubt, dass jemand kommen würde, um dich zu befreien.“
„Was habe ich mit dem Tom zu schaffen? Was wollte er von mir? Ich habe ihn nie getroffen und trotzdem lässt er mich einsperren.“
„Kennst du den Spruch: - Wenn du dich heute noch nicht geprügelt hast, heißt das nicht, dass du keine Feinde hast, es heißt nur, dass du ihnen heute noch nicht begegnet bist -“
Stonek schüttelte den Kopf.
„Der Tom ist einer dieser Feinde. Er ist nicht dein Feind, sondern meiner. Der Tom war früher der Kommandant der Armee, der den Überfall der Drachenkrieger zurückschlagen sollte. Er hat Mico und mich genauso wie Jorgen und Binno zwangsrekrutiert. Damals sind wir an einander geraten. Ich habe ihn mir damals zum Feind gemacht und das hat er nicht vergessen. Und dann waren wir auch noch so dreist und sind desertiert. Er hat uns durchs ganze Königreich verfolgen lassen, und auch heute, Jahre nach dem Krieg versucht er, uns noch zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Du warst dabei nur zufällig zur Hand, ein Faustpfand, um den Einsatz zu erhöhen. Außerdem siehst du mir zufällig sehr ähnlich. Wahrscheinlich hat dich einer seiner Spione aufgrund einer Beschreibung verwechselt und erst später festgestellt, dass er einen Fehler gemacht hat. Da war es nur praktisch, dich als Köder ins Gefängnis zu stecken.“
Dresson meldete sich mit einem amüsierten Ton.
„Im Moment seht ihr euch aber nicht sonderlich ähnlich.“
Stonek war still und dachte nach. Es war ihm gerade einiges klar geworden.
Hanrek fuhr fort.
„Tut mir leid, dass sie dich wegen mir ins Gefängnis gesteckt haben. Du siehst, du brauchst dich bei mir nicht zu bedanken.“
„Wie hast du davon erfahren?“
„Oh, der Tom hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass er dich eingelocht hat. Er hat Vater und Mutter darüber informiert und ...“
„Sie haben es die ganze Zeit gewusst?“
Hanrek nickte.
„Ja. Sie waren beide sehr verzweifelt. Ich habe es dagegen erst letzte Woche erfahren. Ich bin eigentlich nicht wegen dir hier hergekommen. Ich habe etwas anderes vor.“
„Wir müssen Mutter und Vater benachrichtigen, damit sie wissen, dass ich frei bin und sie sich keine Sorgen mehr machen müssen.“
„Nun, dass Mutter und Vater sich Sorgen machen, ich fürchte, daran kann ich nichts ändern, aber mit dem Benachrichtigen, das ist schon organisiert. Kannst du dich an den Mann erinnern, den wir kurz nach dem wir aus dem Gefängnis gekommen sind, getroffen haben?“
Stonek nickte.
„Er wird das übernehmen. Er ist von der Bruderschaft.“
„Ich glaube ich werde mich nie daran gewöhnen, dass du in einer Bruderschaft bist.“
„Bin ich ja gar nicht. Ich bin nur ihr Anführer.“
„Und wo ist da der Unterschied?“
„Na für mich ist da schon ein Unterschied. Wenn du wie ich gesehen hättest, wie viele Stunden die Brüder nutzlos im Garten herum gesessen haben und versucht haben einen toten Baum wieder zum Wachsen zu bringen, dann würdest du verstehen, dass da ein Unterschied ist. Ich habe nie nutzlos im Garten gesessen.“
Zum ersten Mal schaltete sich Mico ins Gespräch ein.
„Oh, wir hatten damals durchaus den Eindruck, dass du nutzlos im Garten herum sitzt.“
Hanrek lachte.
„Ich habe zwar lange im Garten gesessen, aber ich habe den Baum damals tatsächlich wieder zum Wachsen gebracht.“
Es schwang Stolz in Hanreks Stimme mit. Stonek war verwirrt, denn es fehlten ihm einige Hintergründe und er hatte nie richtig verstanden, was dahinter steckte, dass Hanrek der oberste Bruder der Bruderschaft des Baums war. Einmal hatte Hanrek versucht, es ihm zu erklären, aber er hatte dabei wohl wichtige Sachen weggelassen und bei einigen Sachen nur herum gedruckst. Mico schien da besser informiert zu sein.
Hanrek wechselte plötzlich das Thema.
„Hast du dich an der Hand verletzt?“
Stonek war überrascht, dass Hanrek es bemerkt hatte.
„Ja, du hast sie die ganze Zeit geschont. Gib sie mir mal her.“
Stonek streckte den Arm aus, sodass Hanrek sie vorsichtig in seine nehmen konnte.
Er tastete vorsichtig die Hand ab.
„Wie ist es passiert? Haben sie dich geschlagen?“
„Nein. Es war meine eigene Dummheit, ich habe sie vor Wut gegen die Wand geschlagen.“
Hanrek schaute ihn verdutzt an.
„Steht die Wand noch?“
„Ja, leider. Wenn sie eingefallen wäre, wäre ich geflohen.“
„Hmm.“
Hanrek untersuchte weiter die Hand.
„Ich fürchte, ich werde sie dir nochmal brechen müssen. Sie wächst an dieser Stelle falsch zusammen.“
Er deutete auf eine Stelle, die rot geschwollen war.
„Wenn sie nicht nochmal gebrochen wird, wirst du dein Leben lang Schmerzen und Probleme damit haben.“
„Kannst du das denn?“
Mico schaltete sich ins Gespräch ein.
„Du kannst deinem Bruder vertrauen. Er kann es und ich würde es an deiner Stelle lieber ihn als einen anderen machen lassen.“
„Ich werde es mir überlegen.“
Eine Weile stockte das Gespräch. Dann fragte Stonek.
„Wie gehen wir weiter vor? Was habt ihr geplant?“
„Zuerst müssen wir über den Fluss, damit wir aus dem Einflussbereich des Toms kommen. Und danach schlage ich vor, dass du nach Vartel gehst und Miria und meine Kinder besuchst. Dort kannst du wieder zu Kräften kommen, deine Hand auskurieren und vielleicht Miria helfen, bis ich wieder zurück bin. Übrigens, es sind jetzt drei Kinder. Du bist nochmal Onkel geworden.“
„Oh. Glückwunsch.“
Eine Zeit lang unterhielten sie sich über Hanreks neuesten Sohn. Dann fragte Stonek.
„Und was hast du vor? Du tust so geheimnisvoll.“
Hanrek schwieg eine Weile. Dann sagte er leise.
„Wir müssen nach Narull.“
„Nach Narull. Wieso? Besucht ihr deinen alten Meister Lucek.“
„Nein, das ist nicht der Zweck unseres Besuchs.“
Hanrek machte ein verschlossenes Gesicht. Stonek schaute sich in der Runde um. Keiner seiner Befreier schien so richtig erpicht darauf, ihn einzuweihen.
„Und was ist der Zweck eures Besuchs in Narull?“, fragte er trotzdem unbedarft.
Wieder herrschte eine Weile Stille, doch dann sagte Hanrek.
„Der Drache.“
„Der Drache! Was denn für ein Drache?“
„Das ist schwer zu erklären.“
Stonek schaute verwirrt in die Runde und dachte, sie hätten sich einen Spaß mit ihm gemacht, aber, nachdem keiner lachte, sagte er leicht hin.
„Gib dir Mühe, ich bin neugierig.“
Hanrek seufzte tief, und nach einer Weile schien er sich zu etwas durchzuringen.
Und dann bekam Stonek eine lange und ausführliche Erklärung von einer Gabe, die sich Flüstern nannte, von Exzarden, von der Bruderschaft des Baums, von der Prinzessin Pilroos und von vielen anderen Dingen, bei denen es ihm schwer fiel, sie zu glauben. Und zuletzt erzählte Hanrek von dem goldenen Drachenei und von dem Drachen, der daraus geschlüpft war. Vor Staunen klappte Stoneks Mund immer weiter auf. Aber nun endlich verstand er so manches.
Als sie den Fluss erreichten, war es hell und Stonek steckte immer noch in den alten Kleidern. Sie wurden von einem Fischer mit dem Namen Soltek erwartet, der ihnen nach kurzer und herzlicher Begrüßung in ein Boot half. Die Pferde stellten sie in einem kleinen Schuppen bei seiner Hütte unter. Alle bis auf Stonek halfen dem Fischer beim Rudern. Jetzt endlich hatte er Zeit, sich umzuziehen. Die alten verdreckten stinkenden Kleider warf er einfach in den Fluss. Am liebsten wäre er hinter den Kleidern selbst in den Fluss gesprungen, um ein Bad darin zu nehmen. In den neuen sauberen Kleidern fühlte er sich um so schmutziger, doch die Körperpflege musste leider warten, nur die schmerzende Hand und die Unterarme konnte er in den kalten Fluss hängen. So schlief er ein, zwar auf der Flucht aber in Freiheit.
Der stechende Schmerz war so stark, dass er das hässliche Knirschen seines Handknochens nicht hörte, als Hanrek ihm seine Hand erneut brach. Obwohl sie ihm ein Stück Holz zwischen die Zähne geklemmt hatten, entfuhr Stonek ein lauter Schrei, bevor er sich wieder beherrschen konnte. Doch leider war es mit dem Brechen nicht getan, denn genauso schmerzhaft war das Richten der Knochen. Nur mit Mühe konnten Hanreks beide Helfer seinen jüngeren Bruder ruhig halten. Laut schreiend bäumte er sich gegen die beiden Befreier, die ihm auf den Gliedmaßen saßen, um zu verhindern, dass er um sich schlug oder die verletzte Hand befreite. Quälend langsam brachte Hanrek die Knochen in die richtige Lage. Dann endlich fixierte er sie mit einigen vorbereiteten Stöcken und einem dicken Verband. Allen Beteiligten stand vor Anstrengung und einem vor Schmerz der Schweiß auf der Stirn. Der von Stonek war eiskalt.
Hanrek strich seinem Bruder zärtlich das nasse Haar aus dem Gesicht.
„Eine Hoffnung habe ich.“, Stonek schaute fragend zu ihm hoch.
„Dass du nach Vartel gehst, während wir nach Narull reisen. Und dass du auf meine Familie acht gibst.“
„Ja ich glaube schon, dass ich das mache ...“, sagte Stonek nach einem Moment, „... so brutal, wie du Freunde und Verwandte behandelst, ist es besser, man ist möglichst weit weg von dir.“
Stonek rollte sich mit einem leisen Seufzer auf die Seite und daher sah er nicht, wie sehr er mit seinem Galgenhumor seinen Bruder getroffen hatte.
Voll tiefer Trauer dachte Hanrek.
„Ja. In der nächsten Zeit wird es für alle meine Freunde und Verwandte besser sein, wenn sie sich möglichst weit weg von mir befinden.“