Читать книгу Das verschleierte Tor - Stefan Kraus - Страница 6
Narull
ОглавлениеDer Grenzübergang zwischen dem Königreich und Narull war gut bewacht und mit Wachtürmen und hohen stabilen Mauern befestigt. Obwohl die beiden Länder diplomatische Beziehungen zueinander unterhielten, Lucek war einer dieser Diplomaten, beäugte man sich an der Grenze misstrauisch. Insbesondere die Einwohner des Königreichs hatten Angst vor einer weiteren Invasion durch das feindliche Narull. Im Königreich hatte niemand wirkliche Ambitionen in das kalte Narull einzufallen, am wenigsten der König selbst. Der größte Teil des Königreichs lag im gemäßigten Süden. Die Menschen waren die Wärme gewohnt und an das angenehme Leben, das damit einher ging. Der nördliche kalte Teil des Königreichs galt für die südlich des Boons lebenden Menschen als exotisch. Wer wollte schon leben, wo es im Winter so kalt war, dass man kaum vor die Tür konnte, wer wollte die Tage frierend im Haus sitzen, wartend, dass die winterlichen Schneestürme vorüber gingen. Erst recht konnten sich die Menschen nicht vorstellen, ein Land zu erobern, das noch kälter war und wo es nur Schnee und Eis gab, so wie im Land der Drachenkrieger.
Jedoch war den Menschen in Narull nicht bewusst, dass ihnen aus dem Süden keine Gefahr drohte. Jeder hatte gehört, dass die Armee des Primus in dem warmen Land hinter den hohen Bergen besiegt und zurück geschlagen worden war, mit Zauberei, wie einige besonders Schlaue wussten und das trotz der vielen Exzarden, die man eingesetzt hatte. Viele Soldaten waren nicht zurückgekehrt und sogar viele der Exzarden hatten in dem Land ihr Leben verloren.
Von offizieller Seite hatte man wenig über die Umstände verlauten lassen, die zur Niederlage im Königreich geführt hatten.
Erst ganz allmählich wurden auch die Möglichkeiten gesehen, die sich durch die neue Nachbarschaft ergaben. Die Händler waren natürlich die Ersten, die versuchten, aus der neuen Situation Profit zu schlagen, und das war gut so, denn wenn man Handel miteinander treiben will, bedarf es eines gesunden Maßes an Vertrauen und Stabilität. Die Händler drängen mit ihrem finanziellen Einfluss darauf, dass der Handelspartner nicht verärgert wird, dass er als vertrauenswürdig eingestuft wird, und da auf beiden Seiten die Händler gleichermaßen diese Interessen vertreten, bewirken sie damit automatisch, dass es zu einem entspannteren Umgang miteinander kommt.
Zu Beginn werden die Händler der ersten Stunde zwar verschrien als geldgierige Abweichler, die mit dem Feind lukrative Geschäfte machen, aber sobald das Risiko geringer wird, drehen die, die vorher so laut dagegen geschrien haben, ihre Fahne in den Wind und wollen nun ebenfalls an dem erträglichen Geschäft teilhaben. Und wehe, sie werden dann daran gehindert.
Und so wurden über die Jahre hinweg bedingt durch den verstärkten Handel die Beziehungen zwischen den beiden Nachbarn zusehends besser.
Aus dem Süden wurden Berge von Kräutern und exotischen Früchten in den Norden geliefert, und im Gegenzug wurde mit Edelsteinen, Gold, Silber und anderen wertvollen Gegenständen bezahlt. Das allergrößte Interesse hatte man in Narull jedoch an Pferden. Pferde hatte man vor dem Überfall des Königreichs nicht gekannt und es war jetzt ein begehrtes Gut.
Von dem regen Handel profitierte die Stadt Haffkom, die früher als Haffkef bekannt gewesen war und die nun als vierzehnte Stadt des Königs geführt wurde. Das brachte sehr viele Veränderungen mit sich. Jetzt war Haffkom eine gerüstete Garnisonsstadt mit einer intakten hohen befestigten Stadtmauer. Die Stadt war gewachsen und hatte an Bedeutung gewonnen. Nur auf dem Markt in Haffkom war es den Händlern aus Narull gestattet, ihre Waren anzubieten. Es wurde nur einigen wenigen Einwohnern aus Narull erlaubt, den Boon zu überqueren, und weiter nach Süden zu reisen. Dadurch wurde der Markt in Haffkom, der natürlich nur in den Sommermonaten abgehalten werden konnte, wichtig und bekannt. Neben den wertvollen Zahlungsmitteln wurden interessante Waren aus dem Norden umgeschlagen, und von hier fanden diese ihren Weg in den Süden.
Die vielen Soldaten, die jetzt ständig in Haffkom stationiert waren, und deshalb ihre Familien mitgebracht hatten, trugen dazu bei, dass die lokalen Handwerker eine gute Auslastung hatten. Es wurden neue Häuser gebaut, und der Handel mit Narull spülte Geld in die Kassen der Stadt.
Auch die umliegenden Dörfer profitierten von dem neuen Reichtum in der Stadt. Die Abnahme der Waren, die aus den Dörfern rund um die Stadt kamen, wie Getreide, Gemüse, Lebendvieh, Pferde, Holz, Wolle und Felle, war zu fairen Preisen gesichert.
Was als besondere Ehre angesehen wurde, der König hatte seinen Besuch in Haffkom angekündigt. Im nächsten Jahr wollte er die Stadt besuchen. Schon jetzt machte man sich Gedanken, wie der König empfangen werden sollte. Auch das trug dazu bei, dass Haffkom bekannter und wichtiger wurde. Plötzlich machten sich Menschen aus dem Süden Gedanken, ob sie die abgelegene Stadt einmal besuchen sollten, oder Eltern dachten darüber nach, ob sie ihre Kinder zur Ausbildung nach Haffkom schicken sollten.
Eine wichtige aufstrebende Stadt brauchte natürlich einen fähigen Tom. Blutero thronte hinter einem Schreibtisch auf einem großen Holzstuhl in seinem Audienzzimmer, wie er es nannte. Die Einrichtung hatte er vom alten Tef Lucek übernommen, jedoch hatte Blutero es sich nicht nehmen lassen, ein angemessenes Haus für das Amt des Tom zu bauen. Damals als Lucek sein Amt an ihn hatte abtreten müssen, war Haffkef noch keine königliche Stadt gewesen. Er, Blutero, hatte dieser Stadt zum königlichen „om“ verholfen, er und sein Einfluss in Kiroloom. Es war jetzt seine Stadt.
Trotz seiner 58 Jahre war er nach wie vor gut in Form. Dass seine Gestalt jugendlich, straff und muskulös war, dazu hatte sicher beigetragen, dass er während seiner militärischen Laufbahn viel Zeit in der Natur und auf dem Pferd verbracht hatte.
Seine Macht in dieser Stadt war enorm. Jeder in der Stadt glaubte, dass er mit der Armee den nördlichen Teil des Königreichs befreit hatte, dass er die Drachenkrieger und ihre Exzarden vertrieben hatte. Er hatte schließlich selbst dafür gesorgt, dass die Erscheinungen dieser Feuerdrachen, die tagelang aus dem Fluss emporgestiegen waren, als Hirngespinste abgetan worden waren. Die offizielle Version für König und die Militärs lautete, dass er und natürlich die königliche Armee die Narull besiegt und zurückgeschlagen hatten. Wer wagte schon, das Gegenteil zu behaupten. Der König hatte ihm nicht so recht geglaubt, hatte immer wieder nach diesen Feuerdrachen gefragt, woher er davon wusste, das war Blutero nicht bekannt. Doch das alles war lange her und außerdem schuldete der König ihm etwas. Er hatte ihm seine heiß geliebte Tochter zurückgebracht. Höchstpersönlich hatte er sie nach Kiroloom zurückbegleitet. Wenn es weiter so gut lief wie bisher, vielleicht musste er dann seine politischen Ambitionen in Kiroloom doch noch nicht aufgeben.
Er hatte die Angst vor den Drachenkriegern wach gehalten, und wenn sie drohte, in Vergessenheit zu geraten, dann schürte er sie neu. In Kriegs- und Krisenzeiten, in denen die Einwohner eines Landes um Leib und Leben fürchten mussten, hatten Bürgervertreter mit militärischem Hintergrund einen besonderen Reiz für die Bürger. Der Bevölkerung von Haffkom hatte er ja schon bewiesen, dass er militärisches Geschick besaß, wohingegen der Vorgänger von Lucek genau das Gegenteil bewiesen hatten. Und Lucek selbst war jetzt Botschafter in Narull. Blutero hatte dafür gesorgt, dass Luceks Amt als Diplomat in Narull bei großen Teilen der Bevölkerung als Verrat angesehen wurde. Lucek hatte sein Amt als Tef freiwillig geräumt wegen einer Liebschaft mit der Tochter des Primus. So ein Narr.
Vor dem Audienzzimmer gab es ein kleines Wartezimmer, in dem die Leute warteten, die einen Termin mit ihm hatten. An manchen Tagen war das Zimmer voll, denn auch Leute, die keinen Termin hatten, versuchten zu ihm vorzudringen. Meist hatten sie kein Glück, denn wer nicht wichtig genug war, um bei seinem Sekretär einen Termin machen zu können, den empfing der Tom nicht. Und die Vorgabe, wer wichtig war, kam von Blutero selbst, und wer einen Termin machen durfte, das stimmte sein Sekretär sehr eng mit ihm ab.
Auch wenn er einer der Wichtigen war, langweilte ihn sein Gegenüber. Der Händler, der ihm gegenüber saß, war reich und ein angesehener Bürger der Stadt. Auch er hatte von den neuen Handelsmöglichkeiten profitiert, und war daher ein großer Anhänger von Lucek gewesen, da dieser ein vehementer Fürsprecher und Kämpfer für die guten Handelsbeziehungen zu Narull war. Aber er war auch ein großer Anhänger von Blutero, denn ein kluger Geschäftsmann versuchte sich immer mit der Obrigkeit gut zu stellen. Da geht es um Steuern, um Konzessionen, um die besten Plätze auf dem Markt, um günstige Grundstücke für ein Ladengeschäft und um vieles andere mehr. Und genau um all diese Themen ging es auch heute bei ihrer Unterredung. Der Händler sprach, oder besser gesagt, er leierte seine Wünsche, Sorgen und Nöte herunter fast ohne Punkt und Komma. Außer dass er ihn langweilte, war ihm der Händler zuwider. Er hatte eine feuchte Aussprache und war dick. Seine geröteten mit Äderchen durchzogenen Wangen deuteten eindeutig darauf hin, dass er zu viel Alkohol trank, und zudem müffelte er leicht säuerlich, als ob es schon eine Weile her wäre, dass er sich gründlich gewaschen hätte. Blutero suchte nach einem Grund, das Gespräch abzubrechen. Er hatte nun wahrlich genug Zeit und Geduld mit diesem ...
In diesem Moment ging die Tür auf und Blutero hatte seinen Grund. Sein Sekretär Fohin hatte einen Mann im Schlepptau, der, da war sich Blutero sicher, keinen Termin hatte. Er hatte auch nicht in dem kleinen Wartezimmer warten müssen, denn die Liste derer, die dort auf ihn warteten, lag immer in Form eines Blattes Papier vor Blutero auf dem Schreibtisch.
„Herr. Es tut mir Leid, dass ich eure Unterredung unterbrechen muss, aber es ist eine wichtige Nachricht eingetroffen, die ihr unbedingt sofort hören solltet.“
„Ist schon gut. Ich denke wir waren sowieso gerade fertig. Fohin würdet ihr bitte meinen Gast hinaus führen.“
Und zum Händler gewandt fügte er hinzu.
„Ich danke euch für die Zeit, die ihr euch genommen habt. Es ist immer wieder interessant, euren Standpunkt zu hören.“
„Äh, ja, äh, gut ...“, der Händler war durch die Unterbrechung und den abrupten Abbruch des Gesprächs etwas fassungslos.
„Äh, ich werde euch weiter auf dem Laufenden halten.“
Dann begab er sich schwerfällig und sichtlich um einen würdevollen Abgang bemüht zur Tür. Als er sich noch einmal umdrehen wollte, um sich ein letztes Mal zu verabschieden, hatte Fohin die Tür bereits hinter ihm geschlossen und deutete mit dem ausgestreckten Arm höflich aber bestimmt auf die Ausgangstür. Mit einem unzufriedenen Grunzen und jetzt auch deutlich seinen Unmut zeigend, schlug der Händler die vorgeschlagene Richtung ein.
Im Audienzzimmer kam man indessen sofort zu Sache.
„Nun, Schwitter. Was gibt es Neues, das so wichtig war, meine wichtige Unterredung mit dem lokalen Handel zu unterbrechen?“
Schwitter der Leiter des lokalen Gefängnisses hielt seinen Hut in der Hand und drehte ihn nervös an der Krempe hin und her.
„Ja. Eine äußerst wichtige Nachricht, die ich euch gleich mitteilen wollte, da ihr doch derjenige wart, der angeordnet hat, ... dass dieser junge Mann, dieser ... aus dem Dorf Hallkol, ... sein Name lautet Stonek,“, Blutero wurde hellhörig, „ja, dieser junge Mann, er ist heute Nacht, ... er ist, nein er wurde, und dabei wurde die gesamte Wache überwältigt, ... nun er ist geflohen, befreit worden von mindestens ... .“
Schwitter brach ab, da der Tom ihn mit offenem Mund anstarrte. Schnell schaute Schwitter beiseite und konzentrierte sich darauf, was er hatte sagen wollen und fuhr dann aber genauso unkonzentriert und stockend wie bisher fort.
„Nun. Das wollte ich Ihnen, ... da Sie ja sehr daran interessiert schienen ... was mit dem jungen Mann ist ...“
„Was!!!“, bellte der Tom und unterbrach den Leiter des Gefängnisses. Das Gesicht des Tom war jetzt rot angelaufen.
„Was!!!“, der Tom war hinter seinem Tisch aufgestanden und er krallte sich daran fest. Man merkte ihm an, dass es ihm schwer fiel, Schwitter nicht an den Hals zu gehen.
„Habe ich euch nicht gewarnt, dass man versuchen wird, ihn zu befreien!!!“
Schwitter antwortete nicht.
„Habe ich euch nicht befohlen, den Gefangenen so zu bewachen, dass niemand ihn befreien kann!!!“
„Wie könnt ihr es wagen mir so eine Nachricht ...“, Blutero atmete schwer, „ich sage euch, wenn wir im Krieg wären, hätte ich euch hinrichten lassen. Ihr seid ein unfähiger Nichtsnutz. Das war eine einfache Aufgabe für einen zweitklassigen Rekruten.“
Es dauerte eine Weile, bis sich der Tom wieder einigermaßen beruhigt hatte, aber schließlich kam der kühle Kommandant wieder hervor, übernahm wieder die Führung und drängte den cholerischen Teil in ihm zurück.
Er hörte den weiteren Ausführungen Schwitters zu, die unter dem Blick von Blutero immer unzusammenhängender und wirrer wurden.
Als der Leiter des Gefängnisses begann, sich in seinen Aussagen nur noch zu wiederholen, schnitt ihm Blutero das Wort ab, rief seinen Sekretär herein und gab ihm einige wenige aber präzise Anweisungen. Damit wurde eine umfangreiche Suche nach Stonek und seinen Befreiern stabsplanmäßig in die Wege geleitet. Schwitter stand kleinlaut dabei und wagte nicht, etwas einzuwenden. Kurz darauf verließen einige gelb gewandete Agenten das Haus des Tom.
***
Man nahm die Töne nicht als Flötenspiel wahr, jedoch hörte man sie schon von Weitem. Sie gruben sich ins Bewusstsein und wurden dann zur Gewissheit. Was diese Gewissheit ausdrücken sollte, wussten weder die Grenzwächter des Königreichs noch die von Narull, sie merkten einfach, dass etwas gewiss war. Und Frieden, ja tiefen Frieden verspürten sie. Manche der Wachen schlossen die Augen auf der Stelle, an der sie gestanden hatten und lauschten, andere starrten mit offenen Augen vor sich hin. Die, die gerade gegessen hatten, hörten auf zu kauen und wieder andere hielten mitten in einem spannenden Kartenspiel inne.
Es dauerte noch eine geraume Zeit, bis man die Gestalten, die gemächlich den Weg entlang geritten kamen, sehen konnte, doch sie wurden nicht wirklich wahrgenommen, da die Wachen mit Lauschen beschäftigt waren. Der Vordere der drei war Hanrek und er hielt seinen Stab an den Mund und spielte die Flöte, die in diesem Stab eingearbeitet war. Als er an dem jungen Heronussbaum vorbei kam, der die Grenze des Königreichs gegenüber den Exzarden aus Narull verteidigen sollte, verneigte er sich vor ihm. Die tiefe Ehrfurcht vor dem Baum schwang in seinem Flötenspiel mit und veränderte einen Moment lang die Stimmung in dem lang gezogenen Tal, der Passage vom Königreich nach Narull. Kurz darauf konzentrierte sich Hanrek wieder auf die Stimmung, die er ursprünglich vermitteln wollte und alle Lebewesen im Tal vollzogen den gleichen Stimmungswechsel wie Hanrek von tiefer Ehrfurcht nach friedvoller Gelassenheit.
Es war ein weiterer Besuch bei dem alten Heronussbaum im Wald gewesen, der Hanrek darauf gebracht hatte, auf diese Weise die Grenze zwischen den beiden Ländern zu überqueren. Er dankte Lucek dafür, dass dieser seine Idee, einen Heronussbaum direkt an der Grenze nach Narull pflanzen zu lassen, tatsächlich umgesetzt hatte. Er sollte als Schutz vor Exzarden dienen. Im Hinterland der Grenze hatte man zahlreiche weitere dieser Bäume gepflanzt, jedoch in großem Abstand, da eine Heronuss nur dann keimte, wenn zum nächsten Heronussbaum ausreichend Zwischenraum bestand. Die Auren der Bäume ließen es nicht zu, dass in ihrer unmittelbaren Nähe ein weiterer Heronussbaum wachsen konnte.
Unbehelligt und dabei auch noch Frieden verbreitend, wanderten Hanrek, Mico und Dresson nach Narull hinein. Erst lange, nachdem sie von dem befestigten Weg, der in Narull mittlerweile als der Weg ins Königreich bekannt geworden war, abgewichen waren, setzte Hanrek den Stab ab und befestigte ihn, selbst von tiefem inneren Frieden beseelt, an seinem Sattel.
„So. Jetzt sind wir also in Narull.“, sagte Mico. „Das war ja einfach. Und was jetzt?“
Er schaute von Hanrek zu Dresson und wieder zurück.
„Jetzt machen wir genau das, was wir vorher besprochen haben.“, erwiderte Hanrek, „wir verändern unser Äußeres so, dass wir bei einem flüchtigen Blick als Narull durchgehen.“
Dresson schüttelte leicht den Kopf, widersprach aber nicht.
„Und dann brechen wir auf zum verbotenen Buch, dieser sagenhaften Bibliothek der Narull und hoffen, dass wir dort zum einen die geheime Geschichte fertig lesen können und zum anderen, Informationen über Drachen finden.“
„Ja und das Ganze in einigen wenigen Monaten, damit wir rechtzeitig vor dem Winter wieder ins Königreich zurückkommen.“, dieser Kommentar von Dresson kam in einem provokativen Ton heraus. Man merkte ihm an, dass er den Plan von Hanrek für sehr gewagt hielt. Und der Gedanke, wenn ihnen die Zeit nicht ausreichte, den Winter in Narull zubringen zu müssen, gefiel ihm ganz und gar nicht.
Die Drei machten sich an die Arbeit und kurze Zeit später, hatten sie tatsächlich ihr Aussehen so verändert, dass sie von Weitem als Drachenkrieger durchgingen. Dresson hatte sich seine ursprüngliche Haarfarbe wieder zugelegt und die beiden anderen hatten ihre braunen Haaren so weit aufgehellt, dass sie fast blond waren. Lediglich die braunen Augen von Mico waren für Narull sehr ungewöhnlich.
Sie ritten zurück zum Weg ins Königreich und folgten diesem in Richtung Narull. Der Weg war fast menschenleer. Nur ab und zu kam ihnen ein Händler mit seinem Karren entgegen. Als sie schließlich das Gebirge hinter sich gelassen hatten und die dahinter liegende Ebene erreicht hatten, stapften ihre Pferde schon durch den in Narull in großen Mengen vorkommenden Schnee.
***
„Gibt es in diesem Land eigentlich keine Flüsse? Ihr habt so viel Schnee hier. Was passiert mit dem Schnee, wenn er schmilzt. In welchen Fluss läuft das Wasser ab, wir haben bisher noch gar keinen gesehen?“, fragte Mico bei einer Rast.
„Nun. Es läuft nicht ab, sondern es versickert im Boden. Wenn der Schnee schmilzt, und das passiert nur für wenige Wochen im Sommer, dann wird fast ganz Narull zu einem Sumpfland. Wir haben viele Moore in Narull und dann bekommen wir auch ungemein viele Stechmücken.“
„Stechmücken. Du meinst in ungefähr zwei Monaten werden wir von diesen Blutsaugern aufgefressen und stapfen in Sumpfland herum.“, fragte Mico entsetzt.
„Ich fürchte, das mit den Mücken stimmt, wobei wir uns ja mit unserer Kleidung schützen können.“
„Und das mit dem Sumpfland. Was ist mit dem Sumpfland?“, fragte Hanrek nach.
„Die Hauptstraßen in Narull sind gut befestigt und liegen meist erhöht, sodass man nicht im Sumpf herumstapfen muss. Es sei denn, man will die Straßen nicht benutzen.“, erklärte Dresson.
„Aber das bedeutet ja, wenn man uns entdeckt, dass wir nicht von den Straßen abweichen können, um uns querfeldein durch Narull zu schlagen und unsere Verfolger abzuschütteln.“, Hanrek schaute leicht entgeistert.
Dresson nickte langsam, sagte aber nichts.
„Aber warum hast du uns das nicht gesagt. Das ist doch wichtig.“, wurde Hanrek vorwurfsvoll.
„Ihr habt nicht gefragt, und ich dachte, das wäre klar. Und abgesehen davon, was würde das ändern.“, Dresson war jetzt fast beleidigt.
Hanrek starrte eine Weile vor sich in und seufzte dann schließlich.
„Du hast recht. Ich wäre trotzdem dafür gewesen, dass wir hier herkommen. Aber das macht es nun noch schwerer, als es ohnehin schon war.“
In den nächsten Stunden war Hanrek stiller als sonst und man merkte ihm an, dass er das gerade Gehörte erst noch verdauen musste.
***
Mittlerweile waren sie weit ins Land Narull vorgedrungen. Tagsüber waren sie weite Strecken geritten und nachts schliefen sie in einer der zahlreichen Schenken, die an der Straße lagen.
Wegen der Kälte fiel es nicht auf, wenn sie tagsüber mit ihren großen Kapuzen ihre Gesichter verbargen, sodass niemand sie als Bürger des Königreichs erkennen konnte. Lediglich in den Schenken mussten sie vorsichtig sein. Ohne Kapuzen bestand durchaus die Möglichkeit, dass Mico und Hanrek als Fremde identifiziert wurden. Daher fragte Dresson jedes Mal nach einem Zimmer für die Nacht und nach einer Unterstellmöglichkeit für ihre Pferde, und seine beiden Gefährten schlüpften dann möglichst ungesehen in die Kammer. Ihr Essen nahmen sie auf dem Zimmer ein.
Tag um Tag drangen sie so tiefer in das Land der Narull ein.
Narull wurde nach Süden hin vom großen Gebirge begrenzt. Dieses erstreckte sich über den ganzen Kontinent und zog sich dann auf beiden Seiten genauso schroff und unwirtlich und damit unüberwindbar an den Meeresküsten entlang. Dass sich hinter den Bergen das Meer befand, wusste man in Narull nicht, da es niemandem gelang, die Berge zu überqueren. Das Meer hätte man aber auch nicht als solches erkennen können, da es mit einer dicken, zerklüfteten Eisschicht überzogen war.
Nach Norden wurde Narull ebenfalls von einer Eisschicht begrenzt, die das Leben in diesem Land fast unmöglich machte.
Lediglich das Volk der Schneemenschen wohnte in diesem Land. Ein kriegerisches Volk, das regelmäßig das südlicher gelegene Narull angriff. Das waren unkoordinierte und wild vorgetragene Überfälle, aber da die Schneemenschen sehr groß gewachsen waren und außerdem über große Körperkräfte verfügten, schafften sie es immer wieder, die Armee des Primus in Atem zu halten. Dass es im Norden so kalt und unwirtlich war, half den Schneemenschen, da sie an die Kälte besser angepasst waren als die Narull. Im Norden ging die Sonne nur für ein paar Stunden am Tag auf, meistens war es dunkel, und auch das war etwas, was den Schneemenschen half, denn sie sahen im Dunkeln wie Exzarden. Und daher erfolgten die Überfälle auch meistens nachts.
Wenn die Armee es einmal schaffte, die Schneemenschen mit großer Mühe aufzuspüren, und dann versuchte, sie aufzureiben, zerstreuten diese sich meist innerhalb kürzester Zeit, und machten sich in dem unwirtlichen Land unsichtbar. Sie versteckten sich so gut, dass nur Flüsterer sie aufspüren konnten, und der Primus schickte Flüsterer nur ungern in diesen Teil von Narull. Er wollte die Flüsterer und mit ihnen natürlich die Exzarden lieber in seiner Nähe wissen, da diese ein Garant für seine militärische Stärke und Macht waren.
Der Primus hatte seinen Regierungssitz in der Hauptstadt Maunas, die im Osten des Landes lag. Maunas war die größte Stadt in Narull und daneben gab es nur drei andere Städte, die eine ähnliche Größe hatten, dafür gab es ungezählt viele kleinere Dörfer. Von Maunas zogen sich die befestigten Straßen wie ein großes Spinnennetz durch das ganze Land. Diese Straßen verbanden die vielen kleinen Fürstentümer, die es in Narull gab. Sie führten durch meist hügelige Landschaften aber manchmal auch durch größere Ebenen, die nur hin und wieder einmal durch niedere Erhebungen, die die Bezeichnung Berge nicht verdienten, unterbrochen wurden.
Insgesamt lag das Land der Narull viel höher als das Königreich, und außer, dass es viel weiter im Norden lag, war das wohl auch der Grund, warum es hier immer so kalt war.
Ein weiterer Grund für die Kälte waren die eisigen Winde aus dem Norden, die oft gen Süden pfiffen und dort von dem hohen Gebirge zurückgeworfen wurden. Die Kälte, die von den Winden herangetragen wurde, legte sich dann schwer aufs ganze Land und kühlte es herunter, bis die Bäume zu platzen anfingen.
Zum Glück kam diese extreme Kälte nur sehr selten vor und auch nur im tiefsten Winter. Jetzt dagegen wurde es langsam wärmer in Narull, und an manchen Stellen, die tagsüber von der Sonne länger beschienen wurden, begann der Schnee sogar schon langsam zu schmelzen.
***
Obwohl es jetzt schon relativ warm war, bekam Dresson nach einigen Tagen einen hartnäckigen trockenen Husten, der einfach nicht besser werden wollte. Im Gegenteil. Er wurde immer schlimmer, und dann kam auch noch Fieber hinzu. Dresson konnte sich nur noch mit Mühe auf dem Pferd halten. Er war krank und benötigte dringend einige Tage Ruhe, um sich zu erholen.
Hanrek und Mico waren sich einig, bei der nächsten Gelegenheit mussten sie sich eine Unterkunft suchen, damit Dresson wieder zu Kräften kam.
Am Nachmittag kamen sie an eine Straßenkreuzung. Die Straße, der sie gefolgt waren, und die von Süden nach Norden verlief, wurde von einer Straße gekreuzt, die von Westen nach Osten verlief. Es lag eine ungewöhnlich große und schöne Gaststätte genau an dieser Kreuzung. Sie trug den Namen „Zur Kreuzung“ und sie hatte sogar einen neu errichteten Stall, was für Narull ungewöhnlich war, da es ja noch gar nicht so lange Pferde in diesem Land gab. Allerdings hatte der Stall bisher fast noch keine Pferde gesehen.
Dresson erklärte ihnen unter schweren Halsschmerzen und mit einigen Schüttelfrostanfällen, dass die Straße, die sie gerade erreicht hatten, eine der wichtigsten Straßen des Landes war, denn sie verband die beiden größten und wichtigsten Städte von Narull miteinander. Im Osten war dies die Hauptstadt Maunas und im Westen war das Rimpoon. Und nicht weit von Rimpoon entfernt lag ihr Reiseziel, die Bibliothek mit dem Namen „das verbotene Buch“.
Hanrek und Mico beschlossen, in genau dieser Gaststätte länger zu rasten, und sobald es Dresson wieder besser ging, ihre Reise nach Westen fortzusetzen.
Geld war schon von Anfang an eine ihrer größten Sorgen gewesen. Obwohl sie alle drei nicht arm waren, bestand das Problem darin, dass man im Königreich kein Geld bekommen konnte, mit dem man in Narull bezahlte. Folglich hatten sie noch im Königreich einige wertvolle Gegenstände gekauft, die man auch in Narull brauchen konnte. Bei der ersten Gelegenheit hatte Dresson diese dann verkauft, und so kamen sie zu dem Geld, mit dem sie bisher ihre Lebensmittel und das Futter für die Pferde gekauft und ihre Zimmer für die Übernachtungen bezahlt hatten.
Ihr Geld wurde aber immer knapper, und Hanrek und Mico befürchteten, dass es ihnen genau jetzt ausgehen würde. Sie schätzten, dass der Preis für die Übernachtungen in diesem guten Gasthaus immens war und dass sie auch für den Platz, den die Pferde in dem neu gebauten Stall brauchten, einen stolzen Preis zahlen würden. Sie sollten mit allem Recht behalten.
Hanrek und Mico hatten als Erstes die Pferde im Stall untergestellt und dann gemeinsam Dresson, der nicht mehr alleine gehen konnte, in die Schankstube geholfen. Dresson saß jetzt zusammengesunken auf einer Bank nahe am Feuer und atmete schwer die heiße Luft im Raum. Er schwitzte stark und phantasierte.
Die Schankstube war wenig besucht, da es noch zu früh am Tag war. Mico ließ Hanrek bei Dresson und ging allein an die Theke.
„Was hat euer Freund?“, fragte der Wirt sofort, als Mico die Theke erreichte.
Er hatte eine Schürze um den dicken Bauch gebunden und mit einem weißen sauberen Tuch rieb er einige Gläser trocken. Zwischen zwei Gläsern rieb er sich, ohne es überhaupt zu bemerken, geistesabwesend mit dem gleichen Tuch immer wieder über seine glänzende Glatze.
Fasziniert hatte Mico dem Wirt dabei zugeschaut und besann sich erst nach einem Moment auf die ihm gestellte Frage.
„Er hat Husten und außerdem Fieber.“
„Hm.“, machte der Wirt. Man sah ihm an, dass es ihm nicht recht war, dass in seiner Wirtschaft ein Kranker saß.
„Wir würden gerne ein Zimmer mieten, solange bis sich unser Freund wieder erholt hat.“, sagte Mico mit einer arrogant klingenden Stimme.
„Ihr seid nicht von hier, was.“, schaute der Wirt Mico misstrauisch an.
Mico ging nicht auf die Frage ein. Er wollte die Rolle eines überheblichen reichen Reisenden mimen.
„Unseren Freund. Wir würden ihn gerne auf ein Zimmer bringen, damit er sich hinlegen kann. Habt ihr ein Zimmer mit drei Betten für uns?“
Der Wirt zögerte einen Moment, schien nachzudenken, bevor er in ein Fach unter der Theke langte und Mico einen Schlüssel hinlegte.
„Macht 30 Stengel die Nacht. Bezahlt wird im voraus. Essen und Trinken geht extra. Was meint ihr, wie viele Nächte bleibt ihr?“
Das war ein saftiger Preis, 30 Stengel entsprachen im Königreich ungefähr einer Silberkrone. Doch Mico hatte mit so etwas gerechnet, doch trotzdem zog er wie überrascht eine Augenbraue hoch.
„Wir wissen es noch nicht, da wir nicht wissen, wie lange unser Freund krank sein wird. Aber bei dem Preis möchte ich mir das Zimmer erst einmal ansehen, bevor wir uns entscheiden.“, Mico klang sehr überheblich.
Der Wirt war verblüfft.
„Nun, ähh ..., ... gut. Na dann, wie ihr wollt. Wenn ihr dort die Treppe hinauf geht, ist es das zweite Zimmer auf der linken Seite.“
Doch Mico ging noch nicht gleich.
„Unsere Pferde. Was kostet es, sie in eurem Stall einzustellen? Ich hoffe euer Stallbursche ist vertrauenswürdig. Ich möchte nicht eines Morgens in den Stall kommen und unsere Pferde sind weg.“
Der Wirt schaute ihn verdutzt an und bildete mit seinem Mund ein großes O. Er hatte nicht damit gerechnet, dass diese drei Reisenden Pferde hatten. Da es nur so wenige Pferde in Narull gab, waren diese ein Vermögen wert.
Weil er keine Antwort bekam, sprach Mico noch einmal direkt das O an.
„Die Pferde. Der Preis. Habt ihr meine Frage verstanden, guter Mann?“
Der Wirt erwachte wie aus einem Traum.
„Ja. Äh. Die Pferde. Verzeiht. Nun. Das macht pro Pferd und pro Nacht noch einmal 5 Stengel.“
Und dann fragte er vorsichtig.
„Drei Pferde?“, wie wenn er sich so viel Reichtum gar nicht vorstellen könnte.
Mico schaute ihn überheblich an. Dann drehte er leicht den Kopf, sodass er zu seinen Kameraden schauen konnte, und zählte laut, indem er deutlich mit dem Finger auf die einzelnen Personen deutete.
„Eins ...“, er hatte auf Dresson gedeutet, wendete den Kopf erneut und schaute den Wirt fragend an, so als ob er kontrollieren wollte, ob dieser gedanklich folgen konnte.
„Zwei ...“, jetzt deutete Mico auf Hanrek.
„Drei.“, zuletzt deutete Mico auf sich selbst.
Mico nickte mehrmals zustimmend mit dem Kopf.
„Ja, drei Reiter und drei Pferde.“
Der Wirt lief rot an, Mico hatte seine Rolle des überheblichen reichen Reisenden sehr überzeugend gespielt. Vielleicht hatte er es gerade etwas übertrieben. Das Ganze tat er nicht, weil er den Wirt nicht mochte oder mit diesem Streit anfangen wollte. Er tat es aus der Not heraus, eventuell die Unterkunft für seine Kameraden und die Pferde nicht bezahlen zu können, jedenfalls nicht im Voraus, aber vielleicht gab es ja die Möglichkeit später doch alles zu bezahlen. Er hatte einen Plan und darum spielte er die Rolle weiter.
„Nun. Wenn mir das Zimmer nicht gefällt, dann schauen wir uns vielleicht als Alternative dazu eine Box in eurem Stall an. Der Preis zumindest passt ja schon. Für 5 Stengel erwarte ich in einer guten Schenke zu der Schlafmöglichkeit auch noch ein gutes Frühstück und eine große Schüssel Schannos sowie ein kühles Bier zum Abendessen.“, dann lachte er gekünstelt.
Der Wirt wusste nicht, was er sagen sollte. Eigentlich hätte er diesen arroganten Schnösel am liebsten der Tür verwiesen.
Mico ersparte ihm die Antwort, indem er in fragte.
„Gibt es hier einen Heiler in der Nähe, der sich unseren Freund einmal ansehen kann?“
„Äh, ja. Im nächsten Dorf ...“, der Wirt fuchtelte mit seiner Hand in eine undefinierbare Richtung, „... dort gibt es einen Heiler.“
„Könntet ihr ihn bitte für uns rufen lassen. Ich danke euch. Ihr seid sehr aufmerksam.“, und damit ging Mico, ohne eine Antwort abzuwarten, schon in Richtung Treppe und ließ den verdutzten Wirt stehen.
***
Nachdem Mico einen kurzen Blick in die natürlich einwandfreien Zimmer geworfen hatte, half er Hanrek dabei, Dresson die Treppen hoch zu tragen. Im Vorbeigehen orderte er beim Wirt noch drei Portionen Schannos und zwei kühle Bier sowie einen großen Krug kaltes Wasser aufs Zimmer.
Die Schankmagd brachte ihnen alles aufs Zimmer. Von Vorausbezahlung war zumindest für den Moment nicht mehr die Rede. Hanrek und Mico atmeten auf.
„Ich denke, ich schaue mir später mal an, was man hier für Kartenspiele spielt. Vielleicht schaffe ich es ja, uns unsere Unterkunft zu erspielen.“
Hanrek schaute etwas unglücklich drein. Es war ihm nicht recht, von Micos Glück bei der Spielerei abhängig zu sein, und nach wie vor war Hanrek nicht sicher, ob Mico nicht hin und wieder diesem Glück etwas nach half.
Hanrek seufzte und sagte dann.
„Ich wünsche dir viel Glück. Bitte belasse es dabei.“
Mico lächelte.
„Glück ist eines, aber ich gewinne mehr Geld durch Bluffen als durch Glück.“
***
Der Heiler verordnete Dresson strenge Bettruhe und eine Salbe, die sie ihm mehrmals am Tag auf die Brust reiben sollten. Er machte ihnen keine Hoffnung, dass Dresson schnell wieder gesund wurde. Er vermutete, dass es mehrere Tage dauern würde, bis Dresson wieder auf die Beine kam. Nachdem der Heiler fort war, machte sich Mico auf den Weg in die Schankstube.
Er bestellte sich ein Bier, trat an einen Spieltisch heran und beobachtete die Kartenspieler, um zu verstehen, wie das Kartenspiel funktioniert, das sie spielten. Es war ein ihm unbekanntes Spiel, aber es gefiel Mico.
Nach etwa einer Stunde traute er sich zu, das Spiel spielen zu können, und es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis er einen Platz in der Runde bekommen hatte.
Man spielte das Spiel mit mindestens 5 Spielern, und in jeder Runde bildeten zwei Spieler aufgrund ihrer Spielkarten spontan eine Allianz. Nur die Allianz konnte gewinnen und die, die nicht Teil der Allianz waren, versuchten natürlich zu verhindern, dass diese gewann. Das Besondere war, dass alle Spieler erst am Ende der Runde erfuhren, mit wem man tatsächlich zusammen gespielt hatte, wer Allianz und wer Opposition war. Wenn die Allianz nicht gewann, blieb der Spieleinsatz in der Mitte liegen und wurde dem Einsatz der nächsten Runde zugeschlagen. Die Allianz gewann eher selten und darum wurden die Münzstapel in der Mitte immer größer und attraktiver.
Das Kartenspiel erinnerte die Narull an das tägliche Ränkeschmieden der vielen kleinen Fürsten, die es in Narull gab, und daher nannten sie es einfach „das Spiel der Fürsten“. Wechselnde Allianzen waren in Narull an der Tagesordnung und der einfache Mann wusste nie, wer mit wem verbündet und wer mit wem verfeindet war. Darum hielt sich ein kluger Mann in Narull aus der Politik heraus, wenn er nicht unter die Räder kommen wollte.
Ziel des Spiels war es, die goldene Fürstenkrone zu fangen, ein schwieriges Unterfangen, das sowohl Glück als auch Geschick erforderte. Außerdem gab es eine Reihe von Spezialkarten wie die Herzdame oder den eisernen Junker. Es gab Soldaten, Bauern und Spione. Es war also fast wie im richtigen Leben.
Natürlich versuchte man schon vor dem Ende des Spiels herauszufinden, wer der eigene Mitspieler war und wer gegen einen spielte. Die lockeren Sprüche, die sich in jeder Runde von Neuem wiederholten, waren zwar nicht erlaubt, aber normal, und sie dienten nur dem einen Zweck, genau das herauszufinden.
Mico erkannte schnell, dass das Spiel wie für ihn gemacht war. Er wusste meist sehr schnell, wer die Allianz bildete oder, wenn er selbst Teil des Bündnisses war, wer sein Mitspieler war. Außerdem gelang es ihm gut, seine Mitspieler darüber im Dunkeln zu lassen, auf welcher Seite er stand.
„Na los. Mach schon deinen Einsatz. Wir haben nicht ewig Zeit.“, nörgelte Micos Gegenüber den Spieler rechts neben Mico an.
Dieser überlegte lange, bevor er zu seinen Münzen griff. Mico hoffte inständig, dass er nicht zu viel setzte, denn er wollte mitziehen und dann wäre er komplett blank. Er hatte bis auf einen kleinen Rest alles in die Mitte gelegt. Der Haufen in der Mitte war stetig angewachsen. Schon eine ganze Weile hatte die Allianz nicht mehr gewonnen und jetzt lag da in der Mitte des Tischs ein richtig großer Einsatz, den Mico unbedingt gewinnen wollte, ja musste. Und dieses Mal würde Mico tatsächlich Teil der Allianz sein, das war klar, da er dazu die nötigen Karten besaß, und wenn er nun noch ein bisschen Glück hatte, und sein Bündnispartner sich nicht zu dumm anstellte, dann würden sie diese Runde sicher gewinnen.
Doch wer war sein Partner?
Der pickelgesichtige junge Spieler, der links neben ihm saß? Vielleicht. Er hatte vorhin beim Aufnehmen der Karten kurz gezuckt. Es war auf seiner Hand die dritte Karte von links, bei der er seine Gefühle nicht unter Kontrolle gehabt hatte, wenn er also im Laufe des Spiels diese Karte ausspielte und sie war nicht die Bündniskarte, dann war er sicher nicht sein Partner.
Oder war es etwa der rechts neben Mico sitzende Spieler, groß, schlank, aber mit einem furchtbar hässlichen Gesicht, der die passende Karte zu der seinen hatte und damit zu seinem Bündnispartner werden würde? Die Bemerkungen, die er im Laufe der Runde gemacht hatte, ließen es vermuten, aber diese Bemerkungen konnten auch ein Täuschungsmanöver gewesen sein. Hm.
Der, der rechts neben dem Hässlichen saß, war ein braun gebrannter Typ, den ganzen Abend hatte er wenig gesagt, er hatte auch wenig gewonnen und im Vergleich zu den anderen spielte er auch schlecht. Mico hoffte, dass nicht ausgerechnet er sein Partner war, da er es für möglich hielt, dass dieser die gute Chance, die Mico witterte, durch sein schlechtes Spiel zunichte machte.
Blieb noch der Spieler, der Mico gegenüber saß. Dieser war ein Choleriker, immer rot im Gesicht und ungeduldig trieb er stets das Spiel an. Wenn eine Runde beendet war, brannte er darauf, gleich die nächste Runde zu beginnen. Er trieb alle am Tisch an, schnell zu spielen, nicht zu lange zu überlegen und auch er selbst überlegte nie lange, er spielte fast überhastet. Es war ihm zuwider, wenn seine Mitspieler am Tisch sich unterhielten, die üblichen Sprüche aufsagten und dabei insgeheim Informationen austauschten. Informationen, die nur der verstand, der darauf achtete. Der Choleriker hatte kein Gespür für solcherlei Zwischentöne. Und er war ein schlechter Verlierer. Solche Spieler mochte Mico, da man sie leicht provozieren konnte und sie dann umso unüberlegter spielten. Das Schöne daran war, dass man dann immer so unschuldig tun konnte, man hatte ja schließlich den anderen nicht bewusst provozieren wollen. Ob dieser Spieler Teil seines Bündnisses war? Mico wusste es nicht.
Diesmal wusste Mico wirklich nicht, wer sein Partner war. Na gut. Dann musste er sich umso mehr auf sich selbst verlassen.
Der Hässliche war zu einer Entscheidung gekommen. Er nahm eine ganze Handvoll Münzen in die Rechte und zählte provozierend langsam eine Münze nach der anderen ab, indem er mit jeder Zahl, die er hoch zählte, eine Münze fallen ließ, die dann klirrend in den großen Haufen in der Mitte fiel.
Zu viele. Als der Hässliche geendet hatte, schaute er Mico provozierend ins Gesicht, genauso provozierend, wie er die Münzen abgezählt hatte. Zu viele. Es waren zu viele Münzen für den kläglichen Rest, den Mico noch vor sich liegen hatte. Dem Hässlichen war vollkommen bewusst gewesen, dass Mico nicht mehr genug Geld hatte. Und er vermutete richtig, dass Mico überhaupt kein Geld mehr als Reserve hatte, auch nicht in seinen Taschen.
Was sollte er jetzt tun? Fieberhaft überlegte er, ging alle Möglichkeiten durch. Alle Möglichkeiten, hahaha. Es gab nur zwei Möglichkeiten, aber vor beiden scheute er sich und verwarf sie jedes Mal, wenn er bei seinen Überlegungen wieder an diesen beiden Enden angekommen war.
Mico bemerkte, dass es merkwürdig still im Raum war. Er hatte gedankenverloren seine Karten und den kleinen Münzstapel vor sich betrachtet und schaute jetzt hoch. Der ganze Tisch starrte ihn erwartungsvoll an. Die Blicke, die sie ihm zuwarfen, hatten einen besonderen Ausdruck, aber Mico konnte diesen Ausdruck nicht deuten, oder doch. Hatten sie am Ende auf diesen Moment hin gearbeitet, waren sie alle miteinander verschworen? Die anderen Spieler kannten sich alle, sie reisten wahrscheinlich miteinander. Arbeiteten sie alle zusammen und war ihr Ziel ihn auszunehmen?
Auch im Rest des Schankraums war es merkwürdig still. Mico hob den Kopf noch mehr. Alle starrten ihn an. Wirklich alle. Auch der Wirt, und dieser tat es mit einem selbst zufriedenen Ausdruck. Das alarmierte Mico am meisten. Irgendetwas ging hier vor und er, Mico, schien es nicht zu begreifen.
Micos Gedanken rasten. Es fielen ihm Einzelheiten auf, die ihn erschreckten, der Choleriker war im Moment geduldig, er nippte an seinem Bier und schien plötzlich vergnügt, der Braungebrannte hatte plötzlich ein zartes Rot in seinen Wangen. Bildete er sich das alles nur ein, spielte ihm seine Fantasie einen Streich?
Mico war verwirrt, etwas, was er beim Kartenspielen noch nie erlebt hatte. Es wurde ihm heiß und kalt, was, wenn wirklich alles nur darauf ausgelegt war, ihn zu betrügen. Selbst wenn es wirklich so war, er hatte nur zwei Möglichkeiten. Entweder er stieg aus, jetzt und sofort oder er spielte weiter und trieb dafür Geld auf. Geld, das weder er noch Hanrek noch Dresson hatten. Also musste er ein Pfand hinterlegen, ein wertvolles Pfand. Und da fiel ihm nur ein Pfand ein, dass er einsetzen konnte und das stand gerade im Stall und fraß genüsslich seinen Hafer.
Mico schloss kurz die Augen und versuchte die Anspannung und mit einigen tiefen Atemzügen auch die Zweifel los zu werden. Er war schließlich hier der gute Kartenspieler, der immer gewann. Als er die Augen öffnete, waren die Zweifel immer noch da und die Anspannung war noch größer geworden, die Gedanken rasten eher noch schlimmer.
Und dann wurde seine Not noch größer. Ausgerechnet jetzt kam Hanrek die Treppe herunter. Mit einem Blick wurde Mico klar, dass Hanrek genau wusste, dass er sich in einer verzwickten Lage befand. Er war schließlich ein Flüsterer.
Obwohl ihm gar nicht so zumute war, sprach er leicht hin zu seinen Mitspielern
„Nun, wie ihr vielleicht bemerkt habt, ist mir etwas das Geld ausgegangen. Bitte gebt mir einen Moment, um mich mit meinem Freund zu besprechen. Vielleicht kann ich ja dann noch etwas mehr Geld auf den Tisch legen.“
Mico schaute erwartungsvoll in die Runde. Seine Mitspieler schauten sich gegenseitig eine Weile an und, Mico traute seinen Augen und Ohren kaum, ausgerechnet der Braungebrannte ergriff das Wort.
„Kein Problem, wenn es nicht zu lange dauert.“
Also schob Mico seinen Stuhl zurück, ließ seine Karten auf dem Tisch liegen und ging zu Hanrek hinüber, der ihn am Fuß der Treppe erwartete, und von dort den ganzen Raum im Auge behielt.
„Nun, was ist dein Problem?“, empfing Hanrek ihn mit leiser Stimme.
„Um es kurz zu machen, ich habe das absolute Gewinnerblatt auf der Hand und der Gewinn in der Mitte ist riesengroß. Ach ja, und dazu ist mir das Geld ausgegangen, sodass ich eigentlich gezwungen bin, auszusteigen. Damit wäre dann all unser Geld verspielt, bis auf einige wenige Kupferlinge. Außerdem habe ich seit einigen Minuten das dumpfe Gefühl, dass es sich hier um eine abgekartete Sache handelt, dass man mich ausnehmen will und dass man mich verleiten will, eines unserer Pferde als Einsatz zu setzen.“
Mico hatte genauso leise gesprochen, wie Hanrek zuvor.
„Hmmm.“, Hanrek nickte.
„Das glaube ich auch. Irgendwie ...“, Hanrek machte einen eigenartigen Gesichtsausdruck, so als ob er angestrengt riechen würde, „... ja, auch ohne Gabe fühlt es sich irgendwie so an, als ob ...", er suchte nach dem richtigen Begriff, „... als ob wir die Mäuse vor der Mausefalle wären, und alle warten nur darauf, dass wir endlich das Stück Käse fressen, das direkt vor unserer Nase liegt.“
„Irgendwelche Vorschläge?“, fragte Mico ihn.
Hanrek dachte einen Moment nach und nickte dann.
„Wenn du wirklich überzeugt bist, dass du dieses Spiel gewinnen kannst, setze dein Pferd, denn darauf sind sie ja so scharf.“, Hanrek machte eine kleine Pause, aber Mico merkte, dass er noch nicht fertig war.
Dann schaute Hanrek ihn direkt an.
„Ich glaube fest, dass es der braun gebrannt aussehende Mann ist. Er ... ich weiß nicht so richtig, wie ich das Gefühl ausdrücken soll, aber ich glaube, dass er irgendwie falsch spielt. Ich kann keine Karte im Ärmel entdecken oder etwas Ähnliches, ... aber trotzdem, irgendwie vermittelt er mir den Eindruck, als würde er falsch spielen. Übrigens schon die ganze Zeit, in der ich euch von oben aus über die Gabe beobachtet habe.“
Mico nickte.
„Das ist gut möglich. Um falsch zu spielen, braucht er keine Karte im Ärmel, bei diesem Spiel nicht.“
„Aber wenn ich jetzt mein Pferd als Pfand einsetze, wo ich weiß, dass sie zusammenspielen, dann haben sie doch ihr Ziel erreicht, dann werden sie es auch gewinnen. Man ist bei diesem Spiel darauf angewiesen, dass jeder gewinnen will. Wenn nur einer dabei ist, ...“ Hanrek unterbrach ihn.
„Gib du dein Bestes beim Spielen, ich werde jetzt wieder hoch aufs Zimmer gehen, die Tür offen stehen lassen und dann meinen Stab zur Hand nehmen. Ich denke, ich werde etwas Flöte spielen. Wenn ich nur das richtige Lied mit dem richtigen Ton treffe, dann wird Dresson vielleicht schneller wieder gesund und nebenbei ...“, Hanrek ließ seinen Satz unvollendet. Er war schon ganz in Gedanken versunken und überlegte, welches Lied er spielen wollte.
Sie schauten sich noch einen Moment an, dann ging Mico zurück zum Spieltisch und Hanrek ging wieder die Treppen hinauf.
Alle Menschen im Raum hatten die beiden die ganze Zeit genau beobachtet. Die ganze Zeit hatte eine Stille im Raum geherrscht, die fast schon unheimlich war. Jetzt folgten alle Mico mit den Augen, als er seinen Stuhl zurück zog und sich wieder hin setzte.
Es war nach wie vor so leise im Raum, dass man fast eine Stecknadel fallen hören konnte.
Mico ergriff sein fast leeres Bierglas, hob es hoch, und schlug es derb auf die Tischplatte auf, sodass es einen lauten dumpfen Knall gab.
„Wirt. Kann ich noch ein Bier bekommen, ich habe Durst.“
Der Knall hatte wie die Peitsche bei einem Ochsen gewirkt. Plötzlich war die Ruhe dahin, wie plötzlich aufgewacht, sprachen alle durcheinander. Ganz plötzlich hörte sich der Schankraum wieder wie ein Bienenstock an, in dem es gleichmäßig summt und brummt.
„Nun meine Herren, ...“, Mico schaute in die Runde seiner Mitspieler. Er hatte jetzt seine Ruhe wieder zurückgewonnen. „... Geld kann ich euch leider keines anbieten, aber wärt ihr auch mit einem wertvollen Pfand einverstanden?“
„Das kommt immer auf das Pfand an.“, antwortete der Braungebrannte.
Mico hatte ihn offensichtlich total falsch eingeschätzt.
„Ein Pferd.“
Mico sah an den Reaktionen, dass er richtig gelegen hatte, sie hatten es auf sein Pferd abgesehen, und jetzt konnte er ihren unverhohlenen Triumph an ihren Blicken ablesen. Sie schauten den Braungebrannten an. Wieder übernahm dieser das Wort für die ganze Gruppe.
„Was ist denn so ein Pferd wert? Wir haben keine Ahnung, was so ein Pferd kostet. Ist es wertvoll? Wirt, wisst ihr, was man für so ein Pferd verlangen kann? Es steht in eurem Stall, habt ihr es schon einmal gesehen?“, fragte er den Wirt, der gerade das verlangte Bier brachte.
Pflicht schuldigst gab dieser Antwort.
„Hab schon bessere Pferde gesehen. Neulich da war ein feuriger Hengst in meinem Stall gestanden, der war richtig wertvoll. Aber so ein normales Tier, lammfromm, wie es dieser Herr hier hat, ich weiß nicht recht, das kostet vielleicht hundert Stengel.“, der Blick, den der Wirt daraufhin Mico zuwarf, war so triumphierend, wie ein Blick nur sein konnte.
Er war sich gewiss, dass er jetzt seine Genugtuung für Micos schlechtes Benehmen bekam.
In der Runde wurde daraufhin über den Wert des Pferdes diskutiert. Mal waren hundert Stengel viel zu viel, mal war es ein angemessener Preis. Niemand dachte daran, das Urteilsvermögen des Wirts in Frage zu stellen, oder gar einen höheren Preis zu sagen.
Nur der Braungebrannte beteiligte sich nicht an der Diskussion. Er taxierte Mico und wartete auf seine Reaktion.
Hundert Stengel waren im Königreich ungefähr drei Silberkronen und zehn Kupferlinge. Im Königreich wäre das für sein Pferd ein Spottpreis. Zehn Silberkronen wären ein angemessener Preis. Hier in Narull, wo Pferde eine Besonderheit waren, schätzte Mico den Wert seines Pferdes auf eine Goldkrone, also umgerechnet in die hiesige Währung wären das ungefähr dreitausend Stengel. Stattdessen boten sie ihm hundert dafür. Ein sehr schlechtes Geschäft. Aber Mico war sich sicher, dass sie durchaus bereit waren, auch einen höheren Wert des Pferdes zu akzeptieren. Sie waren schließlich ganz scharf auf sein Pferd, hatten schon einen ganz wässrigen Mund und glasige Augen.
Eine Weile hörte er sich deshalb das Geschwätz seiner Mitspieler an, dann unterbrach er die Diskussion in leisem aber bestimmtem Ton und sagte.
„Das Pferd ist zweitausend Stengel wert, und ich werde keinen Stengel weniger akzeptieren.“
In diesem Moment hörte er, worauf er schon die ganze Zeit gewartet hatte. Hanrek hatte begonnen, auf seiner Flöte zu spielen. Es begann leise und drang nur langsam durch die Geräusche im Schankraum. Doch allmählich setzten sich die Töne durch und verschafften sich eine immer größere Zuhörerschaft, bis sie schließlich den ganzen Raum beherrschten. Die Gespräche waren verstummt, und alle hörten gespannt der Musik zu.
Das Lied erzählte von Ehrlichkeit und von ehrlicher, großer und wahrer Freundschaft. Es verteufelte Betrug und falsch verstandene Kameradschaft, einer Kameradschaft, wie sie zwischen den vier Gegenspielern von Mico bestand. Eine Kameradschaft, die dazu diente, einen anderen um Geld und um sein Pferd zu betrügen. Alle wurden von dem Gefühl, das durch das Flötenspiel vermittelt wurde, ergriffen.
Die Spieler am Tisch schauten betreten zur Seite, sie schafften es nicht, sich gegenseitig in die Augen zu sehen.
In die Stille hinein sagte Mico.
„Ich biete also mein Pferd als Pfand an für zweitausend Stengel. Davon bringe ich den geforderten Einsatz und habe damit den Einsatz meines Vordermanns ausgeglichen.“
Er schaute einen Moment in die Runde und sprach dann jeden Einzelnen der Reihe nach direkt an.
„Ist das für dich in Ordnung?“
Der Reihe nach schauten ihm die Angesprochenen in die Augen, nickten und starrten dann wieder vor sich auf den Tisch, um keinen der anderen ansehen zu müssen.
Als alle zugestimmt hatten, schlug Mico vor, das Spiel fortzusetzen. Keiner widersprach, also begannen sie, ihre Karten auszuspielen. Wie in Trance spielten sie. Der Braungebrannte stellte sich als Micos Bündnispartner heraus. Als es in die entscheidende Phase ging, die Eroberung der goldenen Fürstenkrone, merkte man eine sich aufbauende Spannung in den Reihen der Spieler. Und als der Braungebrannte tatsächlich die richtige Karte spielte, die den Sieg für das Bündnis zwischen dem Braungebrannten und Mico bedeutete, ging, obwohl der Rest am Tisch verloren hatte, ein erleichtertes Aufatmen durch die Reihen. Alle waren froh, dass sie Mico nicht betrogen hatten. Besonders erleichtert war natürlich Mico. Die Stimmung der Spieler hob sich und sie schafften es nun wieder, sich in die Augen zu schauen.
Der Gewinn wurde zwischen dem Braungebrannten und Mico aufgeteilt und alle beglückwünschten die beiden mit großer Inbrunst. Sie schlugen Mico wie einem guten Freund auf die Schulter und freuten sich mit ihm.
Und dann änderte sich die Musik. Es wurde eine traurige melancholische Weise daraus, die durch leise tragende Töne dominierte. Schon das vorherige Lied hatte Mico berührt, doch dieses Flötenspiel berührte ihn noch viel stärker. Und man merkte, dass es den anderen Zuhörern im Raum genauso ging. Etwas kitzelte Mico tief im Innern, begehrte Einlass und als es selbstverständlich Einlass erhalten hatte, hinterließ es eine Traurigkeit, die von tiefer Einsamkeit, von großer Verantwortung und von einer geliebten Frau und von geliebten Kindern erzählte, die aufgrund dieser Verantwortung zurückgelassen worden waren.
Wie von alleine rannen Mico die Tränen hinab und allen anderen im Raum ging es ebenso. Einige der Zuhörer lagen sich in den Armen und schluchzten Herz erweichend.
Lange dauerte das Lied und Mico konnte nicht sagen, wann es geendet hatte. Irgendwann merkte er, dass die Töne verklungen waren. Daher erhob er sich, steckte sein Geld ein und ging die Treppe hinauf. Er war noch immer tief ergriffen und doch auch gelöst.
Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen. Er trat ein und schloss sie hinter sich.
Hanreks Stab lehnte an der Wand und Hanrek selbst lag zusammen gekrümmt mit dem Rücken zur Tür auf seinem Bett. Mico trat zu ihm und setzte sich wortlos hinter ihm aufs Bett.
Es dauerte eine ganze Weile, doch dann endlich sprach Hanrek mit leiser und heiserer Stimme. Seiner Stimme merkte man an, dass auch er geweint hatte.
„Die Flöte zu spielen, es kostet manchmal ungemein viel Kraft. Es kehrt mein Innerstes nach außen, ich konnte das Lied nicht aufhalten, ich konnte die Gefühle nicht aufhalten. Sie mussten heraus. Es war, als ob die Flöte an mir saugt, nicht ich habe sie geblasen, sondern die Flöte hat an meinen Gefühlen gesaugt. Und ich konnte einfach nicht aufhören zu spielen.“
Mico tätschelte Hanrek beruhigend die Schulter. Es wurde Zeit, dass er seinen Freund aufmunterte und die melancholische Stimmung durchbrach.
„Nun. Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich. Welche willst du zuerst hören?“
Hanrek drehte sich langsam um und schaute Mico fragend an.
„Hast du das Pferd verloren?“
„Nein. Der Plan hat funktioniert, alles ist gelaufen, wie es sollte, und an Geld wird es uns in nächster Zeit nicht mangeln. Das war die gute Nachricht.“
„Und die schlechte?“
„Tja. Wie soll ich es sagen?“, durch eine kurze Pause erhöhte er die Spannung noch etwas.
„Nun. Bier können wir hier nicht mehr trinken. Das ist wegen der vielen Tränen, die da unten geflossen sind, verwässert und schmeckt wahrscheinlich furchtbar salzig.“
Hanrek konnte zwar noch nicht wieder lachen, aber zumindest ein schiefes Grinsen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
***
„Wie machst du es, dass das Flötenspiel solche Gefühle überträgt?“, fragte Mico und zog dabei sein Pferd hinter sich her.
Sie waren erneut unterwegs. Dresson war zwar noch nicht wieder ganz der Alte, aber es wurde Zeit, dass sie weiter kamen, da ihnen die Zeit davon lief.
„Ich habe neulich richtig gefühlt, dass ich mich nach meiner Frau und nach meinen Kindern sehne, nach einer Familie, die ich überhaupt nicht habe. Es waren deine Gefühle, die ich gespürt habe.“
„Ich weiß es nicht genau.“, Hanrek dachte nach.
„Ich fange einfach an, ein Lied zu spielen, das irgendwie zur Grundstimmung passt und um das zu unterstützen, denke ich auch etwas Entsprechendes. Wenn ich also etwas Lustiges spielen will, denke ich auch an etwas, dass ich mal lustig fand, wenn es ein trauriges Thema sein soll, denke ich an etwas Trauriges.“
Es dauerte eine Weile, ehe Hanrek erneut sprach.
„Das wäre an sich noch nicht weiter schlimm. Ihr habt ja unten im Schankraum auch Tränen vergossen, der eine mehr, der andere weniger. Für mich ist es aber schlimmer, da meine eigenen Gefühle durch die Flöte noch verstärkt werden.“
Wieder dauerte es eine Weile, in der Mico Hanrek nicht unterbrach, da er ahnte, dass Hanrek noch etwas sagen würde.
„Vielleicht ist es auch so, dass es gar nicht meine Gefühle sind, die ich durch die Gefühle zurück bekomme. Vielleicht ist es die Resonanz der Gefühle von denen, die mein Flötenspiel hören.“
„Ich weiß es nicht. Außer Meister Binderer hat mir noch niemand etwas Sinnvolles über Flöten aus Heronussbaum sagen können. Alles nur Gerüchte und Hören-sagen. Und wenn man es genau nimmt, sprach auch Meister Binderer immer nur von wahrer Magie. Wahrscheinlich weiß auch er nicht mehr darüber.“
Dresson schaltete sich in das Gespräch ein.
„Für mich ist es jedes Mal etwas ganz Besonderes, wenn wir zusammen spielen.“
Hanrek nickte.
„Ja. Es ist irgendwie einfacher zusammen als alleine zu spielen. Auf der einen Seite sind die Gefühle zwar noch überwältigender, aber andererseits sie sind auch irgendwie leichter ertragbar. Ich weiß nicht, ob das logisch klingt.“
Mico zuckte mit den Schultern, aber Dresson nickte zustimmend.
„Nein. Nein. Du hast es sehr gut beschrieben.“
Nach einer Pause begann Hanrek noch einmal.
„Ich weiß nur eines. Wenn neulich noch ein Heronussbaum in der Nähe gewesen wäre, hätten mich die Gefühle weg geschwemmt. Ich hätte diese zusätzliche Verstärkung durch einen Baum nicht auch noch ertragen können.“
***
Endlich hatte er eine Höhle gefunden. Sie war genau das, was er brauchte. Hier konnte er sich zurückziehen, konnte seine Beute in Sicherheit bringen, konnte seine Fähigkeiten verbessern und hier konnte er schließlich auch sein Ei legen. Schtarak umrundete mit großem Stolz seine Höhle. Sie würde sein Ptorak sein.
In der Mitte lagen noch die beiden Bären, die vorher hier gewohnt hatten. Die verzweifelte Bärenmutter hatte ihr Junges tapfer bis in den Tod verteidigt. Sie war keine wirkliche Gegnerin gewesen. Er hatte mit ihr gespielt, hatte seine wachsenden Fähigkeiten an ihr ausprobiert. Er hatte sie genarrt mit seiner Magie, sie mit dem Schleier getäuscht, ihr ein weißes Netz übergeworfen und es dann schnell wieder entfernt, er hatte unzählige verschiedene Magieformen an ihr versucht und die meisten auch erfolgreich. Am Ende hatte er sie mit Kraft, Klauen, Zähnen, seinem Schwanz und seiner Schnelligkeit besiegt.
Und nun waren sie und ihr Junges Beute, einfach Beute, die ihn nährte und wachsen ließ. Dass er mit der Bärin gespielt hatte, war Zeitvertreib gewesen, nicht mehr.
Der Boden der Höhle war mit einer dünnen Schicht Lehm bedeckt und der hintere Teil der Höhle wurde durch einen See mit Frischwasser begrenzt. Er würde noch mehr Erde in die Höhle bringen, dann war es wirklich der perfekte Ort für ein Ptorak. Er wusste schon genau, wo er die Brutstätte einrichten würde. Dort an genau dieser Stelle würde er in die Erde eine Kuhle für das Ei machen, und er würde einige Steine dazu legen, die würde er dauererhitzen, damit das Ei es schön warm hatte.
Den schmalen Eingang würde er etwas erweitern müssen, damit er einfacher hinein und heraus konnte. Jetzt war die Größe noch in Ordnung, aber wenn er erst zu seiner vollen Größe herangewachsen war, dann würde er nicht mehr ausreichen.
Er verließ die Höhle, sein Ptorak, und besah sich die Gegend rund herum genauer. Auch auf dieser Seite des Gebirges gab es genug Beute für ihn, auch wenn es hier kälter war als auf der anderen Seite des Gebirges.
Er errichtete eine Barriere vor dem Eingang, einen Schleier, den niemand durchdringen konnte. Niemand außer ihm selbst. Dann stieß er ein Triumphgeheul aus, das weit hin durch das Tal hallte. Doch niemand außer einigen verängstigten Tieren hörte ihn, denn die Gegend war unbewohnt.
***
Fast hätten sie ihn erwischt. Er musste in Zukunft vorsichtiger sein. Stonek hatte nicht erwartet, dass die Häscher des Toms von Haffkom ihn so hartnäckig verfolgen würden. Um seine Hand zu schonen, hatte er ein paar Mal abends schon früher Rast gemacht, er hatte sich Zaunef angeschaut und er hatte gemütlich in Gasthäusern übernachtet und dabei wahrscheinlich eine übermäßig deutliche Spur hinterlassen. Nur Glück hatte ihn gerettet.
Sie waren gestern abends in sein Gasthaus gekommen, hatten nach einem jungen Mann gefragt, und sie hatten Stonek aufs Genaueste beschrieben. Zufällig saß er in der Gaststube und hatte hinter einer Trennwand alles mit angehört. Es hatten nur Sekunden gefehlt und sie hätten ihn gehabt. Seine wenigen Habseligkeiten hatte er im Zimmer zurückgelassen, aber um die war es auch nicht schade. Lediglich der Beutel mit dem Geld an seinem Gürtel und sein Pferd waren ihm wichtig und das Pferd hatte er noch schnell aus dem Stall retten können. Auch seinen Sattel hatte er zurücklassen müssen. Dann war er in die Wälder geflohen. Jetzt benutzte er nicht mehr die Straße, sondern schlug sich durch den Wald. Die halbe Nacht war er geritten, und sobald es hell geworden war, war er wieder aufs Pferd gestiegen. In einem kleinen Weiler hatte er ein paar Sachen erstanden, die man in der Wildnis brauchte. Er wusste sich schon zu helfen, schließlich war er ein Bauernsohn, der viel zusammen mit seinem abenteuerlustigen Bruder unterwegs gewesen war. Mit dem Schonen seiner Hand war es jetzt zwar vorbei, aber sie hatten ihn nicht erwischt.
Wo er sich genau befand, wusste er nicht, westlich der Straße, das war klar. Am besten würde er versuchen, auf geradem Weg nach Vartel zu kommen. Die Berge waren von Weitem schon zu erkennen. Da musste er hinüber, über den Pass und dann war es nicht mehr weit. Stonek pfiff leise vor sich hin. Er war jetzt das erste Mal so weit von zu Hause weg, das erste Mal über den Boon. Über den Boon zu gehen, das war ein Schritt, den die wenigsten Menschen in den Dörfern rund um Haffkom machten. Es war ein großer und schwerer Schritt.
Haffkom, Hallkol, Hannkol, die Namen hatten für Stonek immer noch den falschen Klang in den Ohren. All die Fremden, die jetzt in seine Heimat eingedrungen waren. Natürlich waren Hallkol und die anderen Dörfer immer noch einsam und abgeschieden, aber allein die Nähe zur Grenze nach Narull gaben seiner Heimat jetzt eine Bedeutung, die sie nie gekannt hatte. Heute konnte es schon manchmal passieren, dass sich ein Händler aus Narull in ihrem Dorf verirrte. Für Stonek und auch für die anderen Dorfbewohner waren die Narull immer noch die Drachenkrieger.
***
Einer hatte am Ende doch geredet. Ein bisschen Schmeichelei, eine gute Portion Drohung und am Ende etwas Geld hatten es schließlich doch bewirkt. Hanrek war mit zwei seiner Kumpane nach Narull gereist.
Blutero konnte sich keinen Reim darauf machen. Was wollten sie dort?
Er trommelte rhythmisch mit seinen Fingern auf die Tischplatte vor sich. Ihm gegenüber saß ein Mann in einem gelben Gewand.
„Irgendwelche Ideen, was sie in Narull wollen?“
Der Mann in gelb schüttelte den Kopf.
„Dazu haben wir nichts in Erfahrung bringen können.“
„Hm. Und irgendwelche eigene Ideen, dazu?“, fragte Blutero spitzt.
Der Mann schüttelte erneut den Kopf, sagte aber nichts.
Blutero schob seinen Stuhl zurück und ging hinter seinem Schreibtisch nervös auf und ab. Der Mann auf der anderen Seite des Tisches folgte ihm mit seinem Blick ohne seinen Kopf zu drehen.
„Ich möchte, ...“, Blutero blieb stehen, „... ich möchte, dass ihr die Grenze und das dazugehörige Grenzgebiet überwacht. Jeder, der aus Narull raus kommt und nur irgendetwas mit Hanrek zu tun haben könnte, wird verfolgt. Ich will über jeden einen ausführlichen Bericht. Klar?“
Der Mann nickte. Die Grenze wurde sowieso genau überwacht und über fast alles wurde ein Bericht geschrieben.
„Irgendwann muss er auch wieder herauskommen. Und dann will ich, dass er geschnappt wird. Dieses Mal will ich ihn haben. Ist das auch klar?“
Der Mann nickte wieder, er war kein Mann großer Worte. Doch eines musste er noch los werden.
„Eines noch.“
Blutero schaute ihn überrascht an.
„Ja.“
„Als sie über die Grenze sind, hat Hanrek Flöte gespielt. Niemand hat sie angehalten, niemand hat sie kontrolliert. Warum sie nicht kontrolliert wurden, weiß keiner, es wusste überhaupt niemand etwas Richtiges über diesen Zeitpunkt zu erzählen. Es ist ...“, er suchte nach dem richtigen Wort, „... eigenartig.“
„Eigenartig?“, Blutero wog das Wort ab.
„Der ganze Kerl ist eigenartig. Jedes Mal, wenn er mir in die Nähe kommt, geschehen eigenartige Dinge. Ja, ich denke, eigenartig ist keine schlechte Beschreibung, für das, was da passiert. Er hinterlässt Spuren, die so fein und flüchtig sind, dass ihnen kaum jemand folgen kann, er taucht mal hier mal da auf, und dann hört man ewig lange Zeit gar nichts mehr von ihm. Und jetzt geht er nach Narull.“
Blutero nickte dem Mann im gelben Gewand zu, dieser erhob sich und verließ den Raum durch eine geheime Tür.
Blutero setzte sich wieder und stützte seinen Kopf in die Hände.
Eigenartig, ja das traf es.
***
Jeden Morgen, wenn er aufwachte, dachte er als Erstes daran. Jeden Morgen dachte er zuerst an seinen toten Exzarden Carmeon und dann schaute er auf seine Hand. Auch sie war tot. Oder so gut wie. Sie war nicht mehr zu gebrauchen, war nur noch ein Stück nutzloses Fleisch, das ihn bei allem mehr behinderte, als sie ihm half. Sie schmerzte bei allem, was er damit tun wollte, und sie war eines Reiters nicht würdig. Und deshalb war er jetzt auch kein Reiter mehr. Er hatte seinen Exzarden verloren, hatte nicht gut genug auf ihn aufgepasst. Und ein Reiter, der seine Hände nicht mehr gebrauchen konnte, wurde sang- und klanglos aus dem Dienst entlassen.
Mühsam und antriebslos drehte er sich auf die Seite und stand auf, darum bemüht, mit seiner Hand nirgends anzustoßen. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Das kam vom Schnaps, den er in letzter Zeit zu häufig trank und den er auch gestern Abend wieder in sich hinein gekippt hatte.
Am Anfang hatte es gegen die Schmerzen und gegen den Verlust geholfen. Jetzt half es gegen beides nicht mehr. In der Nacht wachte er oft mit großen Schmerzen auf, wenn er sich auf seine Hand gedreht hatte. Dann lag er oft die halbe Nacht lang wach und konnte nicht wieder einschlafen.
Schull seufzte und erhob sich. Wenigstens hatte Carmeon nicht lange leiden müssen. Was auch immer diese Stimme in seinem Kopf bedeutet hatte, sie hatte sein Leben in einem Moment verändert. Auch das war ein Grund, warum er nachts manchmal aufwachte, diese grausame Stimme in seinem Kopf.
Ich bin Schtarak. Ich bin geboren.
Wer war Schtarak? Niemand wusste es. Auch die Gelehrten konnten nicht sagen, was es mit dieser Stimme auf sich hatte.
Sie hatten viele Exzarden verloren. Diese hatten so lange gegen ihre Ketten angekämpft, bis sie sich tödlich verletzt hatten, genauso wie Carmeon, sein toter Exzard.
Schull stand auf und machte sich fertig. Er musste arbeiten. Wenigstens hatte er die Gelegenheit erhalten, weiter mit Exzarden zu arbeiten. Es war Piora gewesen, die Tochter des Primus, die ihm eine neue Aufgabe gegeben hatte. Er sollte ihr bei ihrer Zucht mit Exzarden helfen. Es war eine gute Arbeit, die ihm hätte Spaß machen sollen, die jemanden wie ihn ausfüllen konnte. Er sollte froh sein, dass er diese Arbeit hatte, warum nur war er es trotzdem nicht? Er starrte auf seine Hand und kannte den Grund. Diese Stimme hatte alles verändert. Er hasste diese Stimme und das was dahinter stand, was immer es auch war.
***
Lucek wurde jetzt ständig bewacht. Offen. Jeder wusste, dass er von seiner Geliebten beschützt wurde, von Piora, einer Frau mit Einfluss. Heute Abend würden sie gemeinsam zu einem offiziellen Empfang gehen, Piora in ihrer Rolle als Tochter des Primus und er als Botschafter des Königreichs. Aber sie würden gemeinsam auftreten und darauf war Lucek ungemein stolz. Es tat ihm gut, neben Piora herzugehen und die Blicke der Männer zu bemerken, bewundernd, sofern es Piora betraf und neidisch, wenn sie auf ihn trafen. Lucek musste lächeln. Neid war eine sehr ehrliche Form der Anerkennung.
Aus dem gefangenen Assassinen hatten sie natürlich nichts heraus bekommen. Wie wollte man auch von jemandem, der keine Zunge hatte, etwas erfahren. Wie barbarisch, jemandem die Zunge herauszuschneiden, damit er nichts verraten konnte. Wahrscheinlich wusste er auch nichts, zumindest nichts, was ihnen geholfen hätte, die Person, die hinter dem Anschlag steckte, zu ermitteln.
Mit seinen Leibwächtern hatte Lucek sich arrangiert. Was sollte er auch tun? Und wenn er ehrlich war, dann war es ihm lieber, eine Leibwache zu haben, als getötet zu werden.
Luceks Gedanken wanderten zurück zu dem bevorstehenden Empfang.
Eine komplizierte Sache. Piora versuchte immer wieder, ihm die Politik ihres Landes zu erklären. Aber für einen Außenstehenden war es sehr schwer zu verstehen, warum die Koalitionen dauernd wechselten und vor allem, warum sie gerade so wechselten, wie sie es taten. Die vielen Fürstentümer in diesem Land machten das Regieren für den Primus sehr schwer und für einen Botschafter aus einem fremden Land war die Arbeit umso schwerer. Und trotzdem, Lucek liebte seine Arbeit, zumindest im Sommer, wenn die Temperaturen einigermaßen erträglich waren.
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Heute hatte die Kaufmannsgilde eine Audienz beim König und Pilroos sollte den Umgang mit den Kaufleuten kennenlernen. Sie wusste, dass sie sich tödlich langweilen würde. Es ging ihr ja nicht darum, wie ein kleines Kind herum zu tollen, oder ihre Zeit mit Nichtstun zu vertändeln. Nein, sie wollte nur ab und zu vernünftige Gespräche mit vernünftigen Menschen führen. Es sollte nicht nur immer um das Erlernen des Regierens gehen, nicht nur immer um Gespräche mit langweiligen Menschen, die ihrem Vater irgendeinen Vorteil abschwatzen wollten. Nein, sie wünschte sich, ab und zu einmal unter normale Menschen zu kommen.
Mittlerweile begann sie sich schon nach einer Entführung zu sehnen, damit sie vielleicht einmal wieder ein Abenteuer erleben konnte. Natürlich verblassten hinterher die schmerzhaften und schlechten Erlebnisse und die schönen blieben erhalten, aber sie hatte vor allem schöne Erinnerungen an die Entführung vor... , wie lange war das schon her? Vor ewigen Zeiten.
Ihre Tage waren ausgefüllt, Langeweile hatte sie nicht, weil sie keine Arbeit hatte, nein, Langeweile litt sie, weil viele Menschen um sie herum langweilig waren.
Und dann kamen zwischendurch immer wieder die Versuche ihres Vaters, sie zu verheiraten. Wahrscheinlich hatte sie schon die Hälfte aller standesgemäßen heiratsfähigen jungen Männer des Königreichs kennen gelernt. Natürlich ganz zufällig wurden sie ihr vorgestellt. Ja, manchmal waren Männer dabei, die ihr vielleicht gefallen hätten, aber sie alle erfüllten ihre Vorstellungen nicht. Sie vermisste die Stärke, die ehrliche Wärme und die Fürsorge, die sie bisher nur bei einem richtig gespürt hatte. Aber dieser eine war zu alt für sie, bereits vergeben, nicht standesgemäß und außerdem nicht an einem jungen Ding, wie sie es war, interessiert. Hanrek war ihr großer Held, der sie vor den Räubern gerettet hatte, der das Königreich, ihr Königreich, gerettet hatte.
Pilroos wusste, dass es die dumme Spinnerei eines jungen aber verliebten Mädchens war, und trotzdem wurde sie diese Spinnerei nicht los und sie bestimmte ihre Einstellung gegenüber den hoffenden und doch chancenlosen Bewerbern.
Wahrscheinlich würde auch heute wieder ganz zufällig ein junger Bewerber dabei sein, der versuchen durfte, sie zu umgarnen, vielleicht derjenige, der die Kaufmannsgilde einführte oder jemand, der zufällig eine Botschaft überbrachte.
Pilroos seufzte, auch das würde sie überstehen, und gute Miene zum bösen Spiel machen.