Читать книгу Mit Gudrun nach Göteborg - Stefan Lage - Страница 4
Bonn – Travemünde Ich lerne, wo bei der Bahn vorne und hinten ist und wie man Fahrstuhl fährt.
ОглавлениеHut, Stock, Gebiss, Gesangbuch, Brille hab ich nicht dabei, damit geht’s schon mal los. All diese Dinge sind ja eigentlich vor jedem Aufbruch auf Vorhandensein zu überprüfen, dann kann im Grunde nichts mehr schief gehen. Stattdessen habe ich frische Unterwäsche, drei Wasserflaschen und jede Menge unnützes Zeug in meine nagelneuen Fahrradtaschen gestopft und stehe nun mit Fahrrad in der Hand am Bonner Hauptbahnhof. Hinter mir liegen aufreibende Stunden des Packens und wieder Auspackens, Sortierens, Begutachtens, Verwerfens und wieder Einpackens. Ich hatte zwar eine ungefähre Vorstellung davon, was ich alles unbedingt für eine Radreise mitzunehmen hätte, allerdings war mir nicht klar, wie wenig von diesen lebensnotwendigen Dingen in ein paar Fahrradtaschen passt. Nachdem ich drauf und dran gewesen war, von jedem Paar Socken nur eine Socke mitzunehmen, wurde mir klar, dass ich professionelle Hilfe beim Packen brauchte. Leider kenne ich keinen Fahrradtaschenpackprofi, deshalb habe ich jetzt jede Menge unnützes Zeug in meinen Taschen und das Fahrradreparaturwerkzeug liegt auf der Kommode, weil es wirklich unsinnig schwer ist.
Vor mir liegt das ultimative Reiseabenteuer und ich kann nur hoffen, auch ohne Gesangbuch (und ohne Werkzeug) durch die weite Welt zu kommen. Genau darum stehe ich nämlich hier: Der Plan, der in über 50 Jahren in mir gereift ist, trägt nun endlich Früchte. Eine große, weltumspannende, entbehrungsreiche, unglaublich lange und unglaublich gefährliche, wenn auch möglicherweise unglaublich schöne Reise in unbekannte Länder und verborgene Welten liegt vor mir.
Wobei, das ist im Überschwang der Begeisterung vielleicht ein ganz klein wenig übertrieben. Es könnte sein, dass der Plan nicht die ganzen 50 Jahre in mir gereift ist, sondern in den letzten zwei Wochen eine Art Blitzkeimung nebst Reife und Ernte durchgemacht hat. Entbehrungsreich ist auch nicht exakt das, was ich im Sinne habe, sondern mehr so eine Art Gegenteil davon. Mit Zelt und Isomatte bei Wasser und Brot – das mag sich zwar aufregend und kernig anhören, für mich klingt es nach verbesserungsfähigen Haftbedingungen. Und weltumspannend – naja – was heißt schon weltumspannend? Da wird ja allgemein auch zu viel hineingedeutelt. Ich meine, so viele Unterschiede wird es da schon nicht geben, also dürfte ein Teil der Welt, ein Ausschnitt sozusagen, ja auch seinen Zweck erfüllen. Oder, um es vereinfacht auszudrücken: Ich habe vor einigen Tage beschlossen, mal eine Woche Rad zu fahren.
Meinen ursprünglichen Zeitplan - ca. ein Jahr mit Luft nach oben – habe ich nach einer Testfahrt im heimischen Kottenforst vorsichtshalber etwas zusammen gestutzt. Deshalb und weil mein Chef meine Zeitplanung zwar interessant, aber nicht genehmigungsfähig fand, verbleibt mir nun, alles in allem gerechnet, noch eine gute Woche für mein großes Reiseabenteuer. Für die weltumspannende Variante würde meiner Schätzung nach eine Woche nicht ganz ausreichen, deshalb ist es klar, dass ich mich Entfernungsmäßig etwas einschränken muss. Logische Konsequenz: Schweden. Schweden ist nach meiner Meinung ein Land, das sich geradezu anbietet, von einem enthusiastischen, wenn auch zugegebenermaßen leicht untertalentiertem Radfahrer wie mir erkundet zu werden. Man denke nur an die einsamen Landstraßen und an die liebenswerten Menschen, die alle von Astrid Lindgren beseelt und Königin Silvia inspiriert sind. Zwar ist mir Schweden entgegen meines Planes nicht völlig unbekannt, aber andererseits muss das ja auch kein Nachteil sein. Zumal ich zufällig gerade ein ganz ausgezeichnetes Schwedisch an der Volkshochschule erlernt habe. Meine ich. Wie ich später erkenne, sind meine Schwedischkenntnisse in einigen Details dann doch noch verfeinerungswürdig. So spricht der Schwede an sich schon ein sehr schönes Schwedisch, mit dem von mir gelernten Volkshochschulschwedisch kann es dann aber dann doch nicht mithalten. Das führt dazu, dass ich prinzipiell zwar ein ausgezeichnetes Schwedisch spreche und auch verstehe, nur eben nicht das in Schweden gesprochene.
Aber um noch einmal auf den Beginn meiner Reise, also den Bonner Hauptbahnhof, zurück zu kommen: Wenn das ganze Projekt sich durchziehen lassen würde, ohne auf dem Bonner Hauptbahnhof herum zu stehen, dann wäre mir das auch recht. Bestimmt wäre es sehr schön, direkt von Bonn aus nach Schweden zu fahren, vor der Haustür aufs Rad steigen sozusagen und los geht die wilde Fahrt. Da es sich für mich aber noch viel schöner anhört, das erste Stück, sagen wir mal die ersten 600 Kilometer, mit der Bahn zu fahren, stehe ich nun auf dem Bahnhof und warte auf den Zug, der mich nach Norden, also irgendwie Schwedenwärts, bringen soll. Da eine Radreise ohne Rad wenig Sinn macht, muss mein Rad logischerweise mit, und da ein ICE logischerweise keine Räder mitnimmt, warte ich auf den Bummelzug nach Hamburg. (Das mit dem ICE und dem Nichtmitnehmen von Fahrädern entspringt einer speziellen Deutsche-Bahn-Logik, aber man hat mir versichert, es wäre logisch. Also schreibe ich es hier auch so hin.)
Ich habe wie ein richtig ordentlicher Fahrgastmensch die Wagenstandsanzeige studiert und schiebe mit Gudrun ab, hinaus aus der Bahnhofshalle und ans Ende des Bahnsteiges. Gudrun ist natürlich mein Fahrrad. Dass ich Gudrun schiebe, hat natürlich auch seinen Grund, denn normalerweise fährt man ja auf seinem Fahrrad und das tue ich auch normalerweise. Heute hat Gudrun jedoch einen ihrer bockigen Tage, und da ist es besser, man schiebt sie ein bisschen.
Ich stehe hier draußen, am äußersten Ende des Bahnsteigs, weil hier das Fahrradabteil halten wird. Sagt die Bahn. Und die, so denke ich, müsste es ja eigentlich wissen. Schließlich fährt die jeden Tag hier lang, da schleifen sich solche Dinge doch irgendwann ein.
Also kommt der Zug. „De Zoch kütt!“ brülle ich begeistert, doch bis auf ein paar hoffnungsvolle „Kamelle?“ Rufe erziele ich keine große Resonanz. Und rauscht an mir vorbei. „Yeah Baby“ rufe ich „zeig mir dein Fahrradabteil!“ Und grad als ich denke, dass nun aber nicht mehr so richtig viel Zug übrig ist, knatschen einige empörte Bremsen auf, in einer schrill quitschenden, Nerven zerfasernden und Lebenszeit verkürzenden Art, wie es nur empörte Zugbremsen können, und äußerst widerwillig kommt de Zoch nun doch noch zum Stehen. Wo ich stehe, ist Fahrradabteil.
Naja, fast jedenfalls. Die paar hundert Meter wollen wir mal als moderate Unschärfe gelten lassen. Also Gudrun wieder untern Arm und im Laufschritt zum richtigen Wagen. Der Zug muss schließlich weiter, wie mir ein ungeduldiger Schaffner deutlich signalisiert. Ich muss auch weiter, insofern passt es ja. Ich wuchte Gudrun die meterhohen Stufen zum speziell für Radfahrer erbauten Fahrradabteil hoch. Für Mountainbiker mag das eine Sportliche Herausforderung sein, für mich und Gudrun fühlt es sich wie eine Erstbesteigung des Drachenfelses ohne Steigeisen und Seil an. Leider haben nämlich weder ich noch die Deutsche Bahn bedacht, dass Gudrun normalerweise nicht mit 2 Packtaschen und 45 Kilo Gepäck am Hinterteil beladen ist. Gudrun und ich, wir legen uns erstmal lang auf den Bahnsteig und überdenken unsere Situation von vorn.
Diese sieht nach erster Analyse so aus: Ich zerre wie wild am Lenker und Gudrun sitzt wie ein störrischer Esel mit ihrem fettem Hintern auf dem Bahnsteig und rührt sich nicht von der Stelle. Das sieht mir nach einer klassischen Patt Situation aus, vielleicht mit einem leichten Stellungsnachteil meinerseits. Aus dem Fahrradabteil schauen mich mittlerweile ein paar Dutzend Kollegen an. Also jetzt nicht Kollegen von der Arbeit (was auch eine leicht gruselige Vorstellung wäre. Ich fahre in den Urlaub, und in der Bahn sitzen ein paar dutzend Kollegen! Mich gruselt es ein bisschen, aber nur ein bisschen, dann fällt mir wieder ein, dass sich das alles gerade nur in meinem Kopf abspielt und ich jetzt mal in die Gänge kommen muss.)
Mit Kollegen meine ich selbstredend Radfahrer, so welche wie ich. Die ihr Fahrrad in die Deutsche Bahn gequetscht haben und dann irgendwo auf große Fahrt gehen. Also fahren. Nachdem sie mit der Bahn gefahren sind. Uns verknüpft ja jetzt ein gemeinsames Schicksal, ein Band, das uns zu Gefährten, ja, zu Kollegen macht. So denke ich. Die Kollegen drinnen im Zug denken fast genauso, nur mehr so in die Richtung „Hier ist alles voll. Sie können hier nicht mehr mitfahren“. Genau genommen denken sie das nicht nur, sie sagen es auch. Ja, wir Radfahrer sind schon eine lustige Bande!
Schön, denke ich, sind wir also wieder beim „Sie“. Kein Problem, unter Kollegen. Trotzdem will ich mitfahren und was ich will, das kann ich auch. Denke ich. Außerdem habe ich Platzreservierung und dann kann ich allemal. Ich rappel ich mich auf und schaffe es, Gudruns Vorderrad so weit anzuwuchten, das ich es auf die oberste Stufe aufplumpsen lassen kann. Dann zerre ich den ganzen Rest die nächsten Stufen hinauf, wobei es einige leicht beunruhigende Geräusche gibt, die ich jedoch mannhaft ignoriere. Und schon bin ich drin. Es stellt sich heraus, dass einige der Geräusche nicht durch Gudrun, sondern offenbar durch meinen vom Radfahren erst noch zu stählenden Körper verursacht waren. Ich kugel meine Schulter wieder in die vorgesehene Position und suche meinen Stellplatz. Dort liegt allerdings ein älterer Herr in Neongelb mit Pinkapplikationen und bewacht sein enorm schickes Mountainbike. „Entschuldigung“ frage ich den Herrn, den ich für den Mut bewundere, sich in ein Outfit zu zwängen, welches offensichtlich für seine Enkeltochter gedacht war. „Ich würde gerne mein Fahrrad hier abstellen.“
Der Mann scannt mich bzw. vielmehr Gudrun sorgfältig ab. „Fahrrad??“ fragt er dann mit einem hörbar zweifelnden Unterton. Der Kontakt ist schon einmal hergestellt, also sind ja wohl auch einfache Kommunikationsformen möglich, denke ich. Gudrun drängelt ein bisschen, ich stupse mal versuchsweise ihren Vorderreifen gegen den Menschen. „He! Vorsichtig!“ Jetzt meine ich, so etwas wie sanfte Empörung heraus zu hören. „Das ist ein Shimano-Anzug!“ „Ist wohl nicht so haltbar wie eine richtige Hose?“ frage ich verständnisvoll und schupse noch ein bisschen nach. Der Herr ist eingeschnappt. „Mit dem war ich schon am Nordkap und in Neuseeland!“ „Ach so“ sage ich teilnahmsvoll „Naja, da leiden diese billigen Kunststoffe natürlich, erst die Kälte und dann die Hitze. Wird da schon etwas porös, oder“ Ich zeige auf die Stelle, wo Gudruns Vorderrad deutliche Abriebspuren hinterlassen hat und bin stolz auf mein Mitgefühl. Empathie, das ist es nämlich, was uns Radler auszeichnet. Wie eine große Familie. „Arschloch!“ murmelt mein neuer Freund und krabbelt ein Stück beiseite. Kommunikation, denke ich mir, Kommunikation öffnet eben viele Tore.
Gudrun ist gut versorgt in einer ca. 2 Meter hohen Halterung untergebracht und macht einen zufriedenen Eindruck. Zu der seltsamen, von der Deutschen Bahn erfunden Unterbringungseinrichtung, die angeblich für Fahrräder gedacht ist, möchte ich an dieser Stelle eigentlich gerne etwas sagen. Nur, was soll man zu so einer Mann und Material sinnlos folternden Vorrichtung, welche die Bahn euphorisch „Fahrradhalterung“ nennt, eigentlich sagen? Es ist wie so oft im Leben – bei den wirklich traurigen Dingen fehlen einem die Worte. Ich sage: Anschauen und selber urteilen. Beziehungsweise. verurteilen.
Ich beginne damit, Satteltaschen, Lenkertasche, Gepäckträgertasche, Pedaltaschen und Taschenhilfstaschen mittels ihrer vielfältigen und einfallsreichen Befestigungsapparaturen abzubauen. Da ich alle diese Taschen erst vor 20 Minuten korrekt gemäß Bedienungsanleitung an den zahlreichen Rahmenteilen meines Rades befestigt habe – was zugegebenermaßen geringfügig länger als 20 Minuten in Anspruch genommen hat – fällt der Abbau doch bedeutend leichter. In meinem Überschwang baue ich gleich noch ein oder zwei Teile von benachbarten Rädern mit ab. Ein Kurbelartiges Gebilde mit seltsamen Drähten kann ich nicht gebrauchen und baue es irgendwo wieder an, während das kleine Gerät mit den vielen Anzeigen und Blinklichtern eine beruhigende Wirkung auf mich ausübt und ich es deshalb behalte. Stressabbau ist ja ein wesentlicher Grund für meine Reise und etwas mit beruhigender Wirkung kann deshalb wohl nichts schaden.
Bepackt wie der Sherpa eines Mount Everest Touristen mit ebenso überentwickelten finanziellen Möglichkeiten wie unterentwickelten bergsteigerischen Talenten mache ich mich auf den Weg zu meinem Sitzplatz. Ich habe nämlich nicht nur den Stallplatz für Gudrun reserviert, nein, auch für mich war mir das Beste gerade gut genug. Ich habe Sitzplatzreservierung. Eigenartig nur, das die Nummern auf meiner Reservierung irgendwie gar nicht so ähnlich aussehen, wie die auf Gudruns Ticket. Sollte ich etwa in einem anderen Wagen platziert sein, fern von Gudrun? Haha, denke ich, was für ein blöder Gedanke! Auf so einen Gedanken würde ja nun nicht einmal die für ihren zuweilen recht schrägen Humor bekannte Deutsche Bahn kommen. Ich lasse also beruhigt die armen Seelen hinter mir, die sich mit Seilen, Ketten und Natodraht an ihre Räder gefesselt haben und wild entschlossen scheinen, die nächsten paar Tage auf Eisenbahnblech zu campieren.
Ich hingegen marschiere guten Mutes auf die Tür zu, die den Weg zu meinem Platz für die nächsten Stunden Zugfahrt verbirgt und drücke frohgelaunt den fulminanten Vorkriegstüröffner. Die Tür macht erstmal nichts. Dann rührt sich irgendwo tief in ihrem Innern ein längst vergessen geglaubter Mechanismus aus Kalkablagerungen und rostigen Relais. „Zuuaaaawoooosch“ macht die Tür mit spürbar äußerster Kraftanstrengung und scheint somit zufrieden. Ich bewundere die Leistung in gebührender Weise, kann aber fairerweise nicht umhin zu bemerken, das sich ansonsten rein gar nichts getan oder bewegt hat. Ich drücke nochmal. „Züüüaarghwooooosch!“ quält sich die Tür ab. Mehr tut sich allerdings immer noch nicht. „Dreiiiimaaaal muss man drücken!“ ruft hinter mir ein hilfreicher Mitreisender. Aha, denke ich, kein Fehler, sondern ein bekanntes Verhalten. Ich drücke gehorsamst ein drittes Mal. „Zuuuüüüaaaa-zuuuoooohhhhrg-zwooooosch“ rülpst die Tür in ihren Todeszuckungen heraus und langsam, ganz langsam schiebt sich ein winziger Spalt auf, in den ich entschlossen erst meinen Fuß und dann meinen Teebecher klemme. Noch ein energischer Ruck in die richtige Richtung und die Tür gibt sich endgültig geschlagen. Ich schleife mich und mein Gepäck in den nächsten Waggon.
Seltsam, dass mir gerade jetzt Dantes Göttliche Komödie in den Sinn kommt. Ich lasse zwar nicht, wie von Dante empfohlen, alle Hoffnung fahren, aber mir schwant, dass das jetzt nicht einfach wird. Vor mir erstreckt sich ein brodelndes Inferno aus planlos herumirrenden Rentnern, herrenlosen Koffern, kichernden Teenies, platzenden Reisetaschen, entnervten Müttern und überforderten Vätern, herabstürzenden Rucksäcken und kreischenden Kleinkindern, quer liegenden Krückstöcken und Alkoholleichen, stoischen Schaffnern und lustigen Kegelclubdamen. Jeder Anwesende scheint in eine eigene, völlig unterschiedliche Richtung zu streben, was als Ergebnis einen unauflösbaren Stillstand hervorbringt. Das niemand ernstlich zu Schaden kommt, liegt nur daran, dass der verfügbare physikalische Raum dafür nicht ausreicht.
Worauf all diese Menschen mit ihren zahllosen Gepäckstücken, die hilflos im Gang herumstolpern, gerade noch gewartet haben, das ist jemand, der mit riesigen Satteltaschen, Rücksäcken und zusätzlichen Stoffbeuteln, der genau durch diesen Gang hindurchspazieren möchte. Also ich.
Mit den Stoffbeuteln ist es übrigens so eine merkwürdige Sache, weil ich nämlich genau weiß, dass es beim ursprünglichen Packen noch gar keine Stoffbeutel gegeben hat. Theoretisch ist alles, was ich auf meiner Reise brauche oder zu brauchen glaube oder einfach ungern alleine ohne mich zu Hause zurücklassen möchte, schon längst sicher und ordentlich in Satteltaschen und Rucksack verstaut. Nur ein allerletztes, winziges Detail, eine Kleinigkeit, eigentlich unbedeutend, aber wer weiß, vielleicht gibt es eine Situation, in der man genau diese Kleinigkeit, also diese klitzekleine Packung Pfefferminzbonbons gerade gerne lutschen möchte und Platz nimmt sie eh nicht weg. Dafür die Taschen wieder aufmachen lohnt sich nicht, das kann man auch schnell in einen Stoffbeutel stecken, den kann man noch in der Hand tragen, ist praktisch wie Luft, so wenig. Und noch ein kleiner Apfel, wo die Stofftasche jetzt eh schon da ist. Und dann stehe ich in der Bahn mit zwei randvollen Stoffbeuteln.
Dass mir dabei orientierungslos herumirrende Menschen ohne besondere Richtungspräferenzen entgegenkommen, erweist sich auch nicht als besonders hilfreich. Ich rufe abwechselnd „‘tschuldigung!“ und „sorry!“ in keine bestimmte Richtung, versuche es probeweise mal mit dem freundlichen Seglergruß „Raum!“ und beginne mit dem todesmutigen Versuch, das gegenüberliegende Ende des Wagens zu erreichen und dabei mindestens 50% meines Reisgepäcks ohne dauerhafte Schäden mit über die Ziellinie zu schleifen. Lustige Idee.
Um einige unwichtigere Details meiner Reiseausrüstung ärmer, dafür um einige neue Erkenntnisse bezüglich der Robustheit älterer Damen mit Rollkoffer reicher schleppe ich mich und die Überreste meines Allwetter-Himalaya-Tiefsee-Offroad-Biking Equipments in den nächsten Waggon. Nun aber zu meinem Sitzplatz! Ich atme tief durch und nötige die Schiebetür vor mir zu dem mir bereits bekannten zutiefst entrüstetem Keuchhusten. Welch überraschende Wendung der physikalischen Gesetze! Dieser Wagen ist nicht nur noch voller als der vorherige, er bietet offenbar im Inneren mehr Raum, als er von außen umschließt. Zumindest scheint dies die Auffassung der optimistischen Personen zu sein, die von allen nur denkbaren Richtungen hineinströmen, um sich ein kuscheliges Plätzchen zu suchen. (Einstein sagt hierzu, dass in einem Eisenbahnwaggon genau zwei Richtungen zur Verfügung stehen, aus denen jemand strömen kann. Das mag sein, aber in einem Waggon der Deutschen Bahn zur Hauptreisezeit werden schließlich noch ganz andere Naturgesetze außer Kraft gesetzt.)
Ich will ja nur hindurch, also meine ich, es wäre es doch nur zu verständlich, wenn man gemeinsam etwas an den Rändern komprimieren würde, um das zu ermöglichen. Ich teile diese meine Meinung der herumvagabundierenden Menge mit, jedoch wird die Meinung ebenso wenig geteilt wie die Menge. Ich werfe einige Taschen ungefähr in meine geplante Marschrichtung und beginne, auf den Köpfen der entfesselten Meute hinterher zu klettern.
Nur wenige Haltestationen und etliche überfüllte Waggons später erreiche ich den Speisewagen. Zwei Gruppen mit lustigen T-Shirts angezogene wild verzweifelt Spaß suchender Jungesellinnen-Abschieds-Damen sorgen hier für Stimmung. Die T-Shirts sind je nach Gruppenzugehörigkeit in altrosa oder pretty-pink gefärbt und geben hinten Auskunft über den Zweck der Reise („Jungesellinnenabschied Nadine“) und vorne über den Inhalt („Waltraud“ oder „Gisela“). Ein deutliches Überangebot an Informationen, denke ich. Offenbar haben sich etliche Gruppenmitglieder bereits mit Mitgliedern der anderen Gruppe verbrüdert bzw. verschwestert, was entweder den farblich nicht zu unterscheidenden Kostümen oder den bereits bewältigten Alkoholmengen zu verdanken ist. Unterhaltung für den ganzen Zug, juhu, was habe ich für ein Glück. Eine Dame, die laut Aufdruck Janine heißt und von ihren Kampfgefährtinnen „Schaniiin“ gerufen wird, versucht, ihr Bier gleichzeitig mit einem Fläschchen Schnaps zu trinken. Da sie vergessen hat, das Fläschchen zu öffnen, bevor sie es in ihr Bierglas geworfen hat und es auch nicht wieder heraus holen will, bevor es leer ist, knallt es ihr immer wieder gegen die Zähne. „Alllter!“ sagt sie zu ihren Freundinnen „der knallt aber!“.
Ich kann dem uneingeschränkt beipflichten, versichere, dass ich a) auch in diesem Zug bin, b) eine Art Mann bin und c) weder „ene met drinke“ noch Bützchen austauschen will. Es ist zwar Mitte Juni, das hindert aber natürlich eine fröhliche Rheinländer Girlgroup auf keinen Fall daran, fleißig Karneval zu feiern und die entsprechenden Lieder zu singen. So etwas kann mich allerdings nach mehreren Jahren im Rheinland nicht mehr überraschen – ich habe Weihnachtsfeiern erlebt, bei denen im Narrenkostüm geschunkelt wurde und Sommerfeste, wo „de Prinz“ samt Entourage in vollem Ornat zum Grillen vorbei kam. Das bei jeder Art der Zusammenkunft – es muss sich keineswegs um eine Feier handeln – unbedingt Karnevalsmusik gespielt werden muss, versteht sich da von selbst. Ob „Mer losse d'r Dom en Kölle“ wirklich ein besinnliches Weihnachtslied sei, habe ich in meinem ersten Immi-Jahr mal gewagt zu fragen. „Ja sischer dat“, lautete die Antwort, es komme ja eindeutig eine Kirche darin vor. Kann man gelten lassen.
Ich krieche weiter und denke gerade, das ich jetzt schon so weit bin, da kann ich ja auch dem Zugführer noch kurz Guten Tag sagen, als ich unerwartet doch noch meinen Zielort erreiche – einen Sitzplatz im Großraumwagen, der mit meiner Platzreservierung korrespondiert. Nachdem ich einige Köfferchen und Schächtelchen auf der Gepäckablage in meinem Sinne verschoben habe, ist eine kleine Lücke entstanden, in die ich meine Fahrradtaschen stopfe. Erschöpft lasse ich mich auf meinen Platz plumpsen und grüße freundlich meine Mitreisenden. Eisiges Schweigen antwortet mir wie aus einem Munde. Was soll‘s, denke ich, wir sind ja nicht zum Spaß hier.
Ich schau mich mal ein bisschen um, mal sehen, wer sich noch so abenteuerlustig auf Reisen wagt. Schräg vor mir hat sich ein Geschäftsmann niedergelassen. Damit man ihn auch als solchen erkennen kann, gibt er sich betont geschäftig. Er packt seinen Laptop aus, installiert alle notwendige Drähte, Sticks und Mäuse und stellt es aufgeklappt vor sich. Das sieht schon mal gut aus. Nun holt er jede Menge Papiere, Akten und Notizen aus seinem Köfferchen und platziert diese auf den Sitz neben sich. Als Nächstes kramt er ein sehr schickes Smartphone heraus, prüft alle Dichtungen und Sicherungen, checkt auf neue Mails, Apps und Weisungen aus dem Bundeskanzleramt, schließt es vorsichtshalber auch per Nabelschnur an die Deutsche Bahn an und legt es auf das Tischchen des Nachbarsitzes. Nun folgen Kugelschreiber, Bleistift, Textmarker und Stärkungspillen, die vor den Laptop gelegt werden. Das Handy wird nochmal auf wichtige Nachrichten geprüft – da scheint nichts Neues eingetroffen zu sein. Er drückt ein paar Tasten am Laptop – ja, funktioniert. Nun lehnt er sich zurück und denkt angestrengt nach. Dann schläft er ein.
Auf der anderen Seite des Ganges sitzen zwei Nonnen und tippen wie wild auf ihren Smartphones herum. Vor mir und hinter mir piepst und klickert es wie in einer Spielhalle. Ich schäme mich ein bisschen, dass ich nur ein altmodisches Klapptelefon dabei habe und zeichne mit Smartphones spielende Nonnen in mein Reisetagebuch. Das Schöne an einem Großraumwagen ist ja, dass man über eine Menge Menschen eine Menge mitbekommt. Dass Schlechte ist, dass man das gar nicht immer alles mitbekommen möchte, denn inzwischen wird vor und hinter mir alles ausgepackt, was Bahnhofsbäckerei, MacDonalds und Gyrosbude zu bieten hatten. Es riecht genauso, wie es sich anhört und ich versuche peinlicherweise, etwas zu lüften. Was natürlich nicht geht, wir fahren ja mit der Deutschen Bahn. Vollklimatisiert, was heißen soll, die Wagen sind voll, entsprechend ist das Klima.
Macht nix, ab Münster bin ich alleine und das Klima wird besser. Kurz. Dann hält der Zug kurz mal an. Muss mal oder so etwas. Dann macht der Zug „Öffffhhh…“ und alle Lichter gehen aus. Was immer den Zug dazu treibt, ich bin ja kein Zugfachmann und weiß es nicht. Er wird sich schon was dabei gedacht haben denke ich und ansonsten denke ich mir nicht viel. Draußen sind es 35 Grad, drinnen ist es nicht ganz so kühl. Zum Glück kann die Klimaanlage nicht ausfallen, denn die ging ja vorher schon nicht. Nach 20 Minuten kommt der Schaffner mit palettenweise Wasserpäckchen vorbei. Er überreicht mir feierlich ein Trinkpäckchen. Dann schaut er mich nachdenklich an und gibt mir einen zweiten Karton. „Besser ist besser“ meint er tiefgründig. Ich interpretiere das trotzdem als eher nicht so gutes Zeichen.
Interessant, philosophiere ich, der Zug steht im Münsterland und meine Fähre nach Schweden steht in Travemünde. Insofern verblüffende Parallelität der Ereignisse. Allerdings wird meine Fähre zu einem bestimmten Zeitpunkt losfahren, während der Zug bis zu einem unbestimmten Zeitpunkt stehenbleiben wird. Daraus ergibt sich ein Interessenkonflikt, denke ich, denn mein Interesse scheint nicht mit dem der Deutschen Bahn überein zu stimmen. Was jetzt gerade blöd ist. Natürlich ist es eine großartige Geste der Bahn respektive des Schaffners, in regelmäßigen Abständen mit neuen Wasservorräten vorbei zu kommen, aber momentan scheint mir die Gefahr des Verdurstens weniger akut als die, die Fähre zu verpassen und auf dem Parkplatz des Terminals übernachten zu müssen.
Viele Wasserpäckchen später, als ich mich gerade mit dem Gedanken anfreunde, dass es sich im Zug immer noch angenehmer übernachten lässt als auf dem Parkplatz des Fährterminals, gehen plötzlich die Lichter wieder an. Hurra, denke ich, der Zug hat Licht, jetzt traut er sich auch, weiter zu fahren. Der Zug macht „Brrrrssslllbrrrssst…“ und die Lichter gehen wieder aus. Und wieder an. „Brrrsssllbrrrrr…“ und wieder aus. Und wieder an und…der Zug berappelt sich, schüttelt sich, ruckelt einmal ordentlich an jedem Waggon und macht sich auf die Beine. Und fährt nach Hamburg, wie es sich gehört. Die Deutsche Bahn! Immer für eine Überraschung gut.
Kurz vor Hamburg-Hauptbahnhof stehe ich neben Gudrun, denn ich habe mich schon in Bremen auf die Expedition gen Fahrradwaggon gemacht und somit mein Fahrrad auf den Schlag pünktlich erreicht. (Gute Planung ist die halbe Miete, wie ich immer sage. Ab jetzt werde ich das zumindest immer sagen, nehme ich mir vor.) Gudrun ist gesattelt und gespornt, wir scharren mit den Hufen und sind bereit für einen eleganten Landeanflug in Hamburg Hauptbahnhof.
Nachdem wir uns auf dem Bahnsteig wieder aufgerappelt und sortiert haben, mache ich mich auf die Suche nach dem Anschlusszug. Leider kann man ja nun in einem Bahnhof nicht mal eben von einem Gleis zum anderen hüpfen (was mit einem Fahrrad ja sowieso schwerer ist, als man denkt), sondern man muss nach unten oder, wie in Hamburg, nach oben, übers Gleis hinweg und wieder nach unten, aufs gewünschte Gleis hinunter. Einfacher wäre es natürlich, wenn das gewünschte Gleis einfach nebenan, also auf demselben Bahnsteig wäre. Aber auf so simple Bedürfnisse nimmt die Deutsche Bahn natürlich keine Rücksicht.
Typisch, denke ich und schaue mir die Treppe an. Von unten. Schaue mir Gudrun an. Schaue mir nochmal die Treppe an. Wird nicht besser mit der Zeit, also lass ich das mit dem anschauen und mache mich auf die Suche nach einem Fahrstuhl. Und – wie toll ist das denn? – sowas gibt es tatsächlich. Finden die anderen Fahrradfahrer auch toll. Und stehen Schlange vor der einzigen Kabine. Die gerade mit einer mitteljungen Dame in Armani und Dior und einem Hauch von Handtäschlein nach oben entschwebt. Da wartet man doch gerne. Irgendwann schwebt aber der Fahrstuhl wieder nach unten. Und nun stellt sich heraus, dass in dieses tolle Gefährt, welches zur Erleichterung des Transportes von Fahrrädern und Rollstühlen erbaut wurde, genau folgendes hinein passt: Entweder ein halbes Fahrrad oder ein ganzer Rollstuhl, aber ohne Person, die selbigen schiebt (was zu einem lustigen Wettrennen des Fahrstuhls mit einem schwitzenden, die Treppe hinauf hastenden Zivildienstleistenden führt) oder eine Dame mit Handtäschlein. Eine nur bedingt praktische Sache, besonders, wenn man es eilig hat. Was auf einem Bahnhof ja gelegentlich vorkommen soll.
Jetzt stellt es sich als Glücksfall heraus, dass meine Gudrun leicht überladen und damit etwas Hecklastig ist (siehe Bonn-Hauptbahnhof). Ich schiebe Gudrun in die Kabine und es bedarf nur geringfügigen guten Zuredens und Gudrun setzt sich brav auf den Arsch. Nun den Lenker hoch, Vorderrad an der Kabinenwand entlang nach oben schieben, Fahrstuhltür zu und schon entschweben auch wir unter den Jubelrufen der begeistert applaudierenden Mitwartenden nach oben. Bisschen blöd nur, dass oben die andere Tür aufgeht und Gudrun und ich etwas stürmisch aussteigen. Kann man von unten aber nicht sehen, macht also nichts. Alles wieder an die richtigen Stellen sortiert und los zu Gleis 98b, Fahrstuhl, bewährte Stapeltechnik anwenden, runter und in den Zug. Soweit der Plan. Der Fahrstuhl zu Gleis 98b kennt diesen Plan nicht und stellt sich bockig. Man kann hinein gehen und Knöpfe drücken. Mehr geht leider nicht. Ist zwar auch schön, aber auf Dauer führt einen das ja nicht weiter. Geschweige denn nach unten. Dahin führt jetzt nur noch die Treppe. Ich klemme mir Gudrun unter den Arm, ermahne sie eindringlich, sie müsse mal etwas Gewicht abnehmen und mache mich todesmutig an den Abstieg. Wie sich später herausstellt, ein gutes Training, denn den letzten funktionierenden Fahrstuhl auf einem deutschen Bahnhof habe ich gerade hinter mir gelassen.
Jetzt im Moment stellt sich aber nur zweierlei heraus: Dass ich und ein maßlos überpacktes Fahrrad unterm Arm nicht die ideale Konstellation ist und dass der Zug nach Lübeck weg ist. Beides überrascht mich nicht besonders. Das Gute ist aber, dass in 20 Minuten schon der nächste Zug fahren soll – das müsste dann der 40 Minuten verspätete Zug sein, der 15 Minuten vor meinem eigentlichen Zug fahren hätte sollen, wenn dieser dann nicht 50 Minuten Verspätung gehabt hätte, weshalb der Zug, denn ich gerade verpasst habe, der war, der vor 60 Minuten hier hätte abfahren sollen. Bahnmathematik halt. Wenn nun also der aktuell verspätete Zug pünktlich verspätet eintreffen sollte und auf dem Bahnhof nicht noch weitere Verspätung ansammeln würde (was von der Bahn immer sehr gerne genommen wird – wer kann schon damit rechnen, dass tatsächlich mal ein Zug im Bahnhof ankommt. Dass muss dann wohl gründlich untersucht werden. Und sowas dauert), dann könnte ich mit viel Glück sogar noch meine Fähre in Travemünde erreichen. Also wenn ich vom Bahnhof, der so weit entfernt wie möglich vom Fähranleger gebaut wurde, so zügig (haha!) wie möglich zur Fähre radeln würde. Also alles tutti bis hier.
De Zoch kütt (da geht meine neuerdings und überraschenderweise ausgebrochene Rheinlandbegeisterung schon wieder mit mir durch.) Und was soll ich sagen? Fahrräder kann man einfach so durch die geöffnete Tür schieben (!), abstellen und sich daneben (!) auf einen Sitzplatz setzen. Das gibt aber mal ein kräftiges Lob an die Deutsche Bahn. Auch wenn man fairerweise erwähnen sollte, dass diese Strecke von einem Konkurrenzunternehmen befahren wird. Was mich verwirrt. Für Verspätungen ist ja eigentlich die Deutsche Bahn zuständig. Wenn das hier aber gar nicht die Deutsche Bahn ist, wieso denn dann die Unpünktlichkeit? Das freundliche Lautsprechermännlein klärt mich auf: „Wir bitten auch alle neu zugestiegenen Fahrgäste für die Verspätung um Entschuldigung. Grund war ein liegengebliebener ICE auf der Strecke.“ Ach so.
Wenn man nach Travemünde will, steigt man logischerweise in Kücknitz aus. Das ist so, weil man mir das so gesagt hat. Dann mach ich das auch so. Der Bahnhof von Kücknitz ist exakt so, wie der Name schon nahe legt. Ich möchte deshalb und weil ich es etwas eilig habe nicht weiter auf die Trostlosigkeit dieser Örtlichkeit eingehen, die sich eigentlich nur durch ein leicht verwahrlostes Schild mit der Aufschrift „Kück itz“ vom Rest der trostlosen Landschaft unterscheidet. Naja, nun bin ich doch darauf eingegangen. Es macht also Sinn, den letzten Satz einfach zu überlesen. Es dunkelt bereits merklich, die Zeit rinnt unerbittlich dahin, die Abfahrtszeit der Fähre rückt mit lautem Ticken näher. Ich bereite mich auf einen strammen Ritt zum Fähranleger vor.
Doch dann die Überraschung: Vor dem Bahnhof (auch wenn das Wort Bahnhof hier ein bisschen schwer über die Lippen kommt) steht einsam und alleine ein alter VW-Bus und wartet auf wen? Auf mich! 2 liebe alte Freunde aus Lübeck haben von meiner Not erfahren (durch mich bzw. mein mobiles Telefon) und wollen mich erretten. Nicht, dass in dem Bulli jetzt tatsächlich noch Platz für ein Fahrrad gewesen wäre, aber der gute Wille zählt. Denke ich. Womit ich nicht gerechnet habe, ist der Erfindungsreichtum und die Stauerfahrung eines alten VW-Bus Kämpen. Wir fahren los und ich schaue mich alle paar Meter um, um mich zu vergewissern, dass Gudrun wirklich an Bord ist. Nützt aber eigentlich nichts – von Gudrun ist nichts zu sehen. Ich weiß aber, dass sie da ist, weil ich die Einlagerung selbst gesehen habe. Auch wenn ich es nicht recht glauben konnte, aber irgendwo da unter den ganzen Kisten und Werkzeugen und Angelsachen und Kochgeschirr und Baumaterial und Matratzen und Supermarkteinkäufen muss sie stecken. Auf jeden Fall schaffen wir die Fähre nun doch noch.
Kurz vor dem Fahrkartenhäuschen bitte ich meine lieben Freunde, ein klitzekleines Stück zurück zu fahren, so bis hinter die Hecke da, ja, danke sehr! Hoch zu Ross radel ich sodann zum Fahrkartenschalter und zeige stolz mein Ticket. Nicht ohne zu erwähnen, dass ich aus Bonn komme. Heute. Die Dame im Fahrkartenhäuschen ist sichtlich beeindruckt und kommentiert meine sensationelle Leistung mit: „per Anhalter oder was?“ Ich drehe mich um und sehe meine lustigen Freunde in 20 Meter Entfernung fröhlich aus dem Bulli winken. „Aber nur das letzte Stück!“ sage ich, aber ich weiß nicht, ob die Skeptikerin in ihrer Bude mir noch zuhört.
Ich wechsel das Thema. „…hätte es fast nicht geschafft“ sage ich „Aber dann wär ich einfach morgen gefahren. Null Problemo!“ „Doch Problemo“ korrigiert mich die Dame. „Ohne Reservierung geht morgen gar nix!“ „Aber ist doch total leer hier“ konter ich „Warum soll morgen denn mehr los sein?“ Die Dame schaut mich mitleidig an, offenbar über meinen Geisteszustand nachdenkend „Sommer!“ sagt sie vieldeutig. „Viele Urlauber. Alle Kabinen reserviert. Und ohne Kabine keine Überfahrt!“ Mir wird ein bisschen unwohl. Vorausschauende Seekrankheit wahrscheinlich. „Übrigens wird es hier gleich noch leerer sein, dann bin ich nämlich auch weg. Und das Schiff auch.“ Meint die Dame durchaus freundlich. „Wieso?“ frage ich ziemlich blödsinnig. „Weil Sie der letzte sind. Und wenn ich Sie wäre, würd ich mich jetzt mal langsam auf den Weg machen. In 2 Minuten schließen die die Luke und dann dürfen Sie höchstens noch winken“. Oha. Warum hält die mich auch so lange auf mit ihrem Geschnatter.
Ich trete in die Pedale wie ein Wilder und rausche ungebremst und heftig scheppernd über die Ladeluke aufs Autodeck. Und nu? Hinter mir wird allerhand mit Seilen und Ketten und Blechen und viel Lärm und Getöse gewerkelt – das scheint irgendwie dazu notwendig zu sein, um die riesige Klappe zu schließen, durch die Hunderte von Autos und LKW und Bussen und ein Radfahrer aufs Schiff gestapelt wurden. Ich fühle mich noch nicht hinreichend gestapelt und wedel – vielsagend fragend, wie ich meine – mit meinen Armen in Richtung eines Arbeitsmannes, der gerade nicht mit Seilen und Ketten beschäftigt zu sein scheint. „Wohin!?“ brülle ich zur Sicherheit noch gegen den allgemeinen Schiffslärm an. Der Arbeitsmann (das ist für mich jeder, der sich durch hinreichend professionell und verschmutzt aussehende Kleidung ausweisen kann) deutet auf einen Dreckhaufen in einer Ecke. Gammelige Tampen (das ist der seemännisch korrekte Ausdruck für Seile, wie ich natürlich weiß) liegen neben rostigen Ketten und löchrigen Plastikeimern, ein alter Besen und interessanterweise eine Mistforke stehen daneben. Wie jetzt, denke ich, soll ich hier sauber machen? Deckschrubben vielleicht, die altbekannte Strafe für blinde Passagiere? Ich krame aufgeregt mein Ticket hervor. „Nix blind Passagier, ik bezahl, guck Ticket!“ rufe ich dem armen Arbeitsmann zu, der ja schließlich nichts dafür kann, dass er als unterbezahlte und ungelernte Arbeitskraft aus was auch immer für einem niedrig entwickelten Zureiseland (sagt man das heute so? Keine Ahnung) hier Sklavenarbeit verrichten muss. „Ik wissen tu“ sagt der arme ungebildete Fremdarbeiter „und das hier ist der offizielle Abstellplatz für Fahrräder. Im Übrigen wird das Autodeck in 5 Minuten geschlossen“. Ich bedaure den Ärmsten, der offensichtlich trotz seiner unwürdigen Bezahlung auch noch so komplizierte Sätze auswendig lernen muss, um nicht auf hoher See kalfatert und über die Back geheißt zu werden. Oder was man heute so macht auf hoher See.