Читать книгу Abwärts - Stefan Lansky - Страница 5
Die Spedition 1 Der Sekundenschlaf
ОглавлениеEin ziemlich fies klingendes Geräusch weckt mich: Ein Knirschen und Schleifen – ekelhaft, so etwas habe ich zuvor noch nie gehört. Ich wache auf. Ich liege jedoch nicht zu Hause in meinem wohlig warmen Bett, sondern sitze am Steuer eines fahrenden Sattelzuges, eines Mercedes Actros 1844 mit einem 40-Fuß-Container im Schlepp. Ich schramme mit der rechten Seite in voller Länge an der Leitplanke entlang. Sofort reagiere ich und es gelingt mir, auf die Fahrbahn zurückzusteuern. Nur gut, dass ich nicht schnell unterwegs war.
Der Schreck sitzt mir in den Gliedern. Himmel herrje, es ist passiert, was passieren musste: Der gefürchtete Sekundenschaf hat mich gepackt! ICH BIN WÄHREND DER FAHRT EINGENICKT! Ich habe es immer geahnt. Diese ewige Müdigkeit durch zuwenig Schlaf. Und das 500 Meter vor dem Ziel. Das erste, was mir einfällt, ist: KÜNDIGUNG!
Ich stoppe und wähle die Nummer des Büros. Océane Michaelis ist am Apparat. Sie ist die Assistenz der Geschäftsleitung und Tochter meines Chefs sowie Firmeninhabers Bernd Michaelis. Na, dann Mahlzeit.
„Hallo Frau Michaelis, leider eine schlechte Nachricht. Ich bin am Steuer eingeschlafen und habe die Leitplanke touchiert.“
Ich gebrauchte absichtlich das Wort „touchiert“, um nicht unnötig zu dramatisieren – um zu entschärfen, um genau zu sein.
Kurzes Schweigen.
„ ... Sie sind was?“
„ ... eingenickt. Ja, eingenickt!“
„Wie groß ist der Schaden?“
Danke, mir ist nichts passiert, es geht mir gut.
„Nun ja, ein paar Schleifspuren rechts und die Blinkergläser ...“
Nach der Leitplanke fragt sie schon gar nicht.
„Rufen Sie die Polizei, damit wir auf der sicheren Seite sind.“
„Soll ich dann in die Firma kommen?“ Ich denke an sofortigen Rausschmiss.
„Nein, liefern Sie den Container ab und rufen bei der Dispo von BTX an, was noch zu tun ist.“
„O.k.“
Jetzt wird sie zu ihrem Papa rennen und von meinem Versagen berichten. Wenn der Chef nur „Schaden“ hört, ist seine Tageslaune empfindlich gestört.
Was mache ich überhaupt hier? Warum bin ich in solch einer Situation? Bis vor knapp drei Jahren sah mein Leben noch anders aus. Ich war Redakteur eines renommierten Luxus-Magazins, nächtigte in Fünf-Sterne-Hotels, verkehrte mit Prominenten aus Sport und Politik, besuchte Luxusmessen in der Schweiz, erhielt Einladungen zu aufwendigen Produktpräsentationen. Champagner und Kaviar gehörten quasi zu den Grundnahrungsmitteln.
Und nun? Die triste Kabine eines Lkw ist mein Arbeitsplatz und selbstgeschmierte Stullen meine Verpflegung. Nach dem mein Verlag mich und viele andere schreibende Kollegen betriebsbedingt entsorgt hat, fiel mir nichts Besseres ein als den Lkw-Führerschein zu machen. Freunde warnten mich: „Das ist doch nichts für dich ... das hältst du nicht durch ... dafür hast du nicht studiert ...“ Klar, aber meine Miete zahlen sie nicht. Und einen Job haben sie auch nicht parat. Und ich halte bis heute durch – nur wie lange noch? Langsam geht es an die Substanz. Respekt vor den Kollegen, die diesen Knochenjob seit dreißig Jahren erledigen.
Die Alternative hieß und heißt immer noch ALG-II. Mit Familie ist das der Todesstoß, zumal zwei Töchter in der Ausbildung sind. Das Studium des älteren Kindes? Wäre passé. Die Musikschule der Kleinen: Nicht zu finanzieren. Meine Frau Susanne arbeitet als freie Redakteurin. Mehr schlecht als recht verdient sie. Nebenbei putzt sie oder verkauft in der Sommersaison Erdbeeren. Plus mein Gehalt reicht es gerade, oft auch nicht. Jedenfalls ist unser Kontostand trotz enormen Arbeitsaufwandes und einem Lebensstil wie Mahatma Ghandis im freien Fall.
Sie rufe ich auch gleich an und berichte. „Liebste, es kann sein, dass ich heute die Kündigung bekomme.“
„Und wenn“, beruhigt sie mich, „DIE sind es nicht wert, für sie zu arbeiten. DIE beuten einen aus und wundern sich, wenn etwas passiert. Wir haben schon anderes durchgestanden, Liebster!“
Welch eine Frau! Steht immer hinter mir.
Ich rufe die Polizei. Nach kurzer Wartezeit kommt der Streifenwagen. Eine junge Beamtin, klein und zierlich, sowie ein Beamter, ein Hüne von Mann und ganz offensichtlich der Dienstältere, steigen aus.
„Guten Tag, was ist passiert?“
„Ich bin am Steuer eingeschlafen und habe die Leitplanke touchiert“, erkläre ich ohne zu zögern.
Die Kinnlade des Polizisten klappt runter, seine junge Kollegin zeigt jedoch keine Regung und lässt ihren Blick ins Leere laufen.
„Sie sind bitte was!!!“
Meine Ehrlichkeit war wohl nicht gut.
„... eingeschlafen, ich bin am Steuer eingeschlafen.“
„Oh je“, stöhnt er, „kann es nicht was anderes sein? Zum Beispiel am Radio gedreht oder Kaffee verschüttet, oder sonst was ... aber eingeschlafen! Da muss ich Ihnen den Führerschein wegnehmen,“ bedauert er. „Neun Monate ist er weg.“
„Dann soll es so sein“, antworte ich mit einem kurzen Anflug von Freude und Trotz: Nicht mehr fahren dürfen! Doch gleichzeitig bin ich sauer. Wirtschaft plus Wachstum über alles! Immer zu nachtschlafender Zeit aufstehen und Stunden schieben, das geht an die Substanz. Dann geht der Lappen eben weg, gibt es nix mehr zu fahren. Schluss. Doch sofort erscheint das Hartz-IV-Dilemma. Ja, das System hat einen fest im Griff.
„Ist aber so, warum soll ich Ihnen anderes erzählen. Meine Eltern haben mir immer eingeschärft, die Polizei nie zu belügen.“
Letzteres sollte witzig sein.
„Das ist auch richtig. Passen Sie auf“, setzt der Polizist an: „Wir einigen uns auf Folgendes: Sie sind aus Unachtsamkeit von der Fahrbahn abgekommen. Dafür verwarne ich Sie mit 25 Euro. Kein Wort von ´eingeschlafen´, sonst bin ich meinen Job los. Sind Sie einverstanden?“
Na, und ob.
Die Polizistin sagt noch immer kein Wort und macht auf Standbild. Die Entscheidung ihres Chefs ist dann wohl auch die ihrige.
„Ich werde jeden Tag angelogen und da ist einmal jemand ehrlich zur Polizei. Warum soll ich den bestrafen?!“
Das freut mich.
„Wir schauen uns noch die Leitplanke an“, erklärt der freundliche Beamte.
Wir steigen in den Streifenwagen. Die Polizistin fährt – auch dies kommentarlos.
„Na ja, sieht nicht so schlimm aus, die Planke ist gerade, lediglich ein paar Abriebsspuren sind zu sehen. Vielleicht lässt die Straßenmeisterei es auf sich beruhen. Wenn, wird sie sich mit Ihrer Firma in Verbindung setzen.“
Bloß nicht.
Mit gemischten Gefühlen steige ich in den Lkw um. Der Tag ist noch nicht zu Ende. Der Gang nach Canossa wird noch kommen: Die Predigt des Chefs, dazu Papierkrieg in Form der Unfallmeldung. Und natürlich eine schriftliche Abmahnung. Damit hat es der Chef, die teilt er gern aus. Oft vorsorglich, damit er nach Lust und Laune nach der dritten die Kündigung formulieren kann.
Als ich in die Firma zurückkomme, empfängt mich der Chef schon mit einem bedauernden Hundeblick. „Herr Lansky, kommen Sie doch bitte kurz mit.“
Es gibt zwei Varianten der Einladung in sein feudales Büro. Die eben genannte bedeutet: Es ist ernst. Die andere lautet ‚Haben Sie kurz Zeit?’ Diese mündet dann in eine gemütliche Plauderei über dieses oder jenes. Ich will nicht unerwähnt lassen, dass es mein Chef genießt, einen sogenannten akademischen Fahrer zu beschäftigen. „Hier kann ich mich nur mit Ihnen angemessen unterhalten!“ Na, wenn das seine übrigen Fahrer hören würden! Das ist eine glatte Abwertung ihrer Person.
Wir haben eine gemeinsame Leidenschaft: Den deutschen Heimatfilm mit Heinz Erhardt, Martin Held und anderen Kinogrößen jener Zeit. „Sie sind für diesen Job ja vollkommen überqualifiziert“, schmeichelt er bei der Gelegenheit. Richtig, aber was soll man machen. Ich zeige ihm dafür auch mein Verständnis für seine Situation als Unternehmer, die oft schwierig ist, sowie für seinen luxuriösen Lebensstil –„Ich kaufe keine Uhr, die teurer als 5.000 Euro ist“ – sowie seine Schwäche für leistungsstarke Sportwagen. Das spürt er.
Michaelis berichtet auch gern aus seiner wilden Jugendzeit. „Unter uns. Ich habe damals gekifft bis der Arzt kam – regelmäßig. Erzählen Sie das bitte nicht meiner Tochter, meine Vorbildfunktion könnte leiden“, schmunzelt er dann über seine antibürgerlichen Taten.
Aber wieder zur Sache. „Sie sind eingeschlafen, sagt Océane?“ Der Chef hat ein Faible für französische Vornamen, sein Sohn heißt Yves.
„Ja, das ewige Aufstehen zu nachtschlafender Zeit. Das zehrt.“
„Dann müssen Sie mehr schlafen.“
„Aber ja, man muss mich nur lassen. Ich kann nicht schon um 20 Uhr ins Bett gehen. Dann wache ich um Mitternacht wieder auf und bin fit bis 5 Uhr. Die Arbeitszeiten sind gegen den Biorhythmus. Sie wissen, dass Einschlafen am Steuer bei Lkw-Fahrern Unfallursache Nummer eins ist.“
Das mag er nicht hören, darauf fällt ihm auch nichts ein, zumindest nichts, was er mir entgegenhalten könnte.
„Ich muss Sie abmahnen. Ich erledige das mündlich. Ich denke, im Gegensatz zu den anderen Fahrern genügen bei Ihnen Worte.“
Vollkommen.
„In Ordnung“, sage ich.