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2 18-Stunden-Schicht

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Nachts 3.30 Uhr. Ich stehe auf dem Betriebshof der Spedition. Es ist dunkel, es ist kalt, ich bin müde. Mein Auftrag: 66 leere Gitterboxen in den Raum Tuttlingen zu einem Metall verarbeitenden Betrieb transportieren. Die Strecke führt ausschließlich über Bundes- und Landstraßen – zusätzlich ermüdend. Um 6 Uhr soll ich dort sein. Ich entere die Kabine des Volvo FH 450. Als Springer habe ich kein festes Fahrzeug – will ich auch nicht. Ein „eigenes“ Fahrzeug bedeutet mehr Verantwortung für Pflege und Rechtfertigung, wenn etwas kaputt ist. „Aber Sie fahren doch meistens damit“, heißt es dann.

Die meisten Fahrer wollen aber ein eigenes Auto, damit sie sich häuslich einrichten können, damit ihre Kaffeemaschine, ihr Stoffmaskottchen, ihr Blechschild mit ihrem Vor- oder Spitznamen einen festen Platz haben. Damit es ist wie zu Hause.

Einmal fand ich in einem Fahrzeug mit Stammfahrer etwa 50 leere Plastik-Wasserflaschen im Fußraum des Beifahrersitzes und auf dem Bett lagen ein paar Herrenmagazine mittlerer Qualität mit den üblichen nackten Damen. Ein russischer Kollege hatte in seinem MAN Ikonen-Bilder kleben. Ja, man erfährt eine Menge über seine lieben Mitarbeiter, wenn man sich ihre Kabine ansieht.

Ich will jedoch jederzeit fluchtbereit sein, die Karre verlassen können ohne Spuren zu hinterlassen, ohne vorher eine Ausräumaktion starten zu müssen. Deswegen ist nur eine Umhängetasche aus Lkw-Plane (ausgerechnet!) mein steter Begleiter.

Doch nun geht es los. Ich starte den Motor, lasse ihn kurz laufen, damit sich die Druckluft aufbauen kann. Ich bin zwar nicht markenaffin, aber ein Volvo ist schon etwas Feines. Die Zugkraft: enorm. Ich rolle vom Hof, der Diesel schnurrt souverän. Das Automatikgetriebe erledigt das Grobe.

Schon nach 30 Kilometern überfällt mich die gefährliche Müdigkeit, mir kippen die Augen zu. Ich hätte früher nie gedacht, dass Müdigkeit so schmerzen kann. Ich lenke auf einen Parkplatz und schlafe wenigstens 15 Minuten. Sicherheitshalber stelle ich den Wecker meines Mobiltelefons. Gestern konnte ich erst um 18.30 Uhr Feierabend machen. Ich habe kaum Zeit, um mich auszuruhen. Soll das so weitergehen? Freizeit nur am Wochenende? Und auch dann hängt man ab wie ein Schluck Wasser. Auf was habe ich mich mit diesem Job eingelassen?

Der Wecker klingelt, ich raffe mich auf und fahre weiter. Pünktlich erreiche ich mein Ziel. An der Pforte melde ich mich an. „Tut mir leid“, erklärt der ältere, aber freundliche Pförtner, „die Warenannahme macht erst um 7.30 Uhr auf.“

Wie bitte! Wäre ich nicht so erschöpft, würde ich mich aufregen. Dieses Weib! Ich meine Daciana Müller, meine Disponentin, genannt der Papagei, die meistens meine Touren koordiniert. Rot gefärbtes Haar, grüne Strickjacke und bunter Flitter im Gesicht – einfach billig. Sie stammt aus Rumänien. Sie schikaniert die Fahrer ohne Rücksicht auf Verluste, schiebt sie durch das Land, als wären es Schachfiguren, wobei Daciana und Schach in einem Zusammenhang zu nennen zuviel der Ehre wäre. Schon mancher Kollege hat nach zwei Tagen in den Sack gehauen und dem Laden auf Nimmerwiedersehen gesagt. Grund: Daciana Müller. Selbst altgediente Fahrer ergreifen irgendwann die Flucht vor ihr. Nun, sie geht auch mit meiner Lebenszeit äußerst großzügig um.

Ich mache das Beste aus der Situation und nutze die Gelegenheit für ein Nickerchen mit laufender Standheizung. Das Schöne am Volvo: Man kann nicht nur die Lehne nach hinten verstellen, sondern die Sitzfläche gleitet nach vorn und hebt sich mit den Knien an. Man ruht wie in einer Schale.

Um 7 Uhr werde ich unruhig und schaue, ob sich nicht doch jemand erbarmt und die Fracht abnehmen kann. Ein Staplerfahrer begegnet mir. Ich habe Glück: „Komm her, Kollege, ich nehm’ dir die Dinger ab, dann kannste weiter.“

Erleichtert trete ich den Rückweg an, unterwegs dämmert es, ein grauer Himmel verdrängt die Nacht. Wenn ich um 3.30 Uhr meinen Dienst angetreten habe, müsste ich dann nicht spätestens um 13.30 Uhr Feierabend haben? Ich freue mich – jedoch zu früh. Gegen 10 Uhr – ich bin noch gut eine Stunde von zu Hause entfernt – klingelt das Telefon: „Daciana!“ keift es aus dem Hörer. Meine Stimmung fährt endgültig in den Keller. „Wo bist du gerade?“

Mist. Das bedeutet alles, nur nichts Gutes.

„Nahe Mengen.“

„Gut. Fahre direkt zu Hart, Stahl laden ...“

Hart-Stahl ist der größte Kunde der Spedition. Allein zwanzig Fahrzeuge der Spedition fahren fest für das Unternehmen.

„... dann nach Berlichingen und dann nach Jagsthausen, abladen. Dort bis morgen stehenbleiben und dann nach Backnang zu Vögler, laden, dann zurück auf den Hof und ins Wochenende.“

Dann ... dann ... dann ... Letzteres sollte wohl versöhnlich klingen.

Ich bin so baff, dass es mir erst die Worte verschlägt.

„Klar ...???“, schnarrt es fordernd.

„Äh, hör mal, das ist doch nicht dein Ernst. Du weißt, dass ich seit 3.30 Uhr unterwegs bin. Hast du schon mal was von Arbeitsgesetzen gehört?“, erlaube ich mir zu erwidern. „ICH HABE FEIERABEND!!!“

„Hör mal zu: ICH sage dir, WANN DU Feierabend hast“, blafft sie zurück.

„Ich habe nichts dabei, keine Zahnbürste ... kein ... nichts“, insistiere ich.

„Ihr Dippen geht mir auf den Nerv, wie im Kindergarten.“ Ihr rumänischer Akzent schlägt durch – Dippen statt Typen. „Muss man Euch alles sagen ... IHR HABT IMMER EURE SCHLAFSACHEN DABEI ZU HABEN!!!“, schreit sie in den Hörer.

„Ich mache nur Tagestouren“, kontere ich.

„Trotzdem!“

Sie knallt den Hörer auf. Eine Stunde später rolle ich bei Hart-Stahl vor und melde mich bei dem Disponenten Eugen Hofer. Er ist ein Fett- und charakterlicher Drecksack mit gut 160 Kilo Lebendgewicht. Er lässt während seiner Arbeitszeit gut drei Liter Cola und Limo durch seine Kehle rinnen. Dazu verputzt er mehrere Wurstbrötchen. Hofer ist ein Menschenschinder par excellence. Was ist nur los in dieser Branche? Warum soviel Unfreundlichkeit?

Ich sage mein Sprüchlein auf und er erhebt sich schnaufend, um die Ladeliste aus dem Drucker zu lassen. Bereits der Weg vom Schreibtisch dorthin lässt ihn schnaufen wie ein altes Dampfross, der Schweiß perlt auf seiner Stirn. Er trägt ein Holzfällerhemd, das oben weit geöffnet ist und den Blick auf sein verwaschenes und ausgeleiertes Feinrippunterhemd freigibt. Darunter quellen angegraute Brusthaare hervor, die meinen Blick fesseln. Soviel Hässlichkeit kann faszinieren. Wortlos knallt er die Liste auf die Theke und ich schrecke aus meinen Gedanken.

Ich setze mich wieder ins Fahrzeug und warte auf Einlass. Ich soll 25 Tonnen Feinbleche laden. Na, das geht zügig und einfach. Anders wäre es mit einer Mischladung aus Langmaterial und sonstigen Formaten. Man muss dann Tetris spielen, um alles unterzubringen.

Es ist soweit, der Lademeister winkt mich in die Halle. Es ist Thadeusz, ein Pole, ein freundlicher Mensch, einer von wenigen. Aber auch ein Schlawiner und fauler Sack. Ich öffne das Verdeck des Aufliegers, bereite die Spanngurte und Antirutschmatten vor. Schon schwebt das erste Blech-Paket per Deckenkran auf die Ladefläche. Vier Pakete finden hintereinander Platz. Als Thadeusz fertig ist, stempelt er die Ladeliste ab und meint: „Na, jetzt noch bis da hoch. Arme Sau. Ich habe jetzt Schichtende.“

„Danke für dein Mitgefühl.“, erwidere ich kurz und knapp.

Endlich fertig, es geht los. Ich rufe wieder meine Frau an, will Trost haben.

„Susanne, Liebste, es ist zum Kotzen, ich komme erst morgen nach Hause. Ich mag echt nicht mehr.“

„WAAAAAAAAAS???“, ruft sie empört in den Hörer. Susanne besitzt eine saalfüllende Stimme. „JA SIND DIE DENN NOCH NORMAL? DIE wollen auch alles, die letzte Faser deines Lebens und das für den beschissenen Verdienst. HÖRT DIE SKLAVEREI DENN NIE AUF? Armer Schatz, halte durch, ich warte auf dich.“

Susannes Worte bauen mich auf. Durchhalten ... durchhalten ... nur wie lang? Nein, die Sklaverei hört nie auf. Sie hat nur ein freundlicheres Gewand und etwas mehr Komfort. Man wird nicht mehr ausgepeitscht und wohnt nicht mehr in Onkel Toms Hütte.

21.15 Uhr. Ich stehe beim letzten Kunden in Jagsthausen und nehme den unterschriebenen Lieferschein in Empfang. Die Firma liegt in einem noch nicht vollkommen erschlossenen Gewerbegebiet. Es ist dunkel, der Wind pfeift durch die Ladegasse. Es ist Pause. Überall stehen in kleinen Gruppen Arbeiter herum, rauchen und schweigen. Es sind Osteuropäer, soviel verstehe ich. Der Vorarbeiter kommt zu mir und startet ein Gespräch. Nachdem er sich über seinen lokalen Lieblingsfußballverein begeistert hat, senkt er plötzlich seine Stimme.

„Die Typen hier, alles Russen, da muss man vorsichtig sein ... alles eine Bande. Schau nur, wie sie lauernd herumstehen“, flüstert er.

„Echt?“, erwidere ich überrascht. Zugegeben: Die Jungs kommen mir von Anfang an nicht koscher vor. Aber vielleicht sind sie auch nur arme Schlucker – so wie ich.

„Es ist kein Vergnügen, mit denen in einer Schicht zu sein. Man muss dauernd auf der Hut sein“, klagt er weiter. „Ich bin schon glücklich, dass du ein deutscher Fahrer bist. Sonst tauchen hier auch nur Rumänen, Bulgaren und sonstige Balkanesen auf, sprechen null Deutsch.“

„Ja, wir haben es alle nicht leicht“, weiß ich nur zu sagen.

Endlich fertig. Es ist 20.50 Uhr. Ich rufe meine Liebste an.

„Hi, Schönste, bin jetzt fertig. Wie geht es zu Hause?“

Als wir unser Gespräch beenden, geht es mir etwas besser. Ich überlege, ob ich doch ein Weichei bin. Tausende von Kollegen machen diesen Job Jahrzehnte, manche wollen ihn sogar tun, finden Lkw-fahren super und können sich keine Schreibtischtätigkeit vorstellen. Und ich jammere mir einen ab. Trotzdem: Das kann und darf nicht normal sein. Neulich las ich, dass die Selbstmordrate unter Lkw-Fahrern auf Platz vier liegt. Viele sitzen mit Depressionen am Steuer. Wie ich viele Fahrerkollegen kennengelernt habe, ist das Zugeben der seelischen Schieflage unter harten Kerlen verpönt. Man hat ja Diesel im Blut, ist Profi. Na ja, ich nicht, und dazu stehe ich: Es geht mir beschissen.

Ich fahre noch bis zur nächsten Ladestelle für den kommenden Tag. Ich parke, ziehe die Vorhänge zu, werfe die Standheizung an. Es ist jetzt 21.30 Uhr. 18 Stunden im Einsatz! Wenn das das Fahrerleben ist, habe ich gründlich ins Klo gegriffen. Ich lege mich auf die Pritsche, decke mich mit meiner Jacke zu. Ich habe ja nichts dabei. Ohne geputzte Zähne, nur eine halbe Flasche Wasser dabei, ohne Essen – danach ist mir eh nicht, immerhin: 15 Kilo habe ich in den letzten Monaten verloren – falle ich sofort in einen erschöpften Schlaf. Ich träume von Morgen, vom Feierabend, von zu Hause, von einem anderen Leben, von meinem vergangenen Redaktionsalltag, von .... Ach, Scheiße.

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