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ОглавлениеÜbersicht: Blockbuster – Daten, Beispiele und eine Definition
Kein Trend ohne eine große Zahl von Beispielen: Das gilt auch und gerade für die Blockbuster-Ausstellungen. Parallel zu dem in den 1980er-Jahren einsetzenden Museumsboom mit vielen Neubauten von Kunstmuseen19 hat auch die Zahl der großen Publikumsausstellungen der Kunst sprunghaft zugenommen. Der Trend hat längst eine paradoxe Situation geschaffen: Während jeder Blockbuster als Inbegriff des einzigartigen Kunsterlebnisses einen solitären Charakter beanspruchen muss, sorgen immer neue Exemplare dafür, dass sich die Gattung selbst inflationiert. Das Format gehorcht dem Bewegungsgesetz der permanenten Steigerung – auch deshalb, weil es in eine ganze Struktur dynamischer Prozesse eingebunden ist. Immer mehr Museen, immer sensationellere Architekturkonzepte, immer kostbarere Leihgaben, zahlreichere Sponsorengelder, höhere Besucherzahlen: Das Format des Blockbusters steht unter dem Druck einer Erwartung, der es selbst immer neue Nahrung liefert. Blockbuster sind die großen Beweger der Kunstwelt – unter der Bedingung, dass sie selbst hinreichend große Dynamik entfalten.
Bislang funktioniert dieses Prinzip bestens. Das Paradebeispiel eines Blockbusters der Kunst war 2004 in Berlin zu besichtigen. Das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) zeigte 200 seiner Meisterwerke in der Neuen Nationalgalerie. Der Anlass dieser Präsentation mutete unspektakulär an: Das MoMA schickte Hauptwerke seiner Kollektion für die Entstehungszeit eines Erweiterungsbaus auf die Reise – mit Berlin als einziger Station. Die Zahlen dieser Ausstellung haben ihren geradezu hochexplosiven Charakter hingegen bis heute bewahrt. Zur Erinnerung: 1,2 Millionen Besucher, ein Tagesrekord von 11.800 Besuchern (28. August 2004), 182.000 verkaufte Kataloge, 580.000 verkaufte Postkarten, eine längste Verweildauer in der Ausstellung von zehn Stunden, eine längste Wartezeit von zwölf Stunden.20 Damit stellte die Berliner Ausstellung gleich eine ganze Reihe von Bestmarken auf, die sich zu einem einzigen Szenario der Beeindruckung verdichtet haben.
Ebenso imposant: Während vor dem Start der Ausstellung fast kein befragter Berliner Passant sagen konnte, was denn die Abkürzung MoMA bedeuten könnte, waren während des Ausstellungsverlaufs 99 Prozent von 1.000 befragten Berlinern auf dem Laufenden. Das Detail zeigt, wann ein Blockbuster als Kulturevent und Marketingaufgabe funktioniert: wenn es gelingt, Gegenstand und Thema der Ausstellung wie eine Marke möglichst vielen Adressaten so präsent zu machen, dass ihnen der Besuch als unumgängliches Muss erscheint. Zur Berliner MoMA-Schau – die Kurzbezeichnung hat in der kulturpolitischen Diskussion inzwischen fast den gleichen faszinierenden Klang wie der sattsam bekannte »Bilbao-Effekt« – gehört deshalb untrennbar das pinkfarbene Plakat, das allein das Wort »MoMA« in goldenen Lettern zeigte.
Die Berliner Ausstellung markierte nur den vorläufigen Höhepunkt eines Trends, der sich bereits in den Jahren zuvor verdichtet hatte. Schon vor eineinhalb Jahrzehnten bestimmten Großausstellungen der Kunst wie auch der Kulturgeschichte die Kulturszene. Als »Spektakel für reisende Bilderstürmer«21 firmierten Ausstellungen, die schon seinerzeit über eine Million Besucher anziehen konnten, wie etwa eine Cézanne-Ausstellung in Paris und London. Monet zog schon 1995 rund 965.000 Besucher in das Art Institute Chicago. Immerhin 572.000 Besucher bewunderten 1993 die Kunstschätze der russischen Sammler Morosow und Schtschukin im Essener Museum Folkwang. Diese Bestmarke hat in dem Museum bis heute Bestand. In diesen Jahren demonstrierte Götz Adriani mit seiner Tübinger Kunsthalle, dass auch abseits der Kunstmetropolen große Publikumsausstellungen möglich sind. 430.000 Besucher sahen 1993 in Tübingen die Werke Paul Cézannes – nur ein Beispiel für eine ganze Reihe von Erfolgsausstellungen in der kleinen Universitätsstadt.
Inzwischen hat sich der Erfolg der Blockbuster gefestigt. Rekordmarken werden auch in diesem sich über Spitzenwerte definierenden Segment nicht mit zuverlässiger Regelmäßigkeit erreicht. Dafür werden immer wieder Besucherzahlen von rund 200.000 oder 300.000 für eine Ausstellung erzielt. Seit der MoMA-Schau haben mehrere Ausstellungen dieses Ziel bei den Besucherzahlen erreicht. Das kann als Zeichen für ein immer besser funktionierendes, weil inzwischen professionalisiertes Management der Museen gewertet werden. Zudem haben die Erfolge früherer Blockbuster ganz offensichtlich dazu beigetragen, dass sich ein großes Kunstpublikum herausgebildet hat, das für die Events unter den Ausstellungen zuverlässig zu begeistern ist. Der »Hype um Kunstschauen«22 avancierte in den letzten Jahren zum Normalfall. Als Besonderheit hat er sich so weit abgeschwächt, dass sein Ausnahmecharakter zuweilen kaum noch wahrgenommen wird. Die extrem lange Warteschlange vor dem Museumseinlass, anlässlich der Berliner MoMA-Schau noch als Sensation bestaunt, gehört inzwischen beinahe zum erwarteten Inszenierungselement jedes Blockbusters.
Auch andere Elemente, die in Berlin seinerzeit noch überraschten, haben sich als gängige Museumspraxis eingebürgert, soweit es sich um die ganz großen Publikumsausstellungen handelt. Nicht ganz zwei Jahre nach der MoMA-Schau folgte die Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen dem Beispiel der auf einen Ausstellungstitel als Markennamen reduzierten Plakatkampagne, als sie ihre Matisse-Ausstellung mit Plakaten ankündigte, die den bloßen Nachnamen des Künstlers wie eine bekannte Markenbezeichnung isoliert aufführten. Mit 295.000 Besuchern fügte sich dieses Ausstellungsereignis ebenso in die Reihe der Blockbuster-Präsentationen wie die Schau Marc, Macke und Delauney, die im Hannoveraner Sprengel Museum 2008 einen ähnlich hohen Besucherzuspruch verzeichnen konnte. Noch erfolgreicher schnitt die Ausstellung Van Gogh. Felder in der Bremer Kunsthalle ab. Mit 322.000 Besuchern wurde sie 2002 im Publikumszuspruch bundesweit nur von der Documenta 11 übertroffen. Das Bremer Haus kultiviert seine Serie großer Publikumsausstellungen seit Mitte der 1990er-Jahre. Nur noch ein Beispiel aus dieser inzwischen langen Erfolgsgeschichte: Zu Monets Camille und das Frauenbildnis des Impressionismus kamen 2005 rund 230.000 Besucher. Allein diese Ausstellung erbrachte in Bremen nur durch ihre Besucher einen geschätzten Mehrumsatz von sieben bis acht Millionen Euro.
Das Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum fügte der Kette der Blockbuster-Schauen mit Monet ein besonders erfolgreiches Beispiel an. Knapp 300.000 Besucher kamen, um mit dieser Ausstellung die, laut Museumsangaben, erste deutsche Monet-Retrospektive zu sehen. Die inzwischen stattlich angewachsene Kette der Blockbuster verlängerte das bereits genannte Essener Museum Folkwang im Jahr der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 auf eindrucksvolle Weise. Das nach einem Entwurf des Architekten David Chipperfield neu errichtete Museum zog mit einer Ausstellung der rekonstruierten Kollektion des Museumsgründers Karl-Ernst Osthaus im Frühjahr 2010 unter dem Titel Das schönste Museum der Welt 320.000 Besucher an. Im gleichen Jahr folgte in Essen die Schau Bilder einer Metropole mit Paris-Bildern der Impressionisten, für die sich 270.000 Museumsgänger interessierten – wieder ein Beispiel für eine Schau mit Ambition im Hinblick auf die präsentierte Spitzenkunst und die anvisierte Besucherzahl. Allein mit den beiden genannten Ausstellungen mobilisierte das neu eröffnete Folkwang 2010 rund 600.000 Besucher.
Den genannten Ausstellungen wären weitere an die Seite zu stellen; sie sind ohnehin weit überwiegend nur dem deutschen Sprachraum entnommen. Andere Schauen, etwa in Paris und London wären zu zitieren, ebenso die längst etablierten Formate, die zwei Künstlernamen kombinieren – ob zum intimen Zwiegespräch oder zum finalen Duell, sei dahingestellt. Zu erinnern ist hier an Ausstellungen aus den letzten Jahren wie Picasso – Matisse im Pariser Grand Palais, an Rembrandt – Caravaggio im Amsterdamer Van-Gogh-Museum oder Cézanne – Giacometti im Louisiana Museum in Humblebæk bei Kopenhagen.
Die Erfolgsgeschichte der Blockbuster hat längst ihre Spuren in der gesamten Museumsszene hinterlassen. Das zeigen jüngste Statistiken. Für das Jahr 2009 meldet der Deutsche Museumsbund knapp 107 Millionen Museumsbesuche.23 Rund 6,4 Millionen Besuche kommen für Ausstellungshäuser noch einmal hinzu. Beeindruckender als diese pauschalen Angaben selbst: Die hohen Besuchszahlen verdanken sich vor allem Sonderausstellungen und dabei insbesondere den Blockbustern.
Daneben spielen Faktoren eine wichtige Rolle, die oft mit den großen Ausstellungen einhergehen: Museen erweitern ihre Öffnungszeiten, bauen das Vermittlungsprogramm aus oder überraschen das Publikum mit An- oder Neubauten. Dabei tun sich vor allem die Kunstmuseen hervor. Sie stellen nur rund zehn Prozent aller Museen in Deutschland, bieten aber rund zwanzig Prozent aller Sonderausstellungen an. »Kunstmuseen sind deshalb so erfolgreich, weil sie so aktiv sind.«24 Diese Aktivitäten konzentrieren sich im Wesentlichen auf die großen Kunstausstellungen. Allerdings hat der Boom auch Konsequenzen. Blockbuster sichern Erfolg, werden allerdings auch als Resultate bloßen Kulturmarketings angefeindet.
Der geraffte Überblick zeigt, womit Blockbuster ebenso beeindrucken wie befremden: Sie werden als Phänomene der Rekordwerte, mithin als Arrangements bloßer Zahlen in veräußerlichter Weise wahrgenommen, diskutiert und nicht zuletzt auch geplant. Armin Zweite, seinerzeit Direktor der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, beklagte diesen Umstand im Verlauf einer Podiumsdiskussion, die sich nach Abschluss der Matisse-Ausstellung im April 2006 mit »Sinn und Unsinn von Großausstellungen«25 beschäftigte, und verlangte entschieden, über Besucherzahlen und Medienresonanzen hinaus die künstlerische Qualität der Megapräsentationen in den Blick zu nehmen. »Großausstellungen sind Ausstellungen großer Kunst und großer Themen«, definierte Peter-Klaus Schuster, bis 2008 Generaldirektor der Berliner Staatlichen Museen, in der gleichen Diskussion den Blockbuster und entsprach dem Format mit seiner eigentümlich zirkulären Formulierung auf wahrscheinlich nicht intendierte, damit aber umso instruktivere Weise. Die Großausstellung genügt sich selbst – und den von ihr markierten Rekordzahlen.
Ist das wirklich alles? Dass Blockbuster Geld verdienen müssen, damit sich der exorbitante Einsatz von Geldmitteln, Personalressourcen und nicht zuletzt Spitzenwerken der Kunst überhaupt tragen lässt, steht außer Frage. Dabei hat sich als Erfahrungswert herausgestellt, dass Budgets von Blockbuster-Ausstellungen nach folgenden Positionen in Drittel aufgeteilt werden können: ein Drittel für die Versicherungssumme, ein weiteres für Transport und Restaurierung und das dritte Drittel schließlich für Werbung, zusätzliches Personal, Katalogproduktion und weitere Posten.
Die großen Ausstellungen stehen unter dem Druck extremer Erwartungen: Sie sollen für die von Etatsorgen geplagten Museen Geld verdienen, mit hohen Besucherzahlen Argumente für den kulturpolitischen Diskurs bereitstellen, Erweiterungsbauten von Museen rechtfertigen, der örtlichen oder regionalen Ökonomie mit kulturtouristischen Effekten Impulse verleihen, das Image ganzer Städte aufpolieren. Die Qualität der gezeigten Kunst oder der Stellenwert der jeweiligen Präsentationen innerhalb der Ausstellungs- und damit auch Kunstgeschichte scheint da kaum noch eine Rolle zu spielen. Als bloßen »Teil der Wirtschaftsförderung« hat Jean-Christophe Ammann, Ausstellungsmacher und ehemaliger Chef des Frankfurter Museums für Moderne Kunst (MMK) die Blockbuster bezeichnet, sie als entäußerlichte Feier einer abgelegten Vergangenheit und als »tonnenschwere Dinos« des Ausstellungsgeschehens verabschiedet.26 Andere Museumsleute, die Blockbuster-Schauen verantworten, halten dagegen und behaupten einen genuinen Wert der Bilderdefilees im Megaformat. Das Publikum lasse sich durch bloße Riesenevents in den Museen nicht mehr täuschen, sagte Werner Spies in der bereits zitierten Podiumsdiskussion des Deutschlandfunks. Die Museumsbesucher seien längst kenntnisreich und deshalb nicht mit jedem Marketingversprechen zu locken. »Jede Ausstellung, die etwas Neues bietet, wird zwangsläufig zur Großausstellung«, so Spies.
Doch wie behalten wir nun im Gewirr der Zahlen und widersprüchlichen Statements die Übersicht? Die Antwort: Mit dem Versuch einer vorläufigen Definition des Blockbusters als Format der Kunstausstellungen in Museen und Ausstellungshäusern. Dabei stellen wir Schlüsselbegriffe voran:
Kunst: Blockbuster wählen ihre Gegenstände unter den Stars der Kunstgeschichte, vorzugsweise jenen der klassischen Moderne zwischen 1870 und 1920. Die Ausstellungen versammeln Spitzenwerke der Kunst, die als kostbare Leihgaben den Sensationswert der Präsentation unterstreichen.
Besucher: Blockbuster wenden sich an ein denkbar breites Publikum, das den Kreis der Kunstkenner weit überschreitet. Zum Format gehören hohe Besucherzahlen von mindestens 200.000 Besuchern. Oft liegt dieser Wert noch weitaus höher.
Event: Blockbuster durchbrechen die Routine des Ausstellungsbetriebs. Sie stellen Spitzenereignisse dar, die ein außergewöhnliches Kunsterlebnis versprechen, das nicht wiederholbar ist. Der Blockbuster wird mit einer Fülle gesonderter Formate wie Vernissagen, Diners, Führungen und so weiter als Event inszeniert.
Marketing: Der Blockbuster wird mit einer Marketingkampagne am Markt der Kultur- und Freizeitangebote platziert. Ein erheblicher Teil seines Budgets fließt in die Werbung. Publikum wird auf diese Weise gezielt akquiriert.
Finanzierung: Blockbuster benötigen Etats in einer Höhe, die in der Regel nicht mehr oder nur noch zu einem Teil über öffentliche Haushalte zu finanzieren sind. Den Geldbedarf von Blockbustern decken in praktisch allen Fällen Sponsoren und Stiftungen.
Medien: Blockbuster werden mit ihrem Sensationswert und ihrem hohen Marketingaufwand auch zum Gegenstand medialer Darstellung. Dies gehört auch zu der Strategie einer Finanzierung durch Sponsoren, die im Gegenzug für ihre Zuwendungen eine Kommunikationsleistung in Anspruch nehmen dürfen.
Diese vorläufige Definition schafft nicht nur einen ersten Überblick, sie bereitet auch vor, was nun folgen soll: eine tiefer gehende Analyse des Formats.
Dies geschieht in zwei Schritten: Zunächst werden beispielhaft konkrete Ausstellungen vorgestellt. Dann werfen wir einen Blick auf die Struktur eines idealtypischen Blockbusters.
»Eine Ausstellung muss vor allem sinnvoll sein.« Gespräch mit Götz Adriani, Kunsthalle Tübingen
Von Blockbustern sprach man bislang vor allem mit Blick auf Kinofilme. Inzwischen werden auch große Publikumsausstellungen als Blockbuster bezeichnet. Können Sie mit diesem Wort etwas anfangen?
Meines Wissens war die ursprüngliche militärische Bedeutung absolut negativ besetzt. Das hat sich allmählich geändert. Letztendlich geht es um massentaugliche Events in einem überhitzten Ausstellungsbetrieb. Als in den 1980er- und 1990er-Jahren Ausstellungen mit ausnehmend hohen Besucherzahlen in Tübingen stattfanden, gab es den Begriff in dieser Form noch nicht.
Sie haben mit Ausstellungen in der Kunsthalle Tübingen schon früh große Erfolge beim Publikum erzielt. Sehen Sie sich als Erfinder des Formats der Kunst-Großausstellung?
Man zählt mich wohl zu diesem Erfinderkreis. Allerdings war mein Ausgangspunkt immer der der Qualität und nicht der der Quantität. Eine Ausstellung muss nicht groß sein, sie muss gut sein und dadurch die Besucher überzeugen. Nicht zuletzt deshalb habe ich mich niemals einem auf leichte Konsumierbarkeit erpichten Publikum populistisch angedient. Mein Ziel war und ist es anspruchsvolle Ausstellungen zu verwirklichen, die es in dieser Form in Deutschland oder im deutschsprachigen Raum noch nicht gegeben hat. Heute ist es zugegebener Maßen schwieriger diesbezüglich erfolgreich zu sein, da die Konkurrenzsituation größer ist. Das Alleinstellungsmerkmal der Tübinger Ausstellungen von Cézanne, Degas und Renoir bis zu Rousseau oder Picasso – aber auch von Polke, Beuys, Warhol und anderen – war seinerzeit vorhanden und ein entscheidender Faktor für den Publikumszuspruch.
Ist die Zeit dieser Erfolge für Tübingen vorbei?
Es wird in der Tat komplizierter, etwas zu realisieren, was es noch nicht gab. Ich habe vor allem Wert darauf gelegt, die nach meinen persönlichen Interessenlagen ausgewählten Ausstellungen wissenschaftlich zu bearbeiten und mit entsprechend fundierten Katalogen zu versehen. Insbesondere diese Qualitäten, das heißt die spezifischen Inhalte und ihr wissenschaftlicher Anspruch, haben dafür gesorgt, dass die Kunsthalle Tübingen Erfolge zeitigen konnte und auf die Landkarte der international anerkannten sowie vielfach besprochenen Kunstziele gekommen ist. Mir ist klar, dass Erfolge nicht perpetuierbar sind und andere Institutionen jetzt versuchen, auf ähnlichen Schienen zu fahren. Doch das Schienennetz wird immer enger und das Verkehrsaufkommen dichter, sodass Pannen und Reinfälle vorprogrammiert sind.
Das Repertoire ist ja begrenzt.
Meine Chance war es, noch »Marktlücken« ausfindig machen zu können und diese mit attraktiven Inhalten zu füllen. Wahrscheinlich konnte man es sich einfach nicht vorstellen, dass es im deutschsprachigen Raum vor Tübingen keine Ausstellungen mit Werken von Degas, von Renoir, von Rousseau und anderen gegeben hatte und dass Cézanne, Degas oder Toulouse-Lautrec noch nie in diesem Umfang gezeigt worden waren.
Mit Blick auf ihre Ausstellungserfolge haben sich schon viele gefragt: Wie macht der Adriani das bloß? Was war Ihr Erfolgsrezept?
Ich konnte zum richtigen Zeitpunkt wichtige Ausstellungen realisieren, da mich im In- und Ausland zahlreiche private Leihgeber sowie die Kollegen der öffentlichen Sammlungen, die mir über viele Jahre freundschaftlich und kollegial zur Seite gestanden sind, großzügig unterstützt haben. Im Gegensatz zu den oft gigantischen Etats, die inzwischen gang und gäbe sind, hatten wir über dreißig Jahre lang einen jährlichen Ausstellungsetat von 80.000 DM, sprich 40.000 Euro! Damit stellten meine Mitarbeiterin, Frau Engelhardt, und ich, ohne zusätzliche Hilfstruppen geschweige denn entsprechende Marketing- und Werbeteams, die genannten Projekte auf die Beine gestellt. Das wäre heute undenkbar. Ich verließ mich darauf, dass wir unsere Vorhaben, die damals schon Versicherungswerte in Milliarden-DM-Höhe hatten, durch den erhofften Besucherzustrom würden finanzieren können. Nach derzeitigen Kriterien mag es naiv erscheinen, das Risiko einzugehen, mit 40.000 Euro im Rücken Ausstellungen zu stemmen, die Millionen kosteten.
Aber Sie hatten doch Sponsoren?
Wir hatten bei einigen der erwähnten Ausstellungsereignisse Daimler als Sponsor, wobei in erster Linie Ausfallgarantien übernommen wurden, die wir allerdings nie in Anspruch nehmen mussten.
Was halten Sie von den Erwartungen, die Kulturpolitiker und Marketingfachleute an Großausstellungen knüpfen?
Die Ausstellungen in Tübingen haben der Stadt tatsächlich viel Geld gebracht. Bei den Gemälden Cézannes oder Renoirs waren es jeweils rund 25 Millionen DM, die die städtische Wirtschaft durch Umsätze vereinnahmen konnte. Das ist für Politiker eine höchst attraktive Begleiterscheinung. Die Gefahr dabei ist, dass sich mancher dazu verleiten lässt, die gleichen Erfolge immer wieder einzufordern. Das geht natürlich nicht. Politiker müssen auch bereit sein, Durststrecken mitzufinanzieren, in denen es eben nicht um hohe Besucherzahlen gehen kann. Unsere Aufgabe als öffentliche Einrichtungen ist es, nicht nur publikumsträchtige Ausstellungen vorzusehen, sondern auch solche, die diese Erwartungen nicht erfüllen können, die uns aber dennoch wichtig sind und am Herzen liegen. Ich habe in der Kunsthalle immer wieder zeitgenössische Kunst gezeigt. So hatten wir bei der ersten Sigmar-Polke-Retrospektive, die 1976 in der Kunsthalle Tübingen stattfand, kaum 600 Besucher. Auch eine solch geringe Besucherresonanz sollte von der Politik, das heißt von den Geldgebern, im Zusammenhang gesehen und akzeptiert werden.
Sie haben ja nicht nur Geld für die Stadt, sondern auch für die Kunsthalle verdient.
Die Gewinne kamen sowohl dem Neubau eines Verwaltungsgebäudes als auch der 2003 errichteten Stiftung Kunsthalle Tübingen zugute. Dafür brachte die Stadt die von uns im Laufe der Jahre erwirtschafteten Mittel in Höhe von rund sechs Millionen Euro ein. Aus den Erträgen des Stiftungskapitals stehen der Kunsthalle seit 2004 rund 200.000 Euro zur Verfügung.
Sie haben die höchste Besucherzahl 1993 mit den Gemälden von Cézanne erreicht. Damals kamen in drei Monaten 430.000 Besucher in die Kunsthalle Tübingen, und es wurden im selben Zeitraum rund 250.000 Kataloge verkauft. Auch die Renoir-Ausstellung konnte ähnliche Zahlen aufweisen. Aber diese Erfolge gab es ja auch nicht aus dem Stand?
Wir hatten 1978 mit knapp 200 Exponaten erstmals das zeichnerische Werk Cézannes umfassend gezeigt. Damals kamen 30.000 Besucher, darunter kompetente Sammler, die sich für den in Tübingen ausgestellten, bislang nur wenig beachteten Aspekt des cézanneschen Œuvre interessierten. Das hat bei der zweiten Ausstellung mit 123 Cézanne-Aquarellen erheblich weitergeholfen und bei der dritten mit fast 100 Gemälden des Künstlers erst Recht. Wie Sie sehen, habe ich mich Schritt für Schritt an das Thema, an die Leihgeber und an die Besucher herangetastet. Dabei sind deren Zahlen über die Jahre hinweg enorm gestiegen. Nach dem Motto: »Jetzt machen wir auch mal eine Blockbuster-Ausstellung« haben es einige Städte auf ihre Art mit Ausstellungsschnellschüssen in ungeeigneten Stadt- und Messehallen versucht. Aber das funktioniert nicht. Man braucht Jahre, um das Gelingen entstehen zu lassen, um bekannt zu werden und vor allem das Vertrauen der renommierten Sammler und der Kollegen an den Museen weltweit zu gewinnen. Das war nicht immer einfach, zumal die Kunsthalle Tübingen als Ausstellungsinstitut ohne eigenen Bestand, auf Leihgaben nicht mit Gegengaben reagieren kann. Das Gespür für jenes langsame und oft mühsame Wachstum der Projekte, das schließlich zum Erfolg führt, das vermisse ich heute.
Gab es Blockbuster-Ausstellungen in den letzten Jahren, die Sie für missglückt oder überflüssig halten?
Gewiss trifft es zu, dass sich das Format der Großausstellungen zunehmend veräußerlicht. Es wird zu sehr auf Werbung, Marketing und Design abgehoben und zu wenig auf die innovativen Momente. Eine Ausstellung muss ja vor allem Sinn machen. Zum Beispiel finde ich es begrüßenswert, dass in Frankfurts Städel-Museum Elsheimer, Cranach oder Botticelli thematisiert wurden. Das hat natürlich mit Marketing zu tun, aber solche Ausstellungen sind zunächst in besonderer Weise inhaltlich begründet.
Wie verändern Großausstellungen die Wahrnehmung von und den Umgang mit Kunst?
Die Wahrnehmung von Kunst aber auch von deren Vermarktung durch den Handel, durch Spekulanten oder durch sogenannte Kuratoren und deren Kolporteure war noch nie so weitreichend und undifferenziert wie im Augenblick. Und niemals zuvor bot die Kunst derart willfährig den Rahmen für die globalen Jahrmärkte der Eitelkeit. Man fragt sich, ob die von Ihnen genannte Wahrnehmung mit dem Wahr-Nehmen im Wortsinne zu tun hat oder ob sie im Falle der Blockbuster nur noch eine Möglichkeit ist, den Städtetourismus anzukurbeln. Für uns stellte sich zu keiner Zeit die Frage nach Marketingstrategien, geeigneter Reklame, nach Plakatierungen, Anzeigeschaltungen und ähnlichem. Das alles gab es in Tübingen nur vereinzelt, da einfach die Mittel dafür fehlten. Stattdessen waren wir in besonderem Maße auf die Hilfe der Medien angewiesen. Man gewinnt zunehmend den Eindruck, als liefen Werbekampagnen, Ausstellungsdesign, Museumsshops und modisch gestylte Ausstellungscafés den eigentlichen Ausstellungsinhalten und deren fachkundiger Erarbeitung den Rang ab. Mehr und mehr scheint das Wie vor dem Was zu rangieren, der zu erzielende Umsatz vor den thematischen Beweggründen. Offenbar ist die Peripherie auf dem besten Wege das Zentrum in den Schatten zu stellen.
Blockbuster erreichen weiterhin ein großes Publikum. Wie sehen Sie die Zukunft dieses Formats?
Ich sehe dafür nur dann eine Zukunft, wenn es gelingt, interessante Themen ausfindig zu machen und außergewöhnliche Ideen unter verschiedensten Gesichtspunkten umzusetzen. Ausstellungen – ob groß oder klein, ob Blockbuster oder nicht – sind sinnvoll, wenn neue Themenstellungen zur Diskussion gestellt und von alternierenden Blickwinkeln aus beleuchtet und interpretiert werden.
Sehen Sie Möglichkeiten, das Repertoire für solche Ausstellungen zu erweitern?
Tatsache ist, dass die alten Meister in diesem Segment immer noch am Rande stehen. Umso mehr freut es mich, wenn auch Ausstellungen wie die genannten im Städel ihr Publikum finden. Dass Warhol oder Beuys inzwischen genauso populär sind wie die Künstler der klassischen Moderne ist unbestritten. Neue »Klassiker« rücken nach, wie Richter, Baselitz, Polke oder Kiefer. Sie sind einem breiten Publikum bekannt und erreichen im internationalen Ausstellungsreigen entsprechende Besucherzahlen. Dennoch wage ich zu bezweifeln, dass sich der Kunstboom heutigen Zuschnitts, mit all seinen marktschreierischen Auswüchsen, auf diesem exorbitanten Niveau fortentwickeln wird. Auch muss man davon ausgehen, dass die hauptsächlich auf den Fetisch Besucherzahlen hinsteuernden, ansonsten nur wenig ambitionierten Blockbuster-Schauen kaum auf Dauer reüssieren können.