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Über Eigennutz und Altruismus

Sich selbst zu lieben ist der Beginn einer lebenslangen Romanze.

Oscar Wilde

Die Eigenliebe dient unserer Selbsterhaltung. Insofern gleicht sie dem Fortpflanzungsorgan. Auch dieses ist unentbehrlich, ist uns lieb und wert, bereitet uns Freude – und wir müssen es verstecken.

Voltaire

Wir Menschen besitzen eine egoistische Natur, die dazu führt, dass wir bei allem, was wir tun, an uns selbst denken, auch wenn wir uns dessen häufig nicht bewusst sind. Natürlich tun wir auch viel für andere Menschen und unterstützen Projekte, die uns keinen sichtbaren Vorteil einbringen. Dabei übersehen wir aber, dass wir dies zumeist nur dann tun, wenn es sich um Menschen und Projekte handelt, die uns in irgendeiner Weise wichtig sind: Menschen, die wir lieben und schätzen, oder Projekte, deren Zielsetzungen uns am Herzen liegen. Wenn wir gegen unseren Wunsch Menschen oder Projekte unterstützen, dann sind es in der Regel persönliche oder gesellschaftliche Verpflichtungen oder Zwänge, die uns dazu veranlassen.

Grundsätzlich aber streben wir zur Eigenprivilegierung, wobei unter Egoismus oder Eigennutz nicht nur die Vorteilssuche für die eigene Person zu verstehen ist, sondern auch die Bevorzugung der uns nahestehenden Menschen, denen wir wohlgesonnen sind (Freunde und Familie sowie Menschen, denen wir uns verpflichtet fühlen, die uns wichtig sind, aus welchen Gründen auch immer). Das Leid derjenigen, die nicht dazugehören, bekümmert uns mehr oder weniger auch, doch die Bereitschaft, sich zu engagieren und daran etwas zu ändern, ist bedeutend geringer als bei uns selbst und bei unseren Lieben. Diese Vetternwirtschaft, auch Nepotismus genannt, ist uns Menschen in aller Welt vertraut, aber aufgrund der gesellschaftlich unterschiedlich ausgeprägten Stigmatisierung tritt sie in manchen Kulturen offener zutage als in anderen. So wird z. B. die Frage, ob man seinen Onkel wegen eines Vergehens anzeigen sollte, in unterschiedlichen Kulturen auch unterschiedlich beantwortet. Diese Bevorzugung der eigenen Sippe und der Menschen, die uns wichtig sind, ist sehr wahrscheinlich das evolutionäre Erbe einer vergangenen Zeit, in der unsere Vorfahren durchweg noch in überschaubaren Gruppen gelebt und sich zum Wohle des Individuums und der Gruppe gegenseitig unterstützt haben. Und in diesem Sinne neigen wir auch heute noch dazu, unsere Beziehungen innerhalb von Kleingruppen wie Familie, Freundeskreis oder Vereine durch gegenseitige Bevorzugung zu stabilisieren.

Unser stets vorhandener Hang zur Eigenprivilegierung wird gerade in den freien Gesellschaften wie auch in den Religionen als niederer Instinkt betrachtet und als solcher auch stigmatisiert. Das hat er aber nicht verdient, denn im Gegensatz zu den echten niederen Instinkten wie Neid, Missgunst, Aggression oder Rache ist der Eigennutz nicht primär gegen unsere Mitmenschen gerichtet, sondern Ausdruck eines uns innewohnenden Hangs zur Selbstfürsorge. Aufgrund unserer gesellschaftlichen Prägung tendieren wir daher zu einer Scheinmoral. Viele psychologische Studien haben gezeigt, dass wir Wert darauf legen, gerecht und altruistisch zu erscheinen, aber sobald es uns möglich ist, neigen wir dazu, uns unseren Eigeninteressen hinzugeben. Das geschieht nicht immer ohne Scham und oft versuchen wir dabei, den Hang zum Eigennutz zu verdrängen oder unter einer Decke nobler Umgangsformen zu verstecken, aber er wird stets dafür sorgen, nicht übergangen zu werden. So sollte es einen gesellschaftlich offeneren Umgang mit der Moral geben: Ein jeder hat die gesellschaftlichen Pflichten und Gesetze zu respektieren, aber daneben sollte der uns allen innewohnende Hang zum Eigennutz als natürlicher Bestandteil menschlichen Daseins betrachtet und anerkannt werden. Idealisierung von Nächstenliebe und Solidarität sowie Stigmatisierung des Eigennutzes fördern die Scheinmoral. Der österreichische Biologe Franz Wuketits schreibt dazu: Moral- und Normensysteme, die keine Rücksicht auf unsere egoistischen und nepotistischen Neigungen nehmen, sind zum Scheitern verurteilt. Es sollte in der Ethik daher auch nicht darum gehen, diese Neigungen zu bekämpfen, sondern um mögliche Wege, mit ihnen umzugehen, mit ihnen zu leben, ohne dass sie in Gewalt und Destruktion umschlagen.1

Egoismus betrifft uns alle gleichermaßen. Die Einteilung der Menschen in Egoisten und Altruisten ist rein phänotypisch. Der Prototyp eines Karrieristen, der mit einem soliden Sinn für Lieb- und Rücksichtslosigkeit ausgestattet ist, wird leicht als Egoist bezeichnet, aber genauso gerne denkt auch der Altruist und Verfechter der Nächstenliebe an sich selbst zuerst. Wohltätig in seiner Umgebung in Erscheinung zu treten, das geht mit Anerkennung einher, und wenn es aus Überzeugung und Mitgefühl statt aus Berechnung oder Verpflichtung geschieht, dann gibt es einem auch ein gutes Gefühl. Schon nach der Geburt verfügt der Mensch über eine Veranlagung zu Empathie und Mitgefühl. Diese Fähigkeiten sind hilfreich, wenn es um das Überleben einer Gruppe und das Leben in einer Gesellschaft geht, und derlei Mitgefühl wird belohnt. Empathie und Mitgefühl zu empfinden und zu praktizieren, das gibt uns ein Gefühl der Befriedigung und berechtigt uns zu der Annahme, dergleichen auch von anderen erwarten zu dürfen. Je mehr man aber in einer Ellenbogengesellschaft lebt, in der man weder Entgegenkommen noch Rücksichtnahme erwarten darf, desto weniger wird man selbst dazu bereit sein. Ebenso ist die Bereitschaft, sich für die Gesellschaft zu engagieren, geringer ausgeprägt, wenn man darin kein gut funktionierendes Gemeinwesen kennengelernt hat. Kann man jedoch darauf vertrauen, dass Engagement und Steuerzahlen in Staat und Gesellschaft auf vielfältige Weise belohnt werden, so wächst auch die Bereitschaft des Einzelnen dazu.

Der Entwicklungspsychologe Paul Bloom weist in seinem Buch Jedes Kind kennt Gut und Böse nach, dass schon Babys ein Gespür für Gut und Böse besitzen.2 In aufwendigen Studien konnte gezeigt werden, dass die ganz Kleinen bereits Gefühle wie Mitleid, Schuld und Scham zeigen, gutes Verhalten bei anderen belohnen und schlechtes bestrafen, ohne dass dies durch den sozialen Einfluss der Eltern erklärbar war. Trotz ihrer biologischen Basis sei Moral aber keine Selbstverständlichkeit, betont der Autor. In welchem Ausmaß diese Anlagen in uns entwickelt oder gehemmt werden, das entscheide sich erst im Rahmen der Sozialisation. Wir können also davon ausgehen, dass zumindest Anteile unserer Persönlichkeit biologisch schon von Geburt an in Ansätzen formuliert in uns vorliegen.

Altruist zu sein bedeutet nicht, weniger Egoist zu sein. Jeder Mensch, der freiwillig, also ohne Zwang und ohne dabei ein Ziel zu verfolgen, Gutes tut, tut dies, weil er selbst daran Gefallen findet oder weil er es als seine Pflicht ansieht. Im freiwilligen Fall erfreut sich der Helfer seiner guten Tat und der daraus resultierenden Anerkennung. Im anderen Fall, in dem er die Hilfe ohne rechte Freude erbringt, sich aber dazu verpflichtet fühlt, sind dem Helfer gute Tat und Anerkennung eigentlich nicht so wichtig und dennoch kann sich dabei Befriedigung einstellen, weil sein Pflichtbewusstsein ihn zunächst daran hindert, diese Handlung zu unterlassen, und ihn anschließend für seine Pflichterfüllung adelt. »Gut hast du das gemacht«, sagt ihm dann sein Gewissen. »Du hast deine Aufgabe deinen Werten entsprechend und trotz fehlender Begeisterung erfüllt und du darfst dich nun mit einem Wohlgefühl dafür belohnen«. Der amerikanische Ökonom James Andreoni prägte dafür Ende der 1980er Jahre den Begriff Warm Glow Effect, ein warmes Glühen, das die Menschen beim Spenden verspüren oder wenn sie Gutes tun.3 Und selbst wenn sich danach kein echtes Wohlgefühl einstellt, so mildert sich doch oder verschwindet gar eine vorherige Missempfindung.

Problematisch wird Altruismus dann, wenn mit der Zeit das mit dem Entgegenkommen einhergehende Wohlgefühl so wichtig geworden ist, dass man als Everybody’s Darling einen Liebes- oder Respektverlust nur noch schwer ertragen kann. Es geht gar nicht darum, nüchtern und distanziert mit seinen Mitmenschen umzugehen, sondern sich seiner wahren Motive (und somit auch der aller anderen Menschen) bewusster zu werden. Wir alle streben stets danach, unser Ego entsprechend unserem Weltbild zu befriedigen, ganz gleich, auf welche Art und Weise wir uns dabei präsentieren. Wenn wir ein Macht-Ego haben, dann ist auch offene Rücksichtslosigkeit für uns eine Option. Wenn unser Ego ein eher konfliktscheues Anerkennungsbedürfnis hat, so werden wir dazu neigen, uns entgegenkommender zu verhalten. Ganz gleich, auf welche Art und Weise wir dabei handeln, wir wollen stets dasselbe: erreichen, wonach wir streben. In dieser Hinsicht sind wir alle gleich. Natürlich wissen wir Rücksichtnahme und angenehme Umgangsformen zu schätzen. Es geht darum, Altruismus nicht zu idealisieren, beziehungsweise sich bewusst zu sein, dass das Streben nach Dank und Anerkennung die Abhängigkeit von unserem Umfeld erhöht. Es geht darum, nicht bei allem, was wir tun, darauf zu achten, ob unser Umfeld gut von uns denkt. Wer immer wieder gegen seine Interessen den Wünschen anderer entspricht oder sich verbiegt, um diese nicht zu enttäuschen und Anerkennung zu erhalten, der wird mit der Zeit daran scheitern.

Kratz einen Altruisten und du siehst das Blut eines Heuchlers fließen, sagt ein Sprichwort. Dieses heuchlerische Blut fließt natürlich in allen von uns, denn jeder Mensch (abgesehen von Kleinkindern) verfügt über die Fähigkeit zur Verstellung und zur Berechnung bei dem, was er für andere tut. Aber Altruismus kann sich auch so sehr verselbstständigen, dass einem das Prinzip Gib und erhalte Anerkennung als Dank zur zweiten Haut wird. Man hat dann gelernt, seinen Verzicht sich und anderen gegenüber zu bagatellisieren, und merkt erst dann, dass etwas nicht stimmt, wenn die erwartete Anerkennung ausbleibt und man darunter leidet.

Wohltätiges Verhalten ist keineswegs durchweg heuchlerisch, aber es dient immer dem (erhofften) Eigennutz. Und so, wie man Altruismus nicht stigmatisieren darf, so soll man ihn auch nicht idealisieren, wie es in unserer Gesellschaft allzu sehr der Fall ist. Es geht darum, einen Ausgleich zu finden zwischen den Anforderungen anderer an uns und unseren berechtigten Eigeninteressen. Wenn es uns dabei gefällt, unsere Mitmenschen zu beglücken und ihnen Freude zu bereiten – ausgezeichnet! Aber wenn wir nicht genügend über die Fähigkeit verfügen, in uns selbst zu ruhen, dann können uns Auseinandersetzungen im Freundes-, Kollegen- und Familienkreis rasch in eine Krise führen, wenn uns der Entzug von Liebe und Anerkennung hart trifft. Dann erkennen wir, dass das eigene Fundament zunächst einmal in uns selbst verankert sein muss.

Von den Wertungen anderer unabhängiger zu werden und mehr in sich selbst zu ruhen, berechtigte Eigeninteressen zu definieren und zu verfolgen, das ist keineswegs gleichbedeutend mit sozialem Rückzug oder gar mit unsozialem Verhalten. Ein jeder Mensch hat sich im Alltag, in Familie, Beruf und sozialem Umfeld Tag für Tag mit seinen Mitmenschen zu arrangieren und natürlich auch Rücksicht auf diese zu nehmen. So wie es unsere Pflicht ist, sich an die gesellschaftlichen Regeln und Gesetze zu halten. Wenn wir darüber hinaus permanent daran arbeiten, möglichst viele Likes zu erhalten, dann wird uns das auf Dauer überfordern und uns in unserer Unabhängigkeit schwächen.

Egoismus ist nicht zwangsläufig gegen andere Menschen gerichtet. Egoismus wird meist als Eigensucht betrachtet und als nicht vereinbar mit Rücksichtnahme und sozialem Verhalten, aber das ist nur ein Teil des Eigennutzes. Egoismus ist auch eine Art Fürsorge für sich selbst und in dieser Hinsicht ist Egoismus auch die Basis von Harmonie. In einer harmonischen Beziehung ist der Partner ein Mensch, den wir wertschätzen, und für jemanden, den wir schätzen und lieben, sind wir gerne zu Kompromissen und Entgegenkommen bereit, denn von denen, die wir schätzen oder lieben, möchten wir ebenso geschätzt oder geliebt werden. Für viele prominente Menschen ist es wichtig, beliebt zu sein bei ihren Fans oder in der Gesellschaft, aber viel wichtiger ist jedem von uns, dass wir von denjenigen Menschen Anerkennung und Wertschätzung erfahren, die uns nahestehen und wichtig sind, die wir mögen und deren Meinung uns viel bedeutet.

In einer harmonischen Beziehung achten wir aber auch darauf, dass es nicht ungemütlich wird, denn wenn es Ärger und Unwohlsein gibt, dann können wir die Beziehung nicht mehr genießen. Wer einmal Gefallen an einer harmonischen Beziehung gefunden hat, wird viel dafür tun, dass das auch so bleibt, und diese Bereitschaft dazu beruht auf der Sehnsucht nach dem eigenen Glück. Die Wertschätzung des Partners, die Erfahrung, selbst geschätzt zu werden, und die Freude an gemeinsamen Erlebnissen befriedigen das eigene Ego und sind somit die Basis eines gelingenden Miteinanders.

Anderen Menschen eine Freude zu sein, kann also durchaus auch Ausdruck von Egoismus sein, wenn auch wir selbst uns daran erfreuen können. Es ist dann ein Egoismus, der auch anderen gefällt, aber es bleibt Egoismus. Echte Nächstenliebe kann es nicht sein, denn bedingungslose Nächstenliebe ist nicht an den Menschen gebunden, dem zuliebe wir etwas geben. Zum Wesen der Nächstenliebe gehört, dass sie kein Freundschaftsdienst ist, der sich an von uns bevorzugte Menschen richtet. Menschen, die uns nicht am Herzen liegen, geben wir, von Gefälligkeiten abgesehen, nicht gerne. Beim Geben sind wir stets fixiert auf diejenigen Menschen und Projekte, die uns wichtig sind. Wenn wir uns darüber hinaus altruistisch engagieren, so tun wir das nur dann, wenn es uns in irgendeiner Weise Befriedigung verheißt. Woran wir aber keine Freude haben, das tun wir nicht ohne Zwang.

Altruistisches Verhalten lässt sich demnach aus dem Egoismus herleiten und der amerikanische Psychologe Robert Cialdini hat es auch dementsprechend formuliert: Für ihn ist Altruismus eine Form von Hedonismus, dem das eigene Wohlbefinden das höchste Gut ist.4 Verfechter des Altruismus lehnen diese Sichtweise verständlicherweise ab. Gerhard Scherhorn schreibt in seinem Artikel Egoismus oder Autonomie in dem Buch Das Prinzip Egoismus: Was soll (…) eigentlich bewiesen werden ? Doch nicht, dass jeder an sich selbst denkt – das ist trivial, man braucht es nicht zu beweisen. Sondern, dass jeder ausschließlich an sich selbst /denkt, dass es so etwas wie Altruismus – das Zurückstellen des eigenen Interesses zugunsten andrerer – nicht gibt.5 Richtig, genau so ist es. Solange uns Pflichten oder Zwänge nicht dazu nötigen, so lange beschränkt sich unsere Selbstlosigkeit auf das, was uns ein gutes Gefühl oder zumindest die Linderung eines Missempfindens verheißt. Wenn wir uns altruistisch für andere oder für das Gemeinwohl einsetzen, dann tun wir das, weil wir daran Gefallen finden, weil wir uns darin gefallen, wohlmeinend in Erscheinung zu treten. Wir haben dann derartige Werte verinnerlicht und es gibt uns ein Wohlgefühl, wenn wir uns unseren Werten entsprechend verhalten. Wir verhindern damit ein Missempfinden, das aufkäme, wenn wir unserem Pflichtbewusstsein nicht entsprechen würden. Wir tun es für unser eigenes Wohlbehagen, für das Wohlgefallen, das wir dafür bei anderen ernten, oder für andere Ziele, die wir damit verfolgen. Wir tun es, weil es uns ein Bedürfnis ist, und wenn es uns ein Bedürfnis ist, ganz gleich ob ein freudiges oder ein Pflichtbedürfnis, so tun wir es für uns. Echter Altruismus läge also nur dann vor, wenn wir uns entgegen unseren Wünschen, Idealen oder Bedürfnissen selbstlos verhalten würden. Ohne innere oder äußere Zwänge existiert ein solches Verhalten meines Erachtens nicht.

In der Tierwelt kennen wir einige Verhaltensweisen, die recht altruistisch erscheinen und schon Darwin fand keine befriedigende Erklärung dafür, dass Tiere sich selbst (und somit auch ihre Gene) für Artgenossen in Gefahr bringen. Eines der bekanntesten Beispiele dafür sind die Belding-Ziesel, eine Art Erdhörnchen, die im Westen der USA leben. Robert Sachser, einer der bedeutendsten deutschen Verhaltensbiologen, berichtet in seinem Buch Der Mensch im Tier, dass sie einander, wie andere Arten auch, durch verschiedene Schreilaute vor Feinden warnen, aber bei ihnen sei das Risiko für das warnende Tier besonders hoch, durch die Rufe die Aufmerksamkeit des Angreifers auf sich selbst zu lenken und dabei gefressen zu werden. Seine Artgenossen zu warnen und sich dafür zu opfern, das scheint purer Altruismus zu sein und doch lässt sich dieses Verhalten in evolutionsbiologischer Hinsicht auch anders betrachten: Laut Sachser haben Studien des Verhaltensforschers Paul W Sherman gezeigt, dass es innerhalb einer Zieselgruppe nahezu ausschließlich Weibchen sind, die Warnrufe abgeben. Während die weiblichen Tiere einer Gruppe fast durchweg eng miteinander verwandt sind (eine Zieselin lebt mit all ihren weiblichen Anverwandten im Familienverband), müssen junge Männchen ihre Familie verlassen und sich in andere Familienverbände integrieren. Somit schützt ein warnendes Weibchen den Bestand seiner Gene, die in den engen Verwandten fortleben, während ein Männchen diesen Fortbestand seiner Gene in der genfremden Sippe mit Warnrufen nicht erreichen kann. Das würde erklären, warum männliche Ziesel so gut wie keine Warnlaute abgeben – sie würden sich damit gefährden, ohne dabei den Vorteil des eigenen Genbestands in der Verwandtschaft zu erhalten.6 Laut Sachser bestätigen mittlerweile zahllose Untersuchungen an den verschiedensten Arten, dass die Verwandtschaftsverhältnisse nicht nur bei Belding-Zieseln maßgeblich beeinflussen, wie sich Tiere gegenüber anderen Artgenossen verhalten. Generell wird uneigennütziges, helfendes, selbstloses Verhalten in aller Regel nicht jedlem beliebigen Artgenossen entgegengebracht, sondern v. a. nahen Verwandten.7

Noch widersprüchlicher scheint es bei manchen Insekten zu sein, wenn z. B. Arbeiterbienen ihrer Königin zuarbeiten, sich aber selbst nicht fortpflanzen können. Gentechnisch gesehen eine Katastrophe (schuften für nichts!), aber die Reproduktionswirklichkeit sieht doch anders aus: Alle Arbeiterinnen eines Bienenvolkes, die von derselben Königin abstammen, sind Schwestern, deren Genom sich aufgrund der HaplodiploidieI ungewöhnlich stark ähnelt. Genetisch gesehen sind diese Schwestern näher miteinander verwandt als mit ihrer Königinmutter. Wenn sie als Arbeiterinnen dazu beitragen, dass die Königin weiterhin ihre genähnlichen Schwestern hervorbringt, dann sorgen sie somit auch für die Weitergabe ihrer eigenen Erbanlagen8 und daher kann auch das aufopfernde Verhalten der Arbeiterinnen als egoistisch verstanden werden. Der Tod einer einzelnen unfruchtbaren Arbeiterin ist für deren Gene nicht schlimmer als das Abfallen eines Blattes im Herbstfür die Gene eines Baumes, schreibt Richard Dawkins dazu in seinem Buch Das egoistische Gen.9 Über Jahrhunderte hinweg wurde die von Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert gepredigte Ansicht vertreten, dass Arterhaltung eine natürliche, jedem Lebewesen innewohnende Neigung sei und dass daher auch die Aufopferung eines Individuums der eigenen Art zugutekommen sollte. Dem österreichischen Biologen Franz M. Wuketits zufolge ist man heutzutage völlig anderer Meinung: Ein Lebewesen sei nicht an seiner Art interessiert, sondern nur an seinem eigenen Fortpflanzungserfolg, der Weitergabe seiner eigenen Gene, sodass auch die Tötung von Artgenossen, auch Kindstötung nichts Außergewöhnliches sei, sondern plausibel erklärt werden könne.w Seiner Meinung nach hat sich kooperatives Verhalten evolutionär entwickelt und durchgesetzt, weil es dem Individuum im Schutz der Gruppe besser gelingt, sich selbst und somit auch seine Gene zu erhalten. Altruismus sei daher eine Überlebensstrategie und somit aus dem Egoismus herleitbar. Altruismus und Kooperation finden sich in der Natur also dort, wo sich ein Vorteil für das Individuum oder für den Fortbestand seiner Gene aufzeigen lässt. Der Soziobiologe Christian Vogel schlussfolgert daraus, dass der wahre Egoist kooperiert. (…) Die natürliche Selektion wird daher nicht nur jene genetischen Verhaltensprogramme fördern, die dem Einzelindividuum zu mehr Nachwuchs verhelfen, sondern auch jene Programme, die den jeweils nächsten Verwandten höheren Reproduktionserfolg verschaffen.11

Alles, was wir tun, tun wir für uns. Auch dann, wenn wir mit anderen kooperieren.

Der britische Biologe Richard Dawkins schreibt in seinem Buch Das egoistische Gen über die Macht der Gene. Dabei schildert er, dass Honigbienen zuweilen an der Brutfäule oder Faulbrut erkranken, die zunächst die Larven betrifft. Es habe sich gezeigt, dass manche Völker die Epidemie stoppen könnten, indem die Arbeiterinnen den Wachsdeckel der betroffenen Waben öffneten, die dortigen Larven aus dem Stock entfernen und auf den außerhäusigen Komposthaufen entsorgen würden. Andere Völker jedoch würden dieses Verhalten nicht zeigen und seien daher anfälliger für die Erkrankung. Nach einer Kreuzung zweier unterschiedlicher Bienenvölker zeigten sich drei verschiedene Gruppen: Eine Gruppe habe das vollständige Hygieneverhalten gezeigt (Öffnen der Wabendeckel und Entsorgung der Brut), eine zweite Gruppe habe keinerlei Reaktion gezeigt und eine dritte Gruppe von Bienenvölkern habe zwar den Wachsdeckel entfernt, aber nicht die Larven entsorgt. Dawkins schreibt, dass man das Experiment anschließend bei der zweiten Gruppe (keine Reaktion) auf geniale Weise erweitert habe: Man öffnete und entfernte die betroffenen Wachsdeckel manuell, woraufhin die Brut von der Hälfte der Völker auch entsorgt worden sei. Diesen Völkern habe offensichtlich die genetische Anleitung zum Identifizieren und Öffnen der betroffenen Waben gefehlt.12 Das Verhalten, Brutfäule durch konsequenten Kindsmord zu bekämpfen, erweckt beim Betrachter unwillkürlich den Eindruck eines bewussten und planvollen Vorgehens, aber diese Studie lehrt uns etwas anderes: Die Vorgehensweise entspricht eher dem Baukastenprinzip, in dem allein die Anwesenheit einer genetischen Anleitung für ein Verhaltensprogramm darüber entscheidet, ob und wie die Bienen auf diese Gefahr reagieren.

Der Altruismus in seiner reinen, selbstlosen Form der Nächstenliebe ist eine Fiktion und kann lediglich in einer abgewandelten, kooperierenden Form in Erscheinung treten, wenn der Geber in irgendeiner Weise davon profitiert. Vollkommene Selbstlosigkeit ist vollkommen unvereinbar mit unserem genetisch fundierten Drang nach Selbsterhaltung und Eigenprivilegierung. Wenn wir nicht für unsere guten Taten in irgendeiner Weise auf Belohnung hoffen dürfen, und sei es auch nur in Form eines warmen Glühens oder in der Linderung eines schlechten Gewissens, so ist Selbstlosigkeit dem Menschen nicht gegeben. De Mello hat eine ganze Reihe weiterer Gründe aufgelistet, die uns zu vermeintlich selbstloser Nächstenliebe veranlassen (s. u.: Die Maskerade der Nächstenliebe). Letzten Endes geht es dabei immer darum, sich wohler zu fühlen oder ein Ziel zu verfolgen.

Wenn wir an einen Menschen oder eine Gemeinschaft emotional gebunden sind, dann treten wir ganz selbstverständlich dem Ritual des Gebens und Nehmens bei, aber dabei achten wir auch stets darauf, dass dieses Ritual nicht aus dem Gleichgewicht gerät. In der Soziologie gibt es dazu die Theorie des soņialen Austauschs, die das Kosten-Nutzen-Verhältnis beim sozialen Handeln betrachtet. Danach ist ein Individuum dann zum Altruismus bereit, wenn der zu erwartende Nutzen höher ist als der Einsatz.13 Dabei sind unter Nutņen ganz besonders auch ideelle Werte wie Dank, Anerkennung oder Zufriedenheit mit sich selbst zu verstehen. So soll der Polarforscher und Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen mit folgenden Worten zu einer humanitären Aktion bewegt worden sein: »Wie ich Sie kenne, werden Sie nie wieder eine ruhige Minute haben, wenn Sie das ablehnen.«14

Ähnlich wie mit dem Altruismus verhält es sich auch mit seiner großen Schwester, der Internationalen Solidarität, die als Nächstenliebe der Völker ebenfalls reine Fiktion ist. Ein Ruf nach Solidarität findet sich dennoch in folgenden Situationen:

a) Solidarität ist eine Marketingstrategie, die benachteiligte Gruppen einsetzen, um Unterstützung einzufordern, obwohl diejenigen, die die Hilfe erbringen sollen, eigentlich keinen guten Grund sehen, dies zu tun. In einem solchen Fall, in dem weder eine offene noch eine verdeckte Kooperation möglich ist, hilft nur noch der Appell an das Gewissen der bessergestellten Gruppe: Seht her, es geht uns nicht gut, beginnt ein solcher Aufruf. Ihr aber, denen es besser geht als uns, habt die Macht das zu ändern, und so appellieren wir an eure Solidarität (eigentlich: an euer Gewissen). Ein Appell dieser Art an die Solidarität wäre also ein Hilferuf.

b) In der Gruppe der Bessergestellten gibt es eine Regierung, z. B. eine kommunistische Sowjetregierung, die es aus politischen Gründen für opportun hält, dem Anliegen eines verarmten, aber befreundeten Staates zu entsprechen. Um die gewünschte Warenlieferung zu ermöglichen, müssen jedoch die Werktätigen im eigenen Lande zunächst zu einer Arbeits- und Produktivitätssteigerung motiviert werden. Das ist gar nicht so einfach, denn wenn man selbst unter schwierigen Verhältnissen lebt, hält sich die Begeisterung für Mehrarbeit für verarmte Freunde in der Ferne in Grenzen. Genossen!, heißt es dann aus der Regierungsriege, helfen wir unseren Kameraden und zeigen damit den Imperialisten, wie wahre Völkerfreundschaft gelebt wird. Es geht hierbei also um Situationen, in denen eine Autorität ihre Untergebenen zu Hilfsleistungen auffordert und dabei eigene Ziele verfolgt. (Das ist z. B. auch der Fall, wenn Politiker reicher EU-Länder zur Solidarität mit den ärmeren Staaten aufrufen, wenn sie damit den Verlust von Absatzmärkten oder den Zusammenbruch der Einheit verhindern wollen. Dann handelt es sich dabei aber nicht um gelebte Solidarität, sondern um eine kalkulierte und eigennützige, als Hilfestellung verkleidete Strategie.)

Ein solches Unterfangen kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Autorität über entsprechende Druckmittel verfügt, um die verlangte Solidarität bei den Untergebenen durchzusetzen.

c) Es gibt in der Gruppe der Untergebenen genügend überzeugte Idealisten, die so sehr an das propagierte Ideal der Solidarität glauben, dass sie die geforderte Mehrarbeit aus freien Stücken erbringen. In diesem Fall betrifft es also Idealisten, die Solidarität als ihre Pflicht verinnerlicht haben und Befriedigung bei deren Ausübung erfahren. Diese Idealisten gehören fast durchweg der Gruppe der Untergebenen an. Ein Aufstieg zur Macht bleibt ihnen im Allgemeinen verwehrt.

Solidarität ist eine Privatangelegenheit und kann nicht eingefordert werden, denn dabei gibt man freiwillig etwas von sich und seinem Eigentum. Wir sollten uns nicht einreden lassen, dass Solidarität eine generelle moralische Pflicht sei, denn damit werden Menschen immer wieder zu einem schlechten Gewissen genötigt. Ob und in welchem Umfang wir ein Projekt für Mensch, Tier oder Umwelt in Not unterstützen, das bleibt allein unsere Entscheidung. Solidarität ist ein individuelles Geschenk, das heutzutage immer häufiger mit Appellen an das Gewissen eingefordert wird. Gesellschaftlich unverzichtbare Solidarität (wie Steuerzahlen, Solidaritätszuschlag oder Krankenversicherung) muss in Gesetze gegossen sein und ist dann eine Verpflichtung für jedermann. Alles andere aber ist Privatsache. Natürlich engagieren sich viele Menschen auch anderweitig, aber wem man seine Hilfe zukommen lässt, das muss jeder für sich entscheiden können.

Ebenso wie die Menschenrechte ist auch die Solidarität ein Narrativ, eine Erzählung, die in unterschiedlichen Kulturkreisen und zu unterschiedlichen Zeiten völlig unterschiedlich bewertet wird:

● Wer hat Solidarität verdient?

● Wo und wann beginnt sie und wo und wann endet sie auch wieder?

● Wenn Flüchtlinge um Asyl bitten, müssen wir ihnen Aufnahme gewähren, wenn sie sich bereits im Ausland ordnungsgemäß angemeldet haben?

● Oder wenn sie an unserer Landesgrenze stehen?

● Wenn sie an Europas Grenzen stehen oder sich im Niemandsland auf hoher See befinden?

• Soll der Bereich, in dem Hilfe gewährt wird, an einer fremden Küste enden?

• Müsste man nicht auch Verfolgte aus Unterdrückerländern aktiv aus ihrem Land herausholen?

Weil das alles reine Ermessensfragen sind, werden sie auch völlig unterschiedlich beantwortet, denn es gibt in der Welt keine Instanz, die in der Lage wäre, eine plausibel hergeleitete, allgemeingültige und verbindliche Entscheidung zu treffen. Wenn die UNO eine Flüchtlingskonvention beschließt, so handelt es sich dabei um einen Kompromiss zwischen den Staaten, um Vereinbarungen, die einzuhalten als internationale Verpflichtung anerkannt wurde. Dennoch bleiben sie rein willkürliche Festlegungen. Es existiert kein Naturgesetz, das in irgendeiner Weise die Auslegung oder Verbindlichkeit von Menschenrechten und Solidarität erklären kann.

Man kann Menschen- und Asylrechte als eine Errungenschaft unserer Zivilisation bezeichnen, aber im Gegensatz zu den Pyramiden kann jede geistige Errungenschaft bereits einen Tag später wieder der Vergangenheit angehören, wenn eine Gesellschaft sie sich nicht mehr leisten will oder kann. Diejenigen Politiker und Parteiprogramme, die aus Gründen der Humanität immer wieder die Aufnahme von Migranten fordern, empfinden dies als eine ehrenhafte Pflichterfüllung, doch diese Form von Solidarität kann problematisch sein und sogar gefährlich werden. Wenn dabei wirtschaftliche und empathische Ressourcen einer Gesellschaft überfordert werden, so werden sich Unmut und Zorn unweigerlich in der Gesellschaft ausbreiten und Populisten an die Macht spülen. Dies war sicherlich auch einer der Hauptgründe für den Brexit: der in der Öffentlichkeit zumeist unausgesprochen bleibende, aber tief sitzende Wunsch vieler Briten, eine zunehmende Überfremdung der Gesellschaft zu verhindern. Derartige, egoistisch motivierte Ansichten können unter wirtschaftlich und kulturell stabilen Verhältnissen lange Zeit als politisch inkorrekt stigmatisiert werden und sie bleiben dann lediglich unterschwellig vorhanden. Aber in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche können sie sich rasant ausbreiten, wenn ihnen eine entsprechende Bühne zur Verfügung gestellt wird.

Die Verhältnisse in den USA im Jahr 2020 sind dafür ein gutes Beispiel. Die amerikanische Gesellschaft war auch schon vor Donald Trump marode, doch in seiner Regierungszeit missbrauchte er die Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung (z. B. mit ihrer wirtschaftlichen Situation oder der illegalen Migration) bewusst für seine politischen Zwecke. Beständig bestärkte er Wut und Ängste seiner Anhänger und machte den politischen Gegner sowie ausländische Mächte für die Unzufriedenheit in der Gesellschaft verantwortlich. Die Demokraten dagegen versuchten in möglichst vielen Punkten eine Gegenposition zu Trump einzunehmen und Idealismus und politische Korrektheit in den Vordergrund ihres Wahlkampfes zu stellen. »Wir ziehen keine Mauern hoch – wir reißen sie nieder«, rief Hillary Clinton im Wahlkampf gegen Trumps Mauerpläne und besiegelte damit ihre Niederlage, denn mit Appellen an die Harmonie besänftigt man keine aufgeheitzte Stimmung. Trump dagegen ließ kaum ein moralisches Fehlverhalten aus, um die Wut der Unzufriedenen zu befeuern. Zehn Millionen Wählerstimmen mehr als zuvor konnte er bei der zweiten Wahl damit gewinnen und wenn Corona nicht auch in seinem Land einen solchen wirtschaftlichen Einbruch bewirkt hätte – seine Wiederwahl wäre ihm sicher gewesen. Gesellschaftliche Unzufriedenheit lässt sich nicht durch Appelle an Anstand und Ordnung beschwichtigen. Wenn als gravierend empfundene Missstände in der Gesellschaft nicht angemessen von der Regierung thematisiert und angegangen werden, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis Populisten diese Unzufriedenheit für ihre Zwecke missbrauchen.

Warum sollten nur politisch Verfolgte Asylrecht genießen? Warum haben nicht auch Menschen, denen es unter elendsten wirtschaftlichen Verhältnissen womöglich noch schlechter ergeht, nicht dasselbe Recht auf Hilfe und Asyl, wenn sie an unsere Türen klopfen? Diese Elendsflüchtlinge haben Respekt verdient und eine Antwort des Mitgefühls, aber auch eine klare Absage: »Wir wissen um das Elend in eurer Heimat. Ihr habt sie verlassen und euch auf den langen, schweren Weg zu uns gemacht, weil ihr nichts anderes wollt, als eurem Unglück zu entgehen und für euch und eure Familien eine bessere Zukunft zu finden. Völlig legitim ist euer Anliegen, das unseren Respekt verdient, und wir selbst würden in eurer Lage wahrscheinlich ebenso handeln. Und dennoch werden wir euch nicht in unser Land hineinlassen, denn wenn wir damit beginnen, das wirtschaftliche Elend der Welt aufzunehmen, dann werden wir in kurzer Zeit vollkommen damit überfordert sein. Bei allem Respektfür eure schwere Lage, aber wir werdlen euch die Aufnahme in unser Land verwehren.«

Es ist das selbstverständliche Recht eines jeden Staates, über Art und Umfang von Einwanderung selbst zu entscheiden. Doch anstatt eine entsprechend angemessene Reaktion zu zeigen, versuchen Populisten, diese Migranten des Elends auf üble Art und Weise zu diffamieren, sie als Drogendealer und Sexualverbrecher zu kriminalisieren und damit die niederen Instinkte ihrer Wählerschaft offen anzusprechen. Dass eine derartige Verunglimpfung bereits weltweit und auch öffentlich stattfindet, zeigt, wie gefährlich es sein kann, diese Gefahr zu unterschätzen und die eigene Ehrenhaftigkeit über die gesellschaftliche Ablehnung von (gefühlter) Überfremdung zu stellen.

Politisch Verfolgte dagegen haben weltweit Anspruch auf Asyl, aber es ist oft nicht einfach, politische Verfolgung und wirtschaftliches Elend als Motiv der Migration auseinanderzuhalten. Doch selbst dieses international anerkannte Asylrecht bei politischer Verfolgung kann an seine Grenzen stoßen und ausgesetzt werden, wenn die Zahl der Asylsuchenden übergroß wird. Allein aus Syrien haben sich mehrere Millionen Flüchtlinge auf den Weg in die angrenzenden Länder und nach Europa gemacht. Sollten weitere Millionen diesen Weg beschreiten müssen, weil das Leben in ihrer Heimat aufgrund von Bürgerkrieg oder Katastrophen anderer Art unerträglich geworden ist, dann träfe eine derartige Völkerwanderung auf ein weiterhin unvorbereitetes und uneiniges Europa. Es könnte die letzte Krise der Europäischen Union werden. Die Kräfte, die dann bei Befürwortern und Gegnern eines generellen Aufnahmestopps auftreten werden, besitzen die Macht, die Gemeinschaft zu zerreißen.

Eine alte Maximalforderung des Altruismus und der christlichen Kulturgesellschaft stammt aus einem Gebot der jüdischen Thora (Levitikon 19,18) und lautet: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Dies bedeutet nicht, diejenigen Menschen zu lieben, die einem nahestehen, sondern grundsätzlich jeden Menschen auf der Welt. Aber einige von ihnen sind einfach nicht liebenswert und auch in Anbetracht unseres genetischen Erbes in Form von Egoismus und Aggressionstrieb erscheint dieses Gebot weltfremd und uneinlösbar. Wozu eine so feierlich auftretende Vorschrift, wenn ihre Erfüllung sich nicht als vernünftig empfehlen kann?,1 fragt Freud in Das Unbehagen in der Kultur, nachdem er aufgelistet hat, wie viele gute Gründe es gibt, diesem Gebot nicht Folge zu leisten. Und in Anbetracht des in jedem Menschen existierenden, in unterschiedlichem Maße unterdrückten Aggressionstriebs fährt er fort: Es gibt ein zweites Gebot, das mir noch unfassbarer scheint und ein noch heftigeres Sträuben in mir entfesselt. Es heißt: Liebe deine Feinde. Wenn ich's recht überlege, habe ich unrecht, es als eine noch stärkere Zumutung abzuweisen. Es ist im Grunde dasselbe.16 Und als Fußnote fügt Freud hinzu: Ein großer Dichter darf sich gestatten, schwer verpönte psychologische Wahrheiten wenigstens scherzend zum Ausdruck zu bringen. So gesteht Heinrich Heine: »Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, lässt er mich die Freude erleben, dass an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt – ja, man muss seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden« (Heine, Gedanken und Einfälle).

Dennoch findet Freud eine Rechtfertigung für die oben genannten phantastischen Gebote: Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander ist die Kulturgesellschaft ständig vom Zerfall bedroht. Das Interesse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht zusammenhalten, triebhafte Leidenschaften sind stärker als vernünftige Interessen. Die Kultur muss alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen. (…) Und daher auch das Idealgebot, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, das sich wirklich dadurch rechtfertigt, dass nichts anderes der ursprünglichen menschlichen Natur so sehr zuwiderläuft. Durch alle ihre Mühen hat diese Kulturbestrebung bisher nicht sehr viel erreicht 17

Wir Menschen sind die einzige Spezies, die mithilfe ihres Gehirns Kultur hervorbringt. Von den ersten Höhlenmalereien bis hin zur Mona Lisa, von den ersten Gesetzestexten bis hin zu den heutigen Rechtsformen: Fast alle Werte und Leistungen unserer Zivilisation sind das Produkt unseres Strebens nach Kultur und diese Kultur ist Ausdruck einer Evolution des Geistes, die nicht auf Genetik beruht, sondern auf der Weitergabe von Ideen und Werten von Mensch zu Mensch und von Generation zu Generation. Diese Fähigkeit zur kulturellen Evolution macht uns einzigartig, aber da sie nicht auf genetischen Grundlagen basiert, sondern auf der Weitergabe von Information, können kulturelle Errungenschaften auch wieder verschwinden, wenn die dazu erforderlichen Voraussetzungen nicht länger gegeben sind. Wenn Kulturarbeit und Rechtsstaat aber versiegen, so sind wir der Barbarei näher, als wir denken. Wir Menschen sind evolutionär an unseren Egoismus gebunden, doch im Rahmen der kulturellen Evolution habe wir eine Idee der Selbstlosigkeit entwickelt. Wahre Selbstlosigkeit aber ist mit unserem genetisch fundierten Egoismus nicht vereinbar und so handelt es sich dabei in Wirklichkeit um eine Als-ob-Selbstlosigkeit, die wir so lange idealisieren, solange wir in irgendeiner Form davon profitieren. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, meint Goethe. Ja, so sei der Mensch und so kann er auch sein, aber um sich auch für andere einsetzen zu können, muss man sich selbst ausreichend wohlfühlen. Jeder Mensch muss daher zunächst sich selbst gegenüber edel, hilfreich und gut sein, bevor er dies auch anderen zugutekommen lassen kann. Egoismus und Einsatz für andere sind keine Gegensätze, die einander ausschließen, sondern der Egoismus bildet als Eigenfürsorge die Basis für wohlmeinendes und prosoziales Verhalten. Wenn wir Menschen es wollen, können wir sehr wohl unsere Eigeninteressen zurückstellen und uns für andere einsetzen, wenn uns diese Menschen am Herzen liegen oder wenn wir damit ein Ziel verfolgen und sei es auch nur das Ziel, unseren Idealen gerecht zu werden und so mit uns selbst zufrieden sein zu können. Ja, wenn es ihm ein Bedürfnis ist, kann der Mensch sehr wohl ein Wohltäter sein. Ganz gleich, ob er damit Gefallen bei anderen oder bei sich selbst findet – es grenzt geradezu an ein Wunder, wie kollektiv der Mensch diese Einsicht verdrängt, um sich der Illusion seiner Selbstlosigkeit hingeben zu können. Glauben Sie wirklich, dass Sie selbstlos sind, wenn Sie sich für Mensch, Tier oder Umwelt einsetzen? Sind Sie nicht! Wenn Sie sich dafür einsetzen, dann tun Sie das, weil Ihnen Mensch, Tier und Natur am Herzen liegen, weil Sie die Schönheit der Natur lieben und weil für Sie das Wohl von Mensch und Tier einen hohen Wert darstellt und es Ihnen ein Bedürfnis ist, sich dafür einzusetzen. Menschen, die achtlos die Umwelt verschmutzen oder zerstören oder sich nicht für Mensch und Tier einsetzen, tun dies nicht, weil sie diese Werte bewusst missachten, sondern weil sie sie nicht teilen. Sie haben keinen Sinn für die Schönheit der Natur entwickelt oder für das Wohlergehen anderer, ihnen fremder Menschen und daher sehen sie keinen Anlass, sich dafür einzusetzen. Stattdessen können sie völlig andere Werte und Pflichtgefühle haben, die ihnen wichtiger sind und für die sie sich ebenso einsetzen wie andere Menschen für den Schutz von Leben und Umwelt.

Auch wenn wir unser Engagement für andere als selbstlos empfinden, so entspringt es doch immer einem egoistischen Motiv: Wir alle haben eine Idealvorstellung davon, wie die Welt und die Gesellschaft, in der wir leben, aussehen sollten, und mit allem, was wir vermeintlich selbstlos tun, versuchen wir, diesem Ideal näher zu kommen. Es ist uns ein tiefes Bedürfnis, unsere Ideale zu verteidigen und das zu unterstützen, was die Welt unseren Idealvorstellungen ein wenig näher bringt. Daher engagieren wir uns nur für das, was uns am Herzen liegt. Nur wenn das Ziel unseren Wünschen und Bedürfnissen entspricht, setzen wir uns dafür ein. Wenn wir uns aber stets für das entscheiden und für das einsetzen, was unseren Wünschen und Idealen entspricht und was uns emotional am wichtigsten ist, dann ist ein solches Verhalten keineswegs selbstlos, sondern in erster Linie Ausdruck von Eigeninteresse.

Der Mensch ist ein soziales Wesen, aber was bedeutet das eigentlich? Laut Definition bedeutet sozial »die Gemeinschaft betreffend« und beschreibt damit den Menschen lediglich als ein Wesen, das nicht als Einzelgänger durch die Welt zieht, sondern in Gruppen lebt. Wir gebrauchen sozial aber gerne in dem Sinne, dass der soziale Mensch seine Interessen zurückstellt und sich wohlmeinend und fürsorglich für seine Mitmenschen und in die Gemeinschaft einbringt. Aber warum sollte der Mensch das tun, wenn er doch durchweg egoistisch ist? Der Mensch verhält sich deswegen sozial, weil er dafür etwas erhält, was ihm ungemein wichtig ist: Anerkennung und Bindung. In ihrem Buch Das Kind in dir muss Heimat finden18 beschreibt die Psychologin Stefanie Stahl, dass Anerkennung und Bindung absolute Grundbedürfnisse des Menschen sind und dass wir deshalb bereits in frühester Kindheit lernen, wie wir uns zu verhalten haben, um von unseren Eltern oder Bezugspersonen Anerkennung zu erhalten. Unser Wunsch nach Anerkennung und Bindung begleitet uns ein Leben lang und wenn er nicht ausreichend befriedigt wird, so sind wir frustriert bis hin zur Aggression oder Depression. Wenn wir uns also sozial und solidarisch verhalten, so haben wir gelernt, dass es sich lohnt, uns auch für andere zu engagieren, weil wir nur dann die Möglichkeit bekommen, von den Mitmenschen das zu erhalten, was wir zur Befriedigung unserer eigenen Wünsche und Bedürfnisse haben wollen. Stahl beschreibt anschaulich, wie sich Störungen in der frühkindlichen Entwicklung auf unser späteres Verhalten auswirken. Das erklärt z. B. auch, warum es durchaus Menschen gibt, die sich unsozial verhalten, also rücksichtslos, und dabei nicht den Eindruck erwecken, auf die Anerkennung ihrer Umgebung erpicht zu sein. Laut Stahl gehören unsoziale Verhaltensweisen wie Machtstreben, Rücksichtslosigkeit oder Aggression zu den unbewussten Schutzmechanismen, mit denen wir Menschen versuchen, unser in der Kindheit beschädigtes Selbstwertgefühl zu kompensieren.

Der Egoismus ist nicht nur eine Voraussetzung für das eigene Wohlergehen, er ist auch die Ursache dafür, dass es uns schwerfällt, unsere Komfortzone zu verlassen. Wenn eine geänderte Situation unangenehme Entscheidungen von uns verlangt, so versucht uns unser Egoismus daran zu hindern, wenn diese Veränderungen mit Einbußen für uns einhergehen, sodass wir oft zu spät auf eine Bedrohung reagieren. Solange wir nicht unmittelbar mit einer Gefahr konfrontiert werden, behindert uns der Egoismus bei der Herausforderung, eine vorausschauende Entscheidung zu treffen, wenn damit Nachteile für uns verbunden sein könnten. Selbst in Anbetracht einer drohenden Klimakatastrophe sind wir nicht konsequent zu den erforderlichen Maßnahmen bereit, solange wir uns nicht selbst unmittelbar gefährdet fühlen. Erst wenn eine existentielle Bedrohung beginnt, uns und unsere Gesellschaft spürbar zu beeinträchtigen, sind wir Menschen zu weitreichenden Zugeständnissen bereit, notfalls bis zum vollständigen Verzicht auf Komfort und Privatbesitz, um z. B. in einem Kibbuz für das eigene und das Überleben der Gesellschaft zu arbeiten. Während akute Gefahren wie Krieg oder Naturkatastrophen schlagartig ungeheure Leistungen in einer Gesellschaft freisetzen können, ist es durchaus möglich, dass eine Gesellschaft wegen nicht ausreichender Bereitschaft zum Verzicht sehenden Auges in eine langsam über sie hereinbrechende Katastrophe hineinsteuert.

In der deutschen Sprache sind die Begriffe Egoismus und Eigennutz negativ besetzt, da sie stets die Benachteiligung anderer assoziieren und somit in erster Linie die Beziehung zu den Mitmenschen betrachten. In dem hier angewandten Sinne aber verstehe ich Egoismus nicht nur als Selbstbevorzugung, sondern auch als Eigenfürsorge – die angeborene Eigenheit von Mensch und Tier, Denken und Handeln grundsätzlich an den Eigeninteressen auszurichten. Das kann durchaus auch die Benachteiligung anderer beinhalten, muss es aber eben nicht, denn im Idealfall dient der Egoismus der eigenen Erbauung, die uns dazu veranlasst, auch unseren Mitmenschen eine Freude zu sein. Wäre der Begriff der Selbstbefriedigung nicht bereits anderweitig belegt, so käme er der hier verwendeten Sichtweise am nächsten. Schopenhauer hat Egoismus treffend als Drang zum Dasein und Wohlsein beschrieben:

Der Egoismus, d. h. der Drang zum Daseyn und Wohlseyn, ist die Haupttriebfeder im Menschen wie im Thiere.

I Unter Haplodiploidie versteht man die genetische Besonderheit bei Hautflüglern (Ameisen, Bienen, Wespen u. a.), dass die Männchen einen haploiden (einfachen) Chromosomensatz besitzen, die Weibchen aber einen diploiden (zweifachen) Chromosomensatz.

Schande zählt nicht

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