Читать книгу Das Gefühl von - Stefan Prinz - Страница 10
Blind
ОглавлениеVanessa sieht diese Obdachlose im Parkhaus. Sie sitzt, an einen Betonbalken gelehnt, auf dem kalten Boden. Im ersten Augenblick hat Vanessa sie für einen Mann gehalten; sie hat kurze Haare, trägt eine zerrissene Jeans und eine für die Jahreszeit viel zu dünne Sportjacke. Die Hände hat sie in den Hosentaschen, während sie mit gebeugtem Kopf vor sich hin starrt. Vanessas Blicke haften an ihr, sie versucht, sich in die Frau und das Leben auf der Straße hineinzuversetzen, doch sie schafft es einfach nicht. In Richtung ihres Autos geht Vanessa ihr vorbei, ihre Einkäufe in einer großen Plastiktüte tragend. Vanessa hält inne, eine ganze Weile. Schließlich dreht sie sich um und winkt die Obdachlose mit einem krächzenden »Hey« herbei.
Diese blickt sie kritisch an, zögert, erhebt sich dann aber doch und läuft zu ihr. Sie, die ungefähr in ihrem Alter sein muss, streckt die offenen Handflächen aneinander aus, weil sie wohl denkt, Vanessa wolle ihr etwas Kleingeld geben.
Vanessa schüttelt den Kopf. »Komm mit«, sagt sie, wendet sich um und geht zu ihrem Auto. Die stumme Frau folgt ihr.
Auch während der Autofahrt spricht die Obdachlose kein Wort, reckt den Kopf zur Seite, um aus dem Beifahrerfenster die Umgebung zu beobachten. Vanessa beschließt sie aus Höflichkeit auch nichts zu fragen. Sie wollte, dass die Frau mit ihr kommt, doch ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend bleibt. Sie säuft den alten Ford sogar zwei Mal ab.
Sie heißt Daria, wie Vanessa erfährt, in der Pause zwischen zwei Löffeln Chili. Sie isst wie ein Höhlenmensch, aber das stört Vanessa nicht. Sie führt sie in die Dusche, diese schmutzige Fremde, und später in ihr eigenes Bett, während sie selbst auf dem Sofa schläft. Sie beobachtet Daria auch beim Schlafen, geht in der Nacht in das Zimmer, setzt sich auf einen Stuhl und betrachtet das zufriedene, gesättigte Gesicht.
Daria ist dankbar am nächsten Morgen, überaus dankbar. Jetzt spricht sie auch mit Vanessa. Sie ist zuvorkommend und gesellig, und auf den Kopf gefallen scheint sie auch nicht.
Trotz ihrer Dankbarkeit besitzt Daria die Dreistigkeit zu bleiben, ohne zu fragen, ob das in Ordnung sei. Sie beschließt im Innern erst einmal ganz lange nicht von Vanessas Seite zu weichen. Im stillen Einverständnis eingezogen, Vanessa hätte ja etwas sagen können. Daria fragt sie nicht nach dem Grund, warum Vanessa sie mit nach Hause genommen und ihr etwas zu essen gegeben hat, sie will es auch gar nicht wissen.
Daria denkt noch oft über früher nach. Während dieser Zeit ist sie woanders, nicht ansprechbar. Vanessa scheint dieses Gesicht von Beginn an deuten zu können, lässt die neugewonnene Freundin von der Straße dann jeweils allein.
In Darias Kopf ist das Heim, wo sie aufgewachsen ist, mit ständig wechselndem Personal, keiner menschlichen Konstante. Da sind als Jugendliche, als Erwachsene fliegende Fäuste, die ihre sind, aufgrund einer falschen Geste, eines falschen Blickes des Gegenübers, da sind Gerichtssäle und Gitterstäbe. Da ist die Straße als ihr kilometerweises Zuhause, der Luxus der freien Schlafwahl, besser geht es kaum, sie halb erfroren, ausgemergelt, eine Pennerin, die unzureichend für sich sorgen kann, es gerade so schafft zu überleben.
Jeglichen Kontakt zu ihrer Familie hat Vanessa abgebrochen, zerbrochen, fragt man sie, weiß sie auch nicht wie. Sie ist eine Meisterin der Verdrängung. Ihr Patentsatz, für jeden, der es wagt weiter nachzuhaken, lautet: »Na jetzt ist es jedenfalls zu spät, da irreparabel.« Als mehrfaches Echo hallt diese Aussage nach, wie die größte Lüge der Welt, eine Abscheulichkeit der höchsten Stufe.
Vanessa lebt in einer Blümchenwelt, sie versteckt sich unter ihrem Panzer, gefärbt in allen Regenbogenfarben, die man sich nur vorstellen kann, beziehungsweise ausmalen. Sie hat nicht das Gefühl, dass ihr Leben sie auch nur irgendwo hinführt. Es hat sie weggeführt, nach der Trennung von ihrem Freund, an der sie, wenn sie zurückschaut, hauptsächlich selbst schuld war. Aber heute ist es zu spät, da irreparabel.
Er hat sich bestimmt schon in eine andere verliebt, denkt sie eines Tages im Moment eines Rückfalls, hat Kinder mit ihr, und all so ´ne Scheiße. Ja, bei diesen Sätzen rinnen ihr Tränen die Wangen runter, sie glaubt nämlich, dass er der Richtige war, und wenn man erst mal weiß, dass jemand der richtige ist, dann tut es doppelt weh. Sie kann gar nicht lange genug im Bett liegen und heulen, um darüber hinwegzukommen. Irgendwann steht sie dann aber auf, sie weiß auch nicht warum. Trotzdem tut es immer mal wieder weh, nur kurz, stichweise.
Sie werden zu einer Frauen-WG, bestehend aus ... Vanessa und Daria. Sie wachen auf, Daria in Vanessas Bett, diese auf dem Sofa, und bemerken: sie haben keinen auf dieser Welt, nur sich. Sie befinden sich nun in einem dynamischen Kosmos, umherfliegende Teilchen, etwas worüber sie die Kontrolle verloren haben.
Sie sind beide arbeitslos, doch tun sie nicht das Geringste dagegen. Auch haben sie nichts Weltbewegendes zu unternehmen. Ihr ganzes Leben spielt sich in dieser kleinen Wohnung ab. Doch sie sehen sich nicht als Asoziale, einfach weil sie intelligent sind. Sie betrachten sich als von Natur aus arbeitslos, es habe sich einfach so ergeben, und so sitzen oder liegen sie auf diesem Sofaplanet, vorm großen Guru genannt Fernseher, Tag für Tag.
Daria hat als einzige Verknüpfung mit der Kindheit das Heim, hat keine Familie, nie eine besessen.
»Die Fremden«, sagt sie einmal scherzhaft zu Vanessa. »Die waren meine Freunde in dem Heim. Mein ganzes Leben waren da Fremde.«
»Du hast´s gut«, entgegnet Vanessa. »Fremde können dir wenigstens nicht wehtun, aufgrund ihrer Anonymität. Gute Leute sind diese Fremden, gute Leute.«
Daria bekommt dann das Bedürfnis Vanessa ins Gesicht zu schlagen, bis Blut aus ihrer Nase fließt. Stattdessen schaut sie abschätzig zur Seite in die Leere. Sie hat gelernt sich zu beherrschen, auch wenn mehrere Haftstrafen und Therapien dafür vonnöten waren. The same old story: schlechte Kindheit, zweifach schlechtes Benehmen als Erwachsene. Endstation Knast.
Zwischenstation Vanessa.
Daria sagt sich: Beherrsche dich, nimm einmal eine Chance in deinem Leben wahr. Wie hieß dieser blödsinnige Merkspruch in der Knasttherapie noch gleich: Brücken bauen statt Häuser sprengen. Sie grinst, weil ihr in den Sinn kommt, dass sie sich eigentlich immer nur den Unfug merkt und nie die wichtigen Dinge.
Also ist sie redlich bemüht, räumt auf und kocht. Es ist fast schon süß, wie sie angestrengt versucht, Vanessa eine gute Mitbewohnerin zu sein.
Bis sie einbricht. Ihre Gewohnheiten vom Heim, bis in den Nachmittag hinein zu schlafen und den Rest des Tages vorm Fernseher zu hängen, wird ihr klar, kann sie nicht ablegen.
Daria regt sich über Vanessas Krisen immer stark auf. Was würde sie nicht darum geben, die Person zu sein, für die Vanessas Herz schlägt. Wo die Liebe hinfällt – wer hebt sie da auf?, denkt sie.
Aber in gewisser Weise kann Daria Vanessa auch verstehen. Sie hat viel Scheiße in ihrem Leben erlebt, für die sie allesamt nichts kann, auch wenn nicht annähernd in der Dimension wie Daria, aber manche sind das harte Leben gewohnt und manche eben nicht.
Bei Daria ist die Personifizierung vom Aufstehen nach dem Fall ihre Freundin, die gerade ihre Beine lang gelegt hat. Sie riechen nicht besonders gut, ihre Füße, aber sie erträgt es, weil sie Vanessa liebt. Doch diese Liebe verkompliziert das Ganze noch weiter unnötig, ist der Klecks auf dem heißen Stein. Sie hat nie vor ihr offen ausgesprochen, dass sie lesbisch ist, aber wenn Vanessa das nicht bemerkt hat, ist sie doppelblind. Daria findet nämlich, sie tritt auf wie die typische Lesbe – kurze Haare, Männerklamotten, maskulines Verhalten, und das ist auch ganz beabsichtigt so.
Von einem auf den anderen Tag scheint die Harmonie ausgelöscht. Daria denkt, dies liegt an Vanessa, irgendwie habe sie sich verändert. Vanessa ist sich sicher, es ist Darias Schuld, einfach alles, sie macht sie für ihr unglückliches Leben verantwortlich.
So nimmt beispielsweise Vanessa, wenn Daria Nachrichten schaut, häufig die Fernbedienung und schaltet weg. Vanessa möchte nicht solche Horrormeldungen hören. Was in den Nachrichten käme, sei doch alles furchtbar deprimierend.
»Das ist das Leben, Kleines«, sagt Daria dann stets kalt zu ihr.
Vanessa macht mit demonstrativer Geste die Augen zu, würde am liebsten sagen: Und das ist meine Wohnung.
Die beiden liegen wiedermal auf jeweils ihrer Ecke des Sofas und Daria geht Vanessa plötzlich furchtbar auf die Nerven. Dass sie nur noch zusammen hängen, fällt ihr so auf, ganz plötzlich. So was hält keine Freundschaft aus.
Ruhe vor dem Sturm. Vanessa glaubt es förmlich in der Luft der Wohnung riechen zu können. Sie befindet sich im Bad, bemerkt, dass sie sich nicht mehr wohl in ihrer eigenen Wohnung fühlt, sieht sich als Vertriebene. Sie öffnet ganz langsam und leise die Badezimmertür, schleicht den Flur entlang, späht ins Wohnzimmer. Niemand ist da. Bald werden die beiden sich streiten, Vanessa sieht es kommen, die Stimmung zwischen ihnen ist angespannt. Sie denkt: Bald geht die Post ab, aber holla!
Daria steht um vierzehn Uhr auf, geht ins Wohnzimmer, legt sich aufs Sofa und schaut fern, und dann kommt Vanessa rein mit dieser etwas hochnäsigen Art, die Daria ankotzt. Und gerade als die Nachrichten beginnen, schnappt sich Vanessa wieder die Fernbedienung und schaltet in Schallgeschwindigkeit um.
Daria steht vom Sofa auf – was Vanessa schon fast wundert, dieser Anflug an Bewegung – und steht mit geballter Faust vor ihrer besten Freundin.
»Ich habe Arbeit gefunden«, eröffnet Vanessa Daria.
Daria sperrt die Augen auf, beschließt dann aber rasch unbeeindruckt zu tun. »Wo denn?«
»Kennst du nicht. Am Stadtrand. Als Sekretärin.«
»Als Tippse?«
»Besser als gar kein Job. Wie wär´s, wenn du dich auch mal um was kümmerst, statt hier auf meine Kosten zu leben. Oder wenigstens aufräumst. Das da hinten, im Abstellraum, das nennt man Staubsauger.«
Daria fehlen die Worte. Sie empfindet Vanessas Verhalten als größte Ungerechtigkeit seit der Staat ihr den Geldhahn zugedreht hat. Die Unterlippe ist fast am Kinn.
Plötzlich greift sie Vanessa an, schubst sie zu Boden, stürzt sich auf sie und zerkratzt ihr die Wangen. Vanessa schafft es mit ganzer Kraft Daria leicht zurückzuschieben und verpasst ihr eine Kopfnuss. Damit hat Daria nicht gerechnet, sie hat Vanessa unterschätzt, die sanfte Frau aus gutbürgerlichem Hause. Daria weicht zurück, hält sich den Kopf, das Gesicht eine Grimasse. Ein Sicherheitsabstand zwischen ihnen, während Vanessa sich aufrichtet. Feurige Blicke treffen sich, dann schreien sie sich um die Wette an. Keiner versteht die Worte des anderen, ein ohrenbetäubender Lärm.
Recht schnell können sie nicht mehr, sind all ihre Kräfte verbraucht. Jetzt sieht Vanessa furchtbar enttäuscht aus und Daria weint. All die traurigen Sachen, denkt Vanessa verzweifelt.
»Du versteckst dich vor der Realität. Du machst einfach die Augen zu. Es ist so, als ob du blind wärst«, flüstert Vanessa bestimmt.
»Und was ist mit dir? Du bist weggezogen, vor sage und schreibe drei Jahren, weil dich dort alles überfordert hat, und du bist immer noch nicht auch nur annähernd über deinen Freund, die Leute und das alles hinweggekommen. Das Einzige, was du in dein Leben gelassen hast, und das nur unter Protest, war ich!«, sagt Daria.
Dann hasst Vanessa sich selbst, wie sie noch nie einen Menschen in ihrem Leben gehasst hat und sie liebt Daria, wie sie noch nie geliebt hat, wie ihre beste Freundin, und dann umarmen sie sich und Vanessa weint und dann lacht sie. Ihr Lachen wird immer lauter und sie schließt die Augen und sagt: »Weißt du was, manchmal möchte ich einfach blind sein, für alles, die Realität. Es ist ein bisschen wie mit den Fremden in deinem Heim.«
Daria ignoriert ihre Worte. »Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich ausziehe.«
Vanessa nickt, sie möchte etwas sagen. Ihre Lippen beben. Doch es fehlen ihr die Worte.