Читать книгу Das Gefühl von - Stefan Prinz - Страница 6

Den Sternen entgegen

Оглавление

»Such dir doch einen weiblichen Assistenten.« Zwischendurch schwebten die vor rund einem Jahr ausgesprochenen Worte ihrer Mutter wie ein Damoklesschwert über ihr, tauchten auf, verschwanden und kamen mit doppelter Intensität wieder.

»Ich werde aber nicht beim Waschen und den Toilettengängen unterstützt«, hatte sie entgegnet. »Also ist es doch egal. Im Moment gibt es halt nur den einen männlichen Bewerber. Und ich brauche einen zweiten Assistenten, sonst fällt mir Resi bald vor Überarbeitung um.«

Und nun saß er leicht vorgebeugt neben ihr auf der Couch und schwieg, obwohl sie sich jetzt gerade nach Kommunikation sehnte. Ja, was war das überhaupt für ein persönlicher Assistent, der seinen Klienten nicht unterhielt, ihm nicht einmal ein freundliches Lächeln zuwarf. Sie bezahlte ihn schließlich von ihrem persönlichen Budget der Eingliederungshilfe, sie mit den Stümpfen als Beinen, die Rollifahrerin oder der Mensch mit Behinderung, wie Leute wie sie genannt wurden, was noch besser war als Spasti oder Sätze wie: So könnte ich ja nicht leben, da würd ich mir gleich ´nen Strick nehmen. Jetzt sah er sie wenigstens an und nicht mehr die bewegten Bilder in dem Kasten vor ihnen, mit seinen rauen Gesichtszügen, bis auf die Augen, in denen sie reinste Gutmütigkeit entdeckte. Sag, warum bist du so schweigsam, komm, sprich mit mir, dachte Edith, denn das war er ihr schuldig. Sie musste nämlich an ihn denken, sowohl im Sommer, wenn am Morgen die Sonne die ersten Strahlen über ihren Heimatort schickte, als auch jetzt am Nikolausabend, wo draußen dicke Schneeflocken fielen. Aber in Wahrheit schuldete er ihr nichts, wie sie sich in diesem Moment verinnerlichte. Sie sah aus dem Fenster. »Ich will raus.« »Aber es schneit.« Sie wandte ihm den Kopf zu und nickte. »Deshalb.« »Okay«, sagte er, stand auf und holte ihren Rollstuhl, den er in die hintere Ecke des Wohnzimmers geschoben hatte; Edith wollte es so, sie wollte den Rollstuhl nicht ständig im Blickfeld haben. Draußen war es eisig kalt, doch Mirko und Edith hatten sich Mantel, Schal und Mütze übergezogen. Um 18 Uhr 20 war es bereits seit einer Stunde dunkel. »Die Reifen werden ganz nass«, bemerkte Mirko trocken, während er sie den Gehweg ihrer Straße entlangschob. »Muss die auch mal wieder aufpumpen.« »Egal.« Edith lächelte. Sie es liebte draußen zu sein. Kein Wunder, bei einer überfürsorglichen Mutter, die sie selten hinaus ließ, und ohne Begleitung war sowieso ein Tabu gewesen. Sie erinnerte sich an einen Abend, wo sie mit Dreizehn einfach in der Nacht ausbrach, einfach weil sie nie die Sterne und den Mond außerhalb des Hauses gesehen hatte. Es endete in einer Katastrophe, bei der die Mutter fast eine Panikattacke bekam, wonach sich die Regeln für Edith noch verschärft hatten. »Mirko? Kannst du dir vorstellen, dass jemand im Rollstuhl mit einem zusammen ist, der nicht im Rollstuhl sitzt?« Jetzt drehte sie den Kopf und schaute hoch zu dem großen Mann, der ihren Rollstuhl schob. Sie kamen an einem Kiosk vorbei, in dem keine Menschenseele, nicht mal der Verkäufer, zu sehen war. Die ganze Kleinstadt war wie ausgestorben, hin und wieder störte ein langsam vorbeifahrendes Auto dieses Bild aber doch. »Ich weiß nicht«, sagte er. Sie blickte wieder nach vorne und verzog die Mundwinkel. Aber das war besser als der Satz, den sie mal zu diesem Thema aufgeschnappt hatte: »Jeder sucht sich doch seinesgleichen, oder? Also ich könnte mir das nicht vorstellen mit ´nem Behinderten.« Und diese Person hatte sogar im sozialen Bereich gearbeitet. War Edith also total bescheuert, dass sie sich so eine Frage überhaupt stellte? War sie nicht gut genug für jemand wie Mirko, war sie es einfach nicht wert, sollte sie sich einen ihresgleichen suchen? Edith grübelte weiter in ihrem Rollstuhl, während weiche, nasse Flocken auf ihr Gesicht rieselten. »Sag mal, bist du glücklich?« »Du stellst manchmal Fragen! Hm, darüber muss ich nachdenken.« Mirkos Stimme klang belegt. »Dann denk.« Was wusste sie überhaupt von ihm? Sie wusste, dass er einen Zwillingsbruder hatte, den er nicht besonders mochte. Was noch? Er war Heilerzieher, er wohnte allein in einer kleinen Wohnung mit ständig feiernden Nachbarn über sich. Sie wartete und fürchtete folgenden Satz: Ach übrigens, ich habe eine Freundin. Aber irgendwann würde er unausweichlich folgen und sie könnte nichts dagegen tun, als sich einen Iglu zu bauen und langen Winterschlaf darin zu halten. »Jetzt im Moment bin ich glücklich, wenn ich mit dir durch den Schnee laufe«, sagte er und es klang ehrlichgemeint. Ihre Augen begannen zu strahlten. Gute Antwort. Dann, schon fast an der Umgehungsstraße angelangt, kam ihnen auf der Straße eine junge Frau entgegen. Der Schnee hatte aufgehört; nur eine kleine weiße Schicht bevölkerte den Weg. Sie schaute die beiden an, sah weg und dann wieder aufmerksam zu ihnen hin. »Mirko? Bist du das?«, fragte sie. Mirko und Edith blieben vor der Frau stehen. »Carina? Hi! Ewig nicht gesehen!« Er sagte es mit einer Freude und Leichtigkeit in der Stimme, die Edith gar nicht gefiel. Ach, könnte ich dir doch nur mal solche Töne entlocken, dachte sie. »Carina und ich waren Mitschüler«, klärte er Edith auf. »Aha.« Die Frau war blond, groß und hatte das Gesicht eines Models. Sie sah in buchstäblichem Sinne auf Edith herab, mit einem Ausdruck, der besagte: Was gibt sich Mirko denn mit der Behinderten ab? Edith wollte weiter. Schnell. »Genau, das waren wir«, sagte sie jetzt mit vielsagender Stimme. Aber wir waren auch mehr. Sie schien jetzt wieder ganz in Mirkos Erscheinung versunken. Edith wollte dieser Frau am liebsten mit dem Rolli über die Füße fahren. »Was machst du so?«, fragte Mirko. »Ich hab ja in Münster Mathematik studiert. Seit kurzem bin ich wieder hier. Hab in der Nähe eine Stelle gefunden.« »Schön. Vielleicht können wir uns ja mal treffen.« »Ja, gerne. Warte, ich tippe deine Nummer ein.« Während Mirko ihr seine Nummer diktierte, versuchte sich Edith durch ein bereits mit roten Lichterketten versehenes Haus abzulenken. Sie sehnte sich nach dem Innern dieses Hauses, nach allem, was sie von hier wegbringen würde. »Wir müssen dann mal weiter«, sagte Mirko. »Aber wir telefonieren auf jeden Fall.« »Oh ja, das machen wir. Bis dann, Mirko.« Oh ja, das machen wir, äffte Edith sie in Gedanken nach. Nein, mit so jemand wie der konnte sie nicht konkurrieren. »Ich will heim«, sagte sie eine Weile später zu Mirko, als sie die ersten Meter der Umgehungsstraße angetreten hatten. »Aber … wieso denn so plötzlich?« »Ich will heim!«, beharrte sie, ohne weiter auf Mirko einzugehen. Als dieser sie vorsichtig in ihrem Rollstuhl umdrehte, war ihr Entschluss bereits gefasst. Beide schwiegen auf dem Rückweg. Er durfte daraufhin auch früher gehen. »Ich will einen anderen Assistenten«, eröffnete sie ihm gleich als erstes am nächsten Vormittag, mit einem Mut und Zorn, der sich die ganze Nacht in ihr aufgestaut hatte. Sie hatte kaum geschlafen, was sich an ihren dunklen Augenringen und den gequälten Zügen abzeichnete. Mirko stand immer noch in der Tür, die Edith ihm soeben geöffnet hatte. Er stockte, stand da wie ein begossener Pudel, schien die Welt nicht mehr zu verstehen. »Was … Was habe ich falsch gemacht? « »Nichts. Ich kann mir dich nicht mehr leisten. Werde nur noch mit Resi auskommen müssen. Mach´s gut. Warst ein guter Assistent.« Sie schloss die Tür vor seiner Nase, er sprang hastig zurück, um sie nicht ins Gesicht zu bekommen. Dann war er aus ihrem Blickfeld verschwunden, in jedem Sinne. Sie fuhr mit dem Rolli zum Sofa, hievte sich darauf und blieb den ganzen Tag liegen. Sie hatte keinen Hunger und keinen Durst, sie brauchte nichts mehr. Sie stellte sich häufig vor laufen zu können, mit zwei kräftigen Beinen, die fest auf der Erde standen. Sie hatte da diese Phantasie, welche sie selbst als albern empfand: Sie und Mirko auf der Tanzfläche eines prunkvollen Balles, er gekleidet wie ein Prinz, sie wie eine Prinzessin. Dann nahm er sie in die Arme und schwenkte sie in der Luft, wonach sie zu einem gewaltigen Sprung und einer eleganten Landung ansetzte. Ihre Gedanken an ihn verzehrten sie. Sie kam sich vor wie eine aberwitzige, naive Rolli-Inkarnation von Shakespeare´s Julia, wenn sie schwelgte: Ich will nicht, dass du mich ansiehst, als wäre ich nur deine Arbeit, du sollst mich als Frau sehen. Ich will deinen Mund auf meinem spüren. Ich will gleichauf mit dir stehen, nicht unter dir, als jemand der auf deine Hilfe angewiesen ist, jemand der sonst nicht seinen Alltag hinbekommt, ich will dich, hörst du, ich sende dir diese Gedanken von hier zu dem Ort, wo du dich gerade aufhältst, das ist Telepathie, das ist Wahnsinn, das ist Liebe, wenn das keine Liebe ist, ja, was ist es dann? Und wie du sie ansahst, warum konntest du mich nicht so ansehen, nur eine Sekunde dieses vermaledeiten Lebens, mehr verlange ich doch gar nicht, einen Augenblick des Glücks. Und ich weiß, was du an ihr findest, weiß sie ist schön und makellos, wohingegen ich ein Rindvieh bin. Aber was waren das für abstruse Gedanken? Sie hatte ihn seit Wochen aus ihrem Leben verbannt, ihm die Nase vor der Tür zugeschlagen, zum Selbstschutz, aus Angst an der Zeit mit ihm kaputtzugehen. Das jetzt, ihr Gedanken- und Gefühlsleben, war also nur noch ein Festhalten an einer Illusion, ein Bad in einer Fata Morgana. Na klasse! Da war sie im Drogeriemarkt mit ihrer neuen Assistentin Michaela, und da war er, auf der anderen Seite der Reihe an Pflegeprodukten. Er musste jetzt nur den Blick nach rechts wenden und er würde sie sehen … und wissen, dass sie ihm einen Bären aufgebunden hatte. Nur noch die Resi, ach ja? Und wer ist das dann neben dir? Sie starrte auf eine Shampoo-Flasche mit Zitronenaroma vor sich, nahm sie und drehte sie sinnlos in ihrer Handfläche, eine Angeklagte kurz vorm Auffliegen, eine Lügnerin. »Michaela!«, flüsterte sie. Diese beugte sich mit diesem übertrieben herzlichen Blick zu ihr, den sie so oft aufsetzte. Ich bin absolut liebevoll zu dir, aber dich für voll nehmen, nein, das tue ich nicht. »Michaela. Bring mich zur Kasse und raus hier. Und keine Fragen!« »Was ist denn los?«, fragte Michaela so laut, dass es der halbe Drogeriemarkt hören konnte. Edith fasste sich mit der Hand an die Stirn. Idiotin! Sie richtete den Blick seitlich auf Mirko. Dieser erwiderte ihn entrüstet, mit einer Dose Deo in der Rechten, einen ganzen Augenblick lang, dann wandte er sich rasch um und verschwand in einen anderen Gang. Edith sah ihn unmittelbar danach nicht mehr. Er musste geflüchtet sein. Kurz vor ihrem Auszug, als längst erwachsene Frau, war sie immer wieder heimlich ausgebüxt, wenn ihr Vater und ihre Mutter, die Hausfrau und persönliche Assistentin ihrer Tochter aus Leidenschaft, sich gerade beschäftigten und unaufmerksam waren. Dann fuhr sie klammheimlich zum Flur und öffnete so still wie eine Maus die Haustür. Und raus war sie, frei, um genau zu sein, schob sich voran so schnell sie konnte, bis ihr die muskulösen Arme schmerzten. Es gab da eine steile Straße, die sie besonders liebte. Diese fuhr sie mit wild rudernden Armen und ausgelassenem Lachen bergab; sie nahm dann solch ein rasches Tempo an, dass es schon lebensgefährlich wurde, weil ihr Bremsweg bei Auftauchen eines Hindernisses allzu lang gewesen wäre. Aber das war ihr in diesen Momenten aus irgendeinem Grund gleich. Diese lebensmüde, rasante Abfahrt war eine der wenigen Situationen, wo sie sich wirklich lebendig fühlte. Ihre Mutter hatte ihr ein paar Monate später ein schlechtes Gewissen gemacht, als Edith verkündete, sie wolle ausziehen. Sie hatte mit einem einzigen Satz geantwortet: »Und damit dankst du es uns?« Daraufhin war sie mit eisiger Miene aus dem Zimmer gegangen. Ihr Vater hatte dagestanden und nur wie ein kleiner Junge mit den Schultern gezuckt. Ding, Dong, machte es am nächsten Nachmittag, nach der peinlichen Situation mit Mirko in der Drogerie. Edith lauschte gerade in der Küche den Klängen der Red hot chilli Peppers und schnitt nebenbei wirklich ein paar Chilis neben Paprika und Zucchini; sie war ohne Assistent in der Wohnung. Sie spürte gleich, wer es war, und das versetzte ihr einen Stich in der Magengegend. Sie schob los, bemerkte, dass sie noch das Schneidemesser in der Linken hielt, und legte es erst auf den Tisch, sodass derjenige nicht auf falsche Gedanken kam. Dann aber wirklich, und jetzt die Tür öffnen Edith, aber erst einmal durchatmen. Und tatsächlich, da stand er, der merkwürdige Mirko, den sie mehr als gut gefunden hatte (fand?). Er stürmte in die Wohnung, um ihr die Chance zu nehmen, die Tür wieder vor ihm zu schließen. Atmete schnell, ging vom kleinen Flur ins Wohnzimmer und wartete auf sie. Als sie angerollt kam, sprudelten die Worte aus ihm raus. »Was ist der Grund? Ich will jetzt die Wahrheit wissen.« Seine Dringlichkeit ängstigte Edith, so kannte sie ihn gar nicht. Sie zog die Nase hoch und kramte ein Taschentuch aus der Hosentasche. Während sie sich schnäuzte, wurde Mirkos Blick wieder etwas wärmer. »Es tut mir leid. Da war diese Frau. Ich … «, sagte Edith. »Carin?« Edith verzog die Wangen, als könnte sie nicht weiterreden. Dann schluckte sie tief und sagte: »Ich hab Gefühle für dich. Und es zerreißt mich, dass du mich nicht für voll nimmst und nur als deinen Job ansiehst.« Mirko hob die Stirn, als seien diese eben ausgesprochenen Worte das Letzte, was er erwartet hatte. Edith hielt den Blick starr auf Mirkos schwarze Lederschuhe gerichtet. Wenn sie jetzt nur ihren Geist von ihrem Körper trennen könnte, kam es ihr in den Sinn. Sie würde es ohne zu zögern tun, würde ihn über die Dächer der Stadt fliegen lassen, den Sternen entgegen.


Das Gefühl von

Подняться наверх