Читать книгу Späte Liebe am Meer - Stefan Raile - Страница 3

ABSCHUSS DER TAUBE

Оглавление

Da stehe ich also, blicke zum erleuchteten Fenster hoch und pfeife durch die Finger wie ein Schuljunge. Gleich wird Claudia die Gardine beiseiteschieben, einen Flügel öffnen und den Schlüssel herunterwerfen wie neulich. Doch nichts regt sich, nur das Licht erlischt. Dabei muss sie mein Pfeifen gehört haben. Bleibt nur: absichtlich ausgeschaltet! Ich will’s nicht glauben, denke: Es ist bestimmt ein Zufall. Deshalb gehe ich auch nicht weg, noch nicht.

Die niedrige Ziegelmauer vor der Hecke ist wie eine Bank, ich setze mich.

Claudia kenne ich erst seit kurzem. Wir begegneten uns, weil Robert zeitweise unzuverlässig war. Seinetwegen steckte an jenem Abend eine zweite Kinokarte in meiner Brieftasche, er konnte aber nicht mitkommen, weil er wieder mal zu tief ins Glas geguckt hatte. Seit seiner Scheidung trank er oft, zu oft, ich verstand nicht, warum es ihn immer aufs Neue in die verräucherte Kneipe zog, Bier, Schnaps, Bier, das war nichts für mich, damit hatte ich’s selbst anfangs nicht versucht.

Ich schlenderte durch mehrere Straßen, die richtige Lust für den Film fehlte, aber nach Hause wollte ich auch nicht; denn dort kam es noch häufig vor, dass mich jener Eindruck aus den ersten Abenden befiel: Die Zimmerwände rückten scheinbar enger zusammen, die Decke senkte sich und drückte mich tiefer in den Sessel, immer tiefer.

Also bummelte ich schließlich doch zum Kino, dort warteten ungefähr zwei Dutzend Leute an der Kasse, obwohl die Vorstellung bereits ausverkauft war. Etwas abseits entdeckte ich Claudia, sie sah zu mir herüber, und als ich die Karten hervorzog, trat sie einen Schritt näher und fragte: „Sie haben eine übrig?“

Der Film war gut, Claudia wandte keinen Blick von der Leinwand, und einmal bemerkte ich, wie sich ihre Hände auf dem Schoß verkrampften. Ich wollte danach greifen, es war ein Reflex von früher, als Berit so neben mir gesessen hatte, meist in der letzten Reihe, damit niemand sich mokieren musste, wenn wir uns küssten.

Claudia merkte, dass ich sie beobachtete, sie schaute mich an, und mir war es, als lächelte sie. Das ermutigte mich, im Schlussgedränge in ihrer Nähe zu bleiben. Auf der Straße wurden wir etwas beiseitegeschoben, Momente standen wir dicht nebeneinander, ich fürchtete, dass sie sich umdrehen und gehen könnte, doch ich wollte, dass sie blieb, deshalb fragte ich: „Haben Sie noch Zeit?“

„Wenig.“

„Schade. Ich hätte sie gern eingeladen.“

„So?“ Sie blickte zu mir hoch; denn sie war ein gutes Stück kleiner als ich, und ihre Stimme klang neugierig, zumindest schien es mir so.

„Zu einer Flasche Wein“, sagte ich, und weil es ein bisschen um ihre Mundwinkel zuckte, fügte ich hinzu: „In irgendein Restaurant.“

Sie zögerte Augenblicke, meinte dann: „Aber nicht lange.“

Wir fanden Platz auf der Terrasse eines nahen Lokals. Nachdem ich bestellt hatte, fragte Claudia: „Gefiel Ihnen die Frau?“

„Welche?“

„Die aus dem Film.“

„Nicht in allem.“

„Mir sehr. Sie wusste immer, was sie wollte.“

„Gerade das störte mich“, sagte ich. „Irgendwann zweifelt jeder mal.“

„Sicher“, stimmte sie zu. „Ich sogar jetzt.“

„Und woran?“

„Ob’s richtig war mitzugehen.“

„Also bedauern Sie’s bereits?“

„So ist’s nicht“, widersprach sie. „Nur missfällt mir, dass Sie alles bezahlen wollen. Zuerst die Kinokarte und nun auch noch den Wein.“

„Es wird mich nicht ruinieren“, sagte ich. „Oder erweckt’s den Anschein?“

„Durchaus nicht“, erwiderte sie. „Schließlich sieht man, dass Sie kein Armer sind. Anzug, weißes Hemd, Binder – das fällt auf mitten in der Woche.“

„Unangenehm?“

„Im Gegenteil“, antwortete sie. „Ich mag’s, wenn Männer auf ihre Kleidung achten.“

Berit dachte anders, wenigstens zuletzt, aber da störte sie ohnehin fast alles an mir. Als ich zu einer Veranstaltung unsres Kollegiums den neusten Anzug auswählte, pflanzte sie sich im Korridor vor mir auf, stemmte die Fäuste in ihre Hüften und sagte: „Putzt dich ja wieder mal raus wie ein Gigolo! Willst wohl euren Weibern imponieren?“

Claudia meinte: „Arbeiter sind Sie gewiss keiner. Ihre Hände sehen nicht danach aus.“

„Finden Sie?“

„Ja“, beharrte sie. „Ich tippe auf was andres.“

„Und worauf?“

„Lehrer.“

„Gratuliere“, sagte ich. „Sie können wohl hellsehen?“

„Das nicht gerade“, erwiderte sie. „Aber bei Ihnen war’s leicht. Sie haben den Blick eines Schulmenschen. Ich besitze ein Gespür dafür.“

„Woher denn?“

„Das hängt mit dem Interesse zusammen“, sagte sie. „Ich wollte mal Pädagogik studieren, wurde aber abgelehnt. Es gab Bessere. Oder sie hatten bessere Beziehungen. Doch nun ist’s nicht mehr wichtig.“

Sie nahm ihr Glas und trank langsam einige Schlucke.

Die einen möchten was Bestimmtes werden und dürfen nicht, dachte ich, die andern schaffen’s auf Anhieb und begreifen danach, dass es nicht das Geeignete für sie ist. So war’s bei Berit. Sie verließ mit sehr guten Noten und großen Erwartungen das Institut, doch mit den Schülern kam sie nicht so zurecht, wie sie es sich vorgestellt hatte. Darunter litt sie, und wenn ich von Erfolgen in meiner Klasse erzählte, blieb sie einsilbig. Als sie dann das erste Mal ihre Sorgen erwähnte, nahm ich es nicht ernst. Erst später begriff ich, dass sie wirklich Schwierigkeiten hatte und wollte ihr helfen, doch nun sperrte sie sich. Mehr und mehr verlor sie ihre Unbekümmertheit, saß stundenlang über den Vorbereitungen, ich begann zu nörgeln, weil sie kaum noch Zeit für mich aufbrachte. Sie wehrte sich nicht. So vergingen Wochen, Monate. Ich gewöhnte mich an ihre bedrückte Stimmung, umso mehr staunte ich, als sie eines Tages freudig aus der Schule nach Hause kam. Der Grund war dieser: Kadurath, der Chefinspektor, hatte sie für ihre Klassenleiteranalyse vor dem Pädagogischen Rat gelobt. Sie konnte weitaus bessere Berichte schreiben als ich, bei so was gab ich mir wenig Mühe, ich hielt es für Zeitvergeudung. Später, als Berit schon eine leitende Position in Aussicht stand, missfiel ihr meine Ansicht. Sie sagte: „Du bist zu unauffällig. Gewiss, du schmeißt deinen Kram, nichts dran zu deuteln, doch das ist zu wenig, du musst mehr klingeln, wenn man auf dich aufmerksam werden soll.“

„Wozu?“, fragte ich. „Meine Arbeit gefällt mir.“

„Tatsächlich? Und es stört dich nicht, dass andre die Leiter hochklettern und du unten bleibst, ganz unten, wo dir Hinz und Kunz auf’m Rücken rumtrommeln können?“

Claudia trank ihr Glas aus. „Für mich wird’s Zeit“, meinte sie.

„Gefällt’s Ihnen nicht?“

„Doch“, sagte sie. „Nur das Kind schläft manchmal so unruhig.“

Ob’s wahr ist? Oder braucht sie einen Vorwand? „Ist’s allein?“, fragte ich.

„Nein. Meine Mutter ist dort.“

Also stimmt’s wohl doch, dachte ich. Weshalb auch nicht? Sie ist bestimmt schon zwanzig, und in dem Alter haben viele das erste Kind. „Ein Junge?“, riet ich.

„Ein Mädchen“, entgegnete sie. Dabei beobachtete sie mich und bemerkte, dass ich auf ihren ringlosen Finger blickte. „Er ist bei der Fahne“, sagte sie.

Ich sah mich durchschaut und griff nach meinem Glas. Später meinte ich: „Ehe auf Raten also. Das ist auch nicht grade das Schönste.“

„Man gewöhnt sich“, entgegnete sie, „und für ihn ist’s nicht unangenehm, immerhin hört er dort kein Kindergeschrei. Wissen Sie, wie so ein Menschlein quengelt und jammert, wenn’s krank ist?“

„Ich glaub schon“, sagte ich und dachte: Wie viel Nächte bin ich kaum zum Schlafen gekommen, als Kerstin Mittelohrentzündung hatte. Gewiss, Berit war ungemein fürsorglich, sie sprang sofort auf, wenn die Kleine zu wimmern begann, flößte ihr Medizin ein, strich ihr übers verschwitzte Haar und redete liebevoll mit ihr. Ich wurde jedes Mal wach, und oft trat ich ebenfalls ans Bett; denn mein Anblick beruhigte Kerstin. Eines Nachts konnte Berit nicht mehr, ihre Beine zitterten, als sie sich erhob, und sie torkelte vor Erschöpfung. Da übernahm ich die Pflege, obgleich ich morgens in die Schule musste, wo ich mit verquollenen Augen unterrichtete.

„Bei der Truppe hat er seine Kumpel“, fuhr Claudia fort, „dort gibt’s öfter ‘nen Jux, und das gefällt ihm. Für Späße war er schon immer. Bei einem lernte ich ihn kennen.“

Sie lagen auf einer Decke, Claudia und Katrin, wenige Schritte weg vom Ufer, wo das Wasser über glitschige Steine schwappte. Es war in der letzten Ferienwoche nach der Zehnten, sie wollten die paar Tage noch gemeinsam verbringen. Danach würde Katrin am Institut studieren, wohin auch Claudia so gern gemocht hätte, um alles über Makarenko, Pestalozzi und die Didaktik zu erfahren.

Das Wasser schimmerte grünlich im stillgelegten Kalkbruch, jenseits ragte schroffer Fels empor, zwanzig Meter oder mehr, an der zerklüfteten Wand kletterten mehrere Jungen, sie stellten sich auf die Vorsprünge, beugten die Köpfe, wippten ein bisschen in den Knien, dann sprangen sie, und einer erklomm eine schwer zugängliche Plattform, die andern schauten zu ihm hoch, er kauerte Sekunden und keuchte, schließlich richtete er sich auf und trat nach vorn, seine Zehen tasteten, er blickte in die Tiefe, dann stieß er sich ab. Claudia beobachtete, wie er eintauchte, wenige Spritzer flogen auf, die Badehose schimmerte durchs Wasser, nur kurz allerdings; denn der dunkle Grund schluckte das Licht. Stille herrschte, lange, endlich kam der blonde Haarschopf zum Vorschein, und die Jungen begannen zu johlen.

Nachher schwammen Claudia und Katrin weit hinaus, sie sahen nicht einmal mehr ihren Liegeplatz, weil Bäume die Sicht behinderten. Später, als sie sich anzogen, merkte Claudia, dass ein Kleidungsstück fehlte.

„Nimm’s nicht tragisch“, meinte Katrin. „Drüben soll ohne modern sein.“

Sie bestiegen ihre Fahrräder, kamen aber nicht weit, da hinter der ersten Biegung etliche Jungen den schmalen Weg versperrten. An seiner Badehose erkannte Claudia den, der von der Plattform gesprungen war, er stand breitbeinig vor den andern, hielt die Arme auf den Rücken und sagte: „So dürft ihr nicht in die Stadt!“

„Wieso?“, fragte Katrin.

„Die Sittenpolizei würde euch hoppnehmen.“ Er betrachtete sie ungeniert und grinste.

„Blödian“, sagte Katrin und wollte sich an ihm vorbeischieben, doch er griff mit der rechten Hand nach ihrem Lenker, die linke streckte den BH vor.

„Gib her“, forderte Claudia und langte danach.

Der Junge war schneller, er zog den Arm zurück. „Erst den Finderlohn“, sagte er.

Katrin verzog verächtlich die Mundwinkel. „Finderlohn? Ihr habt ihn doch geklaut!“

„Dann eben Diebeslohn“, meinte der Junge.

Claudia fragte: „Wie viel?“

„Einen.“

„Was?“

„Kuss.“

Sie sah ihn vor sich stehen, groß und breitschultrig, seine Augen waren blau, sie dachte: beinah himmelblau, und als er näherkam, wich sie nicht aus, seine Arme griffen nach ihren Schultern, sie spürte den kräftigen Händedruck und die Lippen auf ihrem Mund, sie wehrte sich nicht.

Am folgenden Tag radelten sie wieder zum Kalkbruch, denn dort war Andreas, er hockte sich zu ihnen auf die Decke, und Claudia hatte nur noch Augen für ihn. Erst als die Freundin ihre Sachen zusammenpackte und das Bündel auf den Gepäckhalter schob, blickte sie verwundert auf.

„Was ist?“, fragte sie.

„Ich bin keine Anstandsglucke.“

„Du störst nicht. Stimmt’s, Andi, sie stört nicht?“

„Nein“, pflichtete er ihr bei, „aber wir brauchen sie nicht unbedingt.“

Katrin verfärbte sich ein bisschen, ihre Finger pressten den Lenker, wortlos fuhr sie davon.

Claudia verbrachte die letzten Ferientage mit Andreas, auch die folgenden Wochenenden, sie wurde Stammgast auf seinem Sozius, sah Schwalben auf den Drähten, Nebel über den Wiesen sowie wirbelnde Blätter im Wind, und einmal hielten sie in der Stadt mit dem riesigen Rummel auf dem Marktplatz, dort ließen sie nichts aus, kein Karussell, keine Losbude, selbst die Luftschaukel nicht, darin wurde Claudia übel, sie torkelte, als sie ausstiegen, Andreas stützte sie, und er sagte: „Wir fahren nicht mehr, könnten’s auch gar nicht; denn bis auf ein paar lausige Groschen haben wir alles verjuchtelt.“

Er drückte ihr einen gewonnenen Stoffhund mit Plüschohren in die Hand, und sie hielt ihn fest, während sie zum Motorrad gingen. Als sie es erreichten, war Claudia noch ein bisschen blass, fühlte sich aber schon viel besser.

„Andi“, sagte sie, „wir dürfen das Geld nicht mehr so verschleudern.“

„Warum?“

„Weil wir’s brauchen werden.“ Sie lächelte unsicher, wagte nicht, ihn anzusehen, sondern pusselte an dem Tier herum, zupfte an den Ohren. „Einen Anfang haben wir immerhin“, meinte sie schließlich. „Der Hund wird das erste Spielzeug sein.“

Da begriff Andreas, wollte es aber nicht wahrhaben. „Du flunkerst“, behauptete er.

„Es stimmt“, entgegnete sie. „Oder glaubst du, mit so was könnte ich spaßen?“ Sie suchte nach einer Spur Freude in seinem Gesicht, fand aber keine, deshalb sagte sie: „Dir ist’s bloß nicht recht.“

„Recht“, maulte er, „was heißt recht? Die Zeit ist ungünstig. Versteh doch: Wir lieben uns. Reicht dir das nicht? Bis jetzt haben wir nichts: kein Geld, keine Wohnung. Ein Kind kommt auch später zurecht.“

Er spricht wie meine Eltern, dachte sie. Zwar tobt er nicht wie Vater, noch barmt er wie Mutter, doch möchte er im Grunde das Gleiche. Sie musste schlucken, der Speichel schmeckte bitter, sie schwieg lange, sagte endlich: „Ich will’s aber. Und wenn alle dagegen wären, ich will’s!“

Sie drängte ihn nicht, überließ alles ihm. Wenn es sein müsste, schaffte sie es auch allein. So viel würde sie verdienen, ums durchzustehen, auch ein bisschen mehr; denn sofern eine Friseuse geschickt ist, aus dem dünnen Haar der Frau Doktor oder der Klempner-Meister-Gattin eine beachtliche Lockenpracht zaubert, mit allerlei Tricks und Raffinessen, fließen die Trinkgelder. Damit tröstete sie sich, drei Wochen lang, danach stand eines Abends Andreas vor dem Salon, mit eingezogenem Kopf und regennass, er langte ein paar welke Alpenveilchen aus der Manteltasche, sagte: „Jetzt will ich’s auch.“

Nun schien ihr Verhältnis wieder normal, doch wie früher wurde es nicht mehr, das spürten beide, begriffen nur nicht, warum. Seit er bei der Armee war, warteten sie wieder und wieder auf die Urlaubstage, aber die erhoffte Wende brachte keines der Wiedersehen, und Andreas zog es immer öfter zu seinen Kumpeln am Biertisch.

„Jetzt muss ich wirklich gehen“, sagte Claudia.

Ich winkte den Kellner herbei und zahlte, danach schlenderten wir durch etliche Straßen, wenige Menschen begegneten uns bloß, ich achtete kaum auf sie. Schließlich standen wir vorm Haus, in dem ich wohnte, ich war erstaunt, als ich’s merkte. Claudia schaute mich an, mir kam es vor, als läge Erwartung in ihrem Blick, deshalb fragte ich: „Kommst du mit hoch?“

Eine Lampe schien matt, das diffuse Licht beleuchtete ihr Gesicht, sie zögerte.

„Was hindert dich?“

„Nichts“, sagte sie.

Wir stiegen die Treppen empor, wortlos, unsre Schritte hallten, und der Schlüssel knirschte lauter als sonst. Im Korridor verharrten wir ein bisschen verlegen, schließlich nahm ich ihr den Mantel ab, und sie fragte: „Darf ich mir die Hände waschen?“

Ich führte sie ins Bad, dort blieb sie überrascht stehen und bewunderte die türkisfarbenen Fliesen. Ihr Erwerb war schwierig gewesen, er hatte neben dem überhöhten Preis noch zwei aus Ungarn mitgebrachte Flaschen Tresterbranntwein und eine große Gyulai Kolbász gekostet, doch das zu viel gezahlte Geld und die Mühen vergaß ich, als Berit, während ich die Maurerkelle säuberte, neben mich trat und lächelte.

„Gefällt’s dir?“

„Es macht was her“, sagte sie. Ihre Augen schimmerten, wie ich es auch im Dorf am Rande der Puszta beobachtet hatte. Wir waren in dem Sommer, als sie schwanger wurde, für drei Wochen mit unsrem Trabant über Böhmen, Mähren und die Slowakei in den südungarischen Ort gefahren, wo uns Großmutters Nichte Resi, die mit ihrem Mann aus Gründen, die mir unklar blieben, das kleine Gehöft behalten durfte, überaus gastfreundlich aufnahm. Ich fühlte mich wider Erwarten sofort heimisch, fürchtete aber, dass sich Berit nur schwer an die ihr fremden Bedingungen gewöhnen würde. Doch zu meinem großen Erstaunen fand sie sich mit einer Leichtigkeit, wie ich sie nie zuvor bei ihr beobachtet hatte, schon am zweiten Tag im häuslichen Umkreis zurecht. Als lebte sie seit langem hier, schöpfte sie Wasser aus dem Ziehbrunnen, tränkte Kuh und Schweine, fütterte das Geflügel, sammelte aus verschiedenen Legestellen die Eier ein, spielte mit dem schlappohrigen Mischlingshund, der mich ein wenig an Betyár erinnerte, erntete im Garten hinterm Maisschuppen Tomaten, Paprika und Gurken, half beim Zubereiten der Mahlzeiten und zeigte sich, als sie den hauchdünnen Strudelteig fast unversehrt über die gesamte Tischfläche zog, so geschickt, dass Resi sie mehrfach lobte, und ich zum ersten Mal dachte, sie übe vielleicht den falschen Beruf aus.

Manchmal schien es mir, als wirkte unter der grellen Sonne, die nur selten kurzzeitig von einem Wölkchen verdeckt wurde, ein wundersamer Zauber: Obwohl mir, durch unterschiedliche Eindrücke angeregt, wiederholt einfiel, was sechzehn Jahre vorher geschehen war, spürte ich kaum Bitterkeit, und Berit befragte mich so ausgiebig nach meinen Kindheitserlebnissen in dem nur wenige Kilometer entfernten Nachbardorf, wie ich es, da ihr meine Herkunft früher eher gleichgültig gewesen war, nie erwartet hätte. Wenn wir, bevor es dunkelte, Hand in Hand über die sandige, ortsnahe Hutweide stapften oder nach einigen Gläsern selbst gekeltertem Kadarka, die uns Martin, Resis Mann, nach unsrer Rückkehr, während wir zu viert auf dem lauschigen Säulengang beisammen saßen, eingeschenkt hatte, nahe nebeneinander in dem breiten Bett aus Eichenholz lagen, hörte sie mir besonders aufmerksam zu. Ich erzählte von unsrem Haus, dem mächtigen Maulbeerbaum, Betyár und Schneewittchen, der Kuh Rosi, dem alten Klock, dem jüdischen Händler Armin, Feri und den anderen Freunden. Nur Edit, die mir seit meinem Besuch, der vier Jahre zurücklag, nicht mehr geschrieben hatte, erwähnte ich mit keinem Wort.

Durch das, was sie nach und nach erfuhr, neugierig geworden, wollte Berit das Dorf unbedingt kennenlernen. Ich fuhr mit gemischten Gefühlen hin, ließ es mir aber nicht anmerken. Auf dem Parkplatz vor dem Gemeindeamt stellten wir das Auto ab. Je näher wir dem lindgrünen Haus kamen, desto stärker wurde meine Spannung. Sobald wir um die Ecke bogen, an der sich Armins Laden befunden hatte, schien es mir, als ginge Edit neben mir über die wenigen Stufen in den Verkaufsraum, und vor unsrem einstigen Anwesen angelangt, fürchtete ich, sie könnte wie bei meinem Besuch wirklich unerwartet aus dem Tor treten.

Berit spürte meine Unruhe, ohne zu ahnen, woher sie rührte.

„Schade“, sagte sie und blickte weiter zu dem Haus.

„Was?“, fragte ich.

„Dass es dir nicht mehr gehört“, erwiderte sie. „Nach dem, was ich, seit wir hier sind, erfahren und erlebt habe, würde ich mich, glaube ich, sehr wohl darin fühlen.“

In die Stadt an der Neiße zurückgekehrt, merkte ich, dass der Zauber, der uns drei Wochen umfangen hatte, rasch zu schwinden begann. Je mehr Berit mir durch ihre Arbeit wie vor unsrer Reise überfordert erschien, desto öfter dachte ich an Edit, der ich während unsres Dorfbesuchs nicht begegnet war, wenn­gleich ich es mir insgeheim gewünscht hätte. Geschah es, weil ich mich, von den jäh aufgelebten Erinnerungen beeinflusst, wiederholt fragte, ob ich mit ihr glücklicher geworden wäre?

Natürlich meinte ich damals noch, dass sich, was bei Berit für kurze Zeit geschehen war, dauerhaft zum Guten wenden könnte, wenn sie anders leben würde. Meine Hoffnung wuchs, sobald ich erfuhr, dass sie schwanger war, und an jenem Abend, als wir zum ersten Mal die Bewegung des Kindes tasteten, steigerte sie sich ins Unermessliche. Es folgten Sternstunden für uns, wir glaubten an Allmacht, glaubten, sämtliche Schwierigkeiten und Gefahren hinter uns gelassen zu haben, wollten nicht sehen, dass keine Wunder geschehen, alles bei uns lag.

Als der Schwangerschaftsurlaub zu Ende ging, schlug ich Berit vor, sich für ein Jahr freistellen zu lassen. Da kann sie ausspannen, dachte ich, und zu sich finden wie bei Resi und Martin. Vielleicht braucht sie nur genug Ruhe, um wieder so zu werden, wie ich sie kennengelernt habe.

Doch sie wollte mein Angebot auf gar keinen Fall annehmen. „Da würde das Geld knapp“, sagte sie, „und wo Mangel ist, funktioniert keine Ehe.“

Einmal redete ich mit Großmutter darüber, als ich sie in ihrem lichtarmen Zimmer besuchte, wo sie wie sonst im abgewetzten Lehnstuhl saß, die Augen halb geschlossen hielt und lautlos betete, während sie den Rosenkranz langsam zwischen ihren steifen Fingern bewegte. Sie merkte, dass mich etwas beschäftigte, obwohl sie meine Gesichtszüge, da sie zunehmend schlechter sah, wahrscheinlich kaum noch erkannte.

„Ist was mit Kerstin?“, fragte sie.

Ich verneinte.

„Mit Berit?“

Ich erzählte ihr, was mir Sorge bereitete, und während sie, den Kopf leicht geneigt, die Lider weiterhin halb geschlossen, aufmerksam zuhörte, fühlte ich mich ihr nahe wie einst, als sie fast immer einen Ausweg gewusst hatte. Doch jetzt strich sie sich, indem sie den Rosenkranz mit der linken Hand losließ, scheinbar ratlos übers schlohweiße, schütter gewordene Haar, dessen Ansatz schon weit über die Stirn zurückwich.

„Vielleicht“, sagte sie schließlich, „fehlt euch der Segen unsres Herrgotts. Du weißt, wie sehr es mich betrübt hat, dass ihr zwar ins Standesamt gegangen, aber nicht vor den Traualtar getreten seid. Vielleicht ist das, was bei euch geschieht, ein Zeichen dafür, das Versäumte nachzuholen?“

„Berit wäre nie damit einverstanden“, erwiderte ich, „und auch mir könnte es, wenn meine Vorgesetzten davon erfahren würden, erheblich zum Nachteil gereichen.“

„Dann“, sagte Großmutter, während sie mich traurig anblickte und verhalten seufzte, „kann ich nur weiter für euch beten.“

Doch so oft sie in ihrem lichtarmen Zimmer auch unsretwegen zum Rosenkranz griff, schien es nichts zu helfen. Wenn Kerstin schlief, korrigierten wir Hefte, lasen Fachliteratur, entwarfen Lektionen; anschließend sahen wir gewöhnlich fern, hockten im schummrigen Zimmer und starrten auf die Bildröhre, froh darüber, dass der andre nichts fragte.

Später blieb selbst für das stumme Zusammensein kaum noch Zeit, obgleich wir die Arbeit im Haushalt aufteilten und Kerstin abwechselnd betreuten. Berit saß manchmal bis weit in die Nacht vor ihren Büchern, sie studierte alle greifbaren Abhandlungen über Unterrichtsmethodik und glich das fehlende Geschick durch Fleiß aus. Mir wich sie immer auffälliger aus, in der Schule jedoch übernahm sie Funktionen und leistete Überdurchschnittliches. Im nächsten Frühjahr trug man ihr eine Tätigkeit in der Pionierkreisleitung an. Als sie mir davon erzählte, sagte ich: „Dort gibt’s keinen geregelten Feierabend. Wir haben ein Kind. Hast du daran gedacht? Oder willst du, dass ich mich allein um Kerstin kümmere?“

Sie lehnte ab, es sollte eine Konzession an mich sein, zumindest behauptete sie es. Unser Verhältnis wurde davon keinen Deut besser, und ich dachte immer öfter, dass Großmutter vielleicht wirklich Recht haben könnte. Doch es schien zu spät, um das, was sich abzeichnete, noch aufhalten zu können. Die Spannungen zwischen uns wuchsen, wir stritten uns von Woche zu Woche öfter, und als Berit nach Monaten ein weiteres Angebot erhielt, teilte sie mir lediglich mit, dass sie Schulinspektorin würde.

„Wer tüchtig ist, avanciert“, sagte sie, „denn Leistung wird immer und überall belohnt.“

Ganz so war’s nicht, aber das begriff ich erst später.

Claudia stand vorm Spiegel und kämmte sich, sie hatte welliges, halblanges Haar.

„Magst du Kaffee“, fragte ich, „oder lieber einen Schnaps?“

„Lieber Schnaps“, sagte sie, „aber vorher noch was andres, wenn’s dir nichts ausmacht.“

„Was?“

„Baden“, meinte sie. „Die Wanne lockt so.“

„Kannst du“, sagte ich, „natürlich“, und ich zeigte ihr die notwendigen Utensilien.

Während ich Flasche und Gläser bereitstellte, hörte ich, wie sie im Wasser planschte. So ausgelassen war Kerstin an jenem See gewesen, sie hatte am Ufer gekauert und lachend nach den Wellen gegriffen. Als ich sie an den Hüften fasste und weiter hineinwatete, patschte sie mit den Händchen, dass die Spritzer flogen. Einmal schaute ich zu Berit – sie saß auf einer Landzunge -, dabei entdeckte ich einen Mann neben ihr. Es war Kadurath. Ich sah, dass sie lachte, vernahm ihre helle Stimme, dachte: Wie sie ihn anhimmelt. Verdacht hatte ich noch keinen, der kam später, vor der Heimfahrt, da stand der Inspektor neben seinem Auto und fummelte am Schloss, kriegte aber die Tür nicht auf. Seine Frau und zwei Töchter warteten ungeduldig. Als Berit seine erfolglosen Bemühungen bemerkte, wurde sie zapplig. Sie stieß mich an und sagte: „Der Wagen ist neu. Er kommt nicht zu Rande. So hilf ihm doch!“

Da merkte ich zum ersten Mal auf, wollte es aber nicht glauben, dachte: Das kann nicht sein, er ist beinah zwanzig Jahre älter als sie, hat drei Kinder, was will sie mit ihm? Bald ahnte ich allerdings, dass sie ein Verhältnis hatten. Hinzu kam, dass mich etliche Bekannte drucksend und mitleidig über ihre Beobachtungen informierten, wodurch meine Vermutung zur Gewissheit wurde. Dennoch führte ich kein rasches Ende herbei, ich zögerte wegen Kerstin, zumindest redete ich’s mir damals ein, es widerstrebte mir, etwas andres überhaupt in Erwägung zu ziehen, heute weiß ich, dass auch Berit Anteil hatte. Aber in erster Linie ging’s ums Kind, schließlich sind die Chancen für Väter gering, in den weitaus meisten Fällen bekommen die Mütter das Erziehungsrecht zugesprochen. Ich konnte mir jedoch kein Leben ohne Kerstin vorstellen, wollte sie weiter lachen hören, ihre staunenden Augen sehen, die weichen Händchen in meinem Gesicht spüren.

Berit unternahm gleichfalls nichts. In jenen Wochen, da ich endgültig zu bezweifeln begann, ob allein der Gang vor den Traualtar noch etwas hätte ändern können, glaubte ich, dass sie nur Kaduraths Scheidung abwartete, aber vielleicht war sie auch lange unschlüssig. Die Wahrheit werde ich kaum jemals erfahren, ich weiß nur, dass beide ihre Zuneigung in der Dienststelle hartnäckig bestritten, was dazu führte, dass sie sich mehr und mehr in Widersprüche verstrickten, weil sie zu oft gemeinsam gesehen wurden. Eine Lüge zieht zehn weitere nach sich, manchmal sogar hundert oder mehr. Sie trieben es schließlich so weit, dass sie abgelöst werden mussten.

Danach arbeitete Berit wieder in einer Schule, wohin sie, seit sie befördert worden war, nicht mehr gewollt hatte. Eines Abends tüftelte sie endlos an ihrem Lektionsentwurf, kam aber trotzdem nicht recht voran. Ab und zu trank sie einen Schluck von dem Weinbrand, den sie mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie kaute an ihrem Füllhalter herum, schrieb ein paar Wörter, strich sie wieder, und dann sah ich, dass sie weinte. Ich setzte mich zu ihr auf die Couch. Sie schaute mich an, ihre Augen waren starr, sie sagte: „Geh weg!“

Die Bestimmtheit in ihrem Tonfall hätte mich warnen sollen, doch ich hörte nicht, sondern berührte ihre Schulter. Sie stieß meine Hand zurück. „Fass mich nicht an!“

„Bin ich denn giftig?“, fragte ich.

„Ja“, sagte sie. „Ein giftiger Spießbürger!“

„Aber mein Schnaps ist in Ordnung“, stichelte ich. „Da fürchtest du nicht, dass er schadet.“

„Tut dir wohl leid, was? Selbst darin bist du kleinlich!“ Sie nahm das Glas und hielt es mir vors Gesicht. „Da, sauf deinen Fusel, sauf ihn!“

Ich sah den Hass in ihren Augen, sie waren ganz dunkel davon, meine Hände verkrampften sich, und dann schlug ich zu. Berit stieß gegen den Tisch, das Glas entglitt ihr, es zerbrach, der Alkohol nässte den Teppich.

Sie rappelte sich auf und ging ohne ein Wort hinaus. Ich saß noch lange reglos, später legte ich mich hin, konnte aber nicht schlafen.

Am nächsten Tag reichte ich die Scheidungsklage ein. Der Aussöhnungsversuch scheiterte, ein paar Wochen darauf folgte der zweite Termin. Im Gerichtssaal saßen wir uns feindselig gegenüber, nichts war geblieben, nichts. Da hatte man unter einem Dach gelebt, sechs Jahre beinah, manche Last gemeinsam getragen, öfter umeinander gebangt, nachts, wenn man wach wur­de, dem Atem des andern gelauscht.

Nun war alles vorbei.

Die Verhandlung verlief ohne nennenswerten Zwischenfall, wir waren uns einig wie selten vorher, einig in der Aussage: Wir können nicht mehr! Lediglich zuletzt kamen wir ein bisschen in Bedrängnis wegen des Trabants, wobei der Richter, der seine Fragen bis dahin sehr sachlich gestellt hatte, zum ersten Mal unwillig wurde. Als er mit einem weiteren Termin drohte, gab ich nach, obwohl ich wusste, dass ich lange auf ein andres Auto würde warten müssen.

Und Kerstin?

„Ausgehend von der Feststellung, dass beide Parteien die gleichen Voraussetzungen für eine harmonische Erziehung der gemeinsamen Tochter haben, wird in Anbetracht der Tatsache, dass das Kind noch sehr jung ist, der Mutter das Erziehungsrecht übertragen.“ So lautete die Begründung, ich habe sie mir gemerkt, sie ist das Einzige, was ich mir wörtlich gemerkt habe.

Am selben Tag noch zog Berit aus. Sie riss Kerstin von mir los, riss sie los und zerrte sie fort. Seither verwehrt sie mir den Umgang mit unsrem Kind, sie gebraucht wieder und wieder simple Ausflüchte.

Am schlimmsten war der erste Abend. Ich blieb zu Hause. Mancher wäre in die Kneipe gegangen: ein Bier, ein Schnaps, ein Bier. Ich wollte allein sein. Was ich dachte, könnte ich nicht mehr sagen, nur dies ist mir erinnerlich: Mir schien, als rückten die Wände enger zusammen, senkte sich die Decke und drückte mich tiefer in den Sessel, immer tiefer.

Wochen später rief mich Kaduraths geschiedene Frau an. Sie fragte, ob sie mir etwas Interessantes mitteilen solle. Bevor ich recht begriff, legte sie schon los. Ihr Exgatte – sie sagte Exgatte mit jenem Sarkasmus, der die Bitterkeit nicht ganz verdrängen kann – habe sich wieder verehelicht, mit wem, erübrige sich wohl zu erwähnen. Sie arbeiteten in H. und hätten dort eine Neubauwohnung.

Claudia trat ins Zimmer, sie trug einen Bademantel, lächelte etwas unsicher, fragte: „Darf ich?“

„Freilich“, sagte ich.

Sie setzte sich in einen Sessel und zupfte den Frotteestoff zurecht, dass er die Knie bedeckte. Ich goss Kognak ein, reichte ihr ein Glas, nahm das andre. Sie blickte mich an, sagte: „Auf die Lehrer.“

Wir tranken aus, Claudia verzog ein bisschen das Gesicht.

„Mir scheint“, sagte ich, „du hast wirklich ‘nen Fimmel für Schulmenschen.“

„Hab ich“, bestätigte sie. „Bereits seit der achten Klasse.“

Ich horchte auf. „So genau weißt du’s? Dann gab’s bestimmt einen Grund.“

„Ja“, sagte sie, „Paganini.“

„Paganini?“

„So nannten wir unsren Klassenleiter. Er ähnelte dir übrigens, nicht im Aussehen, mehr in der Art, auch er war immer picobello gekleidet und trug die schicksten Manschettenknöpfe, die ich jemals sah. Am auffälligsten fand ich jedoch seine Hände, sie waren schmal und ungemein gepflegt. Katrin, die neben mir saß, sagte mal: ‚Der hat ja Paganinifinger‘. Später erfuhren wir, dass er wirklich Geiger werden wollte, aber ein Splitter verletzte in der Ukraine seinen Arm, da war’s damit vorbei. Dennoch blieb er der Musik verbunden, er spielte wundervoll Klavier, und wenn ich mich heute für Bartók, Chopin und Prokofjew interessiere, verdanke ich’s ihm. Dabei hatte er’s anfangs schwer mit uns; denn wir waren das, was man eine miese Truppe nennt. Etliche Rabauken gaben den Ton an, und die Übrigen tuteten ins gleiche Horn. Manche Lehrer brachten wir an den Rand der Verzweiflung, und unsre vorherige Klassenleiterin hatte sich entnervt an eine andre Schule versetzen lassen.

Paganini trat also kein beneidenswertes Erbe an. In der ersten Stunde empfing ihn wilder Tumult, einige balgten sich, die restlichen schrien, kreischten oder grölten. Paganini bahnte sich einen Weg durch die Meute. Als er den Tisch erreichte, brüllte er nicht, sondern nahm ein Buch aus seiner Tasche, rückte den Stuhl ans Fenster, setzte sich mit gleichmütigem Gesicht und begann zu lesen. Das war etwas Neues, es brachte uns aus der Fassung, wir blickten erwartungsvoll nach vorn, der Lärm ebbte ab. Sobald nur noch geflüstert wurde, erhob sich Paganini, sehr ruhig und betont langsam, er sah auf seine Uhr, sagte: ‚Drei Minuten, genau drei Minuten und achtzehn Sekunden. Gut ist’s nicht, wenn in der Zeit bloß einer was lernt, doch ihr werdet eure Gründe haben.‘ Er legte eine kurze Pause ein, wir mucksten uns nicht, und so fuhr er fort: ‚Ich las übrigens gerade von Mammutbäumen, die im Yellowstone-Park stehen, es müssen gewaltige Kolosse sei, durch einen hat man sogar einen Autotunnel gesprengt. Ihr wisst, wo der Yellowstone-Park ist? Nicht? Dann müsste ich eigentlich doch ein bisschen unterrichten.‘

Paganini hatte tausend originelle Ideen, bei ihm wurde es nie langweilig, darin bestand das Geheimnis seiner Erfolge. Zudem ging er auf jeden Schüler ein und nahm sich viel Zeit für ihre Probleme. Dennoch änderten wir uns nicht von heute auf morgen, immer wieder gab’s Rückfälle, aber wirklich schwierig war nur einer: Hamlet, ein Junge mit krankhaftem Geltungsbedürfnis, das er nicht mit guten Leistungen befriedigen konnte. Deshalb tüftelte er fortwährend neue Streiche aus, und eines Tages brachte er ‘ne selbst gebastelte Quietsche mit, die stellte er unter seine Bank, und wenn er mit dem Fuß drauftrat, erklang ein schriller Ton. Geraume Zeit unternahm Paganini nichts, allerdings beobachtete er uns, und sobald er wusste, wer der Störenfried war, sagte er: ‚Komm doch mal vor.‘ Hamlet erhob sich, schob die Hände in die Hosentaschen und schlurfte grinsend zum Lehrertisch, wo er herausfordernd stehen blieb. Wir sahen, dass Paganini fuchtig war, dachten: Jetzt vergisst er sich. Aber wir irrten uns, er sprach leise, nur seine Stimme klang ein wenig gepresst: ‚Wenn dein Spieltrieb stärker als dein Wille ist, darfst du gehen. Quieke meinethalben auf’m Lokus, hier ist’s momentan lästig, das wirst du doch verstehen.‘ Da wurde Hamlet rot im Gesicht, und als er mit hängenden Schultern zu seinem Platz tappte, begriffen alle, dass er Verlierer war.“

Claudia langte nach ihrem Glas und trank. Mir schien, als überlegte sie. „Wolltest du deshalb Lehrerein werden?“, fragte ich.

„Auch“, erwiderte sie, „aber nicht ausschließlich.“

„Sondern?“

„Ich hätte eben Lust dazu“, sagte sie. „Mehr als zu andrem. Und ich bin sicher, dass ich’s schaffen würde. Mit den Kindern käme ich zurecht. Es gibt ein natürliches Geschick, glaube ich. Das kann nicht durch Bücherweisheit ersetzt werden. Katrin ist jedenfalls gescheitert. Dabei war sie die Beste aus unsrer Klasse, mit Abstand, und sie wurde mit reichlichem Vorschusslorbeer zum Studium delegiert, wo sie ihre Noten bestätigte. Doch als das erste Praktikum folgte, versagte sie jämmerlich, weil sie trotz ihrer Schläue nicht ankam bei den Schülern. Als sie’s begriff, ließ sie sich exmatrikulieren und wurde Laborantin.“

„Eine vernünftige Lösung“, sagte ich und dachte: Ich könnte auch keine ständigen Misserfolge verkraften. Deshalb erscheint mir Bogner wie ein Phänomen. Was lässt sich der Mann von den Kindern fertig machen! Würde es mir so ergehen, hätte ich längst das Handtuch geworfen. Schließlich gibt’s noch genug andre Berufe. Berits Bemühen um eine Veränderung habe ich freilich nicht verstehen wollen. Dabei muss es ihr manchmal wie Bogner ergangen sein. War es da verwunderlich, dass es sie danach verlangte, dort zu arbeiten, wo sie sich ähnlich bestätigt fühlte wie bei Resi und Martin? Ich aber sah nur, dass sie über mir stünde, und ich fürchtete, dass jemand sagen könnte: „Ich hörte, Ihre Frau ist Inspektorin. Gratuliere!“ Deshalb fand ich immer neue Argumente, um sie von ihrem Weg abzuhalten. Sie brachte damals erstaunlich viel Geduld auf, und später stellte sie nie heraus, dass sie mir übergeordnet war. Vielleicht hoffte sie sogar, dass ich gleichfalls aufrücken würde, weil sie nicht glauben wollte, dass mich die Arbeit mit den Schülern ausfüllte.

Claudia sagte: „Du erinnerst mich sehr an Paganini. Bestimmt unterrichtest du wie er. Ich bin beinah sicher.“

Ich goss Schnaps nach. Als ich ihr das Glas reichte, musste ich mich ziemlich vorbeugen. „Du sitzt so weit weg“, meinte ich.

„Das lässt sich ändern.“ Sie rutschte den Sessel näher.

„Besser?“

„Ja. Aber noch nicht gut.“

„Jetzt bist du dran“, sagte sie. „Jeder ein Stück.“

Wir rückten aufeinander zu, Zentimeter um Zentimeter. Claudia fand Gefallen an dem Spiel. Solche Situationen mochte sie. Das bemerkte ich auch Tage danach an jenem abgelegenen See. Wir wateten durch eine schmale Schilfschneise, Claudia ging hinter mir, sagte: „Dreh dich nicht um, noch nicht.“ Doch ich blickte über die Schulter und sah, wie ihr Körper schimmerte. Wellen kabbelten gegen die bloße Haut. Sie kreischte ein bisschen und stürzte sich ins Wasser. Mit zwei, drei Schritten war ich bei ihr, wir balgten und spritzten uns. Dann nahm ich sie auf die Arme und trug sie ans Ufer. Das Gras war weich und barg noch einen Rest Tageswärme.

Später meinte Claudia: „Es ist schön so: sich rekeln, atmen, die Sterne sehen. Hier könnte ich ‘ne Weile liegen und warten. Auf nichts Bestimmtes. Bloß so. Vielleicht würde sich was ereignen. Irgendwas.“

Dergleichen hätte Berit nie gesagt, dachte ich. Bei ihr musste alles Zweck und Ziel haben. Zuweilen behauptete sie: „Hoffen und Harren hält manchen zum Narren!“

Sie fand eine Bestätigung dafür. Eines Abends begegneten wir im Theaterklub einem Statisten. Er saß an unsrem Tisch, ein Mann um die Dreißig, und starrte trübsinnig in sein Bierglas. Er litt an einem Tick, fühlte sich zu Höherem berufen, seit eine Alte ihm aus dem Kaffeegrund wahrgesagt hatte. Er glaubte, ein großartiger Schauspieler zu werden, mindestens so gut wie Gründgens oder Heinrich George. Deshalb störte es ihn, dass er von den Kollegen zu wenig ästimiert wurde. Seine liebste Redewendung lautete: „So was gibt’s, dass einer plötzlich aufsteigt, wie Phönix aus der Asche.“

Er ist nicht aufgestiegen, sondern lauert noch immer auf die wundersame Gelegenheit.

„Mir ist nicht nach Warten“, sagte ich. „Wollen wir gehen?“

„Ja“, erwiderte Claudia. „Wenn du willst, gehen wir.“

Wir stapften durchs Gras, erreichten einen schmalen Weg, den Bäume säumten. Mondschein fiel durchs Gezweig und scheckte den Boden, vereinzelt flogen Glühwürmchen vorbei, sie glichen fluoreszierenden Funken. Einmal rannte Claudia vornweg, sie griff nach einem Zweig und rief: „Wenn ich Akazien sehe, muss ich immer Blätter abrupfen. Was hältst du eigentlich von dem Zählspiel?“

„Nichts“, sagte ich. „Außerdem ist’s keine Akazie.“

„Sondern?“

„Eine Robinie.“

Ich reagierte, wie mir später bewusst wurde, so unwirsch, weil ich mich zweifach erinnert fühlte: zum einen an Edit, da auch wir die gefiederten Blätter abgezählt hatten und uns die Ergebnisse so bedeutsam erschienen waren wie die Wasserberührungen, die meine flach über den Teich geworfenen Steinchen schafften, ehe sie, kaum erkennbare Kreise auslösend, mit leichtem Glucksen versanken; zum andern an Berit, die mich, während wir uns, vom Rundgang durchs Dorf müde geworden, auf dem Weg zu Lenharts Gasthaus befanden, um eine Kleinigkeit zu essen und Kracherl zu trinken, darum bat, einen Akazienzweig herunterzuziehen. Als wir, den Zählreim halblaut murmelnd, bei unterschiedlichen Blättern zum gleichen günstigen Ergebnis kamen, fragte sie: „Glaubst du dran?“

„Ich möchte es gern.“

Claudia ließ den Ast los, er schnellte nach oben, Sekunden stand sie unschlüssig, verharrte aber, bis ich heran war, dann schritt sie neben mir, den Kopf leicht gesenkt, sie sprach kein Wort.

Zuletzt hatte ich Berit oft so erlebt. Dabei war’s anfangs ganz anders gewesen. Immerhin hatte es viel Gemeinsames gegeben: Wir entdeckten ein zweites Mal die Stadt und ihre Umgebung, es existierten wenige Straßen, auf denen wir nicht gingen, kaum Gasthäuser in den nahen Dörfern, worin wir nicht saßen. Berit mochte die Atmosphäre in den meist niedrigen Räumen, manchmal hielten wir uns stundenlang darin auf, sie trank indessen gewöhnlich nur einen Saft, sah aber interessiert zu, wie ein paar Grauköpfe am Stammtisch würfelten, eine ältliche Dame ihren Pudel mit Bockwurst fütterte, oder der Wirt emsig an den blitzenden Getränkehähnen hantierte. Damals fühlten wir uns einander nahe wie später in Lenharts Gasthaus, wo vielleicht schon meine Großeltern an unsrem Tisch gesessen hatten, fluchten nur hin und wieder über die schäbige Mansarde, in der wir hausten, träumten von einer richtigen Wohnung und konnten uns noch über Kleinigkeiten freuen.

Einmal holten wir aus einem versteckt gelegenen Tal Äpfel, die wuchsen auf Bäumen, um die sich keiner kümmerte, wir füllten zwei Rucksäcke, doch Berit war unersättlich, sie kletterte einen schrundigen Stamm empor und pflückte etliche rotschalige Früchte aus dem Wipfel. Als sie herabstieg, fetzte sie sich ein Loch in die Nahthose, wir schlossen den Riss mit zwei Sicherheitsnadeln und marschierten barfuß über glitschige Wege. Sobald Leute kamen, sangen wir lauthals und amüsierten uns, wenn sie uns scheele Blicke zuwarfen oder befremdet die Köpfe schüttelten. Zu Hause legten wir die Äpfel in Stiegen und brachten sie in den Keller, der war ungewöhnlich geräumig, eine Art Ausgleich für die dürftige Bodenkammer, und wenn wir die Früchte aßen, dachten wir an ihre Ernte und den Transport, was uns jedes Mal ziemlichen Spaß bereitete.

Oft frage ich mich, ob unsre Ehe scheitern musste, sinne darüber nach, warum ich nicht wenigstens versucht habe, Berit vor den Traualtar zu führen, stoße auf andre Stellen, an denen ich nicht weiterkomme, zu vieles, scheint mir, spielt eine Rolle, möglicherweise bin ich auch nicht ehrlich genug zu mir selbst, wenngleich ich jedes Mal wünsche, dass ich unser Verhältnis so eindeutig zu sehen vermöchte wie die Affäre mit Beate.

Ihr begegnete ich vor Wochen auf einer Konferenz. Als Kollegin kenne ich sie schon etliche Jahre. Anfangs hatte sie mir gefallen, vor allem auf Grund ihrer gepflegten Erscheinung, aber auch wegen der klugen Art, über Probleme zu diskutieren. Ich wusste, dass sie seit kurzem geschieden war. Ihr Gesicht sah verbittert aus, die Mundwinkelfalten schienen tiefer. Wer wollte behaupten, dass er jünger würde?

Öfter blickte sie zu mir. Wenn ich hinschaute, senkte sie die Lider. Was danach folgte, geschah auf geradem Weg: In einer Pause kamen wir ins Gespräch, tranken einen Kaffee im Espresso nebenan, verabredeten uns. Der richtige Schneid fehlte zwar, aber ich dachte an die einsame Wohnung, die Wände, die immer enger zusammenrückten, die Decke, die sich senkte. Raus dort, bloß raus! Wag einen Versuch. Damit vergibst du dir nichts. Und vielleicht ...

Wir gingen ins Kino. Es lief jener französische Film, in dem sich ein Mann und eine Frau im matten Spannungsfeld der Entfremdung neunzig Minuten lang aufeinander zu bewegen und doch nur für eine Nacht zueinander finden. Es geschieht zum Schluss in einer Bettszene. Da wird von der Kamera herangeholt, was möglich ist, und es dauert lange.

Warum müssen die das immer so auswalzen?, dachte ich. Zuerst hatte ich mich nur gelangweilt, jetzt fand ich’s peinlich. Am liebsten wäre ich gegangen, aber Beate blickte gebannt zur Leinwand.

Nachher sagte sie: „Ich hätte Lust auf Kaffee. Du auch?“

Eigentlich mochte ich nicht. Aber jetzt nach Hause gehen? Die Wände, die Decke...Und vielleicht...

Sie hat eine kleine, gemütliche Wohnung. Aus dem Radio tönte Musik, der Kaffee war gut, aber die Küsse schmeckten schal. Ich verließ Beate, als es dämmerte.

Claudia ging schweigend neben mir. Rechts schimmerte matt der Fluss, der Wasserspiegel war glatt, nur manchmal fegte ein Windstoß darüber, dann kräuselten sich viele kleine Wellen. Vor uns, dicht am Weg, gewahrte ich die Umrisse eines Gasthauses. Lichtschein fiel aus den Fenstern und versickerte im Dunkel. Ich fragte: „Hast du Hunger?“

Sie antwortete nicht.

„Durst?“

Da sie stumm blieb, fasste ich nach ihrem Arm und führte sie die wenigen Stufen zum Schankraum hinauf, sie sträubte sich nicht. Wir setzten uns an einen Ecktisch, es waren nur wenige Gäste anwesend. Der Kellner bediente beflissen. Geraume Zeit nippte Claudia an ihrem Saft, dann fragte sie: „Wie war eigentlich deine Frau?“

Ich sah sie erstaunt an. Woher wusste sie’s? Ich hatte kein Wort davon erzählt.

„Deine Mimik ist köstlich“, meinte sie. „Bisher hatte ich’s nur vermutet, jetzt bin ich sicher.“ Sie schaute auf meine rechte Hand und fügte hinzu: „Die Druckstelle an deinem Ringfinger war ein zu unsicheres Indiz.“

Ich nahm mein Bierglas und schüttelte es, ein bisschen Schaum schwappte heraus. „Hübsch war sie“, sagte ich, „und sehr intelligent.“

„Trotzdem ging’s nicht?“

„Nein“, entgegnete ich. „Es gab zu viele Missverständnisse.“

„Und es wäre nichts zu ändern gewesen?“

„Vielleicht“, sagte ich. „Allerdings klappt’s nur bis zu einer bestimmten Grenze, danach wird jede Mühe sinnlos.“

„Hast du’s gar nicht versucht?“

„Doch. Aber vielleicht zu wenig.“

„Möglicherweise tun wir alle nicht genug“, sagte sie. „Dabei sollte man’s. Zerbrechen kann nämlich schnell was. Mit dem Kitten ist’s schwieriger. Oder wie siehst du’s?“

„Genauso.“

„Würdest du jetzt also anders handeln?“

„Es käme darauf an.“

„Worauf?“

„Die Umstände.“

„Nicht auf den Partner?“

„Doch“, gab ich zu, „auch darauf.“

Als ich Claudia ansah, wich sie meinem Blick aus, und da ahnte ich, woran sie dachte. In letzter Zeit hatten wir nicht mehr über ihn gesprochen, ich empfand es wie eine stille Übereinkunft, dennoch erinnerte ich mich oft daran, und einmal fiel mir das mit der Taube ein. Es geschah vor Jahren, als ich in den Semesterferien Christoph, einen Kommilitonen, in seinem Dorf besuchte. Er besaß eine Luftbüchse, damit schossen wir. Mich packte jene Jagdleidenschaft, die unsre Vorfahren zu findigen Besessenen werden ließ. Christoph sagte: „Einen Vogel abzuschießen, ist das eine, den noch warmen Körper in die Hand zu nehmen, das andere.“

Er hatte Recht. Als die Taube vom First purzelte und hart auf die Erde schlug, sprang ich zwar sofort hinzu, blieb dann aber betreten stehen. Sie japste noch, die Flügel zuckten, und ich konnte lange nichts sagen.

Ich trank aus und bezahlte. Auf dem Weg war es sehr finster, Wolken verbargen den Mond, Claudia griff nach meiner Hand, sie hatte kalte Finger. Eine Weile schritten wir wortlos nebeneinander, dann sagte sie: „Morgen hab ich frei.“

„Friseuse müsste man sein“, scherzte ich.

„Sehen wir uns?“

„Ich kann erst nach vierzehn Uhr.“

„Es ginge auch vormittags.“

„Wie denn?“

„Ich würde gern hospitieren. Oder darf ich nicht?“

„Doch“, sagte ich, „natürlich.“

In dieser Nacht schlief ich lange nicht ein, ich dachte an Claudia. Das vereitelte Studium beschäftigte sie also noch. Der Wunsch, Lehrerein zu werden, hatte sich durch unsre Bekanntschaft womöglich verstärkt. Vielleicht sollte sie es erneut versuchen, es war nicht zu spät.

Als ich am nächsten Tag die dritte Stunde hielt, saß Claudia in der letzten Bank. Ich übte die Interpunktion mit den Schülern, sie arbeiteten eifrig mit. Claudia hörte aufmerksam zu, kein Wort ließ sie sich entgehen, manchmal verkrampften sich ihre Hände auf dem Schoß wie damals im Kino.

Gegen Abend bestiegen wir die Landeskrone. Wind strich über den Gipfel, aber die Felsen, auf die wir uns hockten, waren warm. Ich sagte: „Du solltest dich noch mal am Institut bewerben.“

„Meinst du, es hätte Zweck?“

„Ich glaub schon. Wenn’s dir ernst damit ist, schaffst du’s auch.“

Auf dem Rückweg gelangten wir an einen Bach, dort zog Claudia die Schuhe aus, schürzte das Kleid und balancierte über glitschige Steine, die aus dem Wasser ragten. Schaum spritzte gegen ihre Waden, sie lachte, und ihr Schatten tanzte auf den Wellen.

Anderntags brachte sie Antje mit. Es überraschte mich nicht. Ich hatte geahnt, dass es irgendwann geschehen würde. Dennoch spürte ich plötzlich meinen Herzschlag.

Auch Claudia wirkte erregt. Sie sagte: „Mutter musste dringend weg.“ Ob’s eine Notlüge war, weiß ich nicht. Zumindest dachte ich’s.

Wir gingen einen Waldweg entlang. Claudia hielt das Kind an der Hand. Es blickte öfter scheu zu mir auf. Gesprochen wurde wenig. Ich dachte an Kerstin, und obgleich es warm war, fröstelte mich.

Nach kurzer Zeit sagte Claudia: „Wir müssen zurück.“

Die Straßenbahn war überfüllt, wir standen dicht nebeneinander, schwiegen aber. An der Haltestelle verabschiedeten wir uns.

„Morgen?“, fragte ich.

Sie hob die Schultern. „Mutter hat jetzt wenig Zeit. Und Antje kann ich nicht wieder mitbringen.“

„Warum nicht?“

Sie gab keine Antwort, reichte mir nur die Hand, die war ein bisschen feucht. „Ich rufe an“, sagte sie, „wenn’s geht, rufe ich an.“

Den Fernsprechanschluss verdanke ich Berit. Sie stellte den Antrag, und es klappte erstaunlich rasch. Ich schätze, Kadurath half dabei, nicht uneigennützig, versteht sich. Per Telefon lässt sich manches arrangieren, und er wusste sicher, wann ich nicht da war.

Der Apparat steht im Korridor auf einem Schränkchen, er ist mir recht nützlich, doch an jenem Abend verfluchte ich ihn. Wenn ich auf etwas warte und lange nichts geschieht, werde ich ruhelos. Mehrmals tappte ich durch die Wohnung, verhielt vor dem Telefon, lauerte. Umsonst! Schließlich legte ich mich auf die Couch, nahm ein Buch vom Bord. Ich las, ohne etwas zu verstehen. Als es dämmerte, sanken meine Hoffnungen auf null. Doch dann, kurz vor einundzwanzig Uhr, läutete es. Ich erschrak, sprang auf, griff hastig nach dem Hörer. Es war Claudia, sie sagte bloß: „Komm.“

„Zu dir?“

„Ja.“

Ich eilte. Woran ich dachte, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur, dass ich sehr erregt war. Claudia schaute aus dem Fenster. Der Schlüssel, eingewickelt in Knüllpapier, flog auf die Straße. Wenig später stand ich vor ihr. Sie trug eine Cocktailschürze, hatte das Haar sorgfältig gebürstet und gelackt, es glänzte. Das Zimmer war bescheiden eingerichtet, auf einem Schränkchen bemerkte ich einen Plattenspieler. „Musik?“, fragte sie und betätigte das Gerät, kaum dass ich zugestimmt hatte.

Als ich mich setzte, entdeckte ich in einem Regal das Bild. Es steckte in einem Halter zwischen zwei Glasscheiben und zeigte einen Soldaten in Brustformat. Ich hatte ihn mir anders vorgestellt, vielleicht jungenhafter. Seine Züge wirkten männlich und ernst, die Augen blickten forsch und ein wenig übermütig.

Claudia tafelte allerlei Leckereien auf, doch sie schmeckten mir nicht, auch vom Wein trank ich nur wenig, dafür blickte ich oft zum Foto, und einmal kam mir wieder die Taube in den Sinn, ich sah, wie sie sich getroffen krümmte, vom First purzelte, hart auf die Erde schlug, japste und mit den Flügeln zuckte.

„Ist dir nicht gut?“, fragte Claudia.

„Doch.“

„Aber?“

„Dreh’s bitte um.“

„Was?“

„Das Bild.“

Nun erst begriff sie. „Warum?“ Es klang herausfordernd, vielleicht auch trotzig.

„Weil er immerzu hersieht.“

Da glitt um ihren Mund ein Lächeln, wie ich es bislang nicht bei ihr kannte. „Hat er dir was getan?“

„Nein“, sagte ich, „nichts.“

Sie drehte das Foto um, wortlos, unbewegten Gesichts, doch die Stimmung war dahin, ich verließ sie lange vor Mitternacht.

Obgleich wir nichts vereinbart hatten, ging ich am nächsten Tag von der Schule sofort nach Hause, da ich wusste, dass Claudia nur bis vierzehn Uhr arbeitete.

Das Telefon klingelte mehrmals, ich eilte immer mit klopfendem Herzen hin, doch nie war sie es. Bogner erkundigte sich nach dem Sitzungsbeginn, ein Schneidermeister wollte Berit sprechen, Robert fragte an, ob ich wegen seines neulichen Rausches verstimmt sei, weil ich mich nicht sehen ließe. Zuletzt meldete sich eine Unbekannte, die mir ein Rendezvous vorschlug. Ein Missverständnis? Scherz? Vielleicht auch Ernst, falls sie von meiner Situation wusste. Was macht ein Mann, wenn...?

Das Warten marterte, doch das Telefon schrillte nicht mehr, dafür die Klingel an der Entreetür. Es war Claudia. Sie fiel mir in die Arme.

Der Straßenlärm verebbte. Zuerst summten die Autos noch, dann fuhren sie lautlos. Später hörte ich wieder die Standuhr, sie zertickte die Stille. Claudia lag reglos, ihr Puls pochte an meinem Ohr, sie sagte: „Ich denke oft an den Film.“

„Wegen der Frau?“

„Ja. Sie war in allem so sicher. Darum beneide ich sie. Gestern schrieb ich eine Bewerbung, zerriss sie aber wieder. Ich glaube, ich bin nicht gut genug.“ Sie seufzte. „Ich glaube, ich bin zu manchem nicht gut genug.“

„Unsinn“, widersprach ich. „Das Schwierigste ist, sich zu entscheiden.“

„Gewiss“, sagte sie, „das ist es. Vor allem, wenn einem niemand hilft.“ Dabei sah sie mich an, lange, mir schien, als erwarte sie etwas, doch ich schwieg.

Nach einer Weile schaute sie auf ihre Uhr. „Du musst gehen?“

„Ja.“

Sie brachte mich zur Schule. „Dauert’s lange?“

„Zwei Stunden.“

„Da hab ich viel Zeit.“

„Soll ich nachher kommen?“

„Wenn du willst.“

„Ich pfeife, ja?“

Sie küsste mich, dann ging sie und sah nicht mehr zurück.

Die Mauer ist eine schlechte Sitzbank, ganz kreuzlahm bin ich schon, lange hält’s mich nicht mehr hier. Ich hebe missmutig den Blick, zucke gleich darauf zusammen, das Fenster ist erleuchtet! Da springe ich auf, pfeife, pfeife durch die Finger wie ein Schuljunge. Das muss sie hören, allemal. Sofort wird die Gardine wackeln, das Fenster quietschen und der Schlüssel trotz seiner Umhüllung ein bisschen klirren, wenn er aufs Pflaster fällt.

Nichts davon geschieht, nur das Licht erlischt erneut.

Ich stehe reglos, spüre meine Fingernägel im Handteller und die Zähne auf der Lippe, ein letztes Mal starre ich hoch zu dem dunklen Scheibengeviert, dann wende ich mich ab.

Die Straßen liegen still, Regen beginnt zu stricheln. Trotzdem geh ich langsam. Die Nässe dringt mir bis auf die Haut.

Späte Liebe am Meer

Подняться наверх